Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Holten schaute unverwandt den tanzenden Paaren zu. Von jeher hatte er das gern gemocht; es machte ihm mehr Freude, als selber zu tanzen. So herumzuwirbeln im Schweiße seines Angesichts mit wehenden Frackschößen, es war ihm für einen rechten Mann immer wenig würdevoll und ästhetisch vorgekommen. Anders dagegen beim weiblichen Geschlecht, und besonders, wenn es jung und graziös war. Da zeigte sich viel Anmut auch bei dieser Bewegung noch. Seit Jahren aber hatte Holten überhaupt keinem Tanz mehr beigewohnt, und nun saß er da heute am Tisch bei Stadlers, mitten drin im Gewimmel des Alpenfestes, das Einheimische und Gäste, fast alle in malerischen Trachten, im Saal des Hotels »Zu den vier Jahreszeiten« vereinte.
Was für prächtige Momentbilder tauchten hier vor dem Auge auf: Da, die vornehme Engländerin mit ihren sylphidenhaften, hellblonden Töchtern in kostbaren weißen Spitzenwolken, die neugierig die feinen Näschen in dies absonderliche Treiben stecken. Nun steht plötzlich ein breitschultriger Bursch, ein urechter Holzknecht mit speckglänzender Lederhose und wüsten Nagelschuhen, vor der einen und winkt ihr mit dem dicken Daumen – seine Aufforderung zum Tanz. Einen Augenblick helles Lachen bei allen drei Damen – im nächsten Moment aber schwebt die Sylphe im Arm des ungeschlachten Waldmenschen, das zarte Spitzenwölkchen weht ungeschützt zwischen den groben Nagelschuhen und zerflattert – aber unbekümmert lachend schwebt das Elfenprinzeßlein weiter.
Dort wieder ein Bursch, der schnalzend und schnippend wie ein verliebter Auerhahn vor seiner sich kreisenden Tänzerin in grotesken Verrenkungen einherspringt – da ein alter, wettergebräunter Weißbart, ein Malersmann, der mit Jugendlust juchzend eine dralle Bauerndirne hoch in die Luft schwenkt – und hier wieder das korrekte Stadtfräulein, das zwar im entliehenen echten Kostüm, aber mit Glacehandschuhen dem bäurischen Tänzer zurückhaltend nur die Fingerspitzen reicht.
Köstliche Bilder! Aber doch flog an ihnen Holtens Blick nur flüchtig vorüber; sein Auge suchte im Gewoge immer wieder die eine, die schlanke, zierliche Gestalt, die ihm die verkörperte Tanzanmut schien – Fränzl. Da tauchte sie gerade wieder aus dem Gewühl auf, im Arm des Jägers vom Hintersee, der sie mit großer Tanzboden-Routine, in wiegendem Walzerschritt bald rechts, bald links drehte und sicher durch die sich stoßenden und drängenden Paare hindurch steuerte. Weich hatte sich Fränzl in seinen Arm geschmiegt, willig folgte sie seiner Führung – sie ahnte offenbar schon immer seine Absichten – und dann lachten sich beide wie auf Kommando an: Wieder einmal richtig verstanden! O, sie hatten sich so prächtig eingetanzt.
Wie entzückend dem Mädel die Tracht stand! Sie ging hier daheim übrigens oft so, hatte er von Ruth gehört – das liebe Blondköpfchen zurückgeneigt in seligem Tanzrausch, der schneeweiße Hals so keusch über dem Miederausschnitt. Unter dem halblangen Röckchen, das wehend im Tanze flog, lugte ein weißer duftiger Spitzenreif hervor und ein Paar wunderzierlicher Füße im modischen Lackschuh – allerdings ein kleiner koketter Verstoß gegen die sonstige Echtheit ihres Kostüms; aber man verzieh ihn gern. Und wie feenhaft diese Füßchen über den Boden hinglitten – so zierlich, so leicht, so federnd, immer nur auf den Spitzen, man konnte sich nicht satt genug daran sehen. Holtens Augen saugten sich fest an ihrer ganzen holdseligen Erscheinung von so hohem Reiz und doch voll so jungfräulicher Reinheit.
Was war dieses Kind unsagbar süß. Mitten in dem frohen Lärm überkam ihn eine ganz weihevolle Stimmung. Ihre Unberührtheit hatte für ihn etwas Ergreifendes. Wie lange war's wohl her, daß ihn dieser Zauber reinen Mädchentums nicht mehr umsponnen? Er hatte seither so viel Trauriges und Häßliches gesehen, das Lächeln des Zweiflers hatte sich um seine Mundwinkel eingenistet. Aber heute erschien ihm so etwas unbegreiflicher Frevel.
Und wieder überkam ihn, wie neulich schon, der Gedanke: Ist es nicht ein Jammer, daß so Zartes, Feines in den harten Händen des Mannes nach unbarmherzigem Naturgesetz entstellt, ja, wohl gar vernichtet werden muß?
»So ernst, Herr Doktor? Mitten im Festtrubel?« Ruths wohllautende Stimme tönte Holten plötzlich im Ohr. Ach ja, er war ja eigentlich recht unhöflich. So lange schon vor sich hinzustarren und kein Wort an seine Nachbarin zu richten!
»Verzeihung, ich war ganz in Gedanken. Ich philosophierte ein bißchen über den Tanz, Fräulein Henning.«
»Sie sollten ihn weniger theoretisch als praktisch zu ergründen suchen,« lächelte Ruth.
»Warum?«
»Ich glaube, sie hätten mehr Freude davon.« War es Zufall, daß einen Augenblick Ruths Augen zu der tanzenden Freundin hinüberschweiften?
»Ich weiß nicht.« Es klang gleichgültig. »Tanzen ist nach meiner Auffassung im besten Fall ein relatives Vergnügen. Es kommt ganz darauf an: Mit wem. Wenn das körperliche Aneinanderschmiegen das Symbol seelischer Vorgänge ist – ja, dann mag es sogar ein seliger Genuß sein.«
Auch sein Blick suchte jetzt Fränzl und ihren Tänzer mit einem forschenden Ausdruck.
»Sie haben sicherlich recht.« Ganz unbefangen sagte es Ruth. »Und doch auch wieder nicht. Man kann doch auch sonst eine Freude am Tanzen haben. Solange man jung ist, macht einem doch schon allein die Bewegung Spaß. – Man kommt ja sonst fast nie dazu, auch seinen Körper sich mal – ausleben zu lassen, möchte ich sagen,« lächelte sie.
»Solange man jung ist, Sie sagen es ja selbst,« scherzte Holten. »Aber wenn man es nun nicht mehr ist?«
»Können Sie auch nach Komplimenten fischen, Herr Doktor?« Ihre klaren Augen sahen ihn prüfend an. »Ich glaube aber, hinter Ihrem Scherz verbirgt sich doch ein bitterer Ernst.«
»Wieso, bitte?«
»Darf ich ehrlich sein – ganz ehrlich?« Sie fragte es ernst.
»Ich bitte darum.«
»Ich habe gleich das erstemal, wo ich Sie sah, das Empfinden gehabt, daß Sie, Herr Doktor, trotz Ihrer Jahre – Sie sind doch gewiß sicher erst Mitte Dreißig – in Ihrem Wesen etwas Verhaltenes, Ernstes haben, das Ihren Jahren weit vorgreift.«
»Nun, und?« Seine Blicke hafteten voll auf der Zögernden.
»Ich möchte nicht taktlos sein –«
»Das können Sie überhaupt nie, Fräulein Henning,« sagte Holten aufrichtig. »Also bitte!«
»Ich glaube das Leben – ernste Schicksale haben Sie vor der Zeit gereift –.« Abermals zauderte sie, denn sie sah, wie seine Stirne sich umwölkte. »Sehen Sie, nun werden Sie doch böse. Ich hätte erst gar nicht davon anfangen sollen.«
Aber Holten lächelte schon wieder.
»Lassen Sie sich's nicht kümmern, Fräulein Henning. Ich leide an allzu starker mimischer Ausdruckskraft. Ich versichere Ihnen, ich denke im Augenblick gar nicht daran, Trübsal zu blasen. Im Gegenteil! – Aber hören Sie, Fräulein Henning,« und sein Blick drang ihr tief in die Augen. »Sie sind ja ein ganz gefährlicher Seelenanatom. Vor Ihnen muß man sich ja in acht nehmen.«
Trotz seines Scherzes wurde sie unter seinem Blick verlegen. Eine feine Röte stieg ihr ins Antlitz. Ob er wirklich dachte, daß sie neugierig seinen innersten Schicksalen nachspürte? Bittend sah sie ihn an.
»Ich habe immer nur gedacht: Wie schade, daß Sie das Leben vorzeitig so resigniert gemacht hat. Es steckt in Ihnen noch so viel Jugend, Sie wissen es vielleicht selber gar nicht. Aber so manchmal blitzt sie durch, und Sie ahnen nicht, wie Sie dadurch gewinnen. Sie müßten nur ein Mittel finden, sie dauernd wachzurufen.«
Holten reichte ihr die Hand. »Sie meinen es herzlich gut, Fräulein Henning. Und Sie haben recht. Darum bin ich ja auch hierher geflohen in die Berge. Und ich hoffe, nicht umsonst. Mit einem Anlauf ist ja so etwas nicht getan, aber ich habe so manchmal ein frohes Ahnen: Ehe ich hier weggehe, habe ich meine Grillen zum Teufel gejagt – habe ich mir den Sonnenschein wieder eingefangen!«
Seine Augen leuchteten hell auf. Im gleichen Augenblick war Fränzl an den Tisch getreten.
»Na, hockt's immer noch hierum, ihr zwoa?« Die weißen schlanken Arme auf die Hüften gestemmt, schüttelte sie verweisend den Schelmenkopf. »Zu was seid's denn zum Tanz ganga, wenn ihr da bloß rumloane wollt? – Geh, Vize. Du mußt do dein'm Dirndle mit gut'm Beispiel vorangehn!« wandte sie sich schmollend an Holten.
Da stand er plötzlich vor ihr, frisch aufgereckt, und aus seinen Augen traf sie ein übermütiges Leuchten. »Wie, du Nestküken, ungeratenes! Willst deinem alten Vizepapa hier die Leviten lesen? Da hört sich ja alles auf! Na, wart', Strafe muß sein. Jetzt tanzst du mit mir – und zwar ohne Erbarmen, bis du um Gnade flehst.«
Schon hatte er ihre feine Taille umschlungen.
»Da kannst lang warten!« lachte es ihm hell ins Ohr, und ein warmer Atem umschmeichelte sein Gesicht. Fest nahm er sie an sich, daß er ihre zarte Gestalt dicht an seinem Leibe fühlte. Er sagte nichts mehr, aber sein Arm drängte sie stark in die Reihen der Tänzer.
Ein Walzer! Wie lange hatte er nicht mehr getanzt! Ja, hatte er überhaupt schon einmal getanzt – wirklich getanzt? Ihm war, als ob es heute zum erstenmal in seinem Leben geschähe. Ja, das – das war Tanz, dies Dahinfliegen, Wiegen, in einem unbewußten Rausch seines Inneren – wie er so an seiner Brust ein anderes heißes, junges Leben pulsen fühlte, wie sein Arm einen blühenden Leib eng umfing, der sich weich hingebend von ihm halten und lenken ließ. Bei jedem Atemzug, bei jedem Herzschlag war's ihm, als ströme von diesem jungen Leben in süßem Erschauern heiße, sprudelnde Glut in seine Adern über – so wallte es ihm plötzlich im Inneren auf, alle Nerven spannend, so jung, so froh und begehrend?
Und er tanzte, wie noch nie in seinem Leben – der Gegenwart, der Umgebung entrückt, wie in einem seligen Taumel, sich schließlich berauschend an der nie gekannten, fast bacchantischen Lust.
Fränzl fühlte, wie er sie immer fester an sich preßte, immer selbstbewußter führte. Voll Erstaunen blickte sie zu ihm auf, aber da begegnete sie seinem aufflammenden Blick, und eilends senkten sich ihre Wimpern. Heiß war's ihr plötzlich ins Herz geschossen. Was war das? Seine Wangen glühten, seine Augen brannten – sein ganzes Wesen stand in Gluten! Noch nie hatte sie einen Mann so wie mit einem Zauberschlag verändert gesehen, von Grund aus. Wo war seine sonstige Gemessenheit, sein ruhiger Ernst. Der Mann da, der sie so leidenschaftlich umfing, war ja plötzlich ein ganz anderer. Nicht mehr der fast väterlich ältere Kamerad, sondern ein junger, heißblütiger Bewerber um Frauengunst! Und wer hatte dies Wunder bewirkt? Der Tanz? Sicher er nicht allein. Seine Blicke hatten zu beredt gesprochen. Sie war die Zauberin, sie hatte aus dem kalten, starren Gestein seines Wesens lohende Funken geschlagen.
Wie ein Schreck durchzuckte das junge Geschöpf erst diese Erkenntnis, dann aber mit heimlichem Stolz. Wahrlich, sie durfte doch auch stolz darauf sein, daß ihre unerfahrene Jugend den reifen, weltkundigen Mann so zu wecken verstanden hatte! Mit heimlicher Freude blickte sie verstohlen nach ihm hin: Wie sein Antlitz leuchtete, so strahlend, so jugendlich – ihr Werk! Und wie sein Arm sie umspannte, sie an sich preßte – so stark! Welch süßer Reiz lag darin, sich von der überlegenen Manneskraft geleitet, beherrscht zu fühlen und doch zu ahnen, daß ein bittender Blick diese gewaltige Kraft bändigen würde. Noch nie waren ihr bisher solche Empfindungen gekommen bei den jungen Leuten, mit denen sie getanzt hatte. Was war es nur, daß sie nun jetzt mit einem Male von diesen sonderbaren Gefühlen und Gedanken bestürmt wurde?
Aber Fränzl kam nicht dazu, sich das Rätsel zu lösen. Mit sanfter Gewalt lullte es ihre Seele ein, sich nur ganz der unbeschreiblich süßen Lust hinzugeben, in seinem Arm durch den Saal zu schweben. Mit geschlossenen Augen, ein leises, seliges Lächeln um den Mund, das blonde Köpfchen hingebend nach hinten geneigt, so lag sie, ganz im Tanzgenuß versunken, Holten im Arm. Wie gebannt saugten sich seine Blicke auf ihrem holden Antlitz fest. Geschah das wirklich durch ihn? Hatte er das aus dem wilden Kinde gemacht? Unsagbare Zärtlichkeit quoll in ihm auf, der Wunsch, dies liebe, zarte Geschöpf mit starkem Arm so wie in dieser Minute immer zu schützen, gegen die Menschen, gegen das Leben, das auch nach ihm die rauhe Hand ausstrecken würde. Und das Flammen in seinem Auge ward zur milden, heiligen Glut.
Viermal, fünfmal waren sie so durch den Saal geflogen, wortlos, weltvergessen. Sie hatten nichts um sich herum gehört und gesehen. Nun kamen sie abermals am Stadlerschen Tisch vorüber; eine Gasse im Tänzergewühl gab den Blick zu ihnen frei. Fränzls Eltern waren in ein Gespräch mit Bekannten vertieft; aber Ruths Augen suchten das sich nähernde Paar. Nun trafen sie voll auf die beiden, und ein leises, schmerzliches Zucken flog um die Mundwinkel ihres feinen Gesichts.
Gleich darauf verstummte die Musik.
»Ach, wie schade!« Fränzls Lippen hauchten es unbewußt, und, wie aus einem tiefen Traum erwachend, hob sie die Augenlider.
»Wirklich?« Heiß schlug sein Atem an ihr Ohr, daß sie ein Schauer durchzitterte, während er ihren Arm mit leisem Druck in den seinen nahm.
Verwirrt fächelte sich Fränzl mit der Rechten Kühlung zu. »Wir haben toll getanzt, gelt?« fand sie endlich ein Wort. »Daß Sie aber auch so tanzen können! Das hätt' ich ja nimmer geglaubt.«
»Ich auch nicht!« lachte er. Es klang so jugendfroh. »Sie haben heute ein Wunder erlebt, Fräulein Fränzl.«
Sie waren inzwischen beim Familientisch angelangt. Ruth begrüßte die Ankömmlinge mit stillem Lächeln:
»Nun, der erste Versuch ist ja großartig geglückt, Herr Doktor.«
»Nicht wahr?« Holtens Blick strahlte sie an, während er Fränzl nun freigab. »Ich habe das Mittel gefunden, das Sie mir vorhin anempfahlen. Ich weiß jetzt, wo mir der Jungbrunnen quillt.«
»Wahrhaftig!« bestätigte Fränzl in heller Freude der Freundin. »Der Vizepapa ist wieder durch den Tanz ganz jung geworden. Du hättest es nur eben sehen sollen – fast net zu glauben.«
»Ich habe es gesehen.« Mit leisem Nachdruck sagte es Ruth, so daß Holten überrascht zu ihr hinsah. »Und ich wünsche Ihnen von Herzen Glück dazu.«
Ernst blickte sie ihn plötzlich an, und er las in ihren klaren Augen, was sie ihm nicht verbergen wollte: Sie ahnte, was in seinem Herzen vorging. Aber er erkannte auch in demselben Augenblick, daß er eine verschwiegene Freundin an ihr haben würde. Und mit innigem Dank erwiderte er ihren Blick.