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Endlich sah er sie, die roten Türme, welche ihm beim Einzug aufgefallen, sah die Stadt, gedrängt um die Türme wie um die Henne die Küchlein. Diesseits der alten, ehrwürdigen und ehrenfesten Basel, was lag da so weiß und schimmernd im Felde? Dort war damals das Birsfeld gewesen mit einigen Dutzend Häusern, und jetzt fast ein Feld voll Häuser! Das war doch das Birsfeld, was eigentlich Baseltrutz heißen sollte, aber gewaltig hatte es sich, seit er da gewesen, aufgebläht, war angeschwollen zu einem Städtchen. Es ist die neue Stadt, welche Basel Trotz bieten soll von der Landschaft aus, ja, es ist eigentlich der große Laufgraben, den man näher und näher der alten Stadt auf die Haube rückt, von welchem aus der landschaftliche Geist den alten Baslergeist umspinnen, ertöten, Basel mit Leib und Seele erobern will. Glitzern tut die neue Stadt von weitem; ist man aber drin, sieht man, daß sie zumeist aus Dreck gebaut ist, schrecklich dünn die Wände, ein Schneider käme fast mit der Nadel durch, und schrecklich kalt soll im Winter das Wohnen in diesen Spinngeweben sein trotz allen Tapeten.
Ob von diesem dünnen Laufgraben aus die alte Stadt erobert werden wird? Ja, wer weiß, da kömmt es eben nicht darauf an, ob die Häuser von Stein oder von Dreck sind, sondern wie die Herzen sind, und was für ein Geist in denselben wohnt. Wohnt in denselben noch der alte, fromme, ehrenfeste Baslergeist, welcher die Stadt groß und berühmt gemacht hat, so wird der Geist, welcher die Landschaft berüchtigt gemacht hat eine Zeitlang, lange nicht Meister, der windige, verzehrende Geist nicht Meister über den Geist, der von oben stammt und auferbaut. Aber sind nur noch die Hände fromm, nicht mehr die Herzen, besteht bloß noch die Form, und ist der Geist entwichen, sind die Seelen befleckt mit der Cholera des Geistes, dem sogenannten Zeitgeiste, schämt man sich des Evangeliums von Christus und kniet nieder bei jedem Phrasengeklingel der neumodischen Propheten wie Chorbuben bei dem Geklingel des heiligen Glöckleins, verachtet man den Herrgott und zieht vor einem bärtigen Gesicht nicht bloß den Hut, sondern schüchtern auch die Segel ein, läßt man von dem besonnenen Prüfen und nur das Beste Behalten, wirft sich in den trüben Strom des entschiedenen Fortschrittes, dann adieu, Basel! Mache deine Stadtgräben tiefer, die Mauern höher, schaffe neue Kanonen und sogar neue Käppi an, denn sonst bist du verloren, Baseltrutz überwältigt dich, du wirst erst Neugenf, und was du später noch alles wirst, das wird dich dann Gott lehren. Ists wohl von Gott geordnet, daß allenthalben auf Erden das Solide dem Modernen, der Fels dem Sande weichen soll?
Etwas von diesem, doch nicht alles, dachte Jakob, als er durch die neue der alten Stadt zumarschierte, sich vorher sorglich säuberte, wie es einem ehrbaren Gesellen, der nicht als schmutziger Lümmel sich brüstet, wohl ansteht, ehe er zu dem ehrenfesten Tore ein ging. Er trat nicht in seinem alten Kostorte ab, ging auch nicht den großen Weg durch die Freie Straße, sondern hintenab, wie man in Bern sagt, über den Münsterplatz den Rheinsprung hinunter und kehrte, wenn wir nicht irren, beim »Schiffe« ein. Er wollte nicht Arbeit, wollte den alten Meister, den alten Zopf, besuchen, den neuen Jakob ihm vorstellen und dann weiterziehen, denn den Zug nach heim fühlte er bei jedem Schritte stärker. Er hatte da ein recht gut Essen. In Basel ißt man nicht schlecht, wenn es nicht Freischießen ist, auch nicht unbillig ißt man, wenn es nicht Freischießen ist, man ißt ein Kotelett unter einem Gulden, und eine Kaffeetasse voll Kartoffel kosten keine Schweizerfranken. Aber wunderlich tönte ihm das Gerede um die Ohren, er glaubte, in Zürich zu sein und nicht in Basel.
Sein Essen war eher zu Ende als das Gerede; er dachte, draußen auf der Rheinbrücke sei es erquicklicher. Draußen auf der Brücke fesselte ihn der Anblick wieder unwillkürlich, er wußte lange nicht, was ihn so ergriff. Endlich fühlte er, es war die gewaltige Kraft, welche stetig, schön, in gewaltiger Gelassenheit, aber in sichtbarer Unwiderstehlichkeit dahinfließt, unbekümmert um alles Menschengerede, ungehindert vom menschlichen Getriebe; es war eine sichtbare Gotteskraft, welche allen menschlichen Kräften zu Diensten steht, aber auch über alle menschlichen Kräfte geht, und wenn sie im Zorne erbraust, alles Menschenwerk zermalmt. Es ist eine lebendige Predigt den Baslern, ein Prediger -- sie mögen ihn auf vier Jahre wählen, die Basler, oder lebenslänglich -- welcher nie verstummt, welcher lange ihre Frömmigkeit gespeiset und getränket. Gehn zu Basel die Ohren zu für solche Predigten, dann wehe Basel, es wird Sidon und Tyrus erträglicher ergehen an jenem Tage, denn wer Ohren hat und wem gepredigt wird und er hört die Predigt nicht, der wird mit doppelten Streichen geschlagen werden.
Wie er so dastand und staunte und die Macht daherrauschen sah unwiderstehlich und unaufhörlich in immer gleicher Macht und Kraft, die, wenn sie verschwunden schien, immer wiederkam, und er so recht klein und demütig sich fühlte, da leuchteten ihm plötzlich, als wären sie aus dem Rheine heraufgestiegen, zwei dunkle Augen ins Gesicht. Er zuckte zusammen unwillkürlich, denn es waren des Brandenburgers Augen, welche ihm zum dritten Male erschienen in bedeutungsvollen Augenblicken, so gleichsam an Lebensbrücken, unter denen die Wasser schwollen und rauschten. »Bists, oder bists nicht?« frug er. »Bins«, sagte Jakob und bot ernst und bewegt ihm die Hand. »Und das Fieber ist, wie es scheint, aus Leib und Geist?« frug der Brandenburger mit leuchtendem Auge. »Aus Leib und Geist, gottlob!« erwiderte Jakob mit festem Blick. »Wo treffe ich dich?« frug der andere; »ich muß an die Arbeit und bin pünktlich.« »Im ›Schiff‹«, sagte Jakob, »bin ich eingekehrt. Kömmst nach dem Feierabend?« »Freilich«, sagte der Brandenburger, »punkt sieben stelle ich mich ein.« Das war Jakob ein seltsam Zusammentreffen, jetzt auf der Rheinbrücke, einmal am Zürichsee und einmal an der Rhone.
Er machte sich auf nach dem Werkplatze oder der Werkstätte seines ehemaligen Meisters, er wußte, daß derselbe gewöhnlich zu dieser Zeit sich vorfand. Derselbe kannte ihn ebenfalls nicht, als er sich ihm vorstellte, und wunderte sich nicht wenig, als er in dem saubern, anständigen Burschen den ungehobelten, aufbegehrischen Lümmel wiederfand, den er einmal fortgejagt hatte. Auch Jakob wunderte sich über die Freundlichkeit, mit welcher ihn der Ratsherr behandelte, fast wie seinesgleichen, und mit welcher Teilnahme er Stücke aus seinen Erlebnissen vernahm. Begreiflich so alles auf einmal sagt man einem Ratsherrn nicht. Jakob begriff, daß man mit Menschen, wie er ehemals auch einer war, gar nicht freundlich umgehen kann, sie zehn Schritte vom Leibe haben muß. Solche Menschen mißbrauchen jedes gute Wort oder deuten es mit Mißtrauen und gebärden sich desto schnöder. Ein vielbeschäftigter Meister, der die Gesellen noch dazu nicht an seinem eigenen Tische hat, kann mit Erziehung und pädagogischen Künsten sich wenig befassen, er muß die Gesellen nehmen, wie sie kommen, sie behandeln, wie sie sind, und tut er dies mit Verstand, so ist es alles, was man von ihm fordern kann.
Der Ratsherr drückte ihm seine Freude aus, daß die Wanderjahre gut bei ihm angeschlagen hätten, frug nach seinen Plänen, wollte ihm Arbeit geben, kurz, behandelte Jakob so, daß es ihm im Herzen wohltat. Das Hochgefühl der Ebenbürtigkeit regte sich in ihm, er fühlte, der Ratsherr sehe in ihm den zukünftigen Meister und Zunftgenossen und rede mit ihm, als ob er es schon wäre. Dies ist ein Gefühl, welches erlaubt ist, es ist das Ehrgefühl des Handwerkers, welches nicht ausarten darf in Stolz und Hochmut, ihn aber begleiten soll bis ins Grab. Wie der Ritter seine Ehre wahren, seinen Schild unbefleckt erhalten, sich ritterlich betragen muß, wenn er in Ehren sterben will, so soll auch der Meister seine Ehre wahren, als ein ehrenfester Meister in wahrer Ehrenhaftigkeit und Treue leben und sterben, darum muß er sich als Meister fühlen sein Leben lang.
In großer Freudigkeit fand ihn der Brandenburger, und als derselbe den Grund vernommen, sagte er: »Siehst nun den Grund, warum so viele Gesellen über Stolz und Hochmut klagen, bei ihnen selbst liegt die Schuld. Man kann sie nicht ehren, nicht mit ihnen sich abgeben, wenn man sich nicht beschmutzen will. Es gibt wohl hochmütige Leute, aber es gibt noch mehr schlechte Leute, welche in der Ehrenhaftigkeit und Verständigkeit weit unter null stehen, wo also der Fehler, daß man sie vom Leibe hält, an ihnen liegt. Es haben diese Klagen viel Ähnlichkeit mit den Klagen über den Luxus der Reichen. Ach Gott, wie viel Unverstand ist nicht in der Welt! Über diesen Luxus schimpft man, schimpft, wenn sie in Kutschen fahren, schimpft, wenn sie Bediente halten, Fisch und Braten essen nach Belieben und schön gekleidet herumspazieren. Aber was sollen sie mit ihrem Gelde machen? Es in Haufen legen, vergraben, außer Lands schicken? Darüber schimpft man ja eben, über die Kapitalien in toten Händen, über das Geizen und Schaben, daß alles auf einen Haufen müsse. Sollen sie es verteilen, die Türen offen halten, Bettler speisen, kleiden, tränken, Gutes tun mit vollen Händen? Darüber schimpft man ja eben, daß Unwürdige das Beste erhielten, schlechtes Volk erhalten werde; darum eben hebt man ja reiche Klöster auf, weil sie Schmarotzer pflanzen und das Volk faul und dumm erhalten. Sollen sie das Volk arbeiten lassen, Kutschen machen lassen, Häuser bauen, Brunnen graben lassen, dem Bauer schöne Pferde, dem Fischer gute Fische, dem Jäger fette Rehe abkaufen, Schneider und Putzmacherinnen in Bewegung setzen, den Handel durch großen Verbrauch in vielen Artikeln schwunghaft erhalten? Bewahre, darüber wird ja eben geschimpft, daß die Reichen so viel Geld verbrauchten, so großen Luxus trieben mit Kutschen, Fischen, Pferden, Champagner, Hauben und Röcken, daß sie das arme Volk beständig quälten mit Arbeit, meinten, es könne nicht auch essen, ohne zu arbeiten, es für ein Sklavenvolk hielten, welches sechs bis acht Stunden arbeiten solle, die Himmelhunde, die verfluchten! Was sollen sie machen am Ende mit dem Gelde, es fressen wie die Pferde das Heu? Nein, erst dann würde geschrien und geflucht werden! Sie sollen es verteilen an einige hundert Hungerleider, welche nicht Bettler sein wollen, nicht arbeiten mögen, nicht arbeiten können, nichts sind, gar nichts, aber Brüder von Königen und Fürsten sein, in Hermelin an der Sonne liegen, mit Austern und Hammelfleisch sich füttern, mit Champagner und Schnaps sich tränken lassen möchten. Die Hunde! Du kennst sie und ich auch. Doch von was anderm! Wie ging es dir, Jakob? Erzähle!«
Der Brandenburger freute sich der Erzählung und wünschte, daß es allen so ergehen möchte, auch wenn einige kalte Seebäder wirklich genommen werden müßten. Er bedauerte sehr, daß er Jakob im Spital zu Genf hätte verlassen müssen. Ein Schuft, den er gewarnt, habe ihn als Rädelsführer angegeben zum Dank, wie er ihn schon mehrmals erfahren. Bei der summarischen Justiz, welche bei solchen Anlässen geübt werde, habe man sich nicht mit langen Untersuchungen abgequält, sondern sie halt samt und sonders den See hinunterspediert. Er sei bis Basel gekommen und habe da eine schöne Anstellung gefunden. Ein vernünftiger Mann habe ihm auch einmal Gehör gegeben zufällig und alsbald sich seiner angenommen. Solche durch und durch vom Gesinnungsfieber und dem entschiedenen Fortschrittstaumel kurierte Leute habe man in Basel nötig und zwar in allen Zweigen des Gewerbes, habe der Mann gesagt. Im Dünkel der Macht achte man sich durchaus nicht der Gesinnung der Menschen, welche man aufnehme, den Einfluß ihrer Denkweise schätze man gar nichts. Wenn sie die gehörigen Stunden schafften, der Meister Gewinn von ihnen hätte, so sei ihm alles recht daneben. Daß von ihnen geistige Einwirkungen ausgehen könnten, daran denke er gar nicht, und sage es ihm einer, schüttle er verächtlich den Kopf. Das sei im höchsten Grade unklug, denn man dürfe keinen Feind verachten, am allerwenigsten eine einreißende Gesinnung oder Denkweise. Wassertropfen höhlten einen Stein aus, man könne denken, was Ansichten und zwar lockende und reizende, mit aller Beharrlichkeit und allem Nachdruck verbreitet und immer und immer wiederholt, am Ende für Wirkungen auf das im allgemeinen grundsatzlose Volk haben müßten. Wenn man die Gewissen nicht schärfe, sondern mit aller Gleichgültigkeit zusehe, wie durch die wüsten, zersetzenden Lehren allmählich jede Scheu und jedes bessere Gefühl im Volke aufgelöst, dem Tiere die Ketten abgenommen würden, so könne man das Ende voraussehen. Dann müsse man ja nicht glauben, all dieses saubere Gerede bleibe nur bei des Volkes Hefe. Wie das Grundwasser durch Bohrlöcher nicht bloß quelle bis auf der Erde Oberfläche, sondern spritze hoch in die Luft hinauf, so steige, was in des Volkes Kopf sich festsetze, in die Häuser, die Mägde trügen es aus der Metzg heim, wenn die Weiber zur Bauche kämen, so brächten sie es in ihren großen Krügen mit, die Hausknechte hingen es den Kindern an, und Handlungsdiener schmuggelten es bei zarten Töchtern ein. Ja, er sei überzeugt, es steige noch höher, und was man in Eckensteins Bierhaus, bei Silbernagel, ja beim Käsmerian schwatze, werde bald, wenn es so fortgehe, widerhallen an den Wänden des Rathauses, akkurat wie in Bern, wo auf dem Rathause nur wiedergekaut wird, was im Wirtshause zum Bären vorgekaut werde, und daß auf den Kanzeln gepredigt werde, was man in Zimmermanns Kneipe zum Bier brülle, dazu bahne man bereits die Wege, und zuletzt werde es zu Basel auch nicht besser gehen, wenn man dem Pferde nicht zum Auge sehe. Wie nun die politische Propaganda, die alles zerstörende Bande mit ihren geheimen Obern, ihre Missionäre und Sendboten in jedem Bierhause hätte, Dirnen im Solde hätte akkurat wie die russische Diplomatie schöne Damen, so müßte dafür gesorgt werden, daß die Gesellen auch was anderes und Besseres hörten. Gar viele hätten den Sinn dafür, aber aus Mangel an Gelegenheit fielen sie in die schlechtesten Hände. Ähnliches habe man früher gefühlt und wegen mangelnder Bildung für Schulen gesorgt, aber diese nicht vor vergiftendem Sinne gehütet, vor den Wölfen im Schafspelze, und über das Wissen gehe Glauben und Willen. Bessern Glauben, einen höheren Willen zu erhalten und zu pflanzen, das sei dringliche Not, aber so viele Meister hätten leider aus Mangel an eigenem Glauben weder Augen für diese Not noch Sinn dafür, ihr abzuhelfen.
Diese Hülfe sei vor allem in den Gesellen selbst zu suchen. Gesellen, welche durch Erfahrung zu Einsicht und Weisheit gekommen, müsse man in die Menge stellen, die können erzählen, wo Bartlome den Most hole. Tüchtige Gesellen würden weitaus am leichtesten Glauben finden, einen Anhaltspunkt bilden für jüngere, einen Damm aufwerfen gegen das einreißende Verderben, den Weg bahnen zu geistiger Rettung der dem Verderben zugeführten Gesellenwelt, die man vergifte, um durch sie die ganze Gesellschaft zu vergiften, statt daß aus dieser jungen Welt eine muntere, gesunde Kraft der Gesellschaft zuströmen solle, um sie fort und fort zu erfrischen und fruchtbringend zu erhalten. So müsse eingewirkt werden, Opfer müßten die Meister bringen, Geist müsse mit Geist bezwungen werden, böse Geister durch gute, mit Polizeiverboten sei da nicht geholfen, so wenig als mit Gleichgültigkeit und Ignorieren. Solange dies die Meister nicht begriffen, nur sich kümmerten um den größtmöglichsten Gewinn aus dem Geschäfte, so lange hätten immer bösere Geister über die Gesellen Macht, es wachse der Krebsschaden immer tiefer dem Herzen zu.
»So hat der Baslermeister zu mir gesprochen«, erzählte der Brandenburger, »und hat mich angestellt, daß ich zufrieden sein kann, behandelt mich mit Manier, wie ein Mann den Mann behandeln soll. Ich stehe aber auch in böser, unangenehmer Arbeit, ärger als ein Heidenbote unter den Heiden. Ich werde mit Mißtrauen angesehen, als Spion verschrien, wie ein räudiger Hund geflohen und habe es nur meiner guten Faust zu danken, daß das Ding nicht weiter geht. Es herrscht da ein Zwang, eine tyrannische Macht bereits, ärger könnte sie in China nicht sein. Wenn schon einer oder der andere sich gerne zu mir ließe, so darf er nicht aus Furcht vor den andern; es ist im Kleinen wie im Großen, was Trumpf ist, ist Trumpf, und wer was anders will, muß einen harten Kopf und langen Atem haben. Indessen habe ich Mut und Glauben nicht verloren, ich habe mir wenigstens Platz gemacht, es sitzt hier und da schon einer näher zu mir hin oder geht mit mir, wenn wir auf dem Wege uns treffen. Sind einmal unser ein Dutzend tüchtige, erfahrne Bursche mit Gott und Mut im Herzen, so wird das anders, dann sind wir schon eine Macht, und wo eine Macht ist, da schließt man sich ihr an, sucht Schirm und Schutz in ihrem Schatten. Wenn du da bleiben wolltest, so kämest du mir wie vom Himmel herab, du hättest gerade die nötige Schule durchgemacht und alles noch so recht brühwarm im Leibe, daß du es auch so recht warm den andern eingeben könntest. Das müßte wirken!«
Jakob gab der Sache Beifall, er wußte selbst am besten, wie abhängig ein Mensch von der Luft ist, welche ihn umgibt, aber bleiben wollte er nicht. Er sagte dem Brandenburger, wie es ihn heimziehe zur Großmutter, wie es ihm bange sei, ob sie noch lebe oder gestorben sei, und schreiben möge er doch nicht; habe er so lange gewartet damit, so wolle er jetzt auch die paar Tage oder Wochen noch warten. Er könne ihm nicht sagen, wie wehmütig es ihn mache, sagte er, wenn er denke, wie die Großmutter die Jahre zugebracht haben werde, und doch werde es ihr niemand angesehen haben als der liebe Gott. Er habe die Großmutter nicht begriffen, sie sei ihm gewesen wie einem Kinde eine Nuß in harter, doppelter Schale, vom Kern hat es keinen Begriff, weil es ihn weder gesehen noch gekostet. Nun, so weit von ihr, brächen ihm diese Schalen auf, er sehe den Kern, er fühle sogar, was dieser fühle, und wie es ihm zumute sei. Er müsse, er möge wollen oder nicht, nicht bloß an die Großmutter denken, sondern mit ihr leben. Er erwache mit ihr des Morgens und höre, was sie bete, höre, wie inbrünstig sie flehe, daß wenn er tot sei, Gott ihm doch gnädig sein möchte und es ansehen, daß er gewißlich nicht aus Bosheit gefehlt, sondern nur aus Dummheit; die habe er von seiner Mutter geerbt gehabt, und sie habe sie ihm durchaus nicht abgewöhnen können. Anderer Fehler solle er ihm nicht anrechnen, sondern der Genugtuung Christi, der doch wohl auch für ihren armen Jakoble gestorben sein werde. Lebe er aber noch, so solle der liebe Vater im Himmel mit ihm machen, was er gut finde, er wisse am besten, was ihm gut sei. Sehen möchte sie ihn gerne noch, aber gebessert, den Sohn seiner Väter, damit sie im Frieden hinfahren könne, und wenn sie in den Himmel käme und die Väter fragten: Hanne, wo hast du den Jungen? sie sagen könne: Unten in der Werkstätte schafft er, ein frommer und guter Meister. »Und wenn es ungebessert sein muß, o lieber Gott, dann gib mir eine Rute scharf und zäh, daß ich meine Pflicht noch üben kann, solange mein Arm sich noch rühren mag! Doch wie du willst, und nicht wie ich will.« »Dann sehe ich sie die Augen wischen, aufstehn, ihren Geschäften nachgehen, kein Mensch sieht ihr an, was sie im Herzen trägt. Tapfer wie ein Kriegsheld ficht sie mit der Welt. Fragt sie jemand nach dem Großsohn, so sagt sie: ›Er strolchet in der Welt herum wie andere auch, wo, weiß ich nicht, allweg läuft er nicht weiter als Gottes Arm reicht, was will ich mehr!‹ Und wenn dann ein Armer kömmt und bittet um eine Gabe, so schneidet sie ein Stück Brot ab, daß man einen Türken damit totschlagen könnte, und denkt an den Jakob und bittet, daß Gott auch an ihn denken möchte in der Fremde und es ihm nicht fehlen lassen an dem, was der Leib bedarf. Und wenn ein Handwerksgeselle anklopft, so fragt sie nach Bericht, wärmt Suppe und kocht ein gut Gericht und bittet Gott, daß er solche Guttat dem Jakob zugut kommen lassen möchte, und fragt dann verblümt nach mir. Aber was der Kerl auch funkeln mag (so sagt man im Kanton Bern statt flunkern), wie lieb ich ihr bin, merkt er nicht. Und ehe sie niedergeht, sieht sie noch die Felleisen an, bittet dann Gott, daß er mich bewahren möchte vor schlechten Gesellen und Dirnen, vor dem Tod und vor dem Teufel, und selten eine Nacht wohl wird vergehen, daß ich ihr nicht vorkomme im Traume. Sieh, dies sehe ich als eine Mahnung an, darum muß ich heim, habe keine ruhige Stunde mehr, bis ich die Mühle wieder klappern höre, an der ich vorbeimuß, ehe ich in unser Dörfchen komme. Aber es ist noch weit, und noch gar manchen Tag wird es gehen, bis ich dort bin.«
»Nimm die Eisenbahn! Kaum bist du abgesessen, bist du an einer neuen Station angelangt, kaum hast du an einem Teller Suppe gerochen, geht es weiter, kannst für eine ganze Mahlzeit bezahlen. Kannst nicht vom Geruch leben, so raste über den andern Tag, bist doch im Hui daheim. Darum bleibe noch einen Tag hier, kannst mir wenigstens den Gefallen tun, hier und dort, bei Käsmerian zum Beispiel, vielleicht auch auf dem Birsfelde und anderwärts was von deinen Erlebnissen zu erzählen, man weiß nie, was sowas nützt. Die Säemänner müssen säen alleweil, der Acker liegt immer bereit, die guten Stunden gibt Gott, aber sagt es dem Menschen nicht, wann er sie macht, der Mensch soll jede Stunde nehmen für eine gute.« So sprach der Brandenburger.
Jakob machte Einwendungen gegen die Eisenbahnen und gegen das Bleiben. Er fürchtete sich vor der dämonischen Macht, welche die Menschen dahinführt akkurat wie der Teufel die armen Seelen der Hölle zu, ohne daß sie was daran mehr machen können, wenn das Ding einmal im Lauf ist. Er hatte viel von Unglück gehört, schrecklichen Dingen, wie man verbrennen könne, wie man könne gesotten werden noch ganz anders als Krebse gesotten werden, wie man könne in die Luft gesprengt werden, daß man sein Lebtag nicht mehr zu Boden komme, so hoch hinauf. Im Waadtlande hatte er erzählen hören, ein solcher Zug sei einmal ausgerissen, ganz ab der Kette gekommen und davongefahren. Am grünen Vorgebirge habe man ihn noch gesehen, seither aber nichts mehr davon erfahren, bloß Arago, der berühmte Pariser Sterngucker, welcher die Kometen allezeit entdeckt, wenn die Lumpensammler mit Fingern darnach zeigen, wollte ihn am hintersten Mond des Jupiters haben vorbeisausen sehen. Jakob glaubte es nun freilich nicht, es machte bloß Eindruck auf ihn, im Waadtlande hatte es aber viel Glauben gefunden, die Waadtländer sind ein sehr gläubiges Volk, in solchen Dingen nämlich.
Nun, der Brandenburger nahm Jakob die Furcht, zeigte sich ihm wohlbehalten und stattlich, obgleich er mehr als hundert Male auf dem Untier gefahren war. Er ließ sich auch bewegen, einen Tag dazubleiben, so recht gründlich blau zu machen und den Gesellen zu predigen des Morgens beim Käsmerian, des Mittags beim Silbernagel, des Abends beim literarischen Bier des Eckenstein, zwischendurch, wo man Verlaufene fand, draußen auf dem Birsfeld oder drinnen im Schützenhaus oder in der Spalenvorstadt.
Aber als der Tag um war, und um ein bißchen sich zu räuchern und gesunde Luft zu fassen, die beiden auf der Rheinbrücke standen, da schlug Jakob die Hände zusammen und sagte: »Aber, Bruder Brandenburger, was willst du hier? Komm mit nach Deutschland, wir wollen gemeinsam was versuchen, da unten ists doch immer besser als hier. Da bin ich mit dir einen ganzen Tag herumgelaufen, habe erzählt, berichtet und punktum die Wahrheit, daß auch kein Düpflein daran fehlt, und was kömmt heraus? Ich habe einen wunderlichen Kopf voll getrunken, und alle haben mich mehr oder weniger ausgelacht, von allem, was ich sagte, kein Düpflein geglaubt, waren so oft bereit, ihre Gläser mir an den Kopf zu werfen als oft versuchtes Mittel gegen das Lügen. Ich muß sagen, ich war oft drauf und dran, das Stuhlbein umzudrehen, den Burschen ihre Bosheit in den Schädel hineinzuschlagen. Unter solchem Volke was willst du? Da ist Hopfen und Malz verloren, haben Augen und sehen nicht, Ohren und hören nichts, einen Verstand, und der begreift nichts. Eher wirst du aus einem Schweineschwanz Kuhmilch ziehen, ehe du solchem Volk Verstand und sogar Glauben beibringst.«
»Jakob, Jakob, bedenke«, sagte der Brandenburger, »wenn auch unser Herrgott so leicht den Glauben an dich verloren und an dir verzweifelt wäre, wie du an andern verzweifeln willst, was meinst du, was wäre aus dir geworden, wo moderten jetzt deine Beine? Unglücklich ist es allerdings, daß es Leute gibt, welchen es rein unmöglich ist, eine Wahrheit zu glauben, sondern welchen alle Wahrheit als Lüge erscheint, so wie es Leute gibt, welche den Himmel gelb sehen statt blau, denen das Süße bitter vorkommt, welche nur Lügen glauben können und je gröbere, desto lieber, ungefähr so, wie du vorhin eine von den Waadtländern angeführt hast. Aber solche Leute gibt es leider zu Tausenden, ein unselig Volk des Abgrundes, Futter für die Schulmeister des Zeitgeistes, die Sendlinge des Abgrundes. Einen heillosern Zustand kann es wirklich nicht geben, als so verkehrten Geistes zu sein, daß die Lüge Wahrheit scheint, die Wahrheit Lüge. Diesem Zustand ist bloß der zu vergleichen, wo man Haß für Liebe nimmt, Liebe für Haß, die Treue des Vaters mißkennt, heuchlerischem Schmeicheln des Erbfeindes traut. In solchen Zustand geraten ganze Geschlechter, ganze Klassen von Menschen, sowie einzelne. Der einzige Trost dabei ist, daß er bei einzelnen und ganzen Klassen vorübergeht, das haben wir ja beide erfahren. Und wer diese Erfahrung gemacht hat, dessen Pflicht ist es, den Übergang bei andern aus der Finsternis zum Licht zu beschleunigen. Daß du heim willst, begreife ich, ich habe aber niemand daheim und bleibe hier, und ist auch das Wirken wenig, so ist doch das Wollen mein, und dieses wird Gott auch ansehen. Du aber kannst daheim auch das Deine tun, kannst warnen und erzählen, wie es geht in der Welt, kannst mir zusenden, was bei dir durchgeht. Freilich werden es wenige sein, welche gleich den Glauben haben, nicht durch Erfahrungen kuriert und zum Glauben gebracht sein wollen.«