Paul Grabein
Das stille Leuchten
Paul Grabein

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VII.

Ruth saß regungslos in der Ecke am Ofen, fern vom zudringlichen Lichte. Aus dem bleichen Gesicht starrten die großen, umschatteten Augen ins Leere, mit unnatürlicher Ruhe. Wie eine Lähmung ihres ganzen Seelenlebens war es über sie gekommen, nach dem ersten furchtbaren Ausbruch ihrer Verzweiflung. Sie fühlte nicht, sie dachte nicht. Sie wußte nicht, was werden sollte. Nur eine einzige dumpfe Vorstellung beherrschte sie: Es war aus mit ihr! Sie konnte nicht mehr in die Schule zu ihren Kindern, die scheu vor ihr zurückweichen würden, nicht mehr hinaus auf die Straße, wo die Menschen mit Fingern auf sie zeigen würden, nicht hier im Haus bleiben, wo es allenthalben höhnisch zischelte über sie – es war aus, aus! Aber was nun kommen würde, was geschehen mußte – sie hatte noch nicht die Spannkraft, es zu denken. So starrte sie völlig apathisch wie in eine dunkle, ungewisse Ferne, in dem dumpfen Erwarten des Verhängnisses.

Ein Klopfen draußen an der Tür zum Treppenflur, das sie wohl gehört haben mochte, kam ihr so in ihrer stumpfen Teilnahmlosigkeit gar nicht zum Bewußtsein. Sie achtete auch nicht darauf, daß dann Schritte vorbeikamen – ihre Wirtin, die öffnen ging – und daß hierauf mit unterdrückter Stimme Worte vor der Flurtür gewechselt wurden. Aber plötzlich zuckte Ruth zusammen, wie von einem Stich getroffen:

»Ganz gleich – ich muß sie sprechen. Ich muß, verstehen Sie?«

Es war Holtens Stimme, die da eben gedämpft, und doch in höchster Aufregung, halb flehend, halb drohend, zu ihr hereinscholl. Und im selben Augenblick wich der lähmende Bann einem Empfinden jähen Erschreckens: Was wollte er noch von ihr? Gönnte er ihr denn nicht einmal die Ruhe wenigstens nach all dem Furchtbaren? Ihn wiedersehen, ihn sprechen, nach dem, was geschehen – nein, nein, nur das nicht!

Im nächsten Augenblick klopfte es an ihre eigene Tür, und Frau Kuhlmann trat ein, eine Visitenkarte in der Hand.

»Herr Doktor ist draußen. Er will sich absolut nicht abweisen lassen.«

Wie aus einem bleischweren Schlaf erwachend, mit dumpf benommenem Kopf, richtete sich Ruth aus ihrer zusammengesunkenen Haltung auf und griff nach der Karte. Sie enthielt die eben mit Bleistift darauf geworfenen Worte: »Lassen Sie mich Sie nur einmal noch sprechen – nur eine Minute! Ich muß!«

Einen Augenblick starrte Ruth auf die Karte. Dann sank sie mit einem unendlich müden, gequälten Zug um die Lippen zurück in ihren Stuhl. Sollte ihr denn auch das nicht einmal erspart bleiben? Schon wollte sie stumm das Haupt schütteln, da siegte aber noch einmal ihre angeborene Güte. Selbst in diesem Zustand martervoller Zerrissenheit wollte sie nicht einen Bittenden von ihrer Schwelle weisen.

»Ich lasse bitten.« Mit matter Stimme rang sie sich das Wort ab.

Die Tür hatte sich wieder hinter Holten geschlossen, und nun, bei ihr im Zimmer, suchte sein Auge zitternd ihre Gestalt. Da – da sah er sie, auf dem Sitz in der dämmerigen Ecke zusammengesunken, das todblasse Gesicht matt auf die Seite geneigt, ein rührendes Bild völliger Gebrochenheit.

»Ruth, Ruth!« Im nächsten Augenblick war er bei ihr, ganz erschüttert. Kein Wort weiter kam von seinen zuckenden Lippen; er biß die Zähne zusammen, daß seine Bewegung nicht Herr über ihn wurde. Aber auf ihrer Hand, die er ergriffen, auf die er seine fiebernde Stirn gepreßt hatte, brannten seine Lippen.

In jähem Versagen der Sinne hatte Ruth, wie er sie so plötzlich berührte, die Augen geschlossen; nun fuhr sie von ihrem Sitz empor, ihm die Hand entreißend.

»Mein Gott – was tun Sie.«

Sie glaubte, ein Herzschlag würde sie treffen, so raste es da drinnen in ihrer Brust, und sie begann zu schwanken.

Da war er aufgesprungen und hielt sie in seinen Armen. Mit unendlicher Zärtlichkeit nahm er die hilflose, zarte Gestalt an sich und bettete ihr schlaffhängendes Haupt an seiner Schulter. So hielt er sie eine Weile, bis die Schwäche vorübergegangen war und sie, wieder zum Bewußtsein gelangend, mit fragendem Ausdruck die Augen aufschlug. Da sah sie sein Antlitz mit den innig leuchtenden Augen dicht über sich gebeugt, und in neu aufschreckendem Entsetzen wollte sie sich ihm aufspringend entziehen. Aber da hörte sie erbebend seine flehenden Worte:

»Ruth, liebe Ruth – meine liebe, arme Dulderin. Vergib mir, was du um mich gelitten, und nimm hin, was ich dir geben kann. Werde mein – werde mein Weib!«

Noch einmal schloß sie die Augen: Sein Weib? Hatte er das wirklich gesagt, oder war es immer noch eine Vorspiegelung ihrer verwirrten Sinne? Aber nein, da tönte ja die Stimme ihr wieder im Ohr:

»So sprich doch, Ruth, nur ein einziges Wort! Quäl' mich doch nicht länger mit deinem Schweigen!«

Ach! Mit dem Jauchzen einer alle Fesseln sprengenden Seligkeit wollte sie sich an ihn pressen, seinen Hals umschlingen – der Umschwung aus tödlicher Verzweiflung zum jubelnden Glück war ja kaum zu fassen – aber da kehrte ihr mit dem voll erwachten Bewußtsein plötzlich auch die Erinnerung zurück; die Erinnerung auch an jenen Abend am dunklen See, wo er das vernichtende Wort gesprochen, und mit großen, entsetzten Augen, mit zuckenden Lippen, wiederholte sie es jetzt, sich von ihm frei machend:

»Die Ehe ist der Tod der Liebe! – Wie kannst du da jetzt so zu mir sprechen?« Und sie trat von ihm einen Schritt zurück.

Doch er streckte ihr flehend die Hände entgegen.

»Vergiß es, das frevelhafte, törichte Wort, das ich in blinder Verbitterung sprach! Ich beschwöre dich, Ruth, bei allem, was mir heilig ist! Ich bin sehend geworden in der Herzensnot um dich, und nun weiß ich es besser: Verklärende Schwärmerei, betörende Leidenschaft – das kann wohl blenden und irreführen zu einem unseligen Ehebund. Nicht aber, wo aus ruhiger, langprüfender Freundschaft schließlich die Liebe erwächst. Das ist kein Rausch, der verfliegt im nüchternen Alltag – im Gegenteil, das ist stärker als er, das hebt uns freudig empor aus dem ewigen Einerlei des Lebens. Darum, Ruth, so wahr ich hier vor dir stehe – ich fühle nur noch eines: Es gibt kein anderes Glück für mich auf der Welt als dich – als dich in meinem Hause!«

Da versanken die letzten düstern Schatten um Ruth, und jauchzend flog ihre Seele dem seligen Licht entgegen.

Lange hielten sie sich umfangen; wortlos genossen sie das Zusammenfinden nach langem, qualvollem Irren. Dann hob Ruth den Kopf und sah ihm mit seligen Blicken in sein verklärtes Gesicht.

»Das große, stille Leuchten – auch auf deinem Antlitz!« flüsterte sie leise, mit einem glücklichen Lächeln, unwillkürlich jener Stunde in den Bergen gedenkend, wo zum ersten Male sich ihre Seele ahnend mit der seinen berührt hatte. »Sag', so gibt es doch noch etwas Höheres, Liebster, als das stille Lächeln über den Trümmern unserer Illusionen?«

Kraftvoll, innig zog er ihren schlanken Leib an sich, und seine Rechte suchte ihre Hand: »Ja – das ernste, große Glück, das zwei Menschen sich selbst schaffen, nachdem sie innerlich still und fest geworden. Zwei Menschen von gleicher Art und gleichem Ziel.« Fest drückte er ihre Hand. »Ich denke, Ruth, sie haben sich gefunden.«

Das Mädchen antwortete nicht; aber schweigend, mit zurückgebogenem Haupte, bot sie dem Mann die Lippen zum Kusse.

 


 


 << zurück