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Jakob schlief über den Alten in einer Kammer, und wenn unten laut geredet ward, so hörte man es oben. Einmal des Nachts erwachte Jakob, es war ihm, als hätte er laut rufen gehört. Er fuhr auf, um besser zu horchen, da hörte er, wie die Frau den Meister weckte. Sie möchte ihm noch was sagen, sagte sie, sie fühle, daß das Ende nahe. Er wollte auf, ihr Warmes zu machen. Sie aber ließ ihn nicht, später könne er, wenn es noch Zeit sei, jetzt aber wolle sie ihm danken für alle Geduld und Liebe und Treue, welche er ihr während ihrer Ehe erzeigt, sagte sie. »Ich bin eine glückliche Frau gewesen und habe dir es zu verdanken; weil du so gut gewesen, so bin ich auch gut geworden, Fehler sind mir vergangen, ich weiß nicht wie; ich habe es dir zu verdanken, daß ich hoffen darf, selig zu werden. Darum traure nicht um mich, und wenn es dir wehtut, daß ich nicht mehr da bin, so denke daran, daß du mich so glücklich gemacht, und daß ich es vor Gott bezeuge! Und lange wird es ja nicht dauern, so sind wir wieder beieinander. Nein, Lieber, weine nicht, es muß so sein, alles nimmt auf Erden ein Ende, und denke, wie glücklich wir sind, unser Glück, unsere Liebe haben kein Ende genommen, mein Leben erlöscht, dein Leben wird erlöschen, aber unsere Liebe bleibt, unser zeitlich Glück wird zum ewigen. So manchmal haben wir zusammen gebetet, laß es uns noch einmal tun!«
Manche Anstrengung machte der Mann, aber Schluchzen nahm ihm immer die Stimme. »Bete das Unservater, der Herr weiß ja, wie wir es meinen.« Er tat es laut, sie betete laut nach, unwillkürlich oben Jakob mit. Als der Meister fertig war, küßte sie ihn, er brach in lautes Weinen aus. Sie suchte ihn zu trösten und bat ihn um was Warmes. Er suchte sich zu ermannen, stand auf, auch Jakob tat das gleiche, um Handbietung zu leisten. Als ein Süppchen fertig war, trugen sie dasselbe hinein, aber die Gute bedurfte seiner nicht mehr, ihre Seele war heimgegangen, atemlos lag ihr Leib, der Frieden, der über allen Verstand geht, den sie im Leben gefunden, der war aus dem Herzen heraufgestiegen und lag als himmlisches Leichentuch auf der Seligen Gesichte. Der arme Mann war vorbereitet, doch brach er zusammen, als er das Ende sah. Daß er nicht bei ihrem Scheiden gewesen, konnte er nicht verwinden.
Jakob war zum ersten Male bei einem eigentlichen Sterben. Was er im Spital gesehen, das zählen wir nicht, da stirbt bloß eine Kreatur, und keine Liebe waltet überm Bette und legt Zeugnis ab vom geistigen Verbände geistiger Wesen. Jakob ward wirklich ergriffen und weinte unwillkürlich um die gute Frau und hatte Mitleid mit dem armen, alten Mann, der, wie eine Waise am Totenbette von Mutter und Vater, am Totenbette seines Weibes weinte. Eine solche Frau sollte nicht sterben, es sollte eine Einrichtung sein, wo die Besten blieben, die Bösten immer vorab müßten, das würde mancher den Verstand machen, dachte Jakob. Und wenn es doch gestorben sein müßte einer wie der andere, so sollte man sich hüten, so aneinander zu hangen und sich zu lieben, daß man meine, man könne nicht ohne einander sein. Das schütze nicht vor dem Tode und mache nur Schmerz, und da sei man dann da und müsse wünschen, man hätte sich nie gesehen, so wie man sich nie wiedersehe. Warum gebildet sein und aufgeklärt und sich mehr plagen als das Tier und da weinen und jammern einem gestorbenen Wesen nach, das nicht wieder lebendig werde, und hundert und hundert andere und tüchtigere und währschaftere Wesen zu haben wären? Lieben sei schön, aber abbrechen müsse man damit so bald wie möglich, wenn es schon schön wäre, geliebt zu sein bis ans Ende, und sehr kommod, denn besser als der alte Mann es gehabt hätte und er auch, könnte man es kaum haben, aber jetzt werde es desto fataler sein. Darum sollte man das Lieben lassen und jedes sich für sich selbst einrichten oder sonst eine andere Einrichtung zu machen versuchen.
So dachte Jakob und weinte mit und tat sich um um den Alten, als wäre er dessen leibhaftiger Sohn. Es kamen am Morgen die Bekannten, weinten und trösteten und ergossen Lob und Preis über die Selige und zwar ungeheuchelt. Sie hatte nie Plappereien gehabt, denn sie hatte immer das Gute lieber geglaubt als das Böse und jedenfalls nur das Gute nachgesagt, sie war Vertraute und Ratgeberin gewesen bei Jung und Alt und hatte nie was Anvertrautes zu Markte getragen, nie aufgewiesen und aneinandergehetzt, hatte immer eine offene Hand gehabt und fast mehr Gutes getan als in ihren Mitteln stand. Sie war eins von den seltenen Wesen gewesen, welche mehr an andere denken als an sich, welche mit wenig Unglück geschlagen sind, aber dabei nicht das Gefühl für Leid und Weh verlieren, wie es oft geschieht, sondern fremdes desto inniger fühlen. Das rührte Jakob, aber was hatte sie jetzt davon, mußte er doch denken. Was die Leute während ihrem Leben sie geplagt hätten! Hätte sie sich um alles nichts gekümmert, sie hätte ein viel behaglicher Leben haben können.
Es versuchten wenige, den alten, jammernden Mann zu trösten, und wer es versuchte, dem sagte er, er habe nur einen Trost, die Hoffnung, daß die Trennung nicht lange daure, und daß er hoffen dürfe, an den gleichen Ort zu kommen, wo seine Selige; sei er auch nicht gut wie sie gewesen, so wisse er doch, sie werde für ihn zeugen und beten, bis der gute Gott sich auch seiner erbarme. Jakob mußte gestehn, diese Hoffnung sei der Liebe einziger Trost. Sollte er dem guten Alten denselben verkümmern, in Zweifel ziehen? Das wäre ja mehr als grausam, das wäre schlecht gewesen, es wäre der Neid gewesen, der andern nichts gönnt und gerne nimmt, was man selbst nicht hat. Aber das fand er immer deutlicher, daß sich hüten müsse vor warmer, inniger Liebe, wer diesen Trost nicht habe, denn dann täte das Scheiden gar zu weh; fatal sei das, denn die Liebe sei doch süß, sie sei dem Leben, was Sonnenschein der Erde.
Die Tage, während welchen die Leiche noch im Hause weilt, gleichsam Rasttage, wo der Tote ausruht von seiner Pilgerfahrt, ehe er die neue Reise antritt durch des Grabes Tor in eine neue Welt, sind, wo Liebe den Toten umschwebt, stille, heilige Tage. Es ist, als ob geliebte Kranke schlafen. Und schlafen sie nicht einen sanften, leisen Schlaf, den ersten sanften vielleicht seit vielen langen Tagen und Nächten und einen, aus dem sie nicht erwachen werden zur Pein und neuer Krankheit? Leise gehn alle, leise mit bebender Hand hebt man die Decke vom blassen Gesicht, wenn man die lieben Züge noch einmal sehen möchte, leise weint man, bis vielleicht der Schmerz sich steigert, daß er laut den geliebten Namen ruft, daß er in selbstsüchtigem Vergessen den Schlafenden zurückrufen möchte in seine Pein, nur um ihn diesseits wieder zu haben. Wo die Liebe nicht ist, da erscheint an manchem Orte äußerlich die gleiche Trauer, ein ähnlich Wehklagen, aber diese Trauer ist einem Gespenste gleich, das am hellen Tage umgeht mit hohlen Augen, eiskalt um und um.
Der letzte Tag, wo der Leib auf Erden weilt, ist der bangste Tag. Wie eine Mutter, welcher ihr einzig Kind auf weite Reisen oder in einen andern Weltteil gehen soll, mit Tränen erwacht, jeder Schlag der Uhr ihr schmerzlich im Herzen tönt, weil er die Abschiedsstunde näher und näher bringt, manches zu beschicken ist, manches nicht vergessen werden sollte, ein Kommen und ein Gehen ist und immer lebendiger, je näher der letzte Stundenschlag rückt, und man nicht Sinn, nicht Kopf hat, nichts denken mag, nichts mag als dasitzen bei dem Scheidenden, ihn haben will, solange man ihn haben kann, so ists da, wo lebendige Liebe ist, so wars in unseres guten Meisters Hause. Jakob mußte denken und tun, was üblich und bräuchlich war, was aber keine leichte Sache war. Allenthalben sind die Gebräuche anders, und allenthalben sieht man die Verletzung eines Gebrauches als eine Verletzung der allerhöchsten Majestät Gottes an, wenigstens für ungeheuer schrecklich, denn allenthalben herrscht der Sinn, der in das Äußerliche, in Gebräuche und Zeremonien die Hauptsache setzt, und ganz besonders im Waadtlande der Sinn, der seine Gebräuche und Zeremonien für die allein rechten und vernünftigen, anständigen hält.
So schwer er war, er ging auch vorüber, dieser Tag, aber als die teure Leiche aus dem Hause war, da war es, wie Moses sagt, daß das Weltall war ehe Gottes Geist über den Wassern schwebte, öde und leer. Diese Erlebnisse hatten Jakob und den Meister näher gebracht, als sie sich sonst standen, denn nichts einigt mehr als Unglück oder Leid, welche man in Treue und mit ähnlichen Gefühlen bestanden. Auch ließ Jakob unwillkürlich alle Gespräche, welche des Meisters Glauben und Hoffen verletzen konnten. Der Meister lebte in der Vergangenheit, stellte die verlebten glücklichen Tage in die öde Gegenwart hinein, labte sich an ihnen und war unerschöpflich in Mitteilungen darüber. Dann kamen wie üblich auch die Verwandten mit allerlei liebevollen Räten, während ihre Augen sorgfältig Ausschau hielten über alles, was zu erben war. Diese Räte wurden dann von Jakob und dem Meister wieder besprochen hin und her.
Der Meister hatte Jakob den Vorschlag gemacht, er solle bei ihm bleiben, seine Arbeit übernehmen, dann sollte das Häuschen sein werden, und wenn er es auch nicht hoch bringe, so habe er doch sein sicher Auskommen, und wenn er so glückliche Tage verlebe darin als er, so wäre sein Los nicht groß, aber besser als die meisten Lose, welche von den Menschen im Leben gezogen würden. Nicht sehr lange her war es, so hätte es Jakob keiner Wahrsagerin geglaubt, daß ihm ein Häuschen angeboten würde in kurzer Zeit samt einer Meisterschaft. Als er ohne Obdach und Nahrung, den Tod vor Augen durch das gefrorne Land wanderte, und jemand hätte ihm angeboten, was jetzt der Meister tat, er hätte geglaubt, das höchste Glück sei ihm vom Himmel gefallen, er wäre der seligste unter den Sterblichen gewesen. Und jetzt schätzte er es nicht mehr; ja, er fühlte, er würde steinunglücklich sein dabei, wenn er da sein Lebtag aushalten müßte.
So ist der Mensch, sein Glück hängt nicht ab von außen, sondern, wie gesagt, von innen. Aber das ist auch so ein Ding, man möchte es Vorurteil nennen, und doch ist es dies nicht, es ist vielmehr menschliche Dummheit, welche als eine Ursünde zu rechnen ist, man kann es tausendmal sagen, und Gott kann ihm alle Tage siebenmal den sogenannten Anschauungsunterricht geben und zwar besser als kein Schulmeister, und doch will es der Mensch weder glauben noch sehen, daß das Glück nicht von außen kömmt mit äußerlichen Gebärden, nicht an papiernen Verfassungen hängt, nicht an Erfüllung halb und ganz dunkler Träume halb oder ganzer Narren, sondern von unserer Seele Richtung und Beschaffenheit, der Gestaltung unserer Ansprüche und Wünsche, dem Maße unseres Genügens oder Ungenügens. Der Regulator zwischen Innerem und Äußerem, zwischen Sinn und Verhältnissen ist eben das Christentum, das liebliche Licht aus der Höhe. Wird dieses von einem Kinde oder einem Frevler zerstört, so ersetzt man es weder durch Faust- noch Stallaterne.
Indessen nahm das Ausschlagen der Meister Jakob nicht übel, er schrieb die Weigerung, zu bleiben, dem Zuge nach der Heimat zu, und die nimmt ein Schweizer nie übel; hätte Jakob auch gesagt, es sei der Trieb der Jugend nach Mehrerem, Größerem noch nicht gestillet, er möchte noch weiter in der Welt, so hätte auch dies der Alte nicht übel genommen, sondern eben auch begriffen. Das Alter ist heutzutage gegen die Jugend zumeist weit toleranter und humaner als die Jugend gegen das Alter; das kömmt aber daher, weil das Alter nicht so dumm ist als die Jugend, die Gründe von gar vielen Erscheinungen begreift und würdigt, die Jugend die Erscheinungen für Grundsätze und Weltgesetze hält, weil sie eben hinten und vornen nichts davon begreift, was aber eben wiederum sehr begreiflich ist.
Der gute Alte aber wußte lange nicht, was machen. Jemand ins Häuschen nehmen, wo seine Selige gewaltet, davor graute ihm. Er wäre alle Tage erinnert worden an seinen Verlust, und daß seine leibliche Vorsehung im Grabe sei. Denn so eine liebe, gute Alte hat sich vollständig verklärt und verkörpert zu ihres lieben Alten Vorsehung, sie regiert und erhält ihn, aber mit mütterlicher Hand und nicht als eine Xanthippe und des Teufels Base. Er fühlte wohl, sein Wandel war nicht mehr hier in der irdischen Hütte, sondern im Himmel, darum wollte er Haushaltung und Handwerk aufgeben und in einem andern Dörfchen bei seiner Schwester sterben. Von dort war nicht weiter zum Himmel als von da wo er war, und an einem fremden Orte glaubte er seine Geschiedene weniger zu missen, unverwandter sie da oben zu suchen, wo Christus ist. Jakob widersprach ihm nicht, der fromme Glaube rührte ihn, er mußte sich gestehen, wenn es einmal gestorben sein müsse, so wäre es gut, man hätte ihn, und es könnte möglich sein, daß es ihm einst auch käme, daß er wollte, er hätte geglaubt und darnach gelebt, das sei halt Altersschwachheit, und wenn einer am Ertrinken sei, so suche er an jedem Grashalm sich zu halten, und wenn einem das zeitliche Leben unter den Füßen weiche, so schnappe man halt noch zu guter Letzt nach einem andern Leben, und wers könne, dem komme es kommod. So dachte er, aber da er kein Fenster vor seiner Seele hatte, was eine große Wohltat Gottes ist, so sah der Alte seine Gedanken nicht.
Jakob half dem Alten seine Sachen ordnen und verließ ihn nicht, bis derselbe auch zu seinem Weiterzuge gerüstet war. Der letzte Abend, welchen sie zusammen verbrachten, war still und feierlich, er war dem letzten Abend bei der Großmutter in vielem ähnlich. Was doch alles zwischen zwei Abenden liegen kann! Nun, wenn es zur Weisheit und Läuterung dient, so erlebt man nicht zu viel, aber wenn man an jedes Erlebnis eine Sünde hängt, Herrgott, was gibt das für Sünden! Da steigen sie wohl auf bis in den Himmel und werden größer als daß sie könnten vergeben werden, wie Esra sagt. Es hielt Jakob hart, von dem Alten zu scheiden, den er, wie er wußte, nie mehr sah. Es war der erste Ort, von welchem er unbeschwert und ungern schied, an welchen er mit Freuden zurückdenken konnte, wo ihm seine Meisterleute lieb geworden waren. Das ist viel erlebt und viel erfahren. Aber wo auf einer langen Wanderschaft, vom Taufbecken bis zum Grabe, einer niemanden liebt, man von niemand geliebt wird oder man am Ende jede Liebe verliert, verspielt, du mein Gott, was ist das für eine Wanderung, und was wird da gewonnen!
Der Alte rechnete zuerst mit ihm vollständig aus, Jakob hatte bis dahin es nicht begehrt, da er wenig bedurfte und bei dem Meister das Geld sicher wußte. So viel Geld hatte er wirklich auch sein Lebtag nicht beisammen gehabt. Der Meister hatte nicht gekargt und ein schön Trinkgeld dazugelegt, Jakob weigerte sich dessen, Dankbarkeit schwellte ihm das Herz, das Wasser schoß ihm in die Augen, er demütigte sich unwillkürlich und bekannte: »Nein, Meister, das habe ich nicht verdient, Ihr habt Großes an mir getan, ohne Euch lebte ich nicht mehr. Den Verstoßenen nahmt Ihr auf, hieltet ihn wie ein Kind, die Zeit, welche ich hier verlebte, werde ich nie vergessen, und wenn ich noch was werde in der Welt, so habe ich es Euch zu verdanken, denn Ihr gabt mir die Courage und den Glauben wieder, daß ich noch was werden könne; darum beschämt mich nicht, nehmt das Geld wieder!«
»Jakob«, sagte der Meister, »du bist mir lieb geworden, unsere Barmherzigkeit ist an uns gesegnet worden, du warst uns wirklich ein Gesandter vom Herrn, ein Engel. Du hast meiner Seligen manche Freude gemacht und ihr viel gedient; und wie ich alleine ohne dich die schwere Zeit hätte überstehen wollen, weiß ich nicht. Doch die Liebe rechnet nicht, darum nimm, ich kanns entbehren, du wirst es nötig haben. Daß du den Glauben gewonnen hast, daß du nicht zu lauter Unglück, zu einem Opfer der Ungerechtigkeit der Welt bestimmt seiest, daß du den Glauben gewonnen, daß aus dir noch was Tüchtiges werden könne, das ist allerdings auch ein Glaube. Ein Glaube aber fehlt dir noch, der höhere und bedeutsame. Lange quälte es mich, als er dir nicht kommen wollte, aber ich habe mich beruhigt und deswegen keinen Kummer mehr. Ich habe die Überzeugung, der liebe Gott, der dich zu uns geführt, habe dies nicht umsonst getan, sondern er wolle dich erhalten und sicherlich nicht, um deine Seele verdammen zu können, sondern um sie selig zu machen. Ich kann mir es nicht anders denken, als deine Großmutter betet für dich, und Gott im Himmel höret sie, wie er verheißen hat. Darum, wenn die Gefahr am größten ist, die Welt dich verschlingen will, ist seine Hand über dir, und ein Retter ist da. Darum bin ich getrost und zage nicht für deine Seele, ich glaube, der Glaube kommt dir wieder, ohne welchen die Erde eine Hölle wäre, der Mensch das verfluchteste unter allen Geschöpfen, der Glaube, der den Frieden bringt und selig macht. Darum will ich dir nicht zusprechen, dir nicht predigen, bei dir hat der Herr selbst das Predigtamt übernommen, er ists, der deine Ohren seiner Stimme öffnen wird.«
Nun sprach der Alte mit ihm traulich über die Richtung seines Weges, ermahnte ihn, der Großmutter bald ein Lebenszeichen zu geben. Er dürfe das jetzt wohl tun, da er nicht Geld bedürfe, und der Großmutter würde es wohltun, was zu vernehmen. So war es spät geworden. Da holte der Meister aus seinem Zimmerchen noch sein alt Felleisen und gab es Jakob. »Nimm!« sagte er, »schön ists nicht, aber gut noch und allweg besser und ehrenhafter als das Wachstuch, welches du gekauft hast. Ich wollte es behalten bis an mein Ende, aber was hilft es mir? Dir aber kömmts kommod, und vielleicht habe ich dort, wo ich hingehe, nicht einmal Platz dafür. Trage es, und wenn du heimkömmst, so sage deiner Großmutter, es sei ein ehrlich Felleisen, mit Ehren habest du es gewonnen, der Ehre, neben den andern zu hängen, sei es wohl wert. Solltest du zu deinem wieder kommen, so gib das meine nicht in fremde Hände ich könnte es im Grabe nicht ertragen, wenn es in Unehre getragen würde. Fülle es mit Steinen, versenke es in den See oder Strom, wo es am tiefsten ist!«
Das hatte Jakob nicht erwartet, es war ihm wie einem Knappen, der, im Drange der Schlacht wehrlos geworden, plötzlich zu Pferde sitzt mit einem guten Schwerte in der Faust. Vor Freude konnte er nicht einmal Komplimente machen, das heißt höfliche Schneckentänze, wo man sich erst dessen weigert, was man am liebsten hat. Es war kein schön, schwarz, glänzend Felleisen, so wie der Lehrbub sich dessen freut, wenn er die Gesellenschuhe anzieht; man sah ihm Regen und Schnee, viele vergangene Tage an. Aber es ist mit dem Felleisen wie mit den Fahnen. Kinder, Waadtländer freuen sich über schöne, neue seidene Fahnen, am höchsten aber in geprüften, besonnenen Augen stehn die alten, zerfetzten.
Rührend war am Morgen der Abschied von Meister und Gesell, sie hatten miteinander gelebt und erlebt und waren sich wohl bewußt, es war auf Nimmerwiedersehn -- »in dieser Welt«, hatte der Meister beigefügt Der Leser wird vielleicht sich nicht recht zurechtfinden in der Zeitrechnung, uns nicht Monate und Tage nachrechnen können; wir bitten, uns dieses zugut zu halten. Teils ist es so notwendig, um das Handwerk nicht zu bezeichnen, teils nehmen wir die neu zugestandenen Rechte in Anspruch, laut welchen man sich in poetischen Darstellungen um Wahrscheinlichkeiten in Beziehung auf Zeit und Ort durchaus nicht zu kümmern hat..
Es war ein schöner Morgen, als Jakob auszog. Es war ein anderer Jakob, welcher jetzt wanderte, als der, welcher bisher gewandert hatte, und dieses fühlte er selbst sehr wohl. Er war männlicher, reifer geworden, er hatte Wurzeln geschlagen im Leben, war zu einem selbständigern Wesen geworden. Er war nicht mehr der Junge, welchen die Großmutter den dummen nannte, der rein von der Außenwelt und ihren Eindrücken abhing, der den Himmel anjauchzte, wenn er Wein im Kopfe hatte, und die Welt verfluchte, wenn er müde Beine kriegte, der hiehin ging und dorthin, nicht weil er dachte, warum er gehen solle, und was daraus werde, sondern weil man ihm sagte: »Du, Jakob, bist der Kerl dazu; wie du bist, gibt es keinen mehr!« der den blindesten Glauben hatte zu jedem Schalk und Spitzbub, sobald der ihn bei der schwachen Seite nahm, woran er zu drehen war wie an seiner Handhabe ein Butterfaß. Jakob hatte sich vorgenommen, sich nicht mehr zu fremden Zwecken mißbrauchen zulassen, Verbindungen zu meiden und einmal für sich zu leben, ohne mit andern viel sich abzugeben. Arbeit wollte er nehmen, wo er sie fand, bleiben an einem Orte kürzere, längere Zeit je nach der Jahreszeit und dem Meister, so langsam die Schweiz durchwandern, nach und nach der Heimat sich nähern, bis er sie wieder erreicht hätte. Paris hatte er aufgegeben, er scheute den Wirbel dort, vielleicht sagte ihm sein Gefühl, daß seine Selbständigkeit noch zu schwach sei, um gegen die große Macht dieses Wirbels bestehen zu können. Er war gesund und kräftig, ordentlich angezogen, mit Geld reich versehen und dem Bewußtsein, im Handwerk allenthalben bestehen zu können.
So wanderte er, als die Rührung des Abschieds ihre erste Schärfe verloren hatte, unbefangen in die schöne Welt hinaus. Er hatte ein offenes Auge für seine Umgebungen, und war Besonderes nicht zu sehen, so dachte er über allerlei nach, sehr oft über seine Vergangenheit, und wenn er mit Heftigkeit den Stock hob und einen Stein aus dem Wege zwickte, so konnte man mit Sicherheit darauf zählen, er war auf eine Erinnerung in seinem Leben gestoßen, wo es ihm jetzt klar war, wie er damals wirklich als der Esel sich gebärdet hatte, wie ihn die Großmutter gescholten. Es war, als sei ein Nebel vor ihm gefallen, und er sehe jetzt viel anders ins Leben hinein, in die Welt hinaus als früher. In solchem Nebel sind wir oft und wissen es nicht und glauben es noch weniger. Wenn es natürlichen Nebel gibt, so merkt man es, in London zündet man Laternen an, in der Schweiz steckt man Stangen auf, in Amsterdam brüllen aus den Kanälen herauf die, welche am Ertrinken sind, zur Warnung für die noch Lebenden; aber den Nebel im Geiste, den merkt man leider nicht, bis er weg ist, man meint, im hellsten Sonnenschein zu stehn, und daß es finstere Nacht gewesen, merkt man erst, wenn das Licht wirklich kömmt. So erlebt man vieles im Schlaf, aber während man schläft, weiß man nicht, daß man träumt; so träumt man wiederum vieles bei wachendem Leibe, aber während man träumt, weiß der Träumende nicht, daß er träumt, ein Quasinachtwandler ist. Aus Nebel und Träumen zu kommen, ist so schön, aber nur der kömmt dazu, der höher steigt die Bahn hinan, die gen Himmel geht, nicht der, welcher im Schlamm der Sünde sich wälzet, denn bekanntlich liegen auf Morästen die schwersten und dicksten Nebel.
Jakob wandte sich nicht dem See zu, er wollte die Städte meiden, er hatte es sattsam erfahren, daß er dort nur lieb gewesen, solange man was von ihm ziehen, ihn im Nebel herumführen konnte. Er hatte nach Lausanne geschrieben an seinen frühern Kostgeber, noch dazu den Brief frankiert, der ihn nach Genf zu seinem dortigen Kostgeber gewiesen gehabt hatte, diesen nach dem Genfer Kostgeber gefragt, aber nie eine Antwort erhalten, und doch, wenn jemand, so mußte der in Lausanne es wissen, wo der Genfer sich hingewandt. Er wanderte behaglich quer durch das Land dem Kanton Freiburg zu, denn Neuenburg wollte er meiden. Jetzt, da er die Sprache kannte, wenigstens so weit, daß er bequem mit jedermann das Gewöhnliche besprechen konnte, jetzt, da es warm war und Geld in seiner Tasche klingelte, jetzt wars ein ganz anderes Land als damals, wo er im Winter hineingekommen war und noch dazu auf dem schwarzen, nassen See hatte fahren müssen. Das Volk schien ihm nicht halb so elend und unglücklich als man es ihm gesagt hatte, ja, wenn er von den roten Backen und gefüllten Bäuchen auf den Rest schließen wollte, so hätte er beinahe glauben müssen, das Volk sei reich und glücklich, eher zu sinnlich als zu fromm, das gefiel ihm gar nicht übel. Die Leute räsonierten wohl auch und begehrten auf, daß die Wände krachten, aber dabei schienen sie sich wohl zu befinden und erst recht behaglich zu sein, wenn es so recht donnerte und polterte in allen Ecken.