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Siebentes Kapitel

Gertrud Degenhardt kann es nicht begreifen, daß da draußen Tageslicht sein soll. Freilich trüb und grau, namenlos trostlos und kalt, aber dennoch, – ein neuer Morgen! Sie hat nach dem nächsten besten gegriffen, um es sich als Hülle um die Schultern zu schlagen, wie sie jetzt das Fenster aufreißt. Die Luft ist unerträglich dick, heiß, von Staub und einem Gemisch der heterogensten Gerüche erfüllt. Von dem Tuch auf ihren Schultern steigt ihr noch ein ganz besonderes Parfüm in die Nase. Damit kommt ihr auch eine Erinnerung: Papa! Vor einigen Tagen, auch schon früher und gestern, – immerzu, – ging auch von ihm dieser leise süßliche Geruch aus. Sie entsinnt sich, das Tuch an der schönen Frau eines bekannten Arztes gesehen zu haben. Die hat Papa selbst nach Haus gebracht. Er benutzt ja natürlich sein Quartier in der Karlsstraße bei diesem Zustand der eigenen Behausung. Das junge Mädchen reißt das Tuch herunter und wirft es voll Ekel auf den Boden, auf dem Krusten von Parkettwachs, zertretene Bonbons, Blumenreste, Zigarrenasche und klebrige Flecken von Limonade und Bier sich breiten. Gertrud fühlt, wie ihre Lider sich entzünden durch das grelle Licht. Wie ihr Blick einen Spiegel trifft, erschrickt sie. Fahl sieht ihr ein Gesicht mit übergroßen Augen daraus entgegen. Alles Duftige ihres Gewandes scheint gewichen, sein Glanz verschlungen von einem stumpf-kreidigen Ton. Sie preßt ihre Hände vor das Antlitz. Namenlos häßlich findet sie sich. Mürrisch und übernächtig schleichen der Hausbursche und ein paar Mädchen, alle noch in ihren Sklavenkleidern herum, um sofort das Gröbste in Ordnung zu bringen. Keines weiß aber recht, wo anfangen. Außerdem ist der Bursche betrunken und kämpft mit Übelkeit. Fräulein Finchen geht jammernd durch die verödeten Festräume, in denen von den letzten Gästen wirklich eine Orgie gefeiert worden war. Gute Sachen sind zerbrochen, Schmuckstücke, auch echte und kostbare, verloren worden. Nun sammelt die Gute was immer sie findet und verschließt es sorglich. Es scheint gar nicht möglich, daß die Villa je wieder ihr altes Gesicht bekommen könnte. Fräulein von Hartmann bietet einen so komischen Anblick, daß in Traudl, die großen Sinn für Humor hat, selbst in dieser Stimmung die Lust aufsteigt, laut hinauszulachen. Statt des abgelegten Gewandes trägt das verschrumpfte Persönchen einen kurzen, roten Flanellrock, dessen Schlitz offen steht. Über eine bunte türkische Jacke hat sie eine graue Lodenjoppe aus Ludwigs Zimmer, das als Bierstübchen arrangiert war, geschlungen. Der Besitzer dieses Kleidungsstückes schläft hinter der Bühne zwischen Versatzstücken quer über einigen Polstern, und sie hat den wie tot Daliegenden mitleidig mit einem Teppich bedeckt, der in seiner antiken Echtheit voll von Rissen und Löchern ist. Ludl kann in seiner Jugend und überschäumenden Kraft noch kein Maß. finden bei irgend einem Genuß. Fräulein Finchen rückt verzweifelt an ihrer turbanartigen Kopfbedeckung, die sie trotz aller Anstrengungen nicht herunterbekommen kann. Ein heißes Dankgebet schickt sie innerlich zum Himmel empor, daß Eckebergs noch immer nicht nach München zurückversetzt sind und Otto gerade jetzt eine Reise nach dem Süden unternommen hat. Daß Ingo in Paris ist und selten nach Hause kommt, ist schade. Der paßte fast so gut herein wie Carlo, der junge Maler, der mit Professor Buchlehner abgezogen, um bei diesem zu kampieren, und auch ebensogut wie Herr Max. Der war ihr erklärter Liebling, wenn auch noch immer keine Aussicht bestand, daß der Fünfundzwanzigjährige endlich seine Studien ernstlich betreibe. Hier in der Münchener Stadt ist er nur noch bummeliger und übermütiger geworden, als er schon in Berlin gewesen. Er verträgt sich großartig mit seinem Alten, der sich wieder seinerseits unter dem Einfluß des Sohnes aufs betrüblichste noch mehr verjüngt hat. »Alles ist ja doch umsonst,« seufzt Fräulein von Hartmann, die in ihrer Engelsgeduld nun bald zwanzig Jahre dieses Haus regiert und doch auch nicht mehr zu den Jüngsten gehört. Sie spürt es wirklich schon manchmal, besonders an den Nerven. »Geht alle zu Bett, – Sie, Christian, und ihr, Mädels.«

Der Bursche flieht in unheimlicher Geschwindigkeit, die Sklavinnen aber bleiben grinsend vor ihr stehen.

»Bett! – Dös is gut!? I glaub', Sie spinnen! Natürlich, wir können uns ja im Kabinett draußen überanand legen. Das is der einzige Platz, wo net türkisch umg'modelt is.«

Die andere mault auch vor sich hin: »Auf die Weis' ist kein' Ordnung drei Wochen lang nimmer. Und die Arbeit Tag und Nacht. Eine verrückte Gaudi. Und i weiß doch auch, was Fasching is!«

Aber Trinkgelder hat's nur so geregnet. Zwei Herren haben in ihrem seligen Taumel, – war's aus Irrtum oder im Überschwang ihres Dankgefühls sogar ein Goldstück in die Hand eines der dienstbaren Geister gleiten lassen.

Wie Fräulein von Hartmann Gertrud erblickt, stürzt sie erst eilig hinaus und kommt mit einem fremden Überzieher wieder herein, den sie dem Mädchen um die Schultern hängt. Einer der Herren hatte ihn dagelassen.

»Aber lieb's Trauderl, den Tod könntest du dir ja holen.«

»Mir ist gar nicht kalt, nur, – nur so unbehaglich. Es sieht zu furchtbar bei uns aus.«

»Ja, – ja – so möcht' man sich meiner Treu' den Weltuntergang vorstellen,« seufzt die Gute, »aber Trauderl,« sie tritt dicht zu dieser heran, und die neugierigen runden Vogelaugen werden ganz groß, »sag' doch, der Herr Professor, – wie heißt er doch gleich, weißt du, der ausländische da, der als Beduine –«

»Roland Halliger,« kommt es schnell wie geflüstert über des Mädchens Lippen. Sie macht sich von den beiden Händen los, die sie am Gewand gefaßt haben.

»Wo ist die Mama?«

»Drüben! Aber Trauderl, – der – der hat dir aber einmal den Hof gemacht!«

Da sieht sie den Ausdruck, mit dem Gertrud hinausstarrt ins Tageslicht, das jetzt silbrig durch die wieder geschlossenen Scheiben strömt.

»Jesus, – Mäderl!«

Sie greift nach deren Hand und schaut gerührt in das blutjunge, glückliche Gesicht, in dem es stürmt und arbeitet unter den verschiedensten Gefühlen und Empfindungen. Das kleine Trauderl am Ende gar schon Braut! Die Augen wollen ihr aus dem Kopf treten. »Geh, mir kannst du's doch schon sagen!«

»Ja, du Gute, – ich hab' mich heute nacht mit ihm verlobt. Aber schweige wie ein Grab, keines soll es noch wissen.«

Ein Ruf Frau Thildes, der in den öden Räumen gellend hallt, verhindert einen Gefühlsausbruch des alten Mädchens, dem unter allen Umständen Verlobung und Hochzeit das Interessanteste im Leben bedünkt.

»Bleibe, – ich gehe hinunter zur Mama, und sorge du, daß auf ein paar Stunden Ruhe wird. Wir haben sie alle recht nötig!«

Während Fräulein Finchen sehr aufgeregt über die Neuigkeit, die sie leider so tief in ihren flachen Busen vergraben soll, wie ein fleißiges Hausgeistchen herumschießt, da Silber verwahrt, dort irgend welche zerbrechlichen Gegenstände aus einer gefährlichen Lage rettet, ist Gertrud drunten bei ihrer Mutter. Bei deren Anblick erschrickt sie. Die Perücke liegt am Boden. Dürftig und kurz steht wild das graue, krause Haar um das verfallene Gesicht, auf dessen schlaffen Zügen die Fettschminke durcheinander gewischt ist. Halb hat die unordentliche Frau sich schon des kostbaren malerischen Gewandes entledigt. An dessen anderem Teil zerrt und reißt sie rücksichtslos, wenn er sich irgendwo oder -wie nicht lockern will. Sie sieht nun über ihre Jahre alt, aber seelenvergnügt aus. Auch ist sie gar nicht aufgeregt oder unglücklich über die Verwüstung. Sie würde nicht viel damit zu schaffen haben. Bei solchen Gelegenheiten pflegt die Hausfrau sich mit irgend welchen Resten der famosen Leckerbissen in einen Winkel, einerlei wie dieser aussieht, zurückzuziehen, und da unter Träumereien oder schriftstellerischen Arbeiten in Seelenruhe abzuwarten, bis der Gatte, Fräulein von Hartmann an der Spitze seines Regimentes, wieder Ordnung geschaffen hat. Eines der Mädchen hatte bereits für die gnädige Frau ein Lager gemacht.

»Du hast Fräulein Finchen gerufen? Kann ich dir nicht helfen?«

»Doch, doch! Aber ich dachte, du wärest, – Gott, beinahe hätte ich ›zu Bett gegangen‹ gesagt,« sie kichert vergnüglich und zerrt dazu ungeduldig weiter an der purpurfarbenen Seide.

»Komm', lasse mich's tun, Mama! Mach's doch nicht ganz kaputt, – wär ja schade darum. Siehst du, nun geht es ganz gut.«

Sorgsam entkleidet sie die Mutter und hüllt sie in einen bunten Flanell-Schlafrock.

»Aber schön war's, Traudl, gelt?! Papa ist doch Meister im Arrangieren. Alles war in einem Entzücken und einer Begeisterung. Lenbach war ganz weg und Kaulbach auch. Und so lustig waren unsere Gäste.«

»Das weiß Gott!«

Frau Degenhardt blickt erstaunt bei diesem Ton zur Tochter auf. Dann verzieht sie wie ein schmollendes Kind den Mund und macht sich unwirsch von den helfenden Händen los.

»Ich weiß gar nicht, wie du bist oder geworden bist. Schon bald wie Hela oder Otto. Man möchte doch wirklich glauben, du wärest eine alte Jungfer statt siebzehn Jahre!«

Gertrud schweigt; sie weiß nichts darauf zu antworten. Da kommt Fräulein von Hartmann herein und frägt nach Isolde.

»Die? Aber die ist ja mit zu Burgers. Sie schläft bei ihnen!«

Unruhig dreht sich Frau Degenhardts Jüngste um.

»Aber der Schwager hat seine Frau, sobald ihr unwohl geworden, doch schon nach drei Uhr weggebracht, und Isi war um sechs noch da!«

»Leutnant Reich, – bildschön hat er wirklich in dem Kostüm ausgesehen, – hat mir in die Hand hinein versprochen, Isolde sicher bei der Schwester abzuliefern. Du lieber Gott, das arme Ding konnte doch wegen des Malheurs, das Emmy gehabt, nun nicht auch noch auf einen Teil des Festes verzichten.«

Bei Nennung des Leutnants hatte Gertrud mühsam einen Aufschrei ersticken können. Fräulein Finchen war auch sichtlich erschrocken, hatte kummervoll ausgesehen und war mit einem sprechenden Blick auf das junge Mädchen eiligst verschwunden. Traudl tritt dicht an die Mutter heran. Ihre Stimme bebt.

»Mutter! Bist du ein Kind? Träumst du denn ganz und gar?«

Sie faßt die erstaunte Frau unsanft am Arm und schüttelt sie förmlich.

»Wohin soll es führen, wenn du Isolde so leben läßt?! Ja, weißt du, ... siehst du, ... hörst du denn nichts?«

»Jetzt wird es mir aber zu bunt! So ein netter, feiner Mensch wie dieser Reich! Er ist verliebt, ja, – und wenn die beiden sich heiraten wollen, – ich habe nichts dagegen. Du bist nicht bei Trost! – Ach, überhaupt, seit du wieder zu Haus bist, sind nichts als Quälereien, Aufregungen und Ungemütlichkeiten! Früher herrschte immer Frieden, wenn nicht gerade die zwei –«

Gertrud bittet Otto und Hela innerlich, wie schon so oft, inbrünstig gar vieles ab. Leise nur sagt sie: »Ja, Mama, du magst wohl recht haben; ich verstehe euch, – wenigstens manchmal, – wirklich nicht mehr.«

»Jetzt spielt gar sie noch die Beleidigte! Schön das! Geh', Trauderl, sei gemütlich, – sei net überspannt!« ahmt sie den Gatten nach. »Übernächtig bist du eben; gehe jetzt nur schnell hinüber. Sie haben dir auch einen Winkel gerichtet. Ich sterbe ja vor Müdigkeit, – du nicht? Ah–h–h–h–tsch!«

»Gute Ruhe, Mama!«

Sie kann ihr keinen Kuß auf das verschmierte Gesicht geben, nicht einmal die Hand vermag sie der Mutter zu reichen.

Fragend schaut diese ihrem Kind nach:

»Reinewegs krank muß sie sein. Bleichsucht oder so etwas!«

*

Eine Weile steht Gertrud vor dem noch immer in todähnlichem Schlaf liegenden Bruder, bevor sie ins Hinterhaus geht. Nur die Wände ihres verdunkelten Zimmers sind drapiert, sonst ist das bis auf ein rasch improvisiertes Lager ganz leer, weil auch hier getanzt worden ist. Sie wirft sich sofort in die Kissen, um sich dort gleich wieder empor zu richten, indem sie die Hände um die aufgezogenen Kniee schließt. Geräusche des lebhaften Tages klingen an ihr Ohr. Ein Milchwagen schettert auf dem Pflaster, und die Schellen der Tram klingen. Draußen ist's hell, – hier so dunkel! Auch in ihrem Inneren ist's düster. Schlaf will ihr keiner werden. Ihre Nerven sind zu erregt und überreizt. So kauert sie auf der wackeligen Ruhstatt und lebt ihr verflossenes Leben wieder, mit einer Intensität, die ihr die winzigsten Einzelheiten plastisch vor Augen führt. Sie sieht darauf zurück wie ein Wanderer, der in Nebel und Wolken einen gefahrvollen Pfad geschritten ist, und wenn es klar wird, plötzlich voll Schrecken erst gewahrt, welche Abgründe ihn, den Ahnungslosen, bedroht haben. Die Kniee wollen ihm wanken auf sicherem Boden, und der Herzschlag will stocken. Diese Pfade aber war Gertrud Degenhardt allein gewandelt. Roland Halliger hat noch keinen Teil gehabt an diesen Erinnerungen, unter die sich doch auch wieder so viel Schönes, Unvergleichliches mischt. Ihr ist, als würde sie nun an seiner Seite, seinen Namen tragend eine völlig andere werden und die Vergangenheit abstreifen wie ein Schmetterling die Hülle. Emporstreben, emporsteigen zum Licht! Keinen Schatten jener Empfindungen, die wohl meistens Mädchen dem Erwählten zuführen, leiten sie bei der Wahl ihres Gatten, zu dem sie in unbegrenztem Vertrauen und tiefer Verehrung aufblickt. Keine himmelstürmende Liebe, leidenschaftlich und heiß, rücksichtslos und selbstsüchtig, führt sie zu ihm. Ihre ungeweckten Sinne kennen noch kein wildes, unbändiges Verlangen. Wenn sie so mit jeder Faser ihres Fühlens an ihn denkt, fällt ihr ein, wie sie sich als Kind wohl die Mondbewohner vorgestellt: ganz mild, ganz sanft und brav, etwa so wie Onkel Toni. Leise flüstert sie vor sich hin: »Roland, – Roland Halliger!«

Der Jahre im Elternhaus gedenkt sie als eines einzigen solchen Faschingsfests, wie es eben gefeiert ist. Nichts von ruhiger Klarheit und Festigkeit, nichts von Bestand, nirgends ein rechter Ruhepunkt, eine Insel des Vertrauens. Die zwei Institutsjahre in der Schweiz haben ihr zwar keine besonderen Schätze tiefen Wissens erschlossen, aber sie hatte wenigstens nichts Schlechtes gelernt. Das ist schon sehr viel! Im ersten Jahr war auch Lilli Brandt, die Jugendfreundin, dort gewesen. Diese aber hatte ein Heim, nach dem sie sich gesehnt, und war nach Jahresfrist als Sechzehnjährige jubelnd dorthin zurückgekehrt. Gertrud aber schrieb nach Haus und – bat um Verlängerung! Neue, – jüngere und ältere Mädchen kamen nach. An keine hatte sie sich angeschlossen und hatte ein Sonderleben geführt. Von den zwei Pensionsmüttern waren ihr viele Freiheiten gestattet gewesen; auch in einigen Familien durfte sie verkehren. Besonderes sprang nie dabei heraus. Jetzt, hinterher, begreift sie erst, daß Hela einst in ihrem ehrgeizigen Streben – Bücherweisheit geht ihr ja heute noch über alles – sich selbst das vorzügliche, aber strenge Münchener Institut Ascher zudiktiert hatte. Sie war eine der besten Schülerinnen gewesen und hatte sogar das Lehrerinnen-Examen glänzend bestanden. Ein Herzensband wollte sich absolut nicht um die Schwestern, die allein schon durch die enorme Kluft der Jahre getrennt waren, schlingen. Aber Gertrud kann jetzt Hela und Otto besser begreifen, und daß sie geworden wie sie sind. Allein dennoch – Bruder Otto! Sie schüttelt sich und fährt sich über die Stirn. So vielerlei faßt sie auch wieder gar nicht. Keinen Übergang kann sie finden von manchen Dingen, die sie erlebt hat. Diese seltsame Welt, diese seltsamen Menschen, am seltsamsten die Männer darunter! Die Frauen glaubt sie ganz zu verstehen. Aber eben die Männer! Zum Beispiel gerade Otto! Der Strenge, tugendhaft Gerechte, der Mißtrauische, bitter Verachtende! Kurz bevor sie damals nach der Schweiz gereist war, hatte sie einmal diesen Bruder beobachtet, wie er das dicke Hausmädchen, ein schmieriges, unschönes Ding, umschlungen gehalten. Sie kann so vieles nicht begreifen und ist noch völlig rein und kühl von innen heraus. Höchstens in den letzten Monaten hat sie ein wenig über das Verhältnis beider Geschlechter zueinander nachgedacht. In diesen jüngsten Wochen aber ist sie in jeder Weise dazu gezwungen worden! Das alles bildet eigentlich ein wüstes Chaos in ihrem Kopf. Zufällig hatte ihr das Schicksal, – auch in der Schule, – keine Freundinnen in den Weg geführt, die es gereizt hätte, eine Unwissende aufzuklären. Mit Isolde und Emmy hatte sie nie gut genug gestanden, und Bruder Ludwig? Der war ein wilder, leichtsinniger und fauler kleiner Strick gewesen, wenn ihm eine Materie nicht zugesagt. Aber es beherrschte ihn ein für seine Knabenjahre merkwürdig stark ausgebildetes Anstandsgefühl. Oder war's Herzenstakt? Jedenfalls ließ er der jüngeren Schwester ihr Reich. Er achtete den ›heiligen Ring‹ und rümpfte dazu patzig nach Jungenart die Nase. »So ein dumm's Mädl, das braucht noch lang nicht alles z' wissen!«

Gertrud Degenhardt hüllt sich fester m die bunte, warme Decke ein und streckt sich lang aus. Todmüde ist sie, – aber Ruhe kann sie doch nicht finden. Vor ihr zieht Bild auf Bild herauf, ganz bunt, erst zitternd und unklar, dann deutlicher, endlich zum Greifen. Auch jene Tage, da sie Kunz Manzinger ihren Freund genannt. Was mag aus ihm geworden, – wo mag er hingekommen sein? Daß eine Reihe von ihm verfaßter Bücher erschienen ist und er sich indessen einen ersten Platz in der modernen Literatur erworben hat, weiß sie noch gar nicht. Nur von Ingo, der als Journalist und Schriftsteller mit seiner etwas merkwürdigen Frau dunkler Herkunft in Paris sein Domizil aufgeschlagen, hat sie einmal gehört, daß Kunz Manzinger auch im dortigen Paradies lebe, oder doch wenigstens gelebt hatte. Der seltsame Mann, aus den verschiedensten Eigenschaften zusammengesetzt wie ein bunter Mosaikboden ohne regelrechtes Muster, hatte so unendlich viel in ihr Kinderleben getragen. Und sie hatte als kleines Mädchen gelogen und betrogen, Wichtiges versäumt und Pflichten vernachlässigt, um nur mit ihm zusammentreffen zu können. Wie oft war das in der Liebfrauenkirche geschehen. Er hatte die Zwölfjährige so gut verstanden. Aus dem regen jungen Hirn holte er die Phantastereien heraus, die darin rebellierten, und aus dem kleinen, übervollen Herzen mit seinem Schatz an Liebe die heißen Strahlen. Darin sonnte er sich. Er besaß eine Verehrung, eine besondere Wert- und Hochschätzung für das Kind im allgemeinen. Ein Wesen ganz besonderer, ja heiliger Art war es ihm. Weit später hatte Traudl erfahren, daß Onkel Toni sich dem Dichter zu nähern gewußt hatte; ohne daß sie es wußte, waren sie Freunde geworden. Das Resultat bestand darin, daß Professor Buchlehner, dessen scharfen Augen so leicht nichts entging, kein Veto eingelegt hatte gegen die Freundschaft des Kindes mit dem Dichter. Wenn es bei dem Onkel im Atelier gesessen und begeistert berichtet hatte von einem Ausflug oder dem Besuch eines Museums mit Manzinger, dann freute sich der Künstler über den sichtbar guten Einfluß, den der versonnene Mann auf Gertrud ausübte. Und Onkel Toni warf keinen Schatten auf den klaren Spiegel dieser kindlichen Seele. Zwei volle Jahre hatte der Verkehr gedauert. Trotz allerlei feindlicher Angriffe, Verdächtigungen und Antipathieen, denen der Dichter ausgesetzt war, blieb er Sonntags dennoch fast ständiger Gast im Hause Degenhardt. In dem Gewirbel, das dann darin herrschte, hatte er sich immer wohl gefühlt. Kurz nachdem Traudl ihren vierzehnten Geburtstag gefeiert und draußen in den Bergen wieder einen schönen Sommer verbracht hatte, traf sie ein harter Schlag. Kunz Manzinger war fort. Nur ein verrückter Brief blieb ihr von ihm. Sie besitzt ihn noch heute. Unter heißen Tränen war sie zu Onkel Toni gelaufen, damit dieser ihr ihn vorlese und auch erklären möge. Wie gut erinnert sie sich jener Stunde! Nebenan hatte der lustige Buchlehner vor einer seiner lachenden, bunten Landschaften gestanden und dazu G'stanzeln und Schnadahüpfln abwechselnd gepfiffen und gesungen. So seltsam weh hatte ihr dieser Kontrast getan. Und der Brief! So oft hatte sie ihn noch später gelesen, daß sie nun fast jedes Wort auswendig kennt:

»Ja, – Ihr seid etwas, das niemand weiß und enträtseln kann. Eine stille Organisation für sich, – etwas in die Welt Hineinwachsendes! Etwas Ungewisses! Süße Träume stiller wacher Nächte seid Ihr. Knospen! Dich, Dein Unentfaltetes, in dem es glühend pocht und brennt, liebe ich! Noch! Noch liebe ich es! Aber ich gehe von hinnen; denn ich fühle etwas herbeischreiten, von dunklen Höhen herabschweben auf den Schwingen der Zeit. Ich gehe, denn ich will nicht Zeuge sein, wenn die verzerrungsfreudige Natur Dich zum Weibe macht. Einen unangetasteten Schatz will ich in mir tragen können. Gestern sah ich Dich noch tanzen; es war wie ein Abschiedsfest, es war eine Ode! Aber Du wirst später anders tanzen, und sie werden stehen und Dich bewundern. Ganz anders, wie ich dies holde Wunder anstaunte, als Du tanztest im Parke, draußen bei dem stillen Schloß mit den stillen, herbstesbunten Bäumen, mit den stillen Wassern und den stillen Schwänen.

Du Ungewisses, Du Unendliches! Kind! Ich küsse Dich, ich küsse Deine fliehende Kindheit. Ich fühle in Dir – um Dich – das Kommende. Ich fliehe das Weib! Aber Deine süßen Augen nehme ich mit und ihren blanken, schimmernden Spiegel. Du Traum! Wenn eine Zeit kommen könnte, wieder ein Lenz mit solchem Blühen und Blätterrauschen, die Dich abermals zu dem machen könnte, was Du warst, nur dann möchte ich Dich Wiedersehen. Kind!! Ich gehe! Ich küsse Dich!

Dein Dichter.«

Onkel Toni hatte sich damals hinter den Ohren gekratzt, ein paarmal über die Stirn gestrichen und halblaut gemurmelt: »Ein Überspannter ist er doch!« Dann gab er der Kleinen irgend eine Erklärung, die allerdings aus einer recht freien Übersetzung dieses Epos bestand.

Wenn sie von mancherlei absieht, hat Gertrud doch auch wieder eine Kindheit gehabt wie andere. Eine mit den gleichen Freuden und Schmerzen. Sie hat auch die Eltern lieb gehabt wie andere Kinder die ihrigen. Aber mit der Zeit lebte sie sich weg von ihnen und meinte, sich immer nur noch mehr von ihnen weg leben zu müssen. Sie hatte begonnen in dem Gesicht des Vaters, in dem der Mutter zu lesen. Vieles Alte steht noch heute darin, aber auch eine Menge Neues. Das durchfurchte, verlebte Antlitz des schönen Degenhardt, dessen gelblockiger Bart und goldblonde Mähne heute keinen Silberfaden mehr aufweisen, obwohl solche vor Jahren bereits kurz aufgetaucht waren, sprechen Bände. Nein! Der Vater würde niemals einer jener Greise werden, die Verehrung einflößen und rühren, vor denen die lachende, aufdringliche Jugend sich unwillkürlich zu schweigen gezwungen fühlt. Er wird seine übertünchte, unechte Jugend wie die Lappen eines bunten Narrenkleides mitnehmen, wenn man ihn einst in den Sarg legen muß. Und es fällt Gertrud ein, daß sie kürzlich auf einem Ball über den Vater hatte sprechen hören: »Wenn sie dem Degenhardt einmal nicht rechts und links, zu Häupten und zu Füßen, schöne, tote Weiber dazu legen, so steigt er aus dem Grab und holt sie sich selbst, denn sonst findet der Uz keine Ruhe.«

Und die Mutter! Wie ein Chamäleon schillert auch sie in allen Farben. Auf gewissen Gebieten hatte sie das Bedürfnis empfunden, sich zu bilden und Versäumtes nachzuholen. Wenn sie auch jederzeit ruhig von Neapel am atlantischen Ozean gesprochen hätte, mit Philosophie hatte sie sich nicht erfolglos beschäftigt. Das dadurch Erworbene verwob sie mit den zarten Gebilden ihres Geistes, und ihre Symbolik hatte Sinn und Verstand. Vielleicht hatte die Mutter sich auch gar nicht verändert, seit ihre Jüngste auf die Welt gekommen. Diese wird immerzu hin und her gezerrt in ihren Gefühlen zu ihr. Heute dünkt Mutter ihr verehrungs- und liebenswert, morgen fühlt sie sich verletzt durch zahllose Dinge, vernachlässigt und zurückgesetzt, und keine Brücke führt von ihrem Herzen zu der ihr plötzlich wieder völlig fremd scheinenden Frau.

Das junge Mädchen breitet mit tiefem Aufseufzen die Arme weit aus in heißer Sehnsucht. An ihr Ohr klingt es sanft, milde und verheißend: »Ich liebe dich!« und »Seedland!«

Allmählich senkt sich ein Nebel vor ihr nieder, ihre Augen schließen sich, und ihr Ohr wird völlig taub für das gedämpfte Gelärm der Straßen. –

 

Am Nachmittag steht Anton Buchlehner sinnend vor seiner Ex-Braut, wie er sie jetzt lachend nennt. Sie liegt auf dem Diwan und schläft tief und fest wie ein Kind. Er winkt dem etwas plumpen, breitspurigen Bruder Franz, damit er möglichst leise sei, und den Käfig des kecken Harzer Rollers trägt er in die Küche.

»Das Trauderl, – schau, schau! Und mein lieber Roland Halliger! Das war fast wie eine Naturnotwendigkeit. Ich hab' mir's doch gleich gedacht. Aber schief geht's da niemals. Schön und gut wird's, – das glaub ich für g'wiß!«

Höher zieht er die Decke über den schlanken Mädchenleib und freut sich dessen Formen. Ganz sachte muß er auch noch über die heiße Wange streichen, die erglüht war unter dem Geständnis, das die kindliche Braut dem alten Freunde gemacht.

»Mein Trauderl!«


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