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Sommerhitze brütet seit Tagen über der Heide. Es ist, als taumelten selbst die Hummeln und Bienen nur mehr müde über den spröden, glühenden Boden und die halbversengten Halme. Der schwüle, süße Duft all der Blumen im Garten wird nun betäubender. Fast wie ein Hauch von Fäulnis und Verwesung weht es von ihnen. Welk und schlaff rieseln immer mehr der sammetartigen, leuchtenden oder blassen, roten Blätter herab. Auch die Menschen scheinen in der sengenden Hitze allmählich die Körperkräfte zu verlieren. Alles schleicht statt zu gehen; sogar die Kinderwelt, die lange Zeit ganz unberührt von der Hitze geblieben war.
Im Herrenhaus ist viel Besuch; aber man merkt es kaum, solche Stille herrscht in den Räumen. Jedes tritt so leise als möglich auf, und niemand traut sich mit voller Stimme zu sprechen. Noch immer ist's, als könne jeder Laut einen Schlafenden Wecken.
Auf eine Depesche hin, von Kathl auf eigene Faust abgeschickt, als der Professor so schwer erkrankt war, waren Doktor Degenhardt und Ludwig gekommen. Jetzt aber spürt bereits der lebhafte alte Herr den Zwang und den Druck der Einsamkeit in allen Gliedern und wird immer zappeliger. Nun, da nichts mehr zu tun und tatsächlich zu helfen ist, treibt es ihn mit Gewalt wieder fort. Mit der früheren Widerstandskraft, der ehemaligen Elastizität und Praktik hatte er sofort zu ordnen übernommen, was ein Todesfall an Geschäften hervorzurufen pflegt. Mit dem gleichen Geschmack, Takt und Feingefühl wie früher seine Feste hatte er die würdige Leichenfeier arrangiert, mit Ludwig und dem Oberförster die Anzeigen verschickt und die zum Trauerakt eingetroffenen Gäste empfangen. Tief ergriffen hatte Gertrud vor der Schreibtischschublade gestanden. Wie der Verstorbene ihr stets gesagt, fanden sich da alle Anordnungen für seinen Todesfall schriftlich niedergelegt, dazu eine Namensliste seiner ferneren wie näheren Bekannten und Freunde. Also sogar an die Schwierigkeit und Mühe hatte Halliger gedacht, die seiner Frau daraus erwachsen könnte, nicht zu wissen, an wen die Anzeigen nach seinem Ableben zu senden seien! Soweit war seine Sorgfalt über den Tod hinaus gegangen! Und mit heißen, tränenlosen Augen war dann Gertrud abermals, wie so oft, weltvergessen und traumverloren dagestanden und hatte an die halben Rätselworte denken müssen: »Nicht, – ni ... – –« und den Blick dazu auf Detlevs Bilder! Was hatte der Sterbende nur so heiß ersehnt, noch ausdrücken zu können? – Jähe Glut fährt ihr ins Antlitz, das eben so schnell blaß wird. Immer muß sie wieder grübeln und grübeln. Wie rätselvoll auch dann sein Lächeln, so sanft, milde, gütig, in grellem Kontrast zu dem hervorgestoßenen: Nicht!
Roland hatte immer so viel von Detlev gesprochen. Seine Vorliebe für diesen war ihr stets ganz auffallend erschienen. Sie erinnerte sich gar nicht, ihren Mann jemals so von einem Menschen eingenommen gesehen zu haben. Auf ihrem Kopf lastete ein furchtbarer Druck, der gar nicht weichen will. Als fast betäubender Schlag hatte sie der so plötzlich hereinbrechende Tod des geliebten Mannes getroffen. – War er nicht viele Jahre vorher eben so krank, nein, viel kränker gewesen als jetzt, ohne jemals besondere Gedanken an ein baldiges Ende zu erwecken? Allmählich hatte auch sie sich, wie die ganze Umgebung, an dieses Leidendsein gewöhnt. Launisch, anspruchsvoll und unliebenswürdig war der Geduldige ja nie gewesen. Gertruds Gewissen braucht nicht an ihres Herzens und ihrer Seele Tor zu klopfen. Nie, – keine Sekunde hatte sie jemals gewünscht, daß des Allmächtigen Sense die Brücke schlagen möge zwischen ihr und einem heißen, trunkenen Glück, das sie einmal gestreift. Mit Grauen und Schaudern hätte sie solche Gedanken zurückgewiesen. So, als würde ihr durch eine Erfüllung das Schicksal bloß Unglück, niemals Frieden, Wonne und Freude bringen. »Nein, nein! Herrgott im Himmel, laß die Vorstellung nie Gestalt bekommen!« In ihr regte sich früher in ihren Träumen ein Wahn, eine phantastische Idee. Da sah sie sich mit Roland und den Kindern in einem herrlichen freien Land voll Sonne und Duft. Aber Detlev war dennoch der Ihrige, und sie entbehrte und ersehnte nichts mehr. Den einen geliebten Mann nicht missen und doch den anderen, so anders geliebten, nicht entbehren zu brauchen! Die eine Flamme friedlich neben der anderen, in gleich mächtigen Säulen emporlodernd gen Himmel. Wie klar erinnert sie sich des schmerzlichen Erwachens aus diesem nächtlichen Traum, und wie dann ein trübgrauer, fahler, grausamer Morgen sich ins Schlafzimmer hereingeschlichen.
Wenn sie ihre Kinder ansieht, wird ihr doppelt weh ums Herz. Lise ist verstört und blaß, wie auch To, der seinen ruhigen, tiefen Schlaf nicht mehr zu finden weiß. Die beiden können den jähen, entsetzlichen Wechsel des Geschicks noch weniger fassen. Wenn sie ihren Jammer ausdrücken, ist es immer dasselbe: »Noch so kurz vorher hat Vater mit uns gescherzt und gelacht, fröhlicher wie je; hat gegessen und getrunken wie wir auch und sah frisch und wohl aus!« Nun hat ihnen der Tod in die jungen Gesichter gegrinst und gesagt: »Hier bin ich! Immer bin ich da! Stets lauere ich unsichtbar in irgend einem Winkel, auch dort wo noch Gesundheit und Freude herrschen, Jugend und blühendes Leben. Ich schärfe meine Sense, ich halte das Stundenglas – ein Hieb, – es ist geschehen! Ich bin da, – immer, immer bin ich da.«
Die innerlich gebrochene Frau bringt es noch fertig, Trostesworte zu finden für ihre Kinder. Sie vermag es, Mut, Kraft und Zuversicht zu heucheln, die sie nicht besitzt. So gut wie der Pastor kann sie ihnen erzählen von einem ewigen Leben, von himmlischen Herrlichkeiten, und vom Wiedersehen nach dem Tod. Ihr Sohn birgt dann weinend den braunen Krauskopf in der geliebten Mutter Schoß, aber sein Schluchzen ist nicht mehr so wild, und die Tränen fließen langsamer. Lise blickt mit den ernsten, klugen Augen vor sich hin. Sie sehen nun weicher aus und in ihrem Blick ruht eine Wärme, die sie noch nie gehabt. Sie schiebt die lange, magere Hand zwischen die kalten Finger der Mutter. Auch Lise möchte glauben, was diese tröstend sagt und verspricht. Innerlich wägt sie dann ab und überlegt. Ihr Glaube entspricht eigentlich mehr einer Art Schicklichkeitsgefühl. Man muß glauben und in die Kirche gehen, – das gehört sich so! Das ist für Lise maßgebend. Sie nimmt sich aber doch vor, Pastor von Mesting über allerlei zu fragen. Sie wird ihn ja so viel und oft sehen, wenn er sie kommenden Winter zur Konfirmation vorbereiten wird. Er gefällt ihr sehr, und sie hat mehr Respekt vor ihm, wie sie jemals vor Herrn Feder, Fräulein Gmehlin, der Gouvernante etc. gehabt. Mesting weiß viel. Viel mehr als diese alle zusammen. Auch imponiert ihr, daß er von Haus aus adelig ist. Sein Bruder, der Kammerherr von Mesting aus Berlin, hat ihn sogar schon einmal in Seedland besucht. Bildhübsch findet sie den Pastor auch. Wäre sie ein schwärmerischer Backfisch, würde der Konfirmationsunterricht gefährlich für sie werden können. Aber Lise ist weder schwärmerisch, noch ein eigentlicher Backfisch. Ihr wird auch weder jetzt noch später leicht das Herz vor dem Verstand durchgehen. Die Trauer um den Vater ist aber für ihr Gemüt doch eine tiefe und aufrichtige, und sie vermißt ihn sehr. Sie hatte ihn lieb gehabt; eigentlich weit lieber als die Mutter. Diese, die in heißem Drang sich ein kostbares Gut zu erhalten immer kämpft und auszugleichen sucht, fühlt weit weniger die Kluft zwischen der Tochter und sich selbst. Die mädchenhafte, impulsive Frau mit dem Kindergesicht, in dem Lise die ernsten, tiefen Augen übersieht, ist dieser im Grund fremd geblieben. Und wie eine Fremde war ihr die Mutter oft erschienen, wenn diese unten im Garten mit To und Hanserl gelaufen und gesprungen war, getollt und gelacht hatte. So kann Lise das schon lange nicht mehr; hat es eigentlich nie gekonnt. Wenn der Bruder sein Mutti preist in allen Tonarten, wünschte sie sich innerlich eine anders geartete Mutter. Mehr Tante Hela ähnlich. So stattlich, – wenngleich Frau Gertrud groß ist, erscheint sie der bereits eben so hohen Tochter immer klein, – auch so monumental, strenge, kühl, und – passend! Schicklich und passend sind die beliebtesten Schlagworte der Frau Präsidentin, welche die künftige Exzellenz zwar noch ungeboren, aber doch als sicher in sich trägt.
Frau Halliger wünscht fast, daß wenigstens ihr Vater und Otto, der zur Beerdigung nachgekommen war, abreisen möchten. Sie sehnt sich jetzt förmlich nach Ruhe und Einsamkeit. Heute hat der Gärtner die letzten verwelkten Kränze vom Grab entfernt. Der starke, robuste Mann hatte dabei immerzu heimlich die Tropfen aus dem Bart wischen müssen. Es gibt keinen in Seedland und Umgebung, der Professor Halliger nicht geliebt hätte. Jetzt, – endlich, – die gemordeten Blumen hatten unter der Hitze allzuschnell ihr letztes Restchen Leben ausgehaucht, – blüht und duftet es auf Rolands Ruhestatt frisch und lebendig. Da sind nun Blüten und Pflanzen aus seinem Treibhaus, die er alle noch gesehen und bewundert hatte. Der pommersche Hüne hatte noch am Vorabend jenes schrecklichen Tages seinen Herrn zu der einen, tiefgelegenen Glashalle hingefahren, deren Fenster weit offen standen, und hatte ihm die farbensprühende Pracht da unten gezeigt.
Nicht weit von Halligers Grab liegt das Willy Wedekamps, durch zwei Edeltannen flankiert. Gertrud pflegt auch das getreulich. Der alte Mannes kommt nur ganz selten hierher; er kann keine Gräber leiden. Er meint auch immer, daß hier der dumpfe, heimliche Groll, den er gegen sein einziges Kind empfindet, noch wüchse.
Immer wieder aufs neue fliegt Grete aus, wenn sie nach längeren Zwischenräumen ins Vaterhaus zurückgekommen ist. So etwas kann sie tun! Ihren Vater einsam zurückzulassen! Daß aber nichts in ihm und um ihn mehr für die Tochter paßt, das fühlt er nicht. In sonderbarer Verknöcherung hat er das Band zerrissen, das sein Inneres mit dem Gretes verbunden. Kommt sie heim, ist alles gut und schön für diese paar Wochen. Anfangs vermißt der Oberförster auch nicht seinen Stammtisch im weißen Hirsch in Sardennen, aber plötzlich zieht es ihn doch wieder hin zu der Kannegießerei, ebenso wie zu allen anderen Gewohnheiten. Die taugen so wie so nicht für das Zusammenleben mit einem zweiten Menschen, am wenigsten mit der Tochter. Die beiden haben sich so bald ausgesprochen. Dann tritt eine Pause nach der andern ein, wenn nicht gar Meinungsverschiedenheiten durch den Unterschied ihrer Welt- und Lebensanschauung schroff zutage kommen. Schwer nur kann Grete, – die beklemmend fühlt, wie ihre Wege so ganz auseinander führen, ohne daß Liebe und Hochachtung voreinander geschwunden wären, – dann offenen Hader vermeiden. Und dennoch hat der Alte innerlich einen mächtigen Respekt vor seinem tapferen Kind, das, eine nur schlecht verharrschte Wunde im Herzen, seinen Weg in rastlosem Fleiß, mit größter Hingabe verfolgt. Aber lieber Himmel! Es ist und bleibt eben eine Überspanntheit, was sie getan. Auch daß sie dadurch anderswo lebt wie er, und noch dazu im fernen Kopenhagen! Da droben in dem trübseligen Norden, wo es ohnehin die meisten Melancholiker und Verrückte geben soll. Architektin! Wie das klingt! Er mag mit keiner Seele davon reden. Am Stammtisch, im weißen Hirschen, hänselten sie ihn so lange damit, bis er ernstlich grob wurde. Manchmal könnte einer bei Anfragen nach Grete meinen, sie sei eine unglückliche Verlorene, oder doch Entgleiste. Und doch gibt Mannes andererseits wieder, wenn auch unter Murren und Schimpfen, seiner Einzigen das erforderliche Geld zu ihrem Studium ohne Knausern.
»Wenn ich tot bin, und du bist vielleicht bis dahin ein leidlich vernünftiges Frauenzimmer geworden, weil man dir die Gänsefedern glücklich alle ausgerupft hat, wirst du schon merken, daß es verdammt unbequem ist, soviel weniger Zinsen zu haben. Dann kannst du irgendwo einsitzen als alte Jungfer und dir von einem beliebigen, kleinen trottelhaften Mädel das Strümpfestricken und Stopfen zeigen lassen, wenn du nicht barfuß laufen willst!«
Grete aber küßt ihn dann stürmisch wie früher, wenn er ihr einen heißen Wunsch erfüllt hatte.
»Väterchen, du gutes brummiges. Laß mich doch nur machen. Ich weiß ja, daß ich ein Scheusal bin. Aber ich weiß auch, daß du eigentlich immer wieder heidenfroh bist, wenn ich glücklich wieder weg bin, und du dein Leben, wie es dir am besten taugt, ungeniert weiterdusseln kannst. Sieh' 'mal, all die schönen Wiedersehen! Um die kämen wir dann beide, wenn ich immerzu hier einsitzen würde!«
Aber hinter dem Scherz birgt sich ein tiefer Ernst. Gewissenhaft und ehrlich gegen sich selbst hat Grete abgewogen, was Recht und Unrecht sei, und wo zunächst ihre Pflicht liege. Aus einem anfänglichen Wirrwarr der Empfindungen ist das Gefühl siegreich hervorgegangen, daß hier ihr Ich dem Vater Vorgehen dürfe, ja müsse! In kürzester Frist wäre in der Försterei, deren Haushalt von der alten, aber immer noch rüstigen Annemarie vorzüglich regiert wird, das Leben doch wieder in einer Weise fortgegangen, daß Grete noch weit weniger wie früher Gelegenheit gehabt hätte, ihrem Vater etwas zu sein. Wo bliebe dann das Große, um dessen willen sie bei ihm bleiben und in schmerzlichen Erinnerungen einem verpfuschten, zwecklosen Dasein ihre kraftvolle Jugend, ihre Leistungsfähigkeit und ihren Lieblingswunsch aufopfern soll? Aus ihrem Inneren kann sie dem alten Vater gar zu wenig geben. Er hat eine Art, die ihn ihr wie mit einem Stachelzaun umgeben erscheinen läßt. Und wie früher lachen und tollen aus lauter Überschäumen, in Ermangelung eines rechten Auslebens, kann sie nicht mehr. Sie hat mit ihrer schlanken Fülle und den frischen Farben auch ihr fröhliches, siegesgewisses Wesen, ihren Mutterwitz und ihre Heiterkeit wieder erhalten. Aber im Mittelpunkt ihres Seins steht ihre Arbeit, die ihrem angeborenen Talent, ihren Neigungen entspricht und sie deshalb befriedigt. Den langstieligen Brief Otto Degenhardts, den er vor Jahren ihretwegen an seine Schwester geschrieben, hat sie sich von dieser schenken lassen und bewahrt ihn heute noch. Die herben Wahrheiten darin hat sie sich hinter ihre hübschen Ohren geschrieben und während ihres ernsten Studiums alles sehr beachtet. Sie hat sich fest vorgenommen, ihr erstes Haus in München zu bauen! Der Herr Bauamtmann Otto Degenhardt aber soll dann mit seinem verkniffensten Gesicht davorstehen und strengste Kritik üben. Sie wird schon heraushören, was wahr und gerecht ist und was ihm Bitterkeit und auch ein gewisser Neid eingeben und auch Verachtung gegen das, was eine Frau leistet. Seinen mißtrauischen Blicken, die scharf und durchbohrend, nicht selten auch mit einer gewissen theatralischen Absicht auf den Menschen zu ruhen pflegen, würde sie schon ruhig standhalten können.
In diesen Tagen, da Otto, ohne irgend etwas nützen oder jemandem etwas sein zu können, sich rastlos drüben im Herrenhaus herumtreibt oder auch die Wälder und die Heide durchstreift, sehen und sprechen sie sich gar oft. Der Gestrenge vermeidet diese Begegnungen keineswegs. Im Gegenteil! Es macht ihm Spaß, durch allerlei, freilich recht oft spitze, fast beleidigende Redensarten und schnöde Bemerkungen Grete zu reizen. Allein sie ist nie um eine Antwort verlegen und wehrt sich ihrer Haut mit Geschick, je nach Bedarf auch derb und doch niemals ganz ohne Liebenswürdigkeit und Grazie. Sie mag die Degenhardts! Besonders Carlo und Ludwig! Diese eingefleischten Junggesellen, jeder anders in seiner Art, amüsieren sie. Dabei kitzelt es auch ihre Eitelkeit ein wenig, zu wissen und zu fühlen, daß alle beide sofort bereit wären, um ihretwillen ihre Freiheit zu opfern.
Endlich beschließt Papa Degenhardt, zuerst ein Spritzerl nach Berlin zum Max zu machen, dann aber wieder zur Mama zurückzureisen.
»Die is gar so fürchterlich traurig, daß der arme Roland schon hat sterben müssen, und du jetzt so alleinig sein sollst. Allerweil is s' ganz in Tränen aufgelöst. Bist aber auch ein armes Hascherl, Trauderl, Gutes! Wann ich dir nur mehr tun könnt'. Aber schau! Dabei kann keiner einen Trost geben. Das muß halt schon die Zeit machen! Also, – i reis' heut abend, Trauderl. Gelt, i kann mir 'n Wagen bestellen? Und i mein, den Otto sollt' i' auf eine gute Manier mitpapierln. Er meint's herzlich und treu in seiner Zärtlichkeit mit dir, aber er hat einmal keine glückliche Art und ist immer noch, wenn er auch eigentlich ein alter Kerl ist, wie so ein junger Bernhardinerhund. Ich mein aber, der Ludl, der soll nur noch ein bisserl dableiben. Also, so wird's g'macht, – gelt Trauderl, dir is 's doch recht?!«
»Wie du willst, Papa, – du weißt ja! –«
»Ja, ja, – ich weiß, du bist mein liebs, guts Mäderl! Wenn's d' dich jetzt nur wieder erholst. Also!«
Dann reisten die beiden ab. Wie es der Vater gemacht hatte, Otto auch dazu zu bewegen, blieb Gertrud dunkel. Sie nahmen gleich Grete mit, die dann bis Berlin in Papa Degenhardts Gesellschaft reisen wollte, um Fräulein Doktor Mina Weber zu besuchen. In Blankdorffen trennten sie sich vom Bauamtmann. Unter dessen Zuruf: »Kommen Sie nur nicht mit der Baupolizei eines Tages in Konflikt!« fuhr er vor ihnen ab und dem Süden zu.
Grete hatte Halliger ungemein verehrt und geliebt, und sie wußte auch, wie schwer Gertrud dessen Verlust empfand. Das Mädchen hatte aber auch helle, scharfe Augen und ein warmes Herz. Da drin lag Erschautes still und sicher geborgen. Sie träumte von einem fernen Glück, das der Freundin, wenn die Schwingen der Zeit genug gerauscht haben würden, über dem Grab des Gatten neu erblühen könne. Dieser tröstliche Gedanke und auch die Anwesenheit der Degenhardtschen Herren hatte Grete über ihre Herzenstrauer um den Verschiedenen und über eine Fülle schmerzlicher Erinnerungen hinweggeholfen.
Nun sitzt sie im Zug mit dem heiteren, alten Herrn, der Kummer, Schrecken und Schmerz, die er eigentlich mehr für seine Tochter gefühlt, schon fast ganz bei dieser zurückgelassen hatte. Die alte Sorglosigkeit nimmt wieder Besitz vom unverwüstlichen Uz. Grete hat während der ganzen Reise nur zu tun, sich der manchmal höchst lebhaft, ja aggressiv äußernden Bewunderung des Doktors zu erwehren. – – – – –
Im Garten des Herrenhauses gehen die Geschwister auf und ab. Sie sehen nicht, daß draußen Hanserl ihre kleine Nase, die wie die Augen rot geweint ist, ans Gitter preßt. Kathl hat ihr verboten, in diesen Tagen herüberzukommen, denn sie meint, das lebhafte Kind würde nur stören.
In dem dünnen, sommerlichen Trauergewand, das in weichen, losen Falten den geschmeidigen Leib Gertruds umschließt, sieht diese noch blasser und elender aus. Ludwig hat einen Arm um sie gelegt und blickt sie von Zeit zu Zeit besorgt an. Er hat so wenig wie der Vater noch irgend eine Frage an sie getan, wie sie sich die Zukunft denke und was sie beschließen wolle. Beide empfanden, daß jedes Wort der tief Verwundeten noch weh tun müsse. Otto hatte die Schwester fast erdrückt in einer wilden Zärtlichkeit, die etwas Brutales an sich hatte. Im Lauf der Abendstunden nach Halligers Begräbnis äußerte er plötzlich in sehr entschiedenem Ton:
»Natürlich verkaufst du die alte Buden da. Schönes ist ja so wie so nicht daran und dann so weit und in dem faden Norddeutschland! Natürlich kommst du jetzt zu uns nach München, – aber schleunigst. Das ist ja klar!«
Wieder küßte und streichelte er sie. »Laß s' doch gehen,« fuhr der Vater ihn an. Dann kam zum Glück irgend jemand des Personals ins Zimmer und enthob die übermüdete, nervöse Frau der Antwort. Jetzt, mit Ludwig aber, spricht sie selbst darüber, was sie zunächst zu tun gedenkt. Sie erzählt ihm, wie gut, lieb und groß sich die Kinder benommen hätten. To habe erklärt, er wisse ganz genau, daß die Mutter in ihrer selbstlosen, aufopfernden Art nun so bald als möglich die Wünsche ihrer Kinder zu erfüllen bereit sei. Sie hätten aber jetzt gar keine solchen Pläne mehr wie früher. Vorerst gingen sie nicht um alles von der einsamen Mutter fort, nein, nicht um alles! Daß To der Schwester, die ihm gleich nach Vaters Tod die Hoffnung ausgedrückt hatte, nun alsbald ihr nächstes Ziel erreicht zu sehen, entrüstete Vorstellungen und Vorhaltungen gemacht, bis sie alles scheinbar einsah, erfährt Gertrud nicht. Ludwig aber denkt wohl dergleichen in aller Stille. Bis zum kommenden Frühjahr, sagte Gertrud ihrem Bruder, bleibe sie da. Dann aber wolle sie wirklich nach München ziehen; Seedland jedoch behalten und jedes Jahr mehrere Wochen oder Monate hier zubringen. Trotz allem wolle sie To zu Ostern ins Kadettenhaus nach Potsdam, Lise nach München in ein Institut geben. Sie hoffe, das Mädchen als Externe in dem früheren, für so vortrefflich anerkannten Institut Ascher, das nun freilich in andere Hände übergegangen sei und worin Hela einst ihre Weisheit erobert, unterzubringen. In Frau Gertruds Augen treten Tränen. Der Bruder fühlt tief, wie groß das Opfer ist, das die Schwester ohne Zaudern, vor allem dem Sohn, bringen will.
»Alles spricht mehr für meine Vaterstadt, weißt du, Ludl, – alles! Nur eben nicht der Umstand, daß ich dann ferne von To bin, der Sonntags nicht zu seiner Mutti kann. Die Ferien bringt er ja aber doch bei uns zu. Lise wünscht so sehr, daß ich nach München ziehe, und ich selbst meine auch, dort besser überwinden zu können. To aber will absolut nicht nach Bayern und in ein süddeutsches Kadettenhaus, wenngleich er ja folgen würde, wenn ich's wünschte. So denke ich immer, damit noch das Richtigste zu treffen!«
»Brauch ich dir zu sagen, Trauderl, daß ich mich einfach kolossal, ganz verrückt darauf freu', dich wieder sozusagen daheim zu haben? Daheim! Die meisten von uns sind dann in derselben Stadt; aber ein jedes in einer anderen Gegend. Zu komisch ist's, daß wir so zerstreut wohnen! Aber so ist's grad gut! Nur kein Zwang; es springt nix dabei 'raus. Und dein Dom, Trauderl! Der Dom zur lieben Frau. Was werden die alten Türm für Augen machen, wenn du wieder da bist? Willst' d' nicht gleich völlig daneben dein Logis nehmen?«
Er hat eine kindliche Freude, wie ein schwaches Lächeln über ihre gespannten Züge gleitet. Sie schweigt auf alles, was er noch, teilweise im komischsten Ton, weiter hervorbringt, aber sie lehnt sich fester auf seinen Arm, den sie von Zeit zu Zeit drückt. –
Nach dem Fünf-Uhr-Tee setzt sie sich an den Schreibtisch ihres Mannes, um Papiere zu ordnen und zu besichtigen. Eine Menge formeller, steifer und nichtssagender Kondolenzschreiben, die zu beantworten die gedruckten Karten genügt haben, scheidet sie von längeren, wertvollen Briefen aus und schichtet davon einen Berg. Auf dem grünen Tuch des Diplomatentisches sieht es bunt aus. Mitten in Gertruds trauriger Beschäftigung, als sie eben jene Schublade wieder geöffnet, worin Halliger allerlei Wichtiges sorgsam verwahrt hatte, wird ihr Pastor von Mesting gemeldet. Sie fühlt die Unmöglichkeit, die zerstreuten Briefschaften und Papiere, die nicht für jedermanns Augen bestimmt sind, so rasch wieder zu verschließen. So schellt sie und läßt Lise rufen. Diese ist ganz dazu geschaffen, gewissenhaft zu tun, was ihr die Mutter anbefiehlt. Jenen Papierberg soll sie dem Feuer übergeben, das im Kamin leicht flackert. Nach einem erlösenden Gewitter, das endlich an dem bleifarbenen Himmel aufgezogen und ausgebrochen war, kam ein verblüffender Temperaturumschwung. Es war plötzlich so kalt geworden, daß man nur ungerne in Halligers großem Parterre-Zimmer ein Feuerchen vermißt hätte. –
Das junge Mädchen kommt sofort und erklärt sich gerne bereit, so lange im Zimmer zu bleiben, bis Pastor von Mesting wieder gegangen sei, und einstweilen auch die dazu bestimmten Briefe zu verbrennen, die anderen sorgsam zu ordnen und zu hüten. Neugierig überfliegen ihre Augen schon die Platte des breiten Schreibtisches und streifen die offenen, halb aufgezogenen Schubladen. Vaters Heiligtum! Schon immer hatte das fest verschlossene Möbel ihre Neugierde sehr gereizt.
Mutter bleibt lange. Im Kamin haben die feurigen Zungen längst das letzte Fetzchen aufgeleckt. Alles, was möglich war, hat indessen Lise bereits durchschnuppert. Kondolenzschreiben, die noch brieflich zu beantworten sind, hat sie, wenn auch ohne besonderes Interesse, alle durchgelesen. Aus Langweile hat sie dieselben sogar nach dem Alphabet geordnet. Sie gähnt. Dann steht sie auf, geht in der Stube auf und ab und blickt zum Fenster hinaus auf den trüben Himmel und den grau in grau liegenden, mitten im Sommer plötzlich so herbstlich scheinenden Garten. Dann sieht sie auf den Kalender. Seit Vaters Tod ist keines der Blättchen mehr entfernt worden. Sorgfältig wie stets reißt sie eines nach dem anderen ab, bis zum heutigen Tag. Abermals setzt sie sich vor den Schreibtisch, der jetzt ungemein ordentlich aussieht. Alle unbeschriebenen Blätter hat sie von den Briefen entfernt, aufeinander gelegt und einen Beschwerstein daraufgesetzt. Ihr Herz schlägt nicht heftiger als vorher, und ihre Augen bleiben vollkommen trocken, wie sie so auf des Verstorbenen Platz sitzt und ihre Finger Dinge anfassen, die von den seinigen täglich berührt worden sind. In ihrem kühl arbeitenden Kopf entstehen eine Menge Zukunftspläne. So viel hat sie jetzt mit sich selbst zu tun. Wenn nur schon der Frühling käme, die Konfirmation und die Übersiedelung nach München glücklich vorbei wären. Hoffentlich würde sie es bei Mutter durchsetzen, ganz als Pensionärin ins Institut eintreten zu dürfen. Sie würde dann alle anderen beschämen. Sie weiß ja so viel, und alles gründlich! Herr Feder sowohl wie Fräulein Gmehlin haben es ihr oft bewundernd gesagt und auch der Pastor hatte sich so geäußert. In Gedanken verloren spielt Lise mit dem Falzbein, das sich irgendwo verklemmt. Da gewahrt sie die schmale, niedere Mittelschublade. Ohne Überlegung oder Absicht, beinahe mechanisch, Probiert sie daran mit dem Schlüssel. Sie geht auf. Hier liegt allerlei, was sie kennt. Kindheitserinnerungen der Mutter, die Vater dieser lachend und scherzend abgeschwatzt, sie dann hier verwahrt und sich oft daran erfreut und erheitert hat. Ihr fehlt aller Sinn dafür. Aber da! Sie nimmt ein gefaltetes Büttenpapier zwischen ihre langen, mageren und immer etwas feuchtkalten Finger. Eine Oblate, die es früher geschlossen, ist beinahe völlig zersprungen. Ein Druck nur, und es öffnet sich ganz. Lise dreht und wendet das Papier, ihre Augen wollen ihr fast aus dem Kopf dringen vor Neugierde. Eine Aufschrift nur: ›Gertrud.‹ Groß und breit in des Vaters deutlicher Schrift. Ein heißes, unbändiges Verlangen erfaßt das Mädchen. Es wird noch blasser als sonst, die Nüstern feiner feinen Nase beben. Es ist ihm unmöglich, zu widerstehen. Im Nu liegen die Blätter ausgebreitet vor ihm. – – Wie Lise zu Ende gelesen, ist ihr Gesicht verstört. Sie springt auf und eilt zum Feuer hin. Schon ist die Hand, deren eiskalte Finger die zusammengeballten Bogen umklammern, bereit, diese der Glut zu überantworten, da zuckt sie dennoch im letzten Augenblick zurück. Das, – das kann Lise nun doch nicht! Noch knieend birgt sie dann die Blätter in ihrer Tasche. Sie will aufstehen, aber es ist ihr, als versagten die Beine. Im Bewußtsein seiner Schuld blickt das junge Mädchen scheu um sich und horcht dann auf. Unten verabschiedet sich gerade Pastor von Messing. Seine Stimme klingt voll und warm herauf. Auch die der Mutter, aber tränenschwer, – zitternd, – müde!
Als Gertrud eintritt, kniet ihr Kind vor dem Kamin. Glühend rot ist sein Gesicht; die Augen haben einen unruhigen, flackernden Blick und sind eigentümlich, fast fieberisch glänzend. Es muß das Feuer tun! Sehr eifrig und hastig stochert das junge Mädchen mit dem Schürhaken in der erlöschenden Glut herum. Das ganze Zimmer ist erfüllt von dem unangenehmen Geruch des vielen verbrannten Papiers, und Frau Halliger öffnet ein Fenster. Die Tochter steht schon unter der Tür und fragt, der Mutter Blick meidend, ob sie jetzt wieder an ihrem französischen Aufsatz weiter arbeiten könne. Sonst ist sie ungemein auf Lob erpicht. Heute aber hört sie kaum, wie Gertrud ihr zärtlichst dankt und nach Kräften ihre Flinkheit und ihren großen Ordnungssinn preist. Lise sieht längst nicht mehr, daß Mutter dann ihr Haupt schwer auf die gekreuzten Arme fallen läßt und in heiße Tränen ausbricht.
Im Hausflur steht der Pastor und hilft einfach und gemütlich To eine Schleuder machen.
»Aber du darfst sie nur nach dem Ziel richten, – hörst du? Und bloß draußen auf der Heide, To!«
»Aber nach Raubzeug doch auch!«
»Als ob er je etwas treffen würde!«
Höhnisch und unliebenswürdig hat der hinzugetretenen Schwester Stimme geklungen. Mesting wendet sich nach dem Mädchen um und gibt das Instrument an den Knaben zurück.
»Ah, – sieh da, – Lise! Wohl wieder fleißig gewesen? Sie kommen doch von oben und sind trotzdem so erhitzt, als wären Sie gelaufen und gesprungen!«
»Das tu ich nie!«
»Schade genug! Oder fühlen Sie sich schon zu erwachsen dazu?«
»Ja, vielleicht! Ich habe auch immer so viel zu tun. Ich freue mich so, wenn ich Ostern in das Institut –«
Mesting furcht die Stirne. Er sieht tiefernst, fast traurig aus. Seine Stimme hat nicht mehr den ironisierenden Beiklang, als er dann, indem er des Mädchens Hand ergreift, sagt: »Sie haben nun vor allem in der Familie eine große, eine heilige Pflicht, Lise! Die, Ihrer Mutter so viel zu sein wie nur irgend möglich! Sie sind die Ältere, – die Tochter! Sie stehen ihr natürlich als solche in mancher Beziehung am nächsten. Ihre arme Frau Mutter leidet schwer, – unendlich, – sie hat allzuviel mit dem Dahingeschiedenen ins Grab betten müssen. Und sie ist noch so jung!«
Er ist frappiert über den merkwürdigen Blick, den Lise ihm unter halbgesenkten Lidern zuwirft. Ihm dünkt er fast lauernd. Unangenehm fühlt er diese feuchtkalte Hand noch immer in der seinen und muß dabei an die kleine, feste, warme und trockene denken, die kurz vorher noch zwischen seinen Fingern geruht. Mit innerem Widerwillen läßt er sie fallen. Draußen jubelt Hanserl. Sie hat eben To getroffen, der mit seiner Schleuder bewaffnet, das kleine Mädchen zum Zielen auf die Heide mitnimmt. Hand in Hand gehen die beiden. Hanserl zwitschert dazu wie ein Vögelchen, daß man es bis hieher hört. Lise furcht die Stirne und wirft einen bösen Blick hinüber.
»Viele, viele Liebe muß Ihre unglückliche Frau Mutter nun um sich haben und behalten. Die muß sich für sie aufrichten in immer wieder neuer Gestalt. In Ihrer und Ihres Bruders Gestalt, Lise! Sie ist der göttliche Hauch, der alle Wesen durchströmt, um sie wie den Lenz von Ewigkeit zu Ewigkeit mit seinen bezaubernden Blüten und Farben zu schmücken. Hüllen Sie Ihre Mutter ganz darin ein. Suchen Sie sich doch einmal das dreizehnte Kapitel im ersten Brief an die Korinther hervor. Den Preis der Liebe: ›Und die Liebe verträget alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles!‹
Langsam schreitet Horst von Mesting zur Türe, die offen steht und eine Flut gelblichen Abendlichtes hereinläßt. Mitten darin steht jetzt seine hohe, schwarze Gestalt. Der Pastor erhebt die Hand gegen das Mädchen, vor er die Pforte hinter sich zuschlägt.
»Denken Sie immer daran, Lise: ›Glaube, Hoffnung und Liebe! Die Liebe aber ist die größeste unter ihnen!‹«
Ende des ersten Bandes.
Buchdruckerei Roitzsch, G. m. S. H., Roitzsch.