Paul Grabein
Das stille Leuchten
Paul Grabein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dritter Teil.

I.

Vier Uhr – langsam verhallten die tiefen Töne der Standuhr an der Wand hinter ihm, und Holten legte das Buch aus der Hand, in dem er gelesen hatte. Dann stand er vom Schreibtisch auf. Das war nach seiner gewohnten Hausordnung die Stunde, wo die Arbeit aussetzte und die nötige Pflege des Körpers in ihre Rechte trat. Sollte er nun den gewohnten täglichen Spaziergang im Tiergarten machen?

Unschlüssig trat Holten ans Fenster. Er wohnte hoch, im obersten Stockwerk – er wollte keinen störenden Lärm über sich haben – und der Blick glitt von hier hinaus über den Platz mit der Kirche und den kleinen Schmuckanlagen, einem stillen, verkehrsentlegenen Winkel mitten im vielbelaufenen Westen Berlins. Nur gedämpft drang selbst beim offenen Fenster das Rasseln der benachbarten Hochbahn hierher – ein rechter Schlupfwinkel für einen ruhig hausenden Gelehrten.

Ja, an Ruhe fehlte es ihm hier wirklich nicht – im Gegenteil, er hatte davon mehr als genug. Mit einem leisen Seufzer dachte es Holten. Kein Laut störte ihn hier in seiner Zurückgezogenheit. Wenn vormittags um zehn seine alte Aufwärterin, die ihm seine paar Zimmer instand hielt, die Wohnung verlassen hatte, so hörte und sah er niemand den ganzen Tag, wenn er nicht selber hinausging, sich unter die Menschen zu mischen. Gewiß, er liebte die Ruhe, die Einsamkeit, sie waren ja unentbehrlich für innere Vertiefung und Sammlung; aber manchmal legte sich ihm doch auch diese ewige Stille und Verlassenheit schwer auf die Seele. Er lebte ja wirklich wie ein Einsiedler!

Unwillkürlich öffnete Holten das Fenster. Es war ihm ein Bedürfnis, von drunten die Stimmen der spielenden Kinder auf dem wagenleeren Platz zu vernehmen – das brachte doch wenigstens einmal einen Hauch des Lebens in seine Klause. Gedankenverloren blieb er dann am Fenster stehen.

Ruhe! Wie sehr hatte er sie einst ersehnt – damals in den trostlosen Jahren zerrüttenden Kampfes um sein häusliches Glück – und wie wenig vermochte sie doch, ihn jetzt glücklich zu machen. Ja, im Grunde hatte er sie auch jetzt gar nicht. Freilich, äußerlich still war es ja zwar um ihn geworden, aber jener tiefe, beseligende Friede, den das Herz sich ersehnt, war nicht über ihn gekommen. Ein trauriges geheimes Sehnen, eine stete, die ruhesuchende Seele immer wieder aufstörende Unrast war in ihm. Sie gewann die Herrschaft über ihn, sobald er mit sich allein war – solange nicht die Arbeit seine Gedanken voll beschäftigte.

Welch Segen diese Arbeit für ihn war! Tagtäglich war er von neuem dankbar für diesen besten, zuverlässigsten Tröster, den die Vorsehung dem Menschen auf seinem schmerzensreichen Irrweg mitgegeben. Und doch vermochte auch sie nicht das Leben ganz auszufüllen; zu schwer und ernst war in mancher Stunde ihr eigenstes Wesen; es blieb ein Rest, das unstillbare Sehnen nach dem Leichten, Lichten – nach der Freude.

Das war's, was seinem Leben fehlte. Was Arbeit, gewissenhafteste Pflichterfüllung und ernstes, unablässiges Streben nach den darüber hinausgesteckten höheren Zielen, was innere Genugtuung und äußere Erfolge zu bieten vermögen, das hatte Holten reichlich erhalten in diesem Jahre, das jetzt verflossen war, seit der Heimkehr damals aus den Bergen. Er hatte seinem unstäten Wander- und Forscherleben damals ein Ziel gesetzt. Er hatte ja auch genug draußen zusammengetragen, nun galt es, den Stoff zu sichten und zu verarbeiten. Seine Vorlesungen hatten bereits eine stattliche Anzahl von Hörern aufzuweisen, und die Arbeit an dem zweiten Bande seines großen Werkes schritt rüstig fort. Man sah bereits mit Spannung in den Fachkreisen seinem schon angekündigten Erscheinen entgegen, und doch, es konnte ihm das alles nicht genügen, die Freude fehlte – die Freude, sich einem im Innersten vertrauten Menschen mitzuteilen, warmherzige Teilnahme zu erfahren und spenden zu können. Sein Leben glich einem korrekt gemalten Bilde, an dem alles tadellos stimmt, nur das Licht, der warme Sonnenton, fehlte.

Daraus floß all die Unrast seines Wesens, die Lustlosigkeit, die ihn jetzt so oft befiel – so auch in dieser Stunde. Wie sollte es ihn auch reizen, den hundertmal gemachten Weg durch den Tiergarten mechanisch wie ein Automat wieder einmal abzuwandeln oder schweigsam auf einförmig sich drehendem Rade – selbst wie eine Maschine – den endlosen Kurfürstendamm hinauszufahren? Ja, wenn er einen Begleiter dabei gehabt hätte, einen Menschen, mit dem er einmal ein vertrautes Wort hätte sprechen können. Aber er lebte mitten in der Millionenstadt völlig ungesellig. Selbst seine Beziehungen zu dem Kollegenkreise waren infolge seiner eigenen Zurückhaltung ganz lose, rein amtlicher Art.

Langsam trat Holten wieder vom Fenster zurück und begann durch das Zimmer zu gehen. Wie er so mit gesenktem Kopf in müder Haltung dahinschritt, in dem ernsten Gesicht manch scharfen Zug, die Male innerer Kämpfe und Leiden, sah er älter aus als er war, fast schon wie ein Vierzigjähriger.

Mehrmals ging er so auf und ab, seinen grauen Gedanken nachhängend; wie er so an der Ecke am Ofen wieder umdrehte, streifte sein Ärmel eine auf dem Bord stehende kleine Photographie im Rahmen, daß sie umfiel. Er griff nach ihr, sie wieder aufzustellen, und seine Augen glitten dabei über das schon ein wenig von der Sonne verblaßte Bild – die Photographie eines vielleicht vierjährigen Knaben mit lieben, offenen Kinderzügen, seines toten Söhnchens.

Langsam stellte Holten das Bild wieder hin. Dabei mußte er denken, wie ruhig, gelassen seine Hand dies Werk verrichtete, und doch hatte es eine Zeit gegeben, wo er dies Bild und ein anderes – das seiner Frau – unter Verschluß hatte halten müssen, um nicht durch ihren Anblick stets wieder von neuem die furchtbare Wunde aufzureißen, die doch vernarben mußte. Freilich, es waren ja nun Jahre darüber hingegangen. Und wie das arme Kind war nun auch seine unselige Mutter tot für ihn. Die Zeit hatte ihr trübes Werk an ihm getan, das Herz war still geworden, und das Auge konnte heute, ohne zu zucken, über die beiden Bilder auf dem Ofenbord hingleiten – neben denen seines Vaters und seiner Mutter – die Denkmäler seiner Toten. Sie ruhten nun für sein Empfinden alle zusammen in dem einen großen dunklen Grabe, das verschlungen hatte, was ihm des Lebens einst froh strahlende Sonne gebracht hatte.

Und noch einer ruhte darin, ein lichter, zarter Frühlingstraum, der erstarrt war, ehe er noch voll zum goldenen Licht erwacht war. Da stand es wieder einmal vor seiner Seele, das liebe, traurig-süße Bild. Mit schmerzlichem Ausdruck schloß Holten die Augen und setzte sich auf den Sessel am Ofen nieder, das Antlitz mit der Linken beschattend.

In reiner, ungetrübter Klarheit erschien ihm jetzt wieder das Bild. Der böse Spuk, der ihn einst genarrt und an seine Stelle ein verführerisches Trugbild gesetzt hatte, war ja nun lange verflogen. Überwunden waren auch der Zorn und die Scham über die Schwäche der Mannesnatur, denen er fast zum Opfer gefallen war in jener Zeit, wo übergroßes Leid und Bitterkeit seine Seele aus ihrem Gleichgewicht geworfen hatten. Aus jenem ingrimmigen Wüten gegen die Ordnung der Natur und gegen das eigene Ich in all seiner Unzulänglichkeit war inzwischen wieder sein ursprüngliches Wesen in seiner ruhigen, festen Art, nur noch reifer und abgeklärter hervorgegangen. So konnte er denn nun auch wieder ohne Selbstvorwürfe an sie denken, die ein freundlicher Bote des Lichts damals in seiner verdüsterten Seele neues, hoffnungsfrohes Leben hatte erstehen lassen.

Fränzl! Wie mochte es ihr gehen? Wie mochte sie die Trennung ihrerseits überstanden haben? Mehr als ein Jahr war nun seit jenem Abschied für immer dahingegangen, das Leben hatte seine Wogen unablässig über ihre junge kraftvolle Seele dahintreiben lassen, da war wohl nun fortgespült worden, was sich an Hartem und Bitterem damals an dem Riß angesetzt hatte und klar und glatt war wieder der Spiegel dieser Seele. Aber ob wenigstens drinnen in der Tiefe noch ein leises Gedenken lebte? Ein stilles Erinnern an die unvergeßliche, heimliche süße Seligkeit jener Sommertage, eine Gabe des Schicksals, für die er ein unauslöschliches tiefes Dankbarkeitsgefühl empfand. Nun, wo alles törichte Sehnen und Wünschen hinter ihm lag, konnte er mit vollster Herzensruhe, nur mit einem leisen Hauch von Wehmut, an jene Zeit denken. Ja, er hätte Fränzl jetzt ohne Erschütterung seines Inneren auch im Leben gegenübertreten können, lediglich mit einem Gefühl innigster, selbstloser Freundschaft im Herzen.

Wie traurig, daß das nicht sein konnte! Dann hätte er ja gehabt, was ihm fehlte, wonach unausgesprochen seine Seele verlangte. Den vertrauten Umgang mit einem lieben Menschen, der wieder Licht und Wärme in sein Leben gebracht hätte. Ein Seufzer hob Holtens Brust. Freilich, wer weiß, ob der schöne Gedanke auch zur Wirklichkeit hätte werden können, selbst wenn Fränzl ihm wirklich erreichbar gewesen wäre. Ob auch sie die Kraft der Entsagung, der geläuterten Ruhe der Seele, besessen haben würde, solch Verhältnis zwischen ihnen zu ertragen – ja, ob überhaupt in ihrer jungen, lebensdurstigen Seele ein Gefallen an solchem Notbehelf vorhanden gewesen wäre. Ob es sie in ihrer jugendlichen Kraftfülle nicht nach einem Vollglück verlangte, das er ihr nun einmal nicht bieten konnte.

Holten ließ die Hand von der Stirn sinken und spielte gedankenverloren mit dem Brieföffner vom Tisch. Wie dem auch war – es überkam ihn so oft ein sehnsüchtiges Verlangen, wenigstens einmal von ihr zu hören. Das war schließlich doch auch nur ein berechtigter Wunsch, daß man von einem Menschen, der einem so teuer geworden war, wenigstens noch einmal eine Lebensspur erblickte. Er begriff auch eigentlich nicht, warum er nicht schon längst einen Schritt dazu getan hatte, nun, wo er so ganz überwunden hatte. Es war ja so einfach; er brauchte ja nur einmal zu Ruth zu gehen, die hier in Berlin mit ihm lebte, ohne daß sich freilich ihre Wege jemals von selbst gekreuzt hätten. Da hätte er ja sein Sehnen stillen, vollauf von Fränzls äußerem Leben und geheimem Fühlen erfahren können. Warum hatte er bisher nur immer diesen Weg gescheut?

Im Anfang war das ja wohl begreiflich gewesen: Er wollte seine kaum noch wiedergefundene Ruhe nicht von neuem gefährden. Dann war es die geheime Furcht gewesen, vielleicht von Ruth zu hören, daß Fränzl sich allzu schnell über ihre Trennung getröstet haben mochte. Das hätte ihm in seiner immer noch wunden Seele zu weh getan. Und, wenn er ehrlich gegen sich war, so war das auch bis in die letzte Zeit hinein wohl der eigentliche Grund gewesen. Aber, wenn er heute darüber nachdachte, in aller Ruhe, so mußte er sich sagen: Es war doch eigentlich eine unmännliche Schwäche. Oder war etwa nur seine Eitelkeit so groß, daß er nicht hören mochte, daß man allzu schnell über ihn zur Tagesordnung übergegangen war? Wie dem auch war – ganz gleich, es lag jetzt doch wirklich kein stichhaltiger Grund mehr vor, ein Wiedersehen mit Ruth ängstlich zu vermeiden, wenn er überhaupt noch daran dachte. Im Gegenteil, es war nachgerade die höchste Zeit geworden, ihre Bekanntschaft zu erneuern, die nun schon über ein Jahr lang eingeschlafen war. Und wirklich, es hätte ihn so gefreut, Ruth wiederzusehen, schon um ihrer selbst willen. Ihr feines, klares Wesen mit seiner steten, ruhigen Güte war ihm noch so in frischer Erinnerung. Wie wohltuend ihm damals so manchmal ein verständnisvolles Wort, ja ein bloßer Blick schon gewesen war. Wie zwei gute Kameraden hatten sie im stillen zusammengestanden, die nicht viel sprachen über das, was sie innerlich verband, die aber doch recht gut wußten, was einer dem anderen war. Wenn er jetzt solch vertraute Kameradschaft hätte haben können in seiner Einsamkeit!

Aber warum in aller Welt denn eigentlich nicht? Holten richtete sich, von einem aufleuchtenden Gedanken neu belebt, lebhaft im Sessel empor. Was hinderte ihn, zu Ruth zu gehen, jetzt auf der Stelle, und die alten freundlichen Bande von neuem zu knüpfen?

Mit einem Entschluß sprang er plötzlich auf: Ja, es sollte geschehen und ohne Verzug. Er wollte das frohe, hoffnungsvolle Gefühl, das da eben in ihm aufzusprießen begann, nicht erst wieder in zergrübelndem Nachdenken zerpflücken, und schnell griff er nach Hut und Stock, den Gedanken zur Tat zu machen.

 


 << zurück weiter >>