Paul Grabein
Im Wechsel der Zeit
Paul Grabein

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XX.

An der Tür zur Wohnung des Geheimen Regierungsrats Simmert klingelte es zu vorgerückter Stunde so heftig, dass der Schall der Glocke schrillend durch den Treppenflur des ganzen, in vornehmer Ruhe daliegenden Hauses gellte. Schnell eilte der Diener, der eben mit einem Tablett aus dem Speisesaal herausgekommen war, hinaus, nach dem Urheber des stürmischen Signals zu sehen.

Draussen fand er an der Entreetür einen Herrn, einen ihm völlig Fremden, der, seine erstaunt missbilligende Miene unbeachtet lassend, ihn anherrschte: »Melden Sie mich sofort dem Herrn Geheimrat!« Er überreichte dabei dem Diener seine Karte. Dieser glaubte nach dem ganzen Auftreten des eigenartigen Besuchers sich wohl erlauben zu dürfen, vor dessen Augen einen prüfenden Blick auf die Karte zu werfen – ein ihm gänzlich unbekannter Name. Dann sagte er mit kühler Miene, sehr von oben herab und offenbar höchlichst verwundert über das merkwürdige Ansinnen, jetzt, gegen neuneinhalb Uhr abends, noch vorgelassen zu werden: »Bedaure sehr, Herr Geheimrat ist zu dieser Stunde nicht mehr zu sprechen. Ausserdem haben die Herrschaften heute Gesellschaft.«

»Sie werden mich trotzdem melden, – und auf der Stelle! Verstanden?«

Ganz betroffen blickte der Lakai auf den Besucher: Der Mensch war ja ordentlich unheimlich! Dieser Ton und dieses aufgeregt funkelnde Auge, er sah aus, als ob er ihm einfach an die Kehle gehen würde, wenn er ihm nicht sofort willfahrte. Achselzuckend entschloss er sich also und forderte mit einer stummen Handbewegung den Fremden auf, solange in die Diele zu treten, worauf er mit der Karte hineinging. Als er die Tür zum nächsten Zimmer öffnete, drangen das Geschwirr animierter Konversation, fröhliches Lachen und das helle Klingen von Gläsern hinaus auf den Vorraum und schlugen auch an das Ohr des späten Besuchers. Ein grimmiges Aufleuchten in dessen Augen war die Antwort darauf. –

Da drinnen war die Stimmung auf der Höhe; das Diner war seinem Ende nah. Geheimrat Simmert und seine Gemahlin, die ihm gegenüber mit dem vornehmsten Gast des Hauses, dem Minister, sass, tauschten stolz leuchtenden Auges einen Blick geheimen Einverständnisses. Sie konnten sich gratulieren! Das Diner war glänzend verlaufen. Alles war gegangen wie am Schnürchen, die Diener hatten tadellos serviert, alle Gerichte waren vortrefflich auf die Tafel gekommen, die Weine alle richtig behandelt gewesen: kurzum, alle Voraussetzungen für die Befriedigung ihrer Gäste waren geradezu ideal erfüllt worden, und diese hatten sich denn auch offenbar alle aufs beste unterhalten. Und was die Hauptsache war, Exzellenz – der Minister – fühlte sich sicher sehr wohl in ihrem Hause, er war in ausgezeichneter Stimmung. Mit liebenswürdigster Galanterie hatte er sich den ganzen Abend über mit der Hausfrau unterhalten, deren bestrickendes, pikantes Wesen, heute noch gehoben durch eine raffiniert kleidsame, kostbare Toilette, auch die alte Exzellenz in ihrer wohligen Tafellaune ganz gefangen genommen hatte.

Mit geheimer Befriedigung hatte Simmert, während er eine animierte Unterhaltung mit seiner Dame führte, beobachtet, wie sein hoher Chef mit den vollendeten Formen eines Kavaliers der alten Schule seiner Frau ganz enragiert den Hof machte – recht so! So stiegen seine Chancen nur immer mehr. Es hatte ja schon so manch einer durch seine schöne Frau Glück in der Karriere gehabt, und Melitta sah heute wahrhaftig brillant aus. Wenn sie nur klug war und jetzt ein bisschen für ihn Bresche legte – es konnte womöglich noch heute alles ins Reine kommen.

Simmert sah seine Frau bedeutsam an. Sie winkte ihm verständnisvoll mit den Augen zu: Verstehe! Werde jetzt wegen London mal auf den Busch klopfen! Und mit verführerischem Lachen, in reizvoll kokettem Spiel, in den Stuhl zurückgelehnt, sich dehnend und schmiegend, sodass ihre wundervoll graziösen, weichen Linien das Auge der Exzellenz, früher auch eines grossen Damenverehrers, geradezu entzückten, begann sie zu plaudern, sprunghaft, kapriziös – vom Süden, Paris, London – ah, wenn man das auch mal kennen lernen, dort womöglich gar einmal längeren Aufenthalt nehmen könnte! Das gesellschaftliche Leben dort hätte sie von jeher so angezogen, und so brachte sie geschickt den Stein ins Rollen, nach der gewünschten Richtung. Und Exzellenz – wirklich! – war zum Küssen, ging interessiert auf das Thema ein, ja, es war ja wahrhaftig, als ob er ihre geheime Absicht merkte! Er lächelte so still amüsiert, sah sie neckisch an, ja fragte jetzt sogar, was denn aber ihr Mann zu ihrer Passion für London sage, ob er sie wohl teile – die Sache war also im besten Zuge. Der Minister war offenbar so wie so schon halb entschlossen, ihrem Mann das Kommissorium zu geben. Triumph, Triumph! Nun also schnell noch die Situation ganz geklärt! Und mit Schmeichelblicken, süss bettelnd, wandte sich die »charmante, kleine Frau« an Exzellenz.

Da – was war das?

James war plötzlich hinter den Stuhl ihres Gatten getreten – mit so merkwürdigem Gesicht, halb verdutzt, halb moquant, und flüsterte Simmert etwas ins Ohr. Sie sah, wie ihr Mann, der gerade den Sektkelch hatte zum Munde führen wollen, mit ärgerlicher Miene abwehrte. Aber ein impertinentes Lächeln, ein Achselzucken von James – mein Gott, was unterstand sich denn der Mensch! – und nun reichte er Simmert eine Karte hin. Ein Blick darauf, und ihr Mann wurde bleich wie der Kalk an der Wand – zitterte so heftig, dass aus dem schäumenden Sektkelch die Tropfen aufs Tafeltuch herniederrannen. Was war das? Welche Hiobspost gerade jetzt – auf der Höhe ihres Festes? Wie abscheulich! Frau Simmert spannte ihre Aufmerksamkeit aufs höchste, während sie mit strahlendem Lächeln, aufgeregt scherzend zum Minister sprach – und richtig, ihr scharfes Ohr vernahm, wie Simmert gedämpft zu dem Diener flüsterte: »Gut! Gut! Führen Sie den Herrn in mein Kabinett. Ich werde kommen, – sowie die Tafel aufgehoben ist!«

Die kleine Szene war, wie sehr sich auch Simmert bemühte, sie zu cachieren, von den Nächstsitzenden doch nicht unbemerkt geblieben. Selbst dem Minister waren der Wortwechsel und das jähe Erblassen des Wirts aufgefallen, und teilnahmevoll wandte er sich plötzlich über den Tisch hinweg an diesen: »Sie haben eine unangenehme Nachricht bekommen? Hoffentlich doch nichts Ernstes, mein lieber Herr Simmert?«

Heisse Röte flackerte plötzlich auf Simmerts eben noch blassem Antlitz auf. »Nein, o nein, Exzellenz,« stammelte er. »Nur eine Ungeschicklichkeit meines Dieners – eine an sich gar nicht dringliche Privatangelegenheit.«

»So, so – aber bitte, lassen Sie sich gar nicht abhalten,« bat liebenswürdig der hohe Gast.

»Aber ich bitte, Exzellenz! Es hat selbstverständlich Zeit – bis nach Tisch. Wenn mich dann allerdings Exzellenz gütigst einen Augenblick entschuldigen wollten –«

So sass man noch etwa zehn Minuten bei Tafel – Simmert in forciert lebhafter Unterhaltung, fast überlaut scherzend und lachend, aber seine Frau, die ihn scharf beobachtete, sah, wie seine Finger in geheimer Erregung beständig zitterten und zuckten. Dann kam der geräuschvolle Aufbruch vom Tisch, in den Salons nebenan ein langes shake-hands, ein. durcheinanderschwirrendes »Gesegnete Mahlzeit!« und nun endlich der mit fiebernder Ungeduld erwartete und doch so gefürchtete Augenblick, wo Simmert zur Unterredung in sein Kabinett hinter dem Rauchzimmer eilen konnte!

Der ihm gemeldete späte Besucher hatte stehend, wie er gekommen, im Mantel, Stock und Hut in der Hand, gewartet. Nun ging die Tür auf, und es bot sich ihm für einen Moment ein Blick in eine lange Zimmerflucht, wo man mehrere Räume weiter das Ende der Festtafel sah; Lachen und schwirrendes Geplauder schallten aus den dazwischenliegenden Gemächern hier herein. Simmert, im Frack, trat sehr schnell ein und beeilte sich, die Tür schleunigst wieder hinter sich zu schliessen. Zugleich zog er eine Friesportiere zu, die sich davor befand. Mit einem grimmigen Lächeln beobachtete der Besucher diese Vorsichtsmassregeln: Der andere ahnte also bereits, was ihm bevorstand. Um so besser!

Nun stand ihm Simmert gegenüber und richtete jetzt zum erstenmal das Auge auf den späten Gast, die befremdliche, drohende Erscheinung des finsteren Mannes mit Hut und Stock in seinem eleganten Kabinett – Hellmrich! Mit unsicherem, schuldbewusstem Blick spähte Simmert zu ihm hinüber, gab sich aber ersichtlich alle Mühe, eine vornehm-gleichgültige Haltung zu zeigen, als er nun mit erzwungenem kühlen Erstaunen die Frage an Hellmrich richtete:

»Ein recht ungewöhnlicher Besuch – was verschafft mir die Ehre?«

Ein dumpfer, zischender Laut überschäumender Erregung entfuhr Hellmrichs Mund. Heftig trat er einen Schritt näher und stiess mit dem Stock auf den teppichbelegten Boden: »Zum Teufel mit dieser Komödie, du Schurke! Ich will deutsch mit dir reden!«

Der andere, in seinem eleganten Gesellschaftskleide, fuhr zusammen, als wenn ihn der Stock getroffen hätte, und blutleer wurde unter dem sorgfältig frisierten Blondhaar sein Gesicht, aus dem der Ausdruck kühler Gleichgültigkeit im Augenblick verschwunden war.

Aber noch einmal raffte er sich zusammen: »Sie vergessen, dass Sie sich unter meinem Dache befinden!«

Schneidend, aber doch vorsichtig gedämpft, stiess er es hervor.

Ein rauhes Lachen, und noch näher trat Hellmrich auf Simmert zu, sodass dieser unwillkürlich rückwärts wich, bis an die Tür, aus der er eben getreten war.

»Und du? Hast du etwa daran gedacht, was du meinem Dache schuldig warst – an diesem Nachmittag, du Elender!«

Eiskalt überlief es Simmerts Körper, der Angstschweiss brach ihm aus. Nun war es heraus: Hellmrich wusste alles! Er war nicht feig, bei Gott nicht, er hatte oft genug vor dem Säbel oder der Pistolenmündung gestanden, aber trotzdem, jetzt in dieser Minute – wie er, rauh aus lachender Tafellaune herausgerissen, dem gegenüberstand, in dessen Heiligtum er vor wenigen Stunden in seinem tollen Rausch frevelnd eingebrochen war – da schlich etwas an ihn heran, aus dem Dunklen, etwas Grausiges, Furchtbares, das ihn mit starrem Schrecken lähmte – das Verhängnis, die Vergeltung! Und der da vor ihm war ihr Vollstrecker, – ein unbarmherziger, racheglühender Vollstrecker, das verrieten seine Blicke, seine Stimme! Zum erstenmal seit jenem Studentenkonflikt hörte er wieder das »Du« aus diesem Munde – aber nur zu der grossen Abrechnung, die der Rächer seiner Ehre mit ihm halten wollte – in dieser Stunde, wo ihm die gesellschaftliche Komödie, das steife Sichnichtkennenwollen gar zu lächerlich erschienen wäre.

So stand Simmert einen Moment wie gelähmt; dann kam es leise, in stumpfer Resignation, von seinen Lippen:

»Ich sehe, du weisst alles – ich bin zu jeder Sühne bereit.«

»So – zur Sühne bereit?« Furchtbar auflodernd bohrten sich Hellmrichs Blicke in die schlaffen Gesichtszüge des andern, dessen Augen scheu von ihm wegsahen. »Kannst du das sühnen, was du getan? Dass du eine arme, kranke Frau in einer schwachen Stunde hast an ihrer Ehre schänden wollen, dass du diese Frau aus ihrem Hause, von ihren Kindern fortgetrieben hast – du –« Und mit erhobenem Arm drang Hellmrich auf Simmert ein.

Dieser sprang zur Seite, hinter den Sessel zwischen ihnen. »Noch einmal – stell' mir deine Forderung. Ich acceptiere jede Bedingung!« Die Angst schrie aus seiner heiseren Stimme – Hellmrich war offenbar zum Äussersten fähig!

Ein hohnvolles Auflachen. »Ha! So freilich wäre es das Bequemste! Erst dem Mann die Frau stehlen und dann den Kerl auch noch über den Haufen schiessen, dass die Kinder Mutter und Vater zusammen verlieren! Nicht wahr, so könnt' dir's passen? – Aber nein, mein Lieber – ich denke anders!«

Mit einem wilden Schritt war Hellmrich an Simmert heran. Der sah die Bewegung, die erhobene Hand, unauslöschlichen Schimpf – und instinktiv, im Trieb der Selbsterhaltung, sprang er nach dem Schreibtisch – da vor ihm, sein Revolver! Alles, nur das nicht!

Aber Hellmrich war schon an ihm, Simmerts Hand kam nicht mehr an die Waffe, aber halb unbewusst krallte sie sich um die Klingel auf dem Tisch – lang anhaltendes, gellendes Läuten!

Ein kurzes Ringen Simmerts, mit verzweifelter Kraft, keuchend, Hellmrichs eiserne Hand von sich abzuwehren – die Tür springt auf, herein stürzen James – der Lohndiener – dahinter neugierig, angstvoll auch die Zofe, vielleicht alle vorher schon grinsende Lauscher hinter der Tür!

Ein Angstschrei: »Zu Hilfe – ein Wahnsinniger!« Aber im selben Augenblick, ehe noch die Leute heran – klatschende Schläge, Simmert ins Gesicht: »Da – du Schurke – du Schuft!!«

Zurück taumelte der Beschimpfte, wie ein Trunkener. Hellmrich aber, hochaufgerichtet, bleich mit glühendem Blick, sprach zu den Leuten in starrer Ruhe:

»Kein Wahnsinniger, aber ein Mann, der seine Ehre gerächt hat.«

Unbehelligt ging er von dannen. –

Eine Viertelstunde später war das Haus leer und lautlos. Die Gäste waren davongeeilt – alle ernst verstört. Welch tragisches Geschick! Den Hausherrn hatte eben, während der Unterredung, in seinem Kabinett ein Blutsturz befallen – so hatte ihnen die plötzlich vom Diener hinausgerufene Wirtin, blass und aufgeregt zurückgekehrt, gemeldet. Wie traurig – gerade mitten im Glanz ihres Festes! Und in erschrecktem Schweigen waren die Gäste unverzüglich aufgebrochen. – – –

Der Anfall musste sehr ernst gewesen sein, denn schon wenige Tage später wurde die Gesellschaft überrascht von der Kunde, Geheimrat Simmert habe aus Gesundheitsrücksichten seinen Abschied genommen – er, mitten in einer glänzenden Karriere! – er müsse sofort nach dem Süden, wo er dauernden Aufenthalt nehmen würde. Sonderbar! Der blühend kräftige Mann, dem niemals vorher etwas gefehlt?!

Es ging denn auch ein leises Tuscheln erst, dann bald ein öffentlicher Klatsch in diesen Kreisen um, von tollen Dingen, die im Simmertschen Haus passiert sein sollten – so toll, dass man sie eigentlich kaum glauben konnte. Aber die Tatsachen? Dass der Hausstand aufgelöst, sämtliche Leute entlassen wurden, und Frau Simmert nicht ihren angeblich schwerkranken Mann begleitete, sondern allein nach dem lustigen Paris ging? Ja, man munkelte sogar schliesslich, dass Simmert zum »Kurgebrauch« in Monte Carlo weile und dort einer der bekanntesten, tollsten Spieler sei.

Die Chronique scandaleuse war jedenfalls um ein höchst pikantes Kapitel reicher!

 


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