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Sinclair Brewster zog einen zerknitterten Brief hervor und vertiefte sich mit betrübter Miene in den Inhalt. Schon mehr als zwanzigmal hatte er das in den letzten Tagen getan. Der Brief lautete:
»Lieber Sinclair! Auf Deine Anfrage muß ich Dir mitteilen, daß Du im Testament Deiner Tante Honoria Drew nicht bedacht worden bist. Den weitaus größten Teil wird Deine Kusine Felicia erhalten. Tut mir leid, Dir nichts Besseres mitteilen zu können, aber wenn Du wirklich auf etwas gerechnet hast, bist Du ein großer Esel. Herzlichst
Dein I. B.«
Nachlässig steckte er den Brief wieder in die Seitentasche seines Jacketts. Dann saß er mit hängender Unterlippe da, stierte in sein Whiskyglas und dachte nach:
Er mußte sich nun entscheiden, ob er sein Heil bei Felicia versuchen wollte oder nicht. Nur noch anderthalb Stunden – dann würde man an Land gehen!
Er verfügte über ein Einkommen von etwa zweitausend Pfund, doch mußte er davon stets die Hälfte an Dan Ricardo, diesen erbarmungslosen Blutsauger, abgeben. Er mußte also versuchen, sich mit Felicia zu verloben, bevor sie in London erfuhr, welche Erbschaft sie erwartete. Zwar war die Ehe eine greuliche Einrichtung, die einen freien Mann in Fesseln legte. Aber Felicia würde unerhört reich sein, und bildschön war sie noch dazu! Dafür konnte man schon ein Opfer bringen!
Immerhin verspürte Sinclair, feige wie er war, noch eine gewaltige Angst vor Dan Ricardo. Sicher hatte der schon Wind von der ganzen Sache bekommen. Die von ihm erhaltenen Instruktionen in Bezug auf Felicia ließen darauf schließen! Aber die fünf Gläser Whisky, die der junge Mann an diesem Morgen schon getrunken hatte, gaben ihm außergewöhnlichen Mut. Er erhob sich und stapfte mit seinen schlappen Schritten zum Deck hinauf.
Sein Entschluß war gefaßt: er würde Felicia jetzt sofort einen Heiratsantrag machen! Und da sie noch gar nichts von dem bevorstehenden Reichtum ahnte, würde sie den Vetter noch für sehr edel halten, daß er, mit seinem immerhin gesicherten Einkommen, sich mit einem so armen Mädel begnügen wollte.
Als er gerade Felicia an Deck erspäht hatte und auf sie zutreten wollte, passierte ihm ein Mißgeschick: der allzu lässig in die Tasche geschobene Brief wurde vom Wind herausgerissen und gegen die Wand des Decksalons getrieben, wo er einige Sekunden lang haften blieb. Doch noch ehe er in die See weiterflatterte, war Mister Wright hinzugesprungen und hatte ihn aufgefangen.
Sinclair fügte sich in das Unvermeidliche, und da sich Mister Wright anscheinend mit seiner Beute zurückgezogen hatte, eilte er schnell zu dem Deckstuhl, in dem seine schöne Kusine ausgestreckt lag. Jetzt war er unbeobachtet und mußte die letzte Gelegenheit nützen!
»Felicia!« sagte er zärtlich.
Sie ließ ihr Buch sinken. »Sieh da – Sinclair! Wie geht's dir heute?«
»Unsere Wege werden sich in Southampton trennen. Wie sollte es mir da anders gehen, als schlecht.«
Felicia lachte spöttisch. »Ich vermute, der Grund deines Übelbefindens dürfte wohl wieder in zu reichlichem Whiskygenuß zu suchen sein. – Daß du das nicht lassen kannst!«
»Oh, ich würde es lassen, Felicia, wenn sich jemand um mich kümmerte! Ich weiß, mein bisheriges Leben ist nicht viel wert. Aber das soll anders werden! – Ich habe zweitausend Pfund Einkommen, mußt du wissen, – und ich bin fünfundzwanzig. Wenn mich nur jemand möchte! Ich will meinem Leben einen Inhalt geben, Felicia.«
»Glänzende Idee!« rief Felicia. »Weshalb nicht sofort damit beginnen?«
Sinclair, der diese Worte als Ermunterung auffaßte, beugte sich plötzlich vor und ergriff die Hände des überraschten Mädchens: »Würdest du mir helfen, Felicia? – Ich will keine Umschweife machen: ich liebe dich, Felicia! Würdest du mich heiraten? Glaube mir, ich würde an nichts anderes mehr denken, als daran, – dich glücklich zu machen und …«
»Verzeihung …« unterbrach plötzlich eine schneidende Stimme seinen Redestrom.
Sinclair Brewster fuhr erschrocken herum. Vor ihm stand Mister Wright. Und Felicia benutzte diesen Augenblick, um von ihrem Liegestuhl emporzuspringen und schleunigst zu verschwinden.
Sinclair starrte den Störenfried halb wütend, halb ängstlich an.
»Du infame kleine Bestie!« fuhr Wright fort. »Du gehst auf Freiersfüßen – hinter dem Rücken von Dan Ricardo? – Dir werden wir schon beibringen, zu parieren! In fünf Minuten meldest du dich in der Kabine bei Mister Ricardo!« Damit ließ Wright den jungen Mann stehen und begab sich schnurstracks zu seinem Freund Dan.
Trotzig, verängstigt und enttäuscht drückte sich Sinclair noch eine Weile an Deck herum. Dann aber begab er sich gehorsam in die Kabine seines Peinigers, um sich zu verantworten.
Im allgemeinen ließ Dan Ricardo seinem Opfer eine gewisse Freiheit und behandelte Sinclair freundlich. Aber wenn Sinclair wider den Stachel lökte, wurde er ungemütlich: »Muß ich dir wieder einmal die Leviten lesen?« fuhr er den jungen Burschen an. »Du hast meine Befehle mißachtet! Augenscheinlich bildest du dir ein, mich hintergehen zu können, indem du deiner Kusine dein elendes Dasein zu Füßen legst!«
Sinclair stellte sich noch dümmer, als er war: »Aber ich habe nicht daran gedacht, dich zu hintergehen, Dan! Wie soll ich ahnen, daß du etwas dagegen hast, wenn ich Felicia heirate!«
Dan Ricardo musterte sein Opfer mißtrauisch, dachte ein paar Augenblicke nach und sagte endlich entschlossen: »Es ist an der Zeit, daß ich dir über die Sachlage klaren Wein einschenke. Felicia ist die Haupterbin von Honoria Drew – die Erbin von zwei Millionen Pfund!«
Sinclairs Erstaunen über die Höhe der Summe war jetzt ganz ehrlich. Er stand mit offenem Munde.
»Aber –« fuhr Dan fort, »die Bestimmungen der Verstorbenen sind so, daß sie der Erbschaft verlustig geht, wenn sie dich heiratet. Du hättest also eine Riesendummheit gemacht, wenn Wright nicht dazwischengetreten wäre! – Weshalb Honoria Drew eine solche Bestimmung getroffen hat, weiß ich nicht. Wahrscheinlich einfach aus begreiflicher Abneigung gegen dich.«
»Also bestehen für mich gar keine Möglichkeiten …?« stöhnte Sinclair.
»Wenn du mir nicht parierst – nein«, erwiderte Dan. »Im übrigen wird es deinem Gedächtnis hoffentlich nicht entfallen sein, daß ich einige Papiere für dich aufbewahre, die dich, wenn sie der Staatsanwalt in die Hände bekommt, mindestens für fünf Jahre … Nun, du erinnerst dich wohl – he? Ein Jüngling von deinen bescheidenen Geistesgaben sollte sich eben erst gar nicht auf so gefährliche Gebiete begeben wie Urkundenfälschung. Ein anderer an meiner Stelle würde dich bis zum Weißbluten aussaugen. Und ich war doch immer nobel zu dir – nicht wahr?«
Sinclair Brewster hatte sich auf einen Sessel niedergelassen und war nun ganz in sich zusammengesunken.
»Auch diesmal wirst du mich wieder nachsichtig und nobel finden, wenn du mir parierst«, fuhr Dan milde fort. »Hör gut zu! Ich will dich nun in die letzten Geheimnisse des Testaments einweihen.«
Und nun zählte er dem staunenden Jüngling die verzwickten testamentarischen Bestimmungen auf und schloß mit den Worten: »Wenn Felicia aber gegen eine dieser Bestimmungen verstößt, dann geht sie der Erbschaft verlustig und an ihre Stelle trittst … du, mein Junge, als Erbe!«
»Ich? – ich?« Sinclair schnappte förmlich nach Luft vor froher Überraschung.
»Nun dämmert es dir langsam, was wir zu tun haben – he?« Dan Ricardo grinste zufrieden. »Ich werde also versuchen, Felicia zu einer Verletzung der Bestimmungen zu veranlassen. Und dann … dann teilen wir – wie üblich. Kapierst du nun die Sache? Bitte, beachte wohl meine Güte und Großzügigkeit dir gegenüber!«
»Himmel! Eine Million Pfund Sterling für jeden von uns beiden!« stammelte Sinclair.
»Es kommt noch besser«, fuhr Dan Ricardo fort. »Um das Maß meiner Güte voll zu machen, verspreche ich dir: Wenn uns die Transaktion gelingt, betrachte ich unser Konto als abgeschlossen, ziehe mich mit meiner Million ins Privatleben zurück, und du wirst nichts mehr von mir auszustehen haben. Edler kann man wohl nicht handeln. Aber wehe dir, wenn du dich wieder in diese Dinge täppisch einzumischen versuchst! – So, nun scher' dich hinaus, und mache nicht wieder solche Dummheiten!« –
In einem Taumel von Glück verließ Sinclair Brewster die Kabine des Erpressers. –