Paul Grabein
Im Wechsel der Zeit
Paul Grabein

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XXIV.

»Gnä' Herr, bitt' schön – ein Brief für den gnä' Herrn. – Der ist aber weit herumgegangen!« Zutraulich reichte das freundliche Stubenmädchen durch die Türspalte einen Brief zu Hellmrich herein, der noch dabei war, seinen Anzug fertig zu machen. In wenigen Minuten wollte er mit Rittner aufbrechen, zu einer kleinen Bergtour, nachdem sie schon ein paar Tage in dem Felsennest im österreichischen Winkel des Gardasees ihr Standquartier aufgeschlagen hatten.

Hellmrich nahm den Brief entgegen, ein ziemlich dickes Schreiben – die Handzüge seiner Frau! Sein Herz schlug schneller, und hastig riss er das Couvert ab, das alle die Poststempel der Orte trug, nach denen der Brief nachgeschickt worden war. Er war gerade am Tage nach Hellmrichs Abreise zu Hause angekommen und musste sich mit der kurzen Mitteilung gekreuzt haben, in der er seiner Frau seine plötzliche Abreise angekündigt hatte. Was mochte ihm Lotte zu sagen haben? Er liess sich auf dem Stuhl am Fenster nieder und las nun:

»Lieber Karl!

Wie soll ich Dir danken dafür, dass Du mir die Kinder hergeschickt hast! Hast Du mir doch damit einen geheimsten, innigsten Wunsch erfüllt, den ich mit tränenden Augen bei Tag und Nacht im Herzen mit verzehrender Sehnsucht gefühlt, den ich aber Dir nie auszusprechen gewagt hätte. Nun hast Du ihn mir erfüllt aus freien Stücken! Wie mich dieser Beweis Deiner Herzensgüte und – darf ich es sagen – doch auch Deines Vertrauens gerührt hat, das kann ich Dir nicht schreiben. Darum zögerte ich auch so lange mit meinem Briefe. Ja, Karl, ich wagte es nicht, Dir zu danken, Dir das zu sagen, was ich im Herzen empfinde. Weiss ich doch nicht, wie Du es aufnehmen wirst. Aber auf die Gefahr hin, dass Du diesen Brief verächtlich von Dir wirfst, ich muss – ich will es Dir nun doch sagen: Ich möchte vor Dir niederknieen und Dir die Hände küssen, die stets so gut und treu für mich und die Kinder gesorgt, die mir jetzt von neuem solche Güte bewiesen haben!

Ich harre immer noch Deines Entscheides über unsere Zukunft, den Du mir angekündigt hast. Dass Du mir nun aber die Kinder geschickt hast, Karl, darf ich das als eine stumme Botschaft auffassen, dass Du inzwischen die Ansicht gewonnen hast, dass mein Verfehlen nicht so schwer ist, um mir nicht nur die Rechte einer Frau, sondern auch die einer Mutter zu nehmen? Ich fasse es wenigstens so auf, Karl, und da Du mir so Deine Ansicht kund getan hast, und ich davon reden muss, so lass mich jetzt auch noch mehr sagen:

Sieh', Karl, ich habe nun hier in meiner tiefen Einsamkeit nachgedacht über alles, was uns im Laufe der Jahre so schwere Sorgen gemacht und mich schliesslich aus Deinem Hause getrieben hat. Ich habe mich – Gott ist mein Zeuge! – unbarmherzig geprüft bis in den letzten Winkel meines Herzens und ich darf sagen, ich übersehe mein Wesen, mein Denken und Handeln, jetzt so klar, wie es überhaupt nur ein Mensch imstande ist.

Bitte, höre mich nun auch Du so ruhig an, wie ich Dir schreibe, ohne jede Bitterkeit und Erregung. Aber hier, wo unserer beider Schicksal und das unserer armen Kinder auf dem Spiel steht, soll keine falsche Scheu mehr das Wort hemmen. Es soll und muss klar werden zwischen uns, mein lieber Karl, ganz klar zu unserer aller Bestem! Ich habe Dich geheiratet, Karl – und Du wirst es mir glauben – aus dem einzigen Wunsch heraus, Dich glücklich zu machen und gewiss, selbstverständlich auch in der Zuversicht, mein eigenes höchstes Glück in der Ehe mit Dir zu finden. Als ich damals Dein wurde, hatte ich ja freilich schon eine schwere Herzenserfahrung hinter mir und ich glaubte, dass mich diese bereits völlig gereift hätte, dass die Entwickelung meines Wesens damit abgeschlossen wäre. Aber das war ein verhängnisvoller Irrtum! Das unselbständige, leitungsbedürftige und widerspruchslos sich anschmiegende Geschöpf, das ich damals war, es war keineswegs die letzte Entwickelungsstufe von mir. Die Würde der verheirateten Frau, aber noch mehr ihre Bürde, vor allem die Sorgen und Nöte um der Kinder willen, sie haben mich erst innerlich gereift, sie haben mich vertieft und manches Empfinden zum Licht gerufen, das bis dahin, mir selbst unbekannt, in der Tiefe meines Wesens schlummerte. Es ist mir wohl kein Vorwurf daraus zu machen; ich habe Dir als Mädchen und Braut wirklich nichts vorgetäuscht oder verheimlicht an meinem Wesen, Karl! Ich habe mich Dir so offen gezeigt, wie ich es nur konnte. Ich bin ja selber oft ganz betroffen gewesen über die Änderung, die die Ehe mit mir vorgenommen hat. Ich will nicht über alle kleinen Einzelheiten reden, nur die grosse Hauptsache: Immer mehr entstand in mir das Bewusstsein, dass zu meinem Glück mehr gehörte, als bloss Deinem Hause vorzustehen und die Mutter unserer Kinder zu sein. Ich wollte mehr von Dir! Ich wollte vollsten Anteil haben an all den Sorgen und Freuden, die Dein Beruf mit sich brachte, ich wollte Dir ein wirklicher Gefährte, ein echter Kamerad sein. Und sieh', Karl – verzeih', es soll ja kein Vorwurf sein, nur die Feststellung der Tatsachen – das verstandest Du nicht, oder vielmehr Du wolltest es nicht verstehen! Aus prinzipiellen Anschauungen hieltest Du fest daran, dass eine normale Frau volles Genügen in Wirtschaft und Kinderstube finden müsse, dass es nur das Anzeichen für eine überspannte Auffassung oder krankhaft überreizter Nerven sei, wenn eine verheiratete Frau anderes begehre. Daher hast Du, erst im Scherz, dann im Ernst, stets alle meine Versuche unterdrückt, Dich zu einer anderen Ansicht zu bekehren. Vielleicht hätte ich das alles als eben den Ausfluss Deiner wirklich innersten Überzeugung schliesslich auch stillschweigend zu ertragen gelernt, um der Liebe willen, die ich für Dich und unsere Kinder empfand. Aber da kam das Schlimme: Ich musste mit ansehen, wie Du bei einer anderen Frau alle die Regungen, die Du bei mir als unweiblich unterdrücken wolltest, als berechtigt gelten liessest, ja dass Du sogar dieser Frau diese von mir so heiss ersehnte Stellung der Kameradin einräumtest.

Das aber habe ich nicht ertragen können, das ging über meine Kräfte und hat mich schliesslich in jenen Zustand von halber Verzweiflung hineingetrieben, in dem ich mich so schwer gegen Deinen Willen aufgelehnt habe. Aber wenn ich insoweit auch sagen darf, Karl, dass Dein eigenes Verhalten die Katastrophe mit hat herbeiführen helfen, so spreche ich mich doch keineswegs frei von Schuld, im Gegenteil, ich hätte das nun und nimmermehr tun dürfen, was ich getan habe – ich sehe es jetzt ja schon lange ein. Wenn es mir auch noch so schwer gefallen wäre, wenn mir Dein Verhalten noch so sehr als ungerecht und gefühllos erschienen wäre, ich hätte mich darum doch nicht ins Unrecht setzen dürfen – ich hätte im Gegenteil durch ein um so pflichtgetreueres Verhalten Dich zu einer anderen Auffassung bringen sollen. Das erkenne ich und bekenne ich jetzt aus tiefster Überzeugung und voll tiefster Reue, dass es nicht geschehen.

Aber ich erkenne noch vieles mehr, ja manches, das es mir jetzt begreiflich erscheinen lässt, dass Du mir die ersehnte Rolle einer Kameradin nicht hast zuerteilen mögen, da ich Dir gewiss nicht reif genug zu einer solchen Ehrenstellung schien. Ich habe Dich ja nur allzu oft mit meiner kindischen Empfindlichkeit und meinem übertriebenen Zärtlichkeitsbedürfnis gequält, ich war eben wirklich trotz allen Ernstes der Ehe und der Mutterschaft im Innern ein halbes Kind geblieben. Ich hatte mich nicht von meinem Mädchenwahn loszumachen gewusst, der mir die Ehe als ein ewiges, zärtliches Aneinanderschmiegen vorgegaukelt hatte. Nun aber ist die Binde von meinen Augen gefallen, Karl. Ich habe in den furchtbarsten Schmerzen, die die Seele einer Frau zerreissen können, erkennen gelernt, wie bitter ernst, aber auch wie gross die Aufgabe der Ehe ist, wie ihr oberstes Gesetz Selbstentäusserung ist! Du darfst es mir glauben, ich habe nunmehr ernsten Abschied von allem Jugendsehnen und ‑Wähnen genommen; ich werde keinen törichten Träumen mehr nachhängen, sondern nur eines noch kennen und mein Glück darin suchen, meinen Pflichten nachzuleben gegen die, die mir die Nächsten auf der Welt sind. Und ich fühle es, nachdem ich hier in der Einsamkeit mit mir selbst zur Ruhe gekommen bin, ich werde fortab auch die Kraft haben, dieses Vorhaben auszuführen.

So, mein Karl, das war es, was ich Dir sagen wollte, wie ich hoffe, noch bevor Du Deinen Entscheid über unsere Zukunft gefasst hast. Ich wollte Dir mein Inneres zeigen in der Veränderung, die die letzte Vergangenheit mit ihm hervorgerufen hat. Und was ich Dir antat, Karl, an furchtbarem Schmerz und schwerster Kränkung, dass ich es bereue unter blutigen Tränen – muss ich es Dir noch ausdrücklich mitteilen nach allem? Ich möchte Dir es zeigen dürfen – von Angesicht zu Angesicht!

Wie du auch entscheidest, stets

Deine Lotte.«

Mit tiefstinnerer Bewegung hatte Hellmrich diesen Brief gelesen. Eine Fülle von starken, treibenden Empfindungen stürmte auf ihn ein, aber er kam nicht dazu, diese sich zum Teil zuwiderlaufenden Strömungen sich ausgleichen zu lassen, denn es pochte abermals an seine Tür, und sein Reisegefährte trat ein.

»Nun, wo bleibst du denn heute nur? Wohl zu lange in den Federn gelegen –?« fragte er scherzend, brach aber ab, als er sah, wie Hellmrich mit noch immer lebhaft bewegtem Gesicht schnell einen Brief in seiner Brusttasche versteckte.

»Ich bin schon längst fix und fertig – erhielt nur eben noch eine längere Korrespondenz,« erwiderte Hellmrich hastig. »So, nun können wir aber abrücken.«


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