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Jakob fühlte die Liebe der Kinder gar warm im Herzen, er erkannte, daß Kinder eine hohe Gabe seien und wer keine habe, viel, viel entbehren müsse. Er hatte nicht immer so gedacht, sondern gerade das Gegenteil, aber er hatte andere Augen bekommen, der Jakob. Er mußte es auch erfahren, wie wandelbar und vergänglich alle Grundsätze und Ansichten sind, welche von unserm Fleisch und Blute kommen, und daß nur fest und unwandelbar ist, was der ewige Gott auf seine ehernen Tafeln hat graben lassen. Und als er am Morgen weiterzog, da war es ihm, als lasse er einen Teil seines Ichs zurück und nehme dafür von den andern mit. Er fühlte es, daß man eigentlich nur da recht lebe, wo man in Liebe lebe, wo man seinen Namen so gleichsam einschneide in die Herzen, daß er in liebem, freundlichem Andenken bleibe, solange die Herzen schlagen, in die er eingeschnitten ist. Jetzt erst begriff er die Großmutter recht in ihrer Vorschrift, daß er sorgen solle, daß er an jeden Ort, wo er gewesen, mit Freuden wiederkehren dürfe; dazu braucht es ein eigenes Leben, an das eben gar mancher nicht denkt auf der Wanderung und darum fürs Leben zugrunde geht, dieweil er untüchtig geworden ist zu allem Guten. Dann wieder kam es ihm, wie es doch dumm sei, wenn man sich an Leute hänge, Anteil an ihnen nehme, daß es einem wehtue, fortzugehen. Das sei ein Weh, welches man sich ersparen könne. Ehedem sei er immer froh gewesen, fortzugehen, und je mehr Land zwischen ihn und seine Meisterschaft gekommen, desto wohler sei es ihm geworden, jetzt sei ihm das Scheiden zweimal so recht schwer geworden, und während die Beine vorwärts gingen, kehre seine Seele immer wieder dahin zurück, woher er komme. Dies sei peinlich und am klügsten wohl, zu vermeiden, daß es ihm wieder so gehe. Er dachte viel darüber nach, was klüger sei, oder wie man angenehmer lebe, wenn man sich um niemand kümmere, gleichgültig gegen alle Menschen sei und für weiter nichts als das eigene Behagen sorge oder aber die Menschen liebe und ihre Liebe suche, ein Herz habe für andere, ihr Wohl und ihr Weh.
Er wußte für beides Gründe, und wenn er an die glückliche Ehe seiner lieben alten Leute dachte, so dachte er dann an des Alten bittern Schmerz beim Tode seiner lieben Alten; wie süß das Andenken wird, nachdem der erste Schmerz verglommen ist, kannte er nicht. Wenn er an seinen letzten Aufenthalt dachte, so mußte er bekennen, daß dort ein unlustig Wesen sei wegen Pierres kalter Selbstsucht, und daß er selbst am meisten Ärger darüber habe, aber nicht wisse, wo es fehle, und daß Babette mit der Liebe der Kinder doch glücklicher sei als Pierre ohne dieselbe. Dann aber mußte er doch denken, daß wenn niemand Liebe begehrte, sondern alle ganz gleichgültig wären, so wäre es doch am besten, dann wäre kein Streit wegen der Liebe.
Obs aber so möglich sei und in der Natur des Menschen gegründet, daran dachte Jakob nicht, aber er nahm sich vor, künftig ganz gleichgültig durch die Welt zu wandern, ohne Haß und ohne Liebe, zu essen und zu trinken, was ihm wohltue, sichs recht behaglich und bequem zu machen in der Welt. Gleich jetzt auf der Wanderschaft wolle er damit anfangen. Da er heimwolle, so wäre es ja die größte Dummheit, wenn er sich allenthalben das Weitergehen schwer machen wollte, man könne sich ja sonst auch betragen, daß man wiederkommen dürfe. Und wenn er heimkomme, so wolle er so fortfahren. Sterben müsse man einmal, dann tue das Scheiden weh, und wer recht liebe, könne es fast nicht ertragen, daß, wer tot sei, tot bleiben müsse und ewig nichts sei, und doch sei es so. Darum nicht lieben! Heiraten werde er vielleicht, ein Meister müsse eine Hausfrau haben, aber zu lieben brauche er sie nicht, sondern bloß anständig mit ihr umgehen, und allfälliger Kinder könne er sich freuen und ihnen Freude machen, aber zu lieben brauche er sie auch nicht, das könne man ja immer machen, wie man wolle. Der gute Jakob, so kalkulierte er, so philosophierte er. Aber was ist Philosophie? Philosophie ist die Quintessenz der menschlichen Gedanken, und diese Gedanken sind eben Zeugnisse, wie kurz die menschlichen Gedanken sind und wie wetterwendisch dazu, und daß Fleisch und Blut eben keine ehernen Tafeln sind.
So kalkulierend wanderte Jakob fürbaß, und ungefähr wie seine Gedanken war auch das Wetter. Es windete, die Wolken flogen, die Sonne schien, die Nebel schwebten, bald licht, bald dunkel war es auf der Erde, bald sah man weit, tief in den Himmel hinein, bald nur ganz kurz, einen philosophischen Gedanken weit, höchstens eine stattliche Nase lang. Sein Weg führte ihn nicht durch ebenes Land, sondern über ziemliche Berge, welche in Deutschland für sehr hoch gelten würden. Er wollte durch den Kanton Freiburg hinauf gegen das Berner Oberland, er wollte nicht in Rom gewesen sein und den Papst nicht gesehen haben. Er war nicht mehr der Jakob, der von Basel nach Zürich gewandert war, der wie ein Laffe gaukelte durch die Welt, er hatte Gedanken, fast so lang wie der beste Philosoph, und kümmerte sich um was in der Welt. Er wollte die großen Bernerberge in der Nähe sehen, welche er so oft von ferne bewundert hatte, wollte Gletscher, wollte Wasserfälle sehen, wollte was erzählen, wenn er heimkomme. Er wollte Arbeit nehmen, denn eine Jahreszeit stand vor der Türe, in welcher nicht gut wandern ist, wie Jakob wohl erfahren hatte; aber ängstlich brauchte er dabei nicht zu sein, denn er hatte Geld in der Tasche, wenn auch keine große Summe, und dazu eine Sicherheit im Handwerk, wie sie stets willkommen ist. Das behagliche Gefühl des freien Wanderers kam ihm wieder, er genoß es in vollen Zügen, ließ sich herrenwohl sein, wie man hier zu sagen pflegt.
Das Wandern in den Bergen ist im Herbst gar wunderschön. Der Himmel ist so klar, die Luft so mild, die Färbung der Wälder und Wiesen so reich und mannigfach, so heimelich tönt das Läuten der Kühe, so fröhlich ist der Leute Gewimmel, alles rührt und tummelt sich, denn da weiß niemand, was der Herrgott will, und jeder möchte doch fertig sein draußen, ehe der Schnee fällt, Frost die Erde bindet, den Maurern und Zimmerleuten das Handwerk legt. Im Weinlande, wo die Reben glühn, der Wein perlet, der Most schäumt, da mag es wilder und lustiger zugehen, die Stimmen lauter tönen, die Geigen verführerischer locken, aber schöner und größer ists doch im Hirtenlande, wo die Berge so ehrenfest und ruhig stehn, so sauber Hirt und Herde zu Tale kommen, so still und leise der Hirt sein Schätzchen sucht, so heiß und keusch des Schätzchens Herz dem Hirt entgegenschlägt, so schwer und süß die Milch in der Schüssel ruht, so mächtig und saftig der Käse auf dem Tische liegt, so klar und rein wie ein unschuldig Wässerlein der starke Kirschgeist in der weißen Flasche blinkt, wie wilde Gemsen die Jungen springen, ernst und fest wie Hünenbilder die Alten an langen Stöcken gehn -- oh, es ist schön im Hirtenlande!
Jakob fühlte es diesmal. Da er starke Schultern hatte und absitzen konnte, wenn er müde war, so durchschritt er nicht mit gedrücktem Nacken das schöne Gelände, immerfort seufzend: »Ach, wenn es doch Abend wäre und ich ein wohlfeil Lager hätte!« sondern er ging geradeauf, freute sich des Tages und über alles, was er brachte, und keiner ging ihm zu langsam. Es war ein ausgezeichnet schöner Herbst, fast ein Tag wie der andere voll freundlichen Sonnenscheins. Er wanderte das Siebental mit den schönen, reichen Dörfern hinunter, ließ sich dann rechts hinüber nach der neuen Straße weisen, welche längs dem Thunersee ins eigentliche Oberland führt. Als er zu seinen Füßen den schönen See liegen sah, ringsum das großartige Gelände, die reichen Dörfer, die schönen Schlösser, die herrlichen Nußbäume, und rechts oben die schneeigten, eigentlichen Schweizerburgen, die Schneeberge, aufweichen der Himmel zu ruhen schien, da stand er lange still, der Atem stockte ihm, es kam ihm fast wie Beten an, so lieblich und so gewaltig hatte er noch nichts gesehen. Er dachte bei sich, wunderbar sei es in alle Wege, wie sich hier nur alles so habe gestalten können, so lieblich und so gewaltig! Dem See entlang läuft die Straße, wie kein Kaiser der Welt mit all seinem Gelde sie erkaufen, mit all seiner Macht erzwingen könnte, und hätte er Haufen Geldes so groß wie die Schweizerberge, und hätte er Garderegimenter so viele als Kühe auf den Schweizerbergen zur Weide gehen und noch gehen werden, solange die Berge stehn und ihre Seiten grünen.
Die Nachmittagssonne vergoldete das Gelände, hauchte selbst rosig an das altersgraue Schloß zu Spiez, der Bubenberge Stammsitz, deren letzte Sprößlinge am Hochzeittage vom zornigen See verschlungen wurden. Gegenüber sah er freundlich am See das berühmte Dörfchen Merligen, von dessen Bewohnern er schon so viele lustige Geschichten gehört hatte im Bernerlande. Von ihnen erzählte man, wie sie ein Rathaus erbaut und darin die Fenster vergessen, so daß es ganz dunkel ward im Hause, und wie darauf der Rat ausgezogen an das Sonnenlicht, jeder Ratsherr mit einem großen Sack, um denselben mit Licht zu füllen und das Haus zu erleuchten, und wie sie so einen ganzen Tag Licht ins Haus getragen, aber leider vergeblich, denn dunkel sei es geblieben in ihrem Rathause für und für. Dort soll es gewesen sein, wo sie einen Dieb hatten, der gehängt werden sollte, und dem sie drei Batzen gaben mit dem Bescheid, er solle sich an einem andern Orte hängen lassen, das Ding komme sie zu teuer zu stehen. Dort war es, wo sie einen Nußbaum hatten an des Sees Strand, der gegen den See sein Haupt neigte, und rätig wurden, der Nußbaum sei durstig, und sie wollten ihm zum Wasser helfen, wo dann der Ammann seine Hände um den Gipfel schlang, ein zweiter ihn an den Beinen faßte, diesen ein anderer und so fort bis an den See hinunter, und als die Kette fertig war, einer dem andern an den Beinen hing, der Ammann von oben rief: »Haltet recht fest, ich will in die Hände spucken!« worauf begreiflich die sämtliche Mannschaft in den See stürzte und jämmerlich ertrank. Lieblich lag das Dörfchen am See mit seinem sauern Wein und seinen lustigen Leuten. Freundliche Kirchen glänzten hoch auf den Bergen überm freundlichen See, des Sees Hüterinnen, von woher die Glockentöne so feierlich klingen über den See, daß die Schiffenden nicht wissen, sind es freundliche Töne aus der Höhe, ists der schauerliche Gesang Ertrunkener herauf aus ihrem feuchten Grabe. Weit oben glänzte zwischen himmelhohen Bergen der Brienzersee, und zwischen beiden Seen sah er das berühmte Bödeli, das lieblichste Tälchen der Welt, in welchem das schwarze Unterseen liegt und das helle Interlaken mit seinen dünnen Palästen und dicken Wirten, mit seinen buntartigen Fremdenscharen und den ehrenfesten Nußbäumen, seiner reinen Luft und süßen Molken, sauren Rechnungen und unheimlichen Kellnern, und hinter allem und über allem glühten die Berge im Abendrot, im blauem Himmel. Jakob stand still in tiefer Bewunderung, so was Herrliches hatte er noch nie gesehen, und in stillem Staunen vollendete er seine Tagereise, seine Seele war überwältigt.
Die Saison war vorüber, die Menschenmasse auseinandergeflattert nach allen Herren Ländern hin, aus welchen her sie hieher zusammengestoben war. Aber wie an warmen Quellen einzelne Schnepfen bleiben den ganzen Winter über, so bleiben von den Zugvögeln, die man Menschen nennt, auch welche an schönen Stellen, wenn der Zug längst weitergegangen. Andere machen absichtlich die Nachzügler und stolpern immer einige Wochen hinterdrein, sie lieben die bunte Menge nicht. Solche sah denn Jakob, als er am Morgen spazierte auf dem sogenannten Höheweg. Es regte sich gar seltsam bei jedem Fremden, dem er begegnete, die Frage in ihm: »Wäre der wohl vielleicht aus deiner Heimat her, ein Landsmann, und was würde er sagen, wenn er wüßte, daß du sein Landsmann wärest?« Das Gefühl hatte er in großen Städten nicht gehabt, überhaupt nie, besonders seit ihm das Weltbürgertum im Kopfe gesteckt und er auf große Güter irgendwo gehofft hatte. Jetzt, da er wieder an die Werkstätte dachte, ans Heimgehen und Schaffen, jetzt hatte die Heimat wieder Platz in seinem Herzen, und ein Landsmann wäre ihm eine Erscheinung gewesen wie einem Wanderer ein Licht in der Nacht. Kurios! Ist das Menschenherz zu eng, so taugt es nichts, ist es zu weit, so ists wie eine Flasche ohne Boden und taugt wieder nichts, es muß ebenrecht weit sein, wenn es was taugen soll.
Indessen, fremd ging alles aneinander vorbei, keiner nahm Notiz vom andern, wie es guter Ton ist in der vornehmen Welt, und Jakob ärgerte sich daran und fügte sich. Er dachte: »Himmelsapperment, wie viel Interessantes könnte einer vom andern zu hören kriegen, wenn man das Maul auftäte gegeneinander, und wie viel Freunde könnte man kriegen und ganz unerwartet, wenn einer wüßte, wer der andere wäre und woher.« Der gute Jakob dachte nicht, daß es Leute gibt, welche viel wohler lebten an den eigenen Gedanken als an anderer Menschen Geschwätz, und daß gar zu viele, welche gerne vornehm scheinen, aber es nicht sind, am liebsten wollten, es gäbe gar keine Namen in der Welt. Wären gar keine Namen, so wären auch keine obskuren oder gar schlechten. Schöne Namen, klare, helle, die glänzen wie die Sterne am Firmament fleckenlos, solche Namen sind gar rar in der Welt.
Jakob entschloß sich, weiter noch zu gehen, einen Gletscher wollte er sehen, damit er doch auch sagen könnte, was das für ein Ding sei, und einen Wasserfall wollte er hören rauschen und donnern. Wenn er mal heimkäme, dachte er, so müßte er sich ja schämen, wenn er sagen müßte, er hätte Geld gehabt, er hätte Zeit gehabt, sei aber zu dumm gewesen und hätte nicht daran gedacht. Aber als er hinaufkam, wo die Berge sich zusammenziehen, die Zweitlütschene fast die ganze Spalte füllt, eng der Weg sich ihr anschmiegt, Hörn um Hörn gen Himmel ragt, über sich der Wanderer den Himmel kaum noch sieht, da ward es ihm bang ums Herz, mit Beben schritt er vorwärts. »Du mein Gott«, dachte er, »was ist das für eine schreckliche Welt, wo der Mensch den Himmel nicht mehr sieht, nichts sieht als gen Himmel starrende Hörner, als Felsen, welche hereinhängen über sein Haupt!« Ja, wo der Mensch den Himmel nicht mehr sieht über sich, weit, offen, frei, da wird es ihm eng ums Herz, und er fragt sich: »Wäre Umkehren nicht besser, wärs nicht schöner unterm weiten, offenen Himmel als in der engen Spalte, unter den Füßen den Abgrund, über dem Haupte lockere Felsen?« Doch Jakob kehrte nicht um, aber als so gar nichts kam er sich vor. Er, der große Jakob, schien sich in dieser Bergmajestät kleiner als der kleinste Wurm, den je sein Fuß zertrat. Demütig schritt er leise weiter, suchte sich zu fassen, sich zu ergeben in jedes mögliche.
Gar seltsam rauscht, toset, donnert es im Gebirge. Wenn eine Tanne fällt, ein Stein rollt über eine Wand herab, eine Welle über einen Absatz springt, der Gletscher spaltet, Adler oder Geier durch die Lüfte rauschen, so tönt es wundersam im Gebirge, kracht und donnert, rauscht und braust, und jede Wand und jede Kluft rauscht und braust mit. Jede Wand und jede Kluft hat ihre eigene Stimme, und erhebt eine Kluft ihre Stimme, reden alle Wände und alle Klüfte und donnern und brausen, wie die erste den Ton angab, bald in regelrechter Ordnung eine nach der andern, wie seit tausend Jahren sie sichs gewöhnt, und bald, wenn es wilder wird in der Natur, brüllen alle durcheinander, daß kein Berg, keine Kluft mehr zu unterscheiden imstande ist den Donner der eigenen Stimme vor dem Donner der andern Stimmen. Und wenn im Wirrwarr der Donner die tausendjährigen Berge die eigene Stimme nicht mehr kennen, wenn die alten Klüfte zittern und beben, wie muß es zumute sein einem armen Menschenkinde, welches zum ersten Male allein sich wagt in die wunderbare Zauberwelt! Das Menschenkind weiß von Lawinen, Bergstürzen, Schlünden und Gründen, Gletscherfalten und Wassergraus, von Adlern und Geiern, hat vielleicht gar vom fabelhaften Lindwurm gehört, der auf Felsenplatten an der Sonne liegt, seine Höhlen hat und seine Launen, und wie Reisende verschwinden und nie wiedergefunden werden, nie ermittelt, ob eine Gletscherspalte sie verschlungen oder ein Lindwurm sie in seine Höhle geschleppt, und nun beginnt es zu rauschen in den Lüften, zu brausen in den Klüften, es kracht hier, es donnert dort und weiter und weiter in immer verstärkten Schlägen, und dann wird es still; es hört den Atem, des Herzens Schlag, und das arme Menschenkind weiß nicht, was donnert, was kracht, warum es stille wird, weiß nicht, woher die Töne kommen, was sie wollen, was sie bringen, warum es auf einmal so stille wird, und hinauf zum Himmel sieht es nicht, über seinem Haupte beugen sich die Felsen zusammen, Dämmerung umdüstert den Weg ja, da wird er klein, der arme Mensch, da empfindet er, daß Mächte ihn umringen, deren jede sein Leben hundertmal in ihrer Gewalt hat, daß sein einziger Trost der sei, daß eine väterliche Hand alle diese Mächte an Ketten gelegt, keine dieser Mächte einen Stein kann rollen lassen ohne des Vaters Willen, der auch dem rollenden Steine die Richtung gibt. Aber wer an den Vater nicht glaubt, welchem das Rollen des Steins ein Zufall ist, die blinden Kräfte der Natur souverän und selbstherrlich, dem muß es eng werden ums Herz, wenn er zwischen den Felsen schreitet, umrauscht von wundersamen Tönen, in der Gewalt blinder Mächte, die so launenhaft und so zornig werden. Wer in munterer Gesellschaft die Gebirgswelt durchstreift, der empfindet derselben erschütternde Majestät nicht, das schauerliche Grauen nicht, welches dem ähnlich sein muß, welches der Sterbliche empfindet, wenn er klopft an die Pforten der Ewigkeit, wenn ihre Tore zu knarren beginnen in ihren Angeln.
Jakob war kein Engländer, er nahm keinen Führer, zudem kann man sich auf Straßen, welche in den Ritzen der Berge laufen, nicht wohl verirren, da kreuzen sich die Straßen nicht wie im ebenen Lande oder die Pfade auf den hohen Bergweiden. Er machte einsam den Gang, und an eine väterliche Hand, welche jede Gewalt regiere, glaubte er nicht, dachte nicht daran, aber er bebte und zagte, und fast hätte er gesagt: »Was ist der Mensch, daß du sein gedenkest, und das Menschenkind, daß du dich sein annimmst!« Und wenn man dann so eng hat ums Herz, als ob es wirklich eingeklemmt wäre in eine Spalte, und die Spalte klemmte immer enger zusammen, dann wird es wieder weiter, allmählich in den einen Tälern, plötzlich in den andern, und vor dem Wanderer liegt sanft und freundlich ein wunderlieblich grünes Tal, in weitem Bogen von Bergesmajestät umrandet, während helle Bäche freundlich sprudeln und im Hintergrunde ein Kirchlein steht, ein alter Zeuge von der Güte des Herrn, welche das Tal behütet, und von der Dankbarkeit der Menschen, welche es erkennen, daß er es sei, der sie behüte und wahre inmitten der Naturgewalten. Wo so ein Kirchlein steht, da wird es traulich dem müden Wanderer ums Herz, er weiß, dort findet er Ruhe für seine matten Glieder, Herberge für die Nacht. An einem Reiseabend hat der Wanderer ein ähnliches Empfinden wie der Greis am Lebensabend: auch der Greis sieht nach dem Kirchlein hin und freut sich, denn er weiß, dort wird der müde Leib Ruhe finden, ein Kämmerlein für die Nacht, die dem goldenen Morgen vorangeht, welcher die Herrlichkeit Gottes vor das Auge der erwachten Seligen bringt.
Jakob konnte gar nicht sagen, wie ihm zumute war, als er aus der wilden Enge hinauskam ins liebliche, freie Tal, über welchem weit der Himmel offen stand und sichtbar war. Es war ihm nicht bloß wie einem, der aus des Lebens Not und Elend zu einem behaglichen Dasein kömmt, zu den Bequemlichkeiten des Lebens ohne Kümmernisse ums tägliche Brot, sondern wie einem, der aus finsterm Grabe ans Licht kömmt, ja fast wie einem, der wähnte zu fühlen, wie er verschlungen werde von den Wellen des ewigen Nichts, und er schlägt die Augen auf in seligen Gefilden.
Jakob hatte eigentlich aus dem Lauterbrunnentale wieder den gleichen Weg zurückkehren wollen, allein er stand davon ab, nachdem er den Staubbach gesehen, wie er flattert von hoher Wand und als Wasserstaub zur Erde kömmt, ein lieblich Naturspiel, besonders wenn es dem Sonnenlicht einfällt, zu gaukeln mit den Wasserstäubchen, sie zu begießen mit der wunderbarsten Farbenpracht und in beständigem Wechsel dem armen Menschenkinde die Augen zu blenden und ihm zu Gemüte zu führen, was es gaukelnd vollbringt, und von was sämtliche Menschenkinder, und wenn sie zusammenspannen alle ihre leiblichen und geistigen Vermögen, nicht den Schatten darzustellen vermögen. Dazu fand er auch Leute aus dem Lande, die nach Grindelwald wollten, vielleicht noch weiter, und da Jakob zu reden wußte und als ein ordentlicher Mann sich darstellte, so redeten sie ihm zu, sie zu begleiten. Da Jakob frei in der Zeit war, Geld hatte und ein Handwerksbursche im Berner Oberland so wohlfeil reisen kann als irgendwo in der Welt, wenn er nicht besondere Genüsse will, so schloß sich Jakob ihnen an. Sie stiegen lange im Dunkel, und dunkeln Riesen gleich standen in den Schatten der Nacht die Berge herum oder schienen gelagert am Talrande. Als der Morgen dämmerte in unsicherm Lichte, schien es, als würde es lebendig im ungeheuren Riesenlager, als erhöben sie sich, rüsteten sich zum Aufbruch. Und wenn sie einmal aufbrechen, die Bergriesen, langsam schreiten das Land hinunter, und Berg um Berg erscheint vor den Toren der Städte, wie wird es da den Menschenkindern zumute sein, und was werden die Helden des Tages raten, was da zu machen sei in diesem absonderlichen Falle! Wahrscheinlich werden sie Recht sprechen und eine Verwahrung zu Protokoll nehmen -- das ist die Spitze juridischer Weisheit, der Höhepunkt im juridischen Verteidigungssystem. Einstweilen aber stehen sie noch fest, diese Riesen Gottes, und wenn alles auf Erden auf so sichern Füßen stände wie sie, es wäre gar manchem leichter ums Herz. Das war ein Berg, an welchem er aufstieg Stunde um Stunde, und doch war es kein so schwer Steigen, ein gemessener Schritt und die leichte Luft halfen bedeutend nach. Als er oben war, da stand vor ihm weiß und gewaltig der mächtigste der Berge; wie der Geist der Welt kam er ihm vor, es war ihm, als wolle derselbe ihn fragen: »Du, Jakob, bist du auch hier, willst du nun mein sein?«
In tiefem Staunen stand er still, starrte den weißen Geist an, der so gewaltig vor ihm stand; geblendet von dessen schneeigtem Gewände zog er seine Augen zurück, wandte sie in des klaren Himmels blaue Tiefe. Da ward es ihnen wieder wohl, am blauen Himmel ging die goldene Sonne auf, blickte mit dem freundlichsten Lächeln zu Jakob nieder, verklärte mit ihrem Lächeln rundum die Welt, schien ihm zu sagen: »Du gutes Menschenkind, betören laß dich nicht! Blenden kann jener Geist, aber kalt und schaurig ists in seinen Armen, und wen er erfaßt, läßt er nur im Tode los. Sieh nach oben, da ists lieblich und warm, licht und klar, und wer hinaufkömmt, der schwimmt selig in den blauen Wellen.« So stritten der Berg und die Sonne um Jakob, doch diesmal ohne Lärm, nur durch stilles Locken. Manchmal aber wird der Kampf anders. Da brennt die Sonne mit ihren heißesten Strahlen des Berges Seiten, brennt Löcher in sein Gewand, Lawinen donnern zu Tale, es raucht der Berg, als ob er im Feuer stände. Da wird es ihm angst, er braut Nebel in seinen Schlünden, jagt sie zur Sonne hinauf, webt einen dichten Schleier um ihr Angesicht, dichter und immer dichter, bis keine Spur von Sonne mehr am Himmel ist. Dann wird es der Sonne angst, sie brennt den Nebel an, bis Blitz und Donner den Schleier zerreißen, der naß über den Berg niederstürzt, den Berg bis auf die Haut durchnäßt, sein weißes Gewand beschmutzt und manch Stück desselben mit sich in die Tiefe reißt. Jetzt war Stillstand zwischen Berg und Sonne, die Nebel waren verschlossen in den Gründen, der Berg glänzte im weißesten Gewande, die Sonne sandte ihre mildesten Strahlen, sie kämpften wohl um den armen Sterblichen, durch Lieblichkeit, Schöne und Majestät suchte jeder Teil den Sieg. Sonne und Jungfrau, denn so heißt der Berg, streiten diesen Streit schon seit Jahrhunderten, und keine will die Besiegte sein, und keine nimmt an Schönheit ab, was auf der Welt eine rare Sache ist.
Jakob war ergriffen von dem Anblick, und wie ihm gestern in den engen Schlünden so eng ward ums Herz, ward es ihm jetzt weit und groß auf der Höhe, von welcher er freilich die meisten Berge nicht übersah, aber doch in eine ungeheure Bergwelt hineinsah, sah, wie stolz und kühn hundert Berge ihre Häupter zum Himmel hoben. Auf solchen Bergen, schien es ihm, müßten die Helden alle gesessen haben, wenn ihnen die großen, kühnen Gedanken kamen, Völker zu überwinden, Reiche zu gründen, Revolution zu bringen in die Welt der Geister, den Geist der Welt in Fesseln zu schlagen oder diese Fesseln zu zerschlagen. Auch seine Seele ward gedankenvoll, aber rasch und sonderbar wie Nebel an den Bergen, wenn nach langem Regen die Sonne wieder scheint, glitten sie an seiner Seele vorüber, und seine Begleiter trieben zum Aufbruch, ehe er einen der Gedanken festgestellt und ordentlich betrachtet hatte um und um.
Aber wenn er auch weiter mußte, von der Wengernalp herab, blieb er doch in der großen, wunderbaren Welt, wie er sie nie gesehen, nie gedacht hatte. Denn wenn man die Berge von ferne sieht, so hat man doch keinen Begriff von ihrer Majestät in der Nähe, es geht mit ihnen ganz umgekehrt als mit vielen, vielen Leuten, welche das Ansehen in der Nähe gar nicht vertragen mögen. Früh kam er nach Grindelwald, in das sonnenreiche, freundliche Tal, das einem lieblichen Mädchengesichte gleicht, welches, zu den Füßen vorweltlicher Ungeheuer sitzend, uns entgegenlächelt. Dort sah er sich den Gletscher an, aber er war zaghaft geworden in der großen Welt, dem tückischen Eise, den verborgenen Spalten traute er nicht, und für die zarten Schönheiten der Gletscherwelt hatte er wenig Sinn, die große, weiße Jungfrau und die goldene Sonne füllten sein Herz. Eigentlich wollte er von hier aus wieder zurück nach Interlaken, aber er ließ sich bereden, mit seinen Begleitern noch einmal über die Berge bis nach Meiringen zu gehen. Zeit hatte er keine zu versäumen, und das war ein ganz ander Gehen hoch auf den Bergen mit dem freien Blick und weiter Brust als in enger Felsenspalte mit gepreßtem Atem und der Angst in der Seele. Zudem hatten sie ihm gesagt, er werde was sehen, von welchem er noch gar keinen Begriff habe. Er brachte einen freundlichen Abend in Grindelwald zu.
Das schöne Dorf war in seinen Naturzustand zurückgekehrt. Wie aus den wilden lappländischen und norwegischen Seen die wilden Gänse und Enten fliegen, wenn sie fühlen, wie eisig das Wasser wird, und nicht einfrieren wollen und Frösche und Kröten in den Schlamm sich bohren oder sich verkriechen in andere Löcher, wo es ihnen wohl ist, und es stille wird am See und feierlich, ohne Gänse und Frösche, ohne Kröten und Enten, so war im lieblichen Grindelwald kein steifbeinichter Engländer mehr und keine Lady, war kein schnatternder Franzose mehr, kein schreibend Federvieh, war kein quakender, hüpfender Kellner mehr, keine giftige Kellnerin. Die einen waren der Sonne nachgezogen, die andern überwinterten in irgendeinem Loche, saugten an den Tatzen und hätten auch gerne geschlafen, wenn sie dabei auch was zu essen gehabt hätten. Es waren freundliche, gute Leute da, treffliche Landesspeise, ein munterer, witziger Geist schwebte über ihnen. Bald wurde gesungen echt oberländerisch, so weich und sanft, daß alle Saiten anschlugen im Herzen und die Augen voll wurden und die Seele Flügel bekam und ihrem Schatze zuflog, Gott im Himmel oder einer Liebsten auf Erden. Mit dem Singen wechselten Erzählungen aus der andern Welt, von den Geistern der Berge oder aus der Vorwelt von den Tyrannen, welche in den Schlössern gehaust.
Das war ein Abend, wie er ihn lange nicht erlebt hatte, und kostete gar nichts, und gar mancher reiche Herr würde viele Louisdor zahlen, wenn er je zu einem so kurzweiligen Abend kommen könnte, aber es gibt eben Dinge, zu welchen vornehme, reiche Leute mit all ihrem Gelde nicht kommen können, und der Arme hat sie umsonst.
Der Schlaf war kurz, aber gut, der Morgen schön, der Weg steil, aber prächtig die Welt, welche nach und nach vor Jakobs Augen sich entschleierte. Lawinen sah er keine stürzen, sah keine Gemsen tanzen an den Bergen, aber er sah Gletscher in ihrer Farbenpracht und ihrem seltsamen Gezacke, er sah sich umfangen von einer ungeheuren Welt, in welcher das arme Menschenkind unwillkürlich verstummt und demütig wird und nichts empfindet als seine Kleinigkeit. Dieses Gefühl ist aber nicht einmal ein peinliches, wie es wird, wenn man gegenüber einem anderen Menschen sein Nichts empfindet, dieses Gefühl ist ein Vorgeschmack der seligen Schauer, welche einst über den Menschen kommen werden, wenn die Auflösung der Rätsel kommen wird, wenn der Allmächtige sich entschleiert. Man weiß es ohne zu denken, daß man einer Größe gegenüberstehe, zwischen welcher keine Vergleichung ist mit dem eigenen Ich; und wo keine Vergleichung ist, da ist auch kein Neid, sondern nur Ehrfurcht und Andacht und Demut.
Ihr Mittagsbrot hatten sie verzehrt, und noch war nichts gekommen, welches Jakob als das ganz Besondere erschienen wäre, was man ihm versprochen hatte. Die Tagereise schien dem Ende nahe, und doch konnte er nicht glauben, daß die Leute ihn angelogen, nur um ihn nachzulocken, dazu schienen sie ihm viel zu gutmütig und ehrlich. Schon einige Male war Jakob stillegestanden, hatte um sich und an den Himmel hinaufgesehen und war weitergegangen. Endlich frugen ihn seine Begleiter, was er habe. Da sagte er, es komme zuweilen ein gar seltsam Rauschen und Sausen in sein Ohr, akkurat wie von einem Adler es kommen werde, wenn derselbe auf seine Beute stürze. Da habe er sich umsehen müssen, wo der Adler sei. Denn er begehre keine Luftfahrt und möge nicht in ein Adlernest getragen werden und zum Abendbrote den jungen Adlern dienen. Da wurde er tapfer ausgelacht um seiner Furcht willen. Mit einem Schaf oder Kind flögen die Adler wohl davon, aber ein Kerl wie er und noch dazu mit einem Felleisen auf dem Rücken hätte gute Ruhe vor ihnen, es wäre denn, daß ihn die Neugierde plagen und er zu einem Adlerneste emporsteigen würde, wenn Junge darin wären. Da wohl, da könnte er es rauschen hören über seinem Haupte, könnte sich um sein Leben wehren, daß sie ihm nicht den Schädel einhackten oder ihn über den Felsen würfen in einen Abgrund, dessen Grund kein lebendig Auge je gesehen hätte. Aber hier sei er sicher vor ihnen und solle sich nicht säumen mit Gucken nach Adlern. Da sagte Jakob, ob sie denn das Rauschen und Sausen nicht auch hörten. Sie aber gingen kaltblütig weiter und sagten, das sei immer so hier und gar nichts Neues. Nun meinte Jakob, es werde der Wind sein, der durch irgendeine Felsenspalte sich dränge, doch kam es ihm seltsam vor, daß der Wind irgendwo solchen Lärm machen könne, da man ja hier kein Lüftchen fühle. Indessen dachte er an die Töne vom frühern Tage her, dachte, in solcher Welt sei alles möglich, aber nicht alles erklärlich, und lauschte verwundert auf das immer lauter werdende Tosen, das dem Donnern immer ähnlicher ward, das endlich zum Donner der Fälle des berühmten Reichenbaches ward, über welchem Jakob stand.
Da stand Jakob erstaunt, es begann ihm im Kopfe zu wimmeln und zu wirbeln, zu sausen und zu brausen, es war ihm, als werde er selbst zum Bache, müsse seine Wellen stürzen dem Reichenbache nach, müsse sich werfen in ihn hinein, mit ihm toben und donnern die Felsen hinunter, stäubend den Wasserdampf zum Himmel auf, müsse mit ihm hinunter zu Tale in tollem Wettkampf. Es lockte ihn, es zog ihn mit wunderbarer Gewalt, und wer weiß, was geschehen wäre, wenn nicht einer seiner Begleiter die Hand auf seine Schulter gelegt und mit ihm gesprochen hätte! Da verrauschte der Bach in seinem Kopfe, der zauberische Zug zerbrach, die Betäubung schwand, und Jakob gestand, wie es ihm gewesen, und wie plötzlich eine Gewalt über ihn gekommen sei, die ihn gezogen nach den schäumenden Wassern, daß es ihm gewesen, er müsse in sie hinein, müsse ihnen nach, drunten sei was, er möchte mit ihnen, vor ihnen unten sein. »Ging schon manchem so«, sagte sein Begleiter, »mehr als einer ward überwältigt, stürzte sich den Wellen nach, und manchem mag es widerfahren sein, aber bekannt ward es nicht. Es hat eine starke Gewalt, das wilde, wüste Mensch.« Mensch hätte er keins gesehen, sagte Jakob, nichts als Wasser und Wellen, Mensch hätte ihn keins so wirblicht gemacht und verlockt, dazu sei er zu weit in der Welt herumgekommen. »Glaubs«, sagte der andere, »und doch war es die reiche Maid, welche dich lockte, wie sie seit viel hundert Jahren gelockt und locken muß, bis ihr Fluch sich endet, was kaum geschehen wird, denn der ist vernagelt.« Da erschrak Jakob, denn was ihm begegnet war, war zu neu, als daß er hätte lachen können. Aber sollte ihm was Übernatürliches begegnet sein, da es doch nichts Übernatürliches gab? Er frug und vernahm.
Da oben auf dem Berge habe in der Urzeit eines Kühers Tochter gewohnt, das reichste Mädchen sei sie gewesen im Gelände und obendrein das schönste, und stark sei es gewesen, daß im Schwingen es die stärksten Sennen auf den Rücken geschlagen. Aber das alles sei nichts gewesen gegen dessen Singen, denn gesungen habe die starke Küherin, daß die Engel im Himmel von ihr hätten lernen können, und zarter und milder als die süße Milch, welche ihre Kühe gaben. Wer dem Reichtum nichts nachgefragt und der Schönheit nichts, den hätte sie mit Singen bezwungen, daß er ihr nachgelaufen sei wie ein jung Zicklein der alten Ziege. Diese schöne Küherin sei inwendig ganz anders gewesen als auswendig, wüst und böse wie der Teufel sei sie gewesen, und es sei gewesen, als wenn der verfluchteste aller Geister in sie gefahren wäre. So manche Bursche, als ihr nachgelaufen, und deren seien die Menge gewesen, man könne es denken, habe sie unglücklich gemacht bald so, bald anders und allemal eine große Herzensfreude gehabt und noch was Verfluchtigeres ersinnet und angestellt. »Da kriegten die Bursche doch endlich ihre Liebe satt, denn das Leben ist am Ende auch was; wenn man es verloren, kriegt man es nicht wieder. Sie mieden alle Orte, wohin sie kam, denn wenn man sie einmal sah, waren alle Vorsätze nichts, und man mußte ihr nachlaufen, bis es mit Laufen aus war. Man mied sie wie einen bösen Geist, und wo sie hinzukommen pflegte, kam niemand sonst mehr, die alten Schwingplätze wurden verlassen, und wenn sie an einen Markt kam, stob das junge Volk auseinander, als käme ein reißend Tier. Aber sie war im Ersinnen nicht dumm und wußte sich zu rächen; ›wollt ihr mich nicht sehen, so müßt ihr mich doch hören‹, dachte sie. Wenn es recht finster war, weder Mond noch Sterne am Himmel, da begann sie zu singen so lieb und lockend, so schön und ergreiflich, daß die Töne wie Haken in die Herzen der Buben schlugen und sie zogen, sie mochten wollen oder nicht, zur wilden Jungfrau hin. Wie vorsichtig sie auch gingen, je näher sie kamen, desto schneller riß es sie hin, und in jähem Falle fanden sie den Tod. Die Böse setzte sich hier, setzte sich dort, wo steile Wände waren, an Abgründe unter vorspringende Felsen, wo, wer sie suchte, in schwarzer Nacht den Tod finden mußte. Hier, wo der Reichenbach zu Tale stürzt, hier sang sie, hier, wo man sie hörte im fruchtbaren Meiringerboden und gegenüber auf manchem Hofe, hier fand mancher den Tod, hier ward auch zerschmettert der einzige Sohn einer Witwe. Einen schönern Knaben gab es nicht, er war des Tales Liebling, aber seine Mutter war gefürchtet, sie soll eine Hexe gewesen sein. In der ersten schwarzen Nacht nach ihres Sohnes Tode, als man die Küherin wieder singen hörte gleichsam der Mutter zu Trotz und Hohn, hörte man weit hin über dem Gesang eine zornige Stimme, es war die Stimme der Alten, die verfluchte die Küherin, daß sie zum Gletscherbach verwandelt ward, der alsbald dort oben unter den Gletschern hervorbrach und sich hier, wo sie sang und lockte, hinunterstürzen mußte mit wildem Gedonner, daß man es hört im ganzen Tale und jenseits, daß sie hier locken müsse und ziehen den Wanderer in ihre Arme und so lange, bis sie einen hinunterbringe zu Tale gesund und wohlbehalten, dann solle der Gletscherbach wieder zur schönen Küherin werden und glücklich und reich mit dem Geretteten leben. So lockt sie beständig und hat manchen verlockt, aber leben blieb keiner; wer mit Leben spielt, muß Leben missen, und so kosend und tobend wird der Reichenbach noch lange stürzen und brüllen die jähen Felsen hinunter, ehe er wieder zur schönen Jungfrau wird.«
So erzählte der Mann, während sie hinunterstiegen in den schönen Meiringerboden, und als sie von unten den Fall sahen, da hätte Jakob bald Mitleid gekriegt mit der schönen Küherin, denn jetzt sah er, wie hart allerdings der Fluch vernagelt war. Wie wild und kühn auch etwas tobt und schäumt, am Ende wird doch alles zahm in der Welt, denn wer würde im alten Rheine die Jünglinge und die Jungfrauen erkennen, wie sie aus den Felsen brachen und in die Gründe sprudelten! Vier wilde Gesellen, die Bächlein nicht gezählt, brechen ins Meiringertal, vertoben ihre erste Kraft, lernen im Brienzersee Manieren, aber nicht hinlänglich, müssen im Thunersee sich neu mäßigen, bis sie ordentlich unter die Leute dürfen, und vergessen doch noch zuzeiten, was sie gelernt. Der mächtigste der Gesellen ist die Aare, sie verschlingt die andern, die schäumend sich in ihre Arme werfen und in tollem Übermute oft das schöne Tal gefährden.