Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwanzigstes Kapitel.

Jahre sind hingezogen über Seedlands Dach und über die Leben darunter, die aufwärts und abwärts schreiten. Sichtbar hat sich so wenig ereignet und verändert. Nur die Jugend zeigt wie der junge Lenz Keime und Sprossen, lustiges Grünen, Wachsen und Gedeihen und bringt Neues mit jedem Morgen. Wie ehemals sitzt Seedlands Besitzer in seinem Rollwagen; sein Leiden hat sich inzwischen nicht mehr verändert. Wenn das Haar auch völlig ergraut ist, so sind die glänzenden Augen in dem blassen, vornehmen Gesicht, sind Herz und Geist gleich frisch und jung geblieben. Noch weniger hat die alte Mutter Zeit über Frau Gertrud Macht gehabt. Völlig unverändert scheint sie in ihrer schlanken, mädchenhaften Gestalt und mit dem blühenden Gesicht. Ruhe und gute Luft des Landlebens halfen wohl viel zur Konservierung dieser Schätze. Lise und To, die prächtig gediehen sind, haben besondere Wünsche begraben müssen. Das ehrgeizige Mädchen fühlt sich hier heraußen, bei der Erziehung nur durch eine Gouvernante und des Bruders Lehrer, gefesselt an Händen und Füßen. Wenn doch die Eltern sie nach Berlin oder sonstwo in ein möglichst gutes Institut gegeben hätten! Sie hätte ohne die Spur eines Herzeleides jede Stunde Heimat und Eltern verlassen. Lernen! Wissen! Und dann glänzen damit! Dunkel schwebt ihr eine Zukunft vor, von einem Wust unreifer Ideen gebildet, und sie selbst irgendwie der Mittelpunkt darin. Eltern und Bruder spielen dabei keine Rolle. Trotz all diesem Streben aber haßt sie alles, was in das frauenrechtlerische Gebiet fällt und zieht verächtlich die Mundwinkel herab, wenn die Mutter davon spricht. Wie kann diese nur so überspanntes Zeug kultivieren und unterstützen! Tante Hela hat doch eigentlich ganz recht, wenn sie diese neue Richtung dumm und unanständig nennt. Diese meint: »Das Weib hat in seinen Grenzen zu bleiben, und jene Bestrebungen sind eben Auswüchse!« Lise liebt die Tante ungemein; mehr als irgend einen anderen Verwandten. Die Großeltern sieht sie wohl ab und zu, den Onkeln bleibt sie aber auch räumlich recht ferne. Mit Otto steht sie sich noch am besten. Wenn nur die Eckebergschen Vettern anders wären. Sie bedauert deren Eltern so, daß diese trotz aller auf die Erziehung der Söhne verwendeten Mühe und Sorgfalt nur Kummer und Sorgen mit ihnen erlebt haben. Der Onkel hat sich von jeher freilich nur wenig um sie gekümmert. Er denkt an nichts denn an seine Karriere und wird sicher demnächst noch Minister. In aller Stille bereiten sich Eckebergs vor, zur katholischen Kirche überzutreten. Der Herr Präsident hat scharfe Augen und eine feine Nase und sieht und riecht, was sich in weiter Ferne zu bilden beginnt.

Tos Traum war immer das Kadettenhaus gewesen. Aber ihm geht es wie der Schwester; auch er muß verzichten. Der Junge aber tut es, – wenn auch seufzend, – doch mit dem Bewußtsein, durch den Entschluß der Eltern schweren eigenen Herzenskonflikten entgangen zu sein. Er hätte sich nur unter tausend Schmerzen von Vater und Mutter getrennt. Die entschädigenden Ferien würden ihm kurz wie ein einziger Tag erschienen sein; und er fühlt auch, wie grausam es gewesen wäre, den leidenden Vater zu verlassen und auch die Mutter, die so aufgeht in dessen Pflege und nur für die Ihren lebt. Und doch weiß er, sie für sich hätte selbstlos und selbstvergessen den Kindern ihre Wünsche erfüllt. To gesteht sich auch ein, daß sie beide verwöhnt werden. Mutter, die sich besser in ihre Lage versetzen kann wie der Vater, glaubt nun auf jede Weise die Kinder dafür entschädigen zu müssen, daß sie hier auszuhalten gezwungen werden. Sie ist unendlich nachsichtig, wenn ihr Sohn unter Ägide Herrn Feders, – seines Hofmeisters, – eine chronische Abneigung zeigt, sich für Latein oder gar Griechisch zu interessieren. Tief bedauert sie, daß er nicht Lises Ehrgeiz, Streben und Stetigkeit besitzt. Und doch: wie reizend ist er in seiner ewigen, sonnigen Heiterkeit und den unerschöpflichen Talenten für alle brotlosen Künste. Sein Zärtlichkeitsbedürfnis und weiches Gemüt bei all seiner jungenhaften Wildheit erwärmen Gertrud wieder, wenn Lises Wesen sie angekältet hat. Aber dann strömt erst recht eine heiße Welle nach der anderen gerade zu diesem Kind, das ihr ferner und ferner zu rücken scheint, je älter es wird. Mit all den tausend Fäden ihres Herzens und ihrer Seele sucht sie die Tochter an sich zu fesseln und gibt und gibt aus dem reichen Born ihres Seins, ihres Wesens, ohne jemals viel dafür zurückzuempfangen. Aber sie will es sich selbst nicht gestehen und vermeidet beinahe ganz, mit ihrem Mann darüber zu sprechen. Sie gewahrt, wie auch dieser beobachtet, und daß ihn das kühle Fremdsein Lises schmerzt. Nur beschönigen, bemänteln und vertrösten will Gertrud. Sie meint, wenn das junge Mädchen erst älter und ausgeglichener sein werde, so würde sich das alles ändern. Und unverdrossen wirbt sie weiter und weiter um Seele und Herz ihres Kindes. Der alte Onkel Buchlehner, der indessen völlig weiß geworden, aber sonst eben so jugendlich wie das Degenhardtsche Ehepaar geblieben ist, schüttelt bei jedem Besuch in Seedland mißbilligend den Kopf. Er ist nicht zufrieden mit dem Werben Gertruds. In deren Mutterherz voll Nöten und Zweifel, voll steter dumpfer Angst kann er nicht sehen. Er weiß auch nicht, daß in seiner Traudl noch immer ein geheimer Schmerz, eine süßtraurige Erinnerung lebt, die zu betäuben sie eine Weltvoll Liebe brauchte, und daß sie in ihren Kindern das sucht, was ihr noch fehlt, daß sie sich an sie klammert wie an ein Rettungsseil.

Wenn die Eltern aus München nach Seedland kommen, herrscht nur frohe Heiterkeit im Haus, wie überall, wohin das stattliche frische Paar sich wendet. Hier scheint der alte Uz in seiner schlimmen Art gestorben, während man sagt, daß er daheim noch recht lustig lebe. Frau Thilde wird angebetet von jedem, der sie kennen lernt, denn sie ist eine berühmte Frau geworden, ohne die so häufigen Schwächen und Fehler einer solchen. Sie verhätschelt To, der den Großeltern sehr zugetan ist, macht aber keineswegs ihrem Enkelkind Lise den Hof, wenn ihr das nicht selbst näher zu treten sucht. Immer wird Frau Degenhardt fertig mit dem Leben und regt sich so wenig wie ihr Mann auf, wenn man ihr einen Stein in den Weg wirft. Sehr lange hält das alte Paar es aber nie aus in Seedland und fühlt, daß es dort nur vorübergehend als Gast taugt. Darauf folgt ein kurzer Besuch in Berlin bei ihrem Sohn Max, der ein schweigsamer, strenger Mann geworden ist und sich fast übertrieben hingebend seinem Beruf widmet. Darauf flattern sie aufs Geratewohl in die Welt hinaus, frisch und vergnügt wie Kinder. Diese alljährliche Reise gönnen sie sich. Sonst aber sind sie sparsam geblieben, wie Degenhardt es damals gelobt. In seiner Verehrung für das weibliche Geschlecht ist er sich, trotzdem er schon über Siebzig ist, gleich geblieben. Die Form ist nur eine andere. Heute könnte er nicht mehr einer schönen Mondaine das Leben vergolden wie einstmals, aber man nennt ihn nicht umsonst den unverwüstlichen Uz. Er versteht, die Verhältnisse recht zu nehmen. Irgendwo weiß er immer ein paar lustige, niedliche kleine Dinger, die anspruchslos sind und ihn gerne mögen. Für diese langt es immer noch. Er beschenkt sie generös mit den in solchen Fällen üblichen, wohlfeilen Niedlichkeiten, worüber sie ihre helle Freude haben, und läßt sie bei den billigen Landpartieen nach Starnberg, ins Isartal oder auch nur nach Nymphenburg nicht aus dem Lachen herauskommen. Haar und Bart färbt er sich nicht mehr, aber der liebe, lustige, alte Herr wird trotzdem angebetet wie nur jemals, – der schöne Degenhardt. O, er kann noch küssen! So gut, daß sich die roten Mäuler lüstern spitzen und sich ihm selten versagen. In der Gesellschaft hat er auch nicht verloren. Weder bei den Herren, obgleich er nicht mehr hoch jeut, noch bei den Damen, denen er keine kostbaren Vielliebchen oder Blumenarrangements mehr schenken kann. Er triumphiert innerlich über diese Erfahrung, die er nie für möglich gehalten hätte. Er macht's also auch ohne vielen Mammon. »Uz, i gratulier',– hatte er lachend seinem auch jetzt noch flotten Spiegelbild zugerufen. Mit seinen Söhnen steht er noch genau wie früher, höchstens weichen er und Otto sich noch mehr aus als einst. Max, in Berlin, ist kaum zu rechnen ebenso wie Ingo, der in Geringschätzung seines Vaterlandes völlig Pariser geworden ist und kaum mehr den heimatlichen Boden betritt. Carlo und Ludwig, die Modernsten aus der Degenhardtschen Familie, verstehen sich aber gut mit dem Alten. Sie schätzen seine wertvollen Eigenschaften und wissen sich mit seinen schlechten abzufinden.

Nachdem Carlo, sozusagen auf seine alten Tage, noch beinahe eine große Dummheit durch eine Heirat gemacht hätte, die Ludl mit knapper Not verhindert hatte, stürzte er sich ordentlich in seine Arbeit. Was ist er nicht alles? Bildhauer, Maler, Dekorateur, Töpfer, Glasbläser, – nur so schillernd in Talenten. Er schwört auf das Kunstgewerbe. Sein bester Freund ist und bleibt Bruder Ludwig. Sie bewundern sich neidlos gegenseitig und gehen, wie ein Paar Schwestern, stets möglichst gleich gekleidet. »Völlig kindisch seid's ja, ihr alten Esel,« lacht Degenhardt; ist aber doch innerlich stolz, wie elegant und schick seine Söhne in ihren Biedermeierröcken, bunten Westen und mächtigen hohen Kragen aussehen. Sie verdienen auch einen ganzen Happen Geld, häufen aber trotzdem ganz und gar keine Schätze an. Ludwig illustriert längst auch für deutsche Journale, und zwei Münchener Blätter verbrauchen seine Zeit fast ganz. Carlo glaubt innerlich fest an eine heimliche, ganz ernste Liebe des Bruders zu Grete Mannes. Es war sicherlich kein Zufall, daß dieser bereits zweimal die Schwester gerade dann besuchte, wenn das schöne und geniale Mädchen seine Ferien im heimatlichen Forsthaus verbrachte. Auch hatte Ludl eine sichtliche Wut auf den Norden, insbesondere auf Kopenhagen, – wo Grete bis dato ihr Hauptdomizil aufgeschlagen. Es scheint aber, als ob das Baufräulein, – wie Ludl Grete immer nennt, mit dem Künstler ausschließlich auf freundschaftlichem Neckfuß bleiben wolle. »Eine Gans ist s' doch, wenn sie den Ludl nicht nimmt,« denkt Carlo. Er ist keineswegs sicher, ob er, hätte er von des Bruders Neigung nichts geahnt, sich den letzten Sommer nicht selbst an Grete herangemacht hätte. Sie ist eben wirklich ein Prachtweib. Seit die Vierzig bei Carlo geschnackelt haben, erfaßt ihn immer wieder eine gewisse Lust zum Heiraten.

In des jüngsten Degenhardt Atelier kehren zwischen all den Skizzen möglichst elegant gekleideter Damen der Welt und Halbwelt häufig die Köpfe von Gertruds Kindern wieder. Der Lises fast immer im Profil, das sich schon wunderhübsch herausgearbeitet hat, To dagegen meist en face genommen, so daß den Beschauer das Paar glänzend brauner, großer Augen anstrahlen kann. Ab und zu aber lugt ein reizendes, apartes Kinderköpfchen mit einem Wüste von blonden Löckchen aus den Blättern; in Kohle, Rötel, Bleistift, oder auch zart in Pastell hingeworfen. Leuchtende Farben muß das Kind haben: Goldiges Geringel, dunkelblau die Augen und ein tiefes Rot der Gesundheit auf den vollen Bäckchen. Hanserl! Das Original springt draußen in Seedland herum, geliebt und gehätschelt von jedermann, nur, – wenn auch heimlich, – mißachtet und schlecht behandelt von Lise, die ihm jegliches Recht bestreitet, sich im elterlichen Haus so breit zu machen. Nein, Recht hat das Hanserl wirklich keines! Aber es tut ganz dergleichen, wenn es so munter quer übers Heideland ins Herrenhaus springt. Jeder bekommt einen lustigen, meist etwas bayerisch klingenden Zuruf, ein helles Lachen und ein lebhaftes Zunicken, daß die gelben Ringeln nur so fliegen. Seit es in der Schule ist, benimmt es sich längst weit manierlicher, so daß To bedauernd meint, die kleine Johanna, Hanserl genannt, würde sicher noch ganz affektiert und abgerichtet. In stillen Stunden aber, wenn die Wurmholzer-Kathl ihr Mädelchen tüchtig abgeküßt hat, gibt sie ihm gute Lehren, daß es net gar z'frech sein sollte, sondern stiller und bescheidener und so weiter, – die dann auf guten Boden fallen. Das Hanserl ist klug und brav.

Seedland sieht nicht viel Dienstboten aus- und einziehen. Die Kathl aber ist doch der eisernste Bestand darunter. »Schlachten, grad schlachten ließ i mi für mei' Herrschaft,« pflegt das treue Mädchen bei besonderen Anlässen zu äußern. Und sie sagt es nicht nur, sondern sucht es auch zu beweisen, so viel sie kann. Und Kathl hier, Kathl dort! Kein Mensch kann Frau Gertrud so gut bei der Pflege ihres Mannes helfen, niemand ist so vortrefflich auf allen Gebieten des Haushaltes beschlagen und niemand ist trostbringender und ruhiger bei vorkommenden Krankheiten der Kinder wie sie. Als die Wurmholzer-Kathl vor Jahren ins Haus gekommen, war sie zuerst nur einige Monate geblieben. Mit rotgeweinten Augen, in ein mächtiges Umschlagetuch gehüllt, hatte sie an einem kalten, späten Septembermorgen das Haus verlassen, um eine schwerkranke, nahe Verwandte in Berlin aufzusuchen und zu pflegen, wie Frau Gertrud insbesondere den Kindern gesagt hatte. Sie selbst aber war früh aufgestanden, hatte Kathl bis zum Tor begleitet, ihr nochmals die Hand gegeben und dazu gesagt:

»Also, leb' wohl, sei nur guten Mutes und hab' keine Angst. Du hast ja bewiesen, wie stark du bist; es geht gewiß alles gut. Hast du auch den Brief an meinen Bruder? Der Herr Medizinalrat wird gut zu dir sein und dir sicher helfen, soviel er kann. Er hat es mir versprochen. Wenn es dann vorbei und du wieder frisch und wohlauf bist, – aber daß du dich richtig erholst und ordentlich auspflegst, – dann kommst du wieder. Für das Kleine ist ja alles prächtig abgemacht, und Berlin ist nicht so weit!«

Die Kathl hat vor Schluchzen damals nichts sagen können. Nur die Hand hat sie der gnädigen Frau immer wieder geküßt. Ende November kam sie dann zurück; ein wenig blaß und hohlwangig zwar, aber kräftig und munter. Zuerst schien alles gut zu gehen, dann aber wurde das Mädchen stiller und stiller, und wenn sie allein war, kamen ihr leicht die Tränen. Frau Halliger glaubte ihm anzusehen, daß es mit irgend einem schweren Entschluß ringe, aber nicht mit sich ins reine kommen könne. Endlich fragte sie Kathl direkt, was sie habe. Da faßte es das starke Mädchen, das abgemagert und elend geworden war, wie ein Sturm. Wild, unter Schluchzen stieß es hervor: »I weiß, es ist schlecht, überhaupt daran zu denken, wo mir doch die gnä' Frau errettet hat aus aller Not, so viel 'tan hat und so engelgut ist. Aber, – aber, i bin wie rein verhext, i – i – i – halt's net aus, – nimmer lang, – und wenn i auch undankbar werd' damit, – i muß, – muß.« Tränen erstickten ihre Stimme völlig. Stumm, – ergriffen von dem Größten, Heiligsten, stand die junge Frau.

»Ich weiß,« sagte sie leise, – »du willst zu deinem Kind! Du kannst die Trennung nicht ertragen!«

»Ja, ja,« schluchzte Kathl auf.

»Faß dich jetzt, ich – ich muß nachdenken und mich mit meinem Mann beraten. Du würdest sehr schwer von hier weggehen?«

»Mir wär's, als tät i mir selm a Trumm vom Herzen wegreißen, und doch« – »Geh jetzt an deine Arbeit, – später mehr darüber!« Demütig, ganz betroffen von dem weichen, innigen Klang der Stimme, von dem Gesichtsausdruck und den feuchten Augen der gnädigen Frau, schlich Kathl hinaus. Das Abendrot fiel durch die offene Tür auf sie und hüllte ihre große, etwas plumpe Gestalt in ein leuchtendes Gewand. »Eine Mutter,« dachte Gertrud. Sie ging hinauf und schloß ihre beiden Kinder fest in die Arme.

Frau Halliger lief dann auffallend oft aus und ein im Häuschen des alten, kinderlosen Bammersten, der Briefträger ist. Seine Frau, frisch und rüstig, hat ein gutes Herz. Oft hatte diese bei Gertrud, die sich um alle Leute der Gegend bekümmert, geklagt, wie allein sie sei und war ganz unglücklich darüber. Ostersonntag legte dann der Hase den alten Bammerstens ein seltsames Geschenk ins Nest. Lise und To durften es gleich besehen und dachten in ihrer kindlichen Naivität nicht anders, als daß es in Wahrheit wohl in aller Ordnung der Storch gebracht habe. Samstag abend war eine Frau aus Berlin gekommen und war in Bammerstens Häuschen mit einem Bündel eingetreten. Wie es dunkel geworden, schlich Kathl sich hinüber. Glückselig, lachend und weinend, kniete sie vor dem kleinen, nagelneuen Bettchen, das zu ihrer größten Überraschung bei den Alten plötzlich bereit gestanden. – Und Kathl wurde wieder blühend und lustig und dicker jeden Tag. Das Hanserl auch! Und weil es so hübsch, lieb und fröhlich war, so war es endlich weit öfter herüben im Herrenhaus zu finden als bei den Pflegeeltern. To liebte das lustige Ding, sobald etwas mit ihm anzufangen war, und hält es bis heute ohne weitere Überlegung für Bammerstens Hansel. Die klugen, hellgrauen, wasserklaren Augen Lises aber verfolgen heimlich seit langem jeden Blick, jede Bewegung Kathls, wenn das Kind im Haus ist. Sie hat auch da und dort mit scharfem Ohr allerlei erhorcht und denkt sich längst ihr Teil. Sie schätzt die langjährige Dienerin, weil sie den Wert eines guten, treuen Dienstboten längst begreift, liebt sie aber keineswegs wie To, der überhaupt nach ihrer Meinung so lange kindisch bleibt. Gegen Hanserl aber bäumt sich in ihr etwas auf. Ein dumpfes, besonderes Gefühl der Abneigung. Nur gegen einen Menschen fühlt sie noch Ähnliches. Das ist Onkel Detlev! Als er wieder gekommen war nach langer Zeit, bevor er eine ganz ausgedehnte Forschungsreise antrat, – hager, braun, mit scharfem Gesicht und unruhig flackernden Augen, da hatte sie das gleich verspürt. Ähnliches fast schon bei Ankunft seines Briefes, in welchem er seinen Besuch angemeldet hatte. Expreß war dieses Schreiben gekommen, gerade während des Essens. Die Mutter war schneeblaß geworden und hatte dem Umsinken nahe geschienen. »Du hast wieder eine Reihe zu schlechter Nächte durch mich gehabt,« hatte mit sanftem Vorwurf Vater gesagt. »Kathl muß dich ein bißchen vertreten, wenn es nicht bald besser wird.« »I mein' aber auch, gnädig Herr! Wie die gnä Frau ausschaugt, – ganz derletzt!« schon hatte die servierende Kathl eiskaltes Brunnenwasser an der Mutter weiße Lippen gesetzt. Damals hatte die Szene nicht den Eindruck auf Lise gemacht. Aber, was ein Kind früher sah und erlebte, ersteht ihm oft neu im Älterwerden, und die Zeit bringt für manches, das ihm ehemals dunkel geblieben war, einen Kommentar. So erinnert Lise sich heute noch ganz genau, daß Mutter während der Tage, die Onkel Dombrowsky in Seedland verbracht hatte, seltsam rastlos und von ausgelassenster Lustigkeit gewesen war. Aber von einem Spaziergang mit ihm kam sie schweißbedeckt und aschfahl nach Haus; und als der Onkel abgereist war, hatte Lise eines Tags die Mutter vor dem Schreibtisch des Vaters in Tränen gefunden. Dort stand und steht noch heute Onkel Detlevs Photographie. Darauf blicken seine Augen klar und ruhig, und seine Züge haben die Festigkeit eines ausgeprägten Willens und innerer Kraft. Nach Monaten hatte dann To im Papierkorb einen Umschlag mit fremdländischer Briefmarke entdeckt, der Dombrowskys Schriftzüge trug. Von da ab war plötzlich Mutter wie früher gewesen, und überschüttete fast leidenschaftlich die Ihrigen mit ihrer Liebe und Zärtlichkeit. Und gerade Vater hält so viel auf Onkel Dombrowsky, bewundert dessen so rasch erworbenes und vertieftes Wissen als Forscher und Geograph und schätzt und liebt ihn als Mensch wie als Freund. Überhaupt alle lieben ihn, – alle! Auch Mutter!

*

Es ist Mai draußen, und Seedlands Garten liegt in seinem schönsten Blütenschmuck. Die Syringengebüsche stehen voll und breit in vielerlei Farben, vom klarsten Weiß zum zartesten Lila, vom bräunlichen Violett zum schönsten Blau, das kaum mehr einen Stich ins Rötliche hat. Die Nachtigallen schlagen, und von Sardennen klingen die Geigen sehnsuchtstrunkener denn je.

Halliger und seine Frau lesen manchmal in den Vormittagsstunden zusammen. Heute wollen sie ein Werk genießen, das unter der neuesten Sendung des Buchhändlers ist. Mit einem hellen Ruf der Überraschung liest Gertrud den Namen des Autors: Kunz Manzinger. Wie ein Gruß aus ferner Kindheit mutet er sie an. Er ist ihr fast der Name eines völlig Verschollenen. Keiner der Brüder hatte den Dichter je wiedergesehen, nur vor langer Zeit hatte Ludwig ein paar Kritiken über seine Bücher gelesen und ein oder das andere Werk selbst, diese aber für furchtbar überspannt erklärt. Damit war für sie der alte Bekannte erledigt, der ohnehin mehr Ingos Freund gewesen. Gertrud hatte bis jetzt niemals etwas von dem längst im Ausland Lebenden gehört. Nun lauscht sie der prächtigen Stimme ihres Mannes, der die Einleitung vorliest. Das Buch heißt: ›Das Einzige!‹ »Dein Blick schweift so rätselhaft umher. Zuweilen zittert darinnen ein vergangener Kummer und eine neue Freude. Und dieser Blick fragt: Ist es etwas, das war? Ist es etwas, das kommen wird? Ich aber denke: auch du wirst ein Weib; auch für dich kommt einst eine heiße Nacht, wo das Licht die Finsternis begrüßt, wo die Blüten und Blumen betäubender duften, wo die Berge das Tal, die Erde den Mond, und der klare Tropfen den grünen Halm bewegen. Und du wirst die Angst vor dem Leben mit der Angst vor dem Tod vereinen, möchtest laut jubeln und leise klagen. Deine Seele aber blickt dich aus weiten Augen an. Du wirst erfaßt von süßer Schwäche und von einer mächtigen, herrlichen Kraft. Jetzt – jetzt sehnst du dich, ihm zu begegnen! Und dann wirst du Weib sein!«

Der Professor will eine Pause machen, vor er nach dieser Einleitung das Buch weiter liest. Er kommt aber nicht mehr dazu. Das Stubenmädchen meldet den Pastor von Mesting. Es ist der junge Nachfolger des greisen, verstorbenen Amtsbruders. Dessen alte Frau war schweren Herzens von Seedland geschieden und zu ihrer einzigen, verheirateten Tochter gezogen. Der jetzige, unvermählte Pfarrer ist ein vollendeter Weltmann. Er trägt sein Haar modern seitlich gescheitelt, und seine Hände sind wohlgepflegt, seine Wäsche tadellos. Er dehnt diesen Antrittsbesuch auch nicht weiter aus, als es Großstadtsitte und Brauch erlauben.

Dann ist Essenszeit. Halliger lobt das sympathische Äußere des Geistlichen und meint, er mache überhaupt einen angenehmen Eindruck. Darauf scherzt er lustig mit den Kindern und ißt mit gutem Appetit dazu. Nach Tisch fährt ihn Gertrud hinüber in sein Zimmer, damit er ruhe. Zärtlich wie immer küßt er sie.

Als sie nach der üblichen Stunde bei ihm eintritt, um ihn, wie er es wünscht, zu wecken, bietet sich ihr ein entsetzlicher Anblick. Stumm, mit blaurotem Gesicht und aufgerissenen Augen liegt Halliger auf dem Sofa, die Hände in die Decke gekrallt, die über seine Beine gebreitet ist. Gertruds Aufschrei alarmiert das ganze Haus. Gleich darauf stürzt der Gärtnerjunge nach dem Stall, um mit dem Wagen den Arzt von Sardennen zu holen. Pastor von Mesting, zufällig wieder in der Nähe, hat draußen den furchtbaren Schrei vernommen. Eine Sekunde bleibt er lauschend auf dem Feldpfad stehen, dann wendet er sich und geht, so schnell er kann, auf den Stall zu, wo er nach ein paar fragenden Worten wie selbstverständlich dem verdatterten Jungen beim Anschirren hilft. Dessen Vater unterstützt die gnädige Frau und Kathl oben beim Entkleiden und Zubettbringen des Patienten. Einen Augenblick verweilt der Geistliche noch unschlüssig unter der offen gebliebenen Stalltür und sieht dem dahinrasenden Gefährt nach. Ganz rätselhaft will es ihn bedünken, daß Frau Halliger die Mutter des hochaufgeschossenen Mädchens und des kräftigen Jungen sein soll. Wie tödlich erschrocken und ratlos muß sie sein?! Es zieht ihn mit Macht ins Haus, um seine Hilfe anzubieten. Aber er fühlt sich noch gar zu fremd. Kann er sich denn überhaupt dergleichen erlauben? Würde es nicht anmaßend scheinen? Und es möchte auch aussehen, als wolle er seine Seelsorgerdienste aufdrängen! Nein, nur ja nicht mißverstanden werden! Als Freund hat er nichts, – heimlich hofft er: noch nichts – dort zu suchen. Den Seelsorger aber würden sie schon rufen, wenn man nach ihm verlangte. Jedoch den beabsichtigten Spaziergang unterläßt er und langsam schreitet er wieder dem Pfarrhaus zu, das er soeben erst verlassen.

Eher als ein Mensch es zu hoffen gewagt hätte, ist der Doktor, den der Gärtnerjunge auf halbem Weg getroffen hatte, zur Stelle. Aber auch er ist völlig machtlos. Er kann nur einen bedenklichen Zustand konstatieren, äußerste Ruhe und Eisumschläge verordnen. Eine Medizin oder ein Mittel schreibt er nicht auf. Draußen nimmt Frau Halliger seine Hand und blickt ihn flehend an: »Sagen Sie mir die Wahrheit!« – Der Doktor, selbst dem Professor in großer Verehrung und Liebe zugetan, ist tief ergriffen. Betrübt und leise antwortet er: »Fassen Sie sich, arme gnädige Frau, – aber, – nach menschlicher Berechnung erlebt Ihr Gatte den Abend nicht mehr. Wünschen Sie ihm jedoch keine längere Leidensfrist. So wird sein Leben wohl schmerzlos verlöschen wie ein Licht!«

Ein heiseres Aufschluchzen der jungen Frau, deren Gestalt zusammenzuckt, sonst kein Laut.

»Ich muß nun gehen, denn die Pflicht ruft mich zu einer schweren Entbindung. Dort kann ich vielleicht helfen, hier aber, – der Patient ist fürs erste gut versorgt, – kann ich jetzt nichts mehr tun. Sobald ich frei bin, komme ich sofort wieder!«

Auf der Dorfstraße verscheucht er mit der Nachricht, daß der Herr Professor oben schwer krank wäre, ein Rudel Kinder, die lustig da spielen. Mitten darunter das Hanserl. Seine Löckchen flatterten wild um das rosige Gesicht, und so hell klang noch eben seine Stimme und sein Lachen heraus. Betroffen verstummt es jetzt aber. Eilig läuft es dem Kurier-Doktor nach und fragt ihn nochmals aus. Erst bleibt es blaß und erschrocken mitten auf der sonnigen Gasse stehen, dann aber rennt es ganz unglücklich und scheue Blicke auf das Gutshaus werfend, hinüber zu den Pflegeeltern.

Noch immer liegt Halliger mit geschlossenen Augen auf seinem Bett. Jetzt aber scheinen seine Züge wieder normal und völlig ruhig geworden. Eine Elfenbeinblässe bedeckt das plötzlich ganz schmal gewordene Gesicht und nur schwach und unregelmäßig geht der Atem.

Draußen ruht noch die Mittagssonne über dem Baumgezweige, und ein freudiges, helles Licht rinnt zitternd durch das flüsternde, lichte grüne Laub. Aber selbst diese weiche Helligkeit schmerzt Gertruds rotentzündete Augen, in die immer wieder heiße Tränen steigen wollen. Die zum weitoffenen Fenster hereinströmenden Düfte, jeder Blick hinaus auf die saftigen, blumigen Wiesen und die lockenden Vogelrufe voll Sehnsucht, zagen Glückes und hellen Jubels tun ihr wehe. Bange wird ihr, unendlich bange! Der Schmerz und die Sehnsucht stehen riesengroß vor ihr auf. Ihr ist, als hätte sie schon eine endlose Spanne Zeit diesen gütigen, klaren, liebevollen Blick nicht mehr gesehen und die volle, weiche Stimme nicht mehr sprechen hören.

»Lebe! Lebe mir, – uns! Lebe!« Schluchzend birgt sie das Gesicht in des Kranken Kissen. Aber – der rührt sich nicht, und die Zeit vergeht. Der Abend ist nicht mehr ferne. Wieder eine süße, kleine Vogelstimme aus einem der grünen Duftgehege. Die Uhr holt aus zu sechs langen Schlägen, und als verscheuchten sie die Sonne aus dem Garten, so flieht diese und läßt nur ein Stückchen ihrer goldenen Schleppe über den höchsten Baumwipfeln liegen. Da öffnen sich plötzlich Halligers Lider schwer und langsam. Kaum kann Gertrud einen Aufschrei unterdrücken, wie sie sich über ihn beugt. Er ist ganz bei sich, und sie fühlt, er hat einen Wunsch. »Die Kinder?« fragt sie. Ein schwaches Kopfnicken. Lautlos eilt sie hinaus und holt sie. An jeder Hand eines steht sie dann vor dem Bett. In Lises totenbleiches, junges Gesicht hat das Entsetzen und der Schrecken mit hartem Griffel hineingeschrieben. To ist dunkelrot; er atmet tief und keuchend und weint fassungslos. Die Mutter heißt die beiden knieen. Eine Sekunde lang ruht des Vaters Hand, die er nur mühsam hebt, erst auf dem blonden, dann auf dem braunen Haupt. Sprechen kann er nicht mehr. Müde fällt sein Arm dann herab und die erkalteten Finger streifen dabei die Wangen des erschauernden Mädchens. Eine seltsame Unruhe ergreift den Kranken. Seine Augen wandern von den Kindern zur Türe, wieder zu diesen zurück und abermals zur Türe.

»Wollt ihr, – ihn – noch – noch einmal küssen?« flüstert tränenerstickt die Mutter. Fast zu ungestüm, in schmerzlich heißer Zärtlichkeit pressen sich die blühenden Knabenlippen auf des Vaters wächserne Stirne und Hand. Die Schwester aber, von innerem, namenlosem Grauen geschüttelt, das fast den Schmerz überwiegt, streift nur zag, wie im Hauch, die welke Wange. Gertrud ahnt instinktiv, daß Roland mit ihr allein zu sein wünscht. Kaum haben die Kinder, – Lise fast wie auf der Flucht, To nur zögernd und langsam, – das Zimmer verlassen, ist es, als ringe der sterbende Mann um eine letzte Kraft, um ein paar armselige, letzte Worte. Allein vergeblich! Seine zitternden Lippen, seine Zunge versagen. Aber die Augen, die immer größer zu werden scheinen, sprechen. »Traudl,« rufen sie in stummem Schrei.

»Roland!«

Sie kniet zu ihm nieder. Am Fußende des Bettes steht ein Tischchen. Zwei Photographieen Detlevs zieren es nebst einem bunten Fliederstrauß. Während die schon halbstarren Finger des Weibes Hand mit deren jungem warm pulsierenden Leben mit letzter Kraft pressen, irrt der Blick Halligers zu Dombrowskys Bildern, wieder zu seiner Frau und immer öffnet sich der Mund, aus dem doch nur ein schwacher, unartikulierter Laut kommt. Gertrud möchte sich winden vor Pein. Was, was will er? Was wünscht er und sehnt er sich zu sagen? Was meint er? Ein dumpfes, ganz besonderes Grauen beschleicht sie, kalter Schweiß bricht auf ihrer Stirn aus, wie auf der des mit dem Tod Ringenden.

»Heiliger Gott, Roland, – hörst du mich? Was kann ich tun oder holen? – Hörst du mich?«

Es ist, als erreiche das Flehen der verzweifelten Frau doch noch die fliehende Seele. Kaum merklich bewegt der Sterbende das Haupt. Noch einmal schweifen die erlöschenden Augen zu den Bildern hinüber, dann zu seinem unglücklichen Weib und wieder verspürt diese den leisen Druck seiner Hand. Ein liebes, schwaches Lächeln, wie der Abschied nehmende, bleiche Strahl einer Wintersonne, breitet sich über das schon ganz verfallene, feingeschnittene Gesicht, und die Lippen hauchen deutlich: »Nicht – ni ... – –«

Auf den Knieen beugt sich Gertrud gierig lauschend über ihn.

»Nur noch ein Wort, einen Blick! Roland, mein Roland! Mein Heiliger!«

Aber der Tote hört sie nicht mehr.


 << zurück weiter >>