Paul Grabein
Im Wechsel der Zeit
Paul Grabein

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XII.

Frau Lotte hatte ihr Wort, das sie sich selbst gegeben, gehalten. Am andern Morgen, wie schwer es ihr auch fiel, hatte sie Hellmrich ihre Begegnung mit Simmert gestanden. Das, was sie gefürchtet, war zwar nicht eingetroffen, es war zu keinem Auftritt zwischen ihnen gekommen – Hellmrich, dem stets alles kleinliche Misstrauen fremd war, und der auch viel zu unerschütterlich von der unantastbaren Gesinnung seiner Frau überzeugt war und auf ihre Zuverlässigkeit als etwas Selbstverständliches baute, hatte gar nicht angenommen, dass etwas Besonderes dahinter stecken könnte – aber, was Frau Lotte trotzdem gereizt hatte, das war, dass ihr Mann das eben alles als etwas allzu Selbstverständliches auffasste, dass er so ohne weiteres annahm, dass alles von damals in ihr vergessen und überwunden war. Hier zeigte sich ihr wieder einmal von neuem, wie wenig Hellmrich es doch verstand, in der Seele einer Frau zu lesen. Schliesslich war doch Simmert immerhin der Mann ihrer Jugendliebe gewesen, und es war doch so ganz und gar nicht ohne weiteres selbstverständlich, dass diese ganze Episode ihres Lebens so einfach ausgelöscht war. Sie hatte es zwar ihrerseits natürlich für ihre Pflicht gehalten, sich Simmert gegenüber so zu benehmen, wie es geschehen war, aber sie hatte insgeheim erhofft und erwartet, dass ihr Mann ihr das als ein gewisses Verdienst anrechnen, dass er ihr Verhalten ein wenig bewundern und sie dafür loben würde. Wieder einmal vermisste sie an ihm das Zarte und Zärtliche, das sie sich so von ihm ersehnte.

Und dann: Hellmrich hatte ihr schliesslich gesagt, er verstände es überhaupt gar nicht, wie sie nach allem, was sie von Simmert erlitten, ihm überhaupt noch hätte gestatten können, sie anzureden. Das hätte sie doch eigentlich als eine schwere Beleidigung empfinden müssen, und es schmerze ihn, dass ihr Stolz ihr das nicht gesagt habe, dass seine Frau diesen Halunken überhaupt noch eines Wortes gewürdigt habe! Diese Worte liessen einen neuen Stachel in Frau Lottes Seele zurück; sie empfand den Vorwurf, der darin steckte, nur allzu bitter. Sie hatte sich zwar mit aller Gewalt bezwungen, im Augenblick, wo Hellmrich so zu ihr sprach, ihm scharf zu erwidern; denn um alles in der Welt, nur nicht wieder eine Szene, so wie damals! Um so mehr aber wirkte der Eindruck seiner Worte in ihr nach. Statt Anerkennung und Zärtlichkeit hatte sie Widerspruch und Tadel geerntet. Aber so war es ja stets; stets aufs neue trat die Verschiedenheit ihrer Charaktere, und zwar immer schärfer hervor. Nun ärgerte sie sich wirklich fast, dass sie überhaupt so töricht gewesen war, ihrem Gatten von der ganzen Sache zu erzählen. – – –

Wochen waren inzwischen hingegangen. Frau Lotte hatte heute einen vielbesuchten Kunstsalon aufgesucht, wo die berühmte Goethestatue eines stark modernen Bildhauers, eines Führers der Sezession, schon seit geraumer Zeit der Gegenstand starker Anziehungskraft für das Publikum war. Alle Welt sprach von diesem Goethe, die Zeitungen waren täglich voll über ihn, und so war denn auch Frau Lotte, die jetzt schon aus eigenem Antrieb manche Ablenkung und Zerstreuung von aussen her suchte, heute dorthin gegangen, um sich, wie schon lange vorgenommen, das grosse Wunderwerk einmal mit eigenen Augen anzusehen. Sie kam zu einer frühen Morgenstunde, wo erst wenige Besucher vorhanden waren. So stand sie denn in einer Nische der Estrade, von wo aus man etwas erhöht in den Saal hinabblicken konnte, und betrachtete das vielbesprochene Kunstwerk.

Durch ein Velarium fiel ein gedämpftes, bläuliches Oberlicht, wie in einem Mausoleum, in den grossen Raum, der sonst ganz leer war. Einsam, feierlich, inmitten drinnen stand die Statue von blendend weissem Marmor, auf die sich so die ganze Aufmerksamkeit des Beschauers konzentrierte. Der grosse Dichter war von dem Künstler ganz als Olympier aufgefasst. Eine unbekleidete Gestalt, schlank und jung, wie ein Apoll, und auch gleich diesem trug er die Lyra im Arm. Dazu ein jugendschönes Antlitz mit dem Lorbeerkranz geschmückt, das mit durchdringendem Blick in die Höhe schaute. Man musste sich erst an diese fremdartige Auffassung gewöhnen, die losgelöst von dem gewohnten Zeitkolorit, in dem wir die Darstellung Goethes zu sehen gewöhnt sind, den Dichterfürsten zeigte. Dann aber empfing man unzweifelhaft einen grossen, tief innerlichen Eindruck. Gerade die absolute Vergeistigung an diesem Bildwerk, das den Dichterheros loslöste von allen kleinen Beziehungen zum Vergänglichen und Alltäglichen und ihn hoch hinaufhob in die Sphäre des Göttlichen, wirkte packend.

Lotte stand in stillem Betrachten. Ihr erster Eindruck war der eines ziemlichen Widerwillens gegen diese willkürliche und ungewöhnliche Auffassung des Künstlers. Allmählich aber fühlte sie sich doch in längerem Hinschauen in den Bann des Kunstwerks gezwungen und war bald ganz in andächtige Betrachtung vertieft. Da störte sie plötzlich, dass unten in den Raum ein Herr trat, und sich gerade so vor die Statue hinstellte, dass er ihr die Aussicht auf diese zum Teil benahm. Sie sandte einen flüchtigen, missbilligenden Blick zu dem Fremden hinunter, aber in demselben Augenblick schrak sie zusammen: Der Herr da im eleganten Strassenanzug, in der Linken eine zusammengefaltete Aktenmappe, es war Simmert! Offenbar auf dem Wege in sein Amt, war auch er einmal hier eingetreten, um auch aus eigener Anschauung über diesen vielberufenen Goethe mitreden zu können.

Simmert stand eine Weile und betrachtete die Statue, dann wandte er sich langsam um, mit einer Miene, die keinen bemerkenswerten Eindruck verriet. Offenbar war die erwartete Sensation für ihn ausgeblieben, und es zeigte sich eher etwas wie ein ziemlich ironisches Lächeln um seine Lippen: Was man nicht für einen grenzenlosen Unfug mit diesem neuesten Kunstgötzen trieb! Er schritt nach dem Ausgang zu, da fiel plötzlich sein Blick auf Frau Hellmrich auf der Estrade da über ihm.

Er stutzte, erst Überraschung, dann – ihr nicht wahrnehmbar – ein blitzschnell aufleuchtendes Frohlocken in seinen Blicken, nun aber nahmen seine Mienen einen Ausdruck traurigen Ernstes an, und so schickte er sich an, die Stufen zu ihr hinauf zu schreiten.

Ein erneuter, noch heftigerer Schreck befiel Frau Lotte. Was konnte er von ihr wollen? Nach der Art, wie sie ihn neulich abgefertigt hatte! So erbarmungslos, so grausam, dass sie es selbst hinterher, als sie ruhiger geworden war, bedauert hatte. Nicht aus Mitleid mit ihm – o nein, er hatte ja damals auch nicht nach ihr gefragt, als er sie verliess! – aber aus einem andern Empfinden heraus. Sie hätte gewünscht, dass sie so recht begehrenswert, so recht gross und vornehm – anders als die Frau, mit der ihn das Schicksal bestraft hatte – vor ihm gestanden hätte. Und da hatte es sie hinterher verdrossen, dass sie neulich zum Schluss sich von ihrer grausamen Anwandlung hatte hinreissen lassen, dass sie sich so spöttisch, fast schadenfroh vor ihm gezeigt hatte, gerade in dem Augenblick, wo er, offenbar wirklich ergriffen, ihr sein eheliches Unglück angedeutet hatte. Das war hässlich, niedrig gewesen, und das hatte sie seither schon manchmal geärgert. Wie anders hätte sie ohne das immer vor seinen inneren Augen stehen können – wie würde ihm da so recht zum Bewusstsein gekommen sein, was er an ihr verloren hatte!

Manchmal hatte sie daher schon fast gewünscht, sie möchte ihm doch noch einmal begegnen – nur ein einziges Mal noch, und nur zu dem Zweck, um diesen schlechten Eindruck bei ihm wieder zu verwischen. Und nun bot sich ihr plötzlich, – ganz unerwartet – diese Gelegenheit, denn offenbar kam er doch hier nur herauf, um sie anzusprechen. Sollte sie nun diese Gelegenheit ergreifen, oder – wie ihr erstes Empfinden war – eiligst, ehe er noch heran war, sich entfernen? Aber ehe sie sich noch ganz schlüssig geworden war, trat Simmert schon auf die Estrade. Nun war ein Ausweichen nicht mehr möglich.

Simmert hatte sich seit jener Begegnung mit Frau Lotte in seinen Gedanken immer häufiger und eindringlicher mit dieser beschäftigt. Neben dem beruflichen Ehrgeiz war ja die Leidenschaft für die Frauen die Haupttriebfeder seines Wesens. Die eigene Frau hatte ihn, trotz all ihrer verführerischen Reize, auf die Dauer nicht zu fesseln vermocht. Ihn zog das Weib nur so lange an, als es ihn noch mit geheimnisvollen Reizen lockte; aber, wenn alle Schleier gefallen waren, kam alsbald Ernüchterung, ja Ekel über ihn. So hielt seine Leidenschaft, seine Liebe, nur eigentlich so lange vor, als es zu werben und zu erobern galt. Aber selbst dieses Spiel hatte durch allzu viel Wiederholung, durch eine gewisse Eintönigkeit schon stark an Reiz für ihn verloren. Die Frauen, die ihm als Beute zugefallen waren, sie ähnelten sich alle im Grunde recht sehr: Alles gefallsüchtige, oberflächliche Geschöpfe, die zu gewinnen eigentlich kein grosses Verdienst und Vergnügen war. Denn das Wild ergab sich gar zu schnell dem Jäger, und überdies degoutierte ihn stark der Gedanke, dass er zumeist nicht der Erste und sicher nicht der Letzte war.

Da war nun Lotte vor ihm plötzlich aufgetaucht, und – er konnte es sich schliesslich nicht mehr verhehlen – so lächerlich es war, sie, die er einst verschmäht, sie erschien ihm jetzt mit einem Male höchst begehrenswert! Gerade, weil sie so ganz anders war, als jene Frauen – in ihrer echt weiblichen Anmut und doch so voll herben, unnahbaren Stolzes. Ha, wie ihn dieses Wesen reizte! Wie sie ihn anzog, je mehr sie ihn abstiess! Neulich, wo sie ihn so übel hatte anlaufen lassen – er hatte zwar im Augenblick mit den Zähnen geknirscht, aber hinterher hatte es ihn geradezu toll nach ihr gemacht. Dieser Hochmut, diese Kälte! Wie verteufelt gut ihr das stand. Und dann erst der Gedanke, dagegen mal mit Erfolg Sturm zu laufen, nach hartem, langem, aber alle Sinne anstachelndem Kampf endlich auch eines Tages diese anscheinend so uneinnehmbare Feste zu erobern! Wahrhaftig, das wäre doch einmal etwas anderes gewesen – das hätte der Mühe gelohnt und die Frucht des Sieges erst gewürzt.

Und dann, es reizte ihn ganz besonders, das Weib voll zu besitzen, das er einst als halbes Kind noch gekannt hatte. Da Vergleiche zu ziehen! Wie anders mussten diese Lippen küssen, die inzwischen die Leidenschaft kennen gelernt hatten!

Aber es war ja Tollheit! Wie sollte er sich ihr überhaupt denn nähern, wo ihre Lebenskreise so getrennt waren, wo sie ihm feindselig jede weitere Begegnung mit ihr abgeschnitten hatte! Und nun plötzlich dieser Zufall! War es nicht wie ein Fingerzeig des Schicksals? Lächelte ihm nicht das Glück in unerhörter Weise? Einen Augenblick schwankte er nur – wenn sie ihn nun kalt abfallen liess?! Aber auf die Gefahr hin – er musste es versuchen! Er hätte sich ja diese versäumte Gelegenheit nie verziehen. Und zum Teufel! Warum sollte es ihm denn auch nicht glücken? Schliesslich war sie doch auch nur ein Weib. Und ein jedes ist zu gewinnen – wenn man's nur richtig anfängt. Darauf allein kam's an, nach seiner festen Überzeugung. Nun, und er war am Ende doch wohl der Mann dazu. Also auf denn! Frisch gewagt, ist halb gewonnen!

Aber nichts von diesen Gedanken verriet sich in Simmerts Mienen, als er nun, sehr ernst, mit tiefem, respektvollem Gruss auf Frau Lotte zutrat.

»Verzeihung, meine gnädigste Frau, wenn ich es doch noch einmal wage – trotz Ihrer neulichen schmerzlichen Zurückweisung. Ich hätte es auch nie gewagt, Ihrem ausdrücklichen Gebot zuwider, Ihre Gesellschaft zu suchen, aber nun, wo der Zufall – nein, offenbar eine Schicksalsfügung, mich Ihnen noch einmal begegnen lässt, da drängt es mich, nochmals zu Ihnen zu treten, und eine Frage, eine Bitte an Sie zu richten, die Sie mir neulich mit Ihrer schroffen Verabschiedung leider abgeschnitten haben, meine gnädigste Frau!«

Frau Lotte hatte inzwischen ihre Entschlossenheit wiedergewonnen. Ja, sie wollte ihm dieses Wort noch gewähren, er sollte sie heute als die ruhige, seelisch gefestigte Frau erkennen und respektieren lernen, die durch keine leidenschaftliche Erregung mehr verrät, dass die Wunden von einstmals noch schmerzhaft empfindlich sind. So antwortete sie denn jetzt, zwar gemessen, aber doch mit gesellschaftlicher Höflichkeit:

»Ich bin bereit, auch dieses letzte Wort noch von Ihnen zu hören. Bitte!«

Simmert schwieg eine Weile, wie in starker, innerer Bewegung, dann brachte er leise hervor: »Gnädige Frau, wie tief ich mein Unrecht, meine Verblendung von einst beklage – ich habe es Ihnen neulich eingestanden. Nun geben Sie mir wenigstens die tröstliche Gewissheit – das Einzige, was ich noch von Ihnen erbitten darf –« er legte ein wehmutsvolles Zittern in seine Stimme, – »dass Sie nicht mehr mit Zorn und Verachtung meiner gedenken, dass Sie mir vergeben haben. Bitte, bitte – gnädigste Frau, lassen Sie mich diesen Trost mit nach Hause nehmen!«

Lotte hörte seine, anscheinend aus tiefstem Herzen kommenden, flehenden Worte selber mit einer gewissen Bewegung an. Noch einmal überkam sie in diesem Augenblick die Erinnerung daran, wie nahe einst dieser Mann ihrem Herzen gestanden hatte. Seine offenbar doch aufrichtige Reue jetzt, die stille Resignation über sein verscherztes Glück, die aus der Tiefe seiner Worte heraufklang, das alles stimmte sie weich, fast mitleidig. Er war ohne Zweifel durch das Unglück seiner Ehe geläutert, sein Wesen war vertieft worden. Sollte sie da wirklich länger unbarmherzig sein, wo das Schicksal schon gestraft und gesühnt hatte? Und so antwortete sie ihm denn nach kurzem, letztem Kampfe mit sich selbst, in tief ernstem Ton:

»Sie haben mir zwar,« – ihre Stimme bebte – »so Schweres angetan, dass ich einst meinte, es nicht überstehen zu können; aber das ist nun vergessen. Und so will ich Ihnen denn heute auch alles vergeben!« Ihrem ehrlichen Empfinden unwillkürlich Ausdruck gebend, reichte sie ihm die Hand hin.

Er ergriff sie, anscheinend aufs tiefste bewegt. »Dank, tausend Dank!« flüsterte er. »In diesem Augenblick beschämen Sie mich auf's tiefste. Wie hocherhaben stehen Sie da in Ihrer echt weiblichen Güte und Hochherzigkeit, und wie habe ich an Ihnen gehandelt! – Mein sehnlichster Wunsch ist nur der, das noch einmal gut zu machen, das heisst – verzeihen Sie das Wort, denn was geschehen, ist ja selbstverständlich geschehen. Aber könnte ich mich doch Ihnen auch einmal Ihrer würdig zeigen, Ihnen durch eine Tat meine Ergebenheit beweisen! Bitte, vergessen Sie nie: Sie haben in mir einen Freund, über den Sie in jeder Stunde verfügen können! Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass Sie mir einmal Ihr Vertrauen bewiesen und meine freundschaftliche Hilfe annähmen. Das wäre mir das Zeichen, dass Sie in Wahrheit ganz verziehen haben, und nun – leben Sie wohl!«

Mit einer tiefen Verneigung trat Simmert zurück und wandte sich schnell von ihr; es schien ihm das Klügste, sich für heute mit diesem guten Abgang zu entfernen.

Frau Lotte blieb zurück in einer weichen, gehobenen Stimmung. Sie freute sich ihrer Grossmut, dass sie hochherzig dem verziehen, der ihr so Böses angetan hatte; sie freute sich auch, heute erkannt zu haben, dass Simmert doch nicht so schlecht war, wie sie gedacht hatte, dass er in sich gegangen war. So war sie denn aufrichtig dankbar für diesen Zufall, der das alles so gefügt hatte. Nun war doch die Situation zwischen ihnen beiden auch geklärt, und wenn sie sich wieder einmal in der Gesellschaft begegnen sollten, wie das doch so leicht vorkommen konnte, so konnten sie sich jetzt wenigstens mit völliger Unbefangenheit und ohne innere Erregung einander gegenübertreten.

 


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