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Achtundzwanzigstes Kapitel.

Glück und Elend sind in diesem Leben mehr die Resultate der Klugheit, als der Tugend; denn der Himmel betrachtet zeitliche Uebel und zeitliches Wohl als Dinge, die an und für sich unbedeutend sind, und hält sie einer sorgfältigen Vertheilung kaum werth.

Ich war jetzt schon länger als vierzehn Tage verhaftet, doch hatte mich meine liebe Olivia seit meiner Ankunft noch nicht besucht, und es verlangte mich sehr, sie zu sehen. Ich theilte meiner Frau meinen Wunsch mit, und am nächsten Morgen trat das arme Mädchen, auf den Arm ihrer Schwester gestützt, in mein Zimmer. Die Veränderung, die ich in ihrem Gesichte bemerkte, war mir auffallend. Die zahllosen Reize, die früher dort geherrscht hatten, waren jetzt entflohen, und die Hand des Todes schien alle Züge so gestaltet zu haben, um mich zu beunruhigen. Ihre Schläfe waren eingesunken, ihre Stirn straff gezogen und Todtenblässe herrschte auf ihrer Wange.

»Es ist mir lieb. Dich zu sehen, meine Liebe,« rief ich; »aber warum so niedergeschlagen, Olivia? Ich hoffe. Du hegst zu große Neigung zu mir, um dem Mißgeschick zu gestatten, ein Leben zu untergraben, welches ich dem meinigen gleichschätze. Gieb Dich zufrieden, mein Kind, wir können vielleicht noch glücklichere Tage erleben.«

»Du bist stets sehr gütig gegen mich gewesen, lieber Vater,« erwiederte sie, »und es vermehrt noch meine Qual, daß ich niemals eine Gelegenheit haben werde, das Glück zu theilen, welches Du verheißest. Ich fürchte, es giebt auf Erden kein Glück mehr für mich, und ich wünsche mich von einem Orte zu entfernen, wo ich nur Ungemach gefunden habe. In der That, lieber Vater, ich wünsche, Du gäbest Herrn Thornhill nach; vielleicht möchte er bewogen werden, einiges Mitleid mit Dir zu haben, und es würde mich im Sterben beruhigen.«

»Nimmermehr, mein Kind,« erwiederte ich, »nimmermehr lasse ich mich dahin bringen, meine Tochter für ein verworfenes Frauenzimmer zu erklären; denn wenn auch die Welt Dein Vergehen mit Verachtung ansieht, so betrachte ich doch dasselbe als einen Beweis der Leichtgläubigkeit und nicht des Lasters. Meine Liebe, ich fühle mich an diesem Orte keineswegs unglücklich, so widerwärtig derselbe auch scheinen mag. Halte Dich überzeugt, so lange der Himmel Dir das Leben schenkt, soll er nimmer meine Einwilligung erhalten, Dich noch unglücklicher zu machen, indem er sich mit einer Andern verbindet.«

Als meine Tochter fort war, machte mir mein Mitgefangener, der bei der Unterredung zugegen gewesen, über meine Hartnäckigkeit Vorwürfe, da ich mich geweigert hatte, mich zu fügen, obgleich mir in diesem Falle Freiheit verheißen war. Er äußerte, meine übrige Familie dürfe nicht dem Frieden eines einzigen Kindes aufgeopfert werden, da sie die einzige sei, die sich vergangen habe. »Ueberdies,« setzte er hinzu, »weiß ich nicht, ob es recht ist, auf diese Weise die Vereinigung eines Mannes und eines Frauenzimmers zu verhindern, wie Sie gegenwärtig thun, indem Sie sich weigern, Ihre Einwilligung zu einer Heirath zu geben, der Sie nichts in den Weg legen, die Sie aber unglücklich machen können.«

»Mein Herr,« erwiederte ich, »Sie kennen den Mann nicht, der uns unterdrückt. Ich halte mich überzeugt, daß auch die größte Unterwürfigkeit mir keine Stunde der Freiheit verschaffen würde. Wie ich höre, ist in diesem selben Zimmer noch im letzten Jahr einer von seinen Schuldnern im Elend gestorben. Doch wenn mich auch meine Unterwürfigkeit und Zustimmung von hier in das schönste Zimmer bringen könnte, welches er besitzt, so würde ich dieselbe doch nicht geben, denn eine innere Stimme sagt mir, daß ich dadurch nur einen Ehebruch bestätigen würde. So lange meine Tochter lebt, ist keine Heirath, die er schließt, in meinen Augen rechtmäßig. Wenn aber Olivia nicht mehr lebt, so wäre ich der verächtlichste Mensch, wenn ich diejenigen, die eine Verbindung wünschen, aus Rache trennen wollte. Nein, so niederträchtig er auch ist, würde ich doch wünschen, daß er sich verheirathete, um seinen künftigen Ausschweifungen vorzubeugen. Jetzt aber würde ich der grausamste aller Väter sein, wenn ich einen Ehecontract unterschriebe, der mein Kind in's Grab bringt, bloß um mich aus meinem Kerker zu befreien. Um mich von einer Qual zu befreien, würde ich das Herz meines Kindes tausendmal brechen.«

Er gab die Richtigkeit dieser Antwort zu, konnte sich aber der Bemerkung nicht enthalten, daß er fürchte, die Gesundheit meiner Tochter sei schon zu sehr angegriffen, als daß meine Gefangenschaft dadurch würde verlängert werden. »Indessen,« fuhr er fort, »wenn Sie dem Neffen nicht nachgeben wollen, sollten Sie doch unbedenklich Ihre Sache seinem Oheim vorlegen, der im ganzen Lande als sehr gut und gerecht bekannt ist. Ich rathe Ihnen, mit der Post einen Brief an ihn zu schicken, worin Sie ihn von dem schlechten Benehmen, seines Neffen in Kenntniß setzen, und ich setze mein Leben zum Pfände, daß Sie innerhalb drei Tagen eine Antwort haben.« – Ich dankte ihm für diesen Rath, den ich sogleich befolgen wollte. Doch es fehlte mir an Papier, und unglücklicherweise hatte ich all mein Geld diesen Morgen für Lebensmittel ausgegeben. Jenkinson aber versah mich damit.

In den nächsten drei Tagen war ich in großer Unruhe wegen der Aufnahme, die mein Brief möchte gefunden haben. Inzwischen bestürmte mich meine Frau, mich lieber jeder Bedingung zu unterwerfen, als länger hier zu bleiben. Zugleich erhielt ich stündlich die traurigsten Nachrichten von dem Befinden meiner Tochter. Der dritte, der vierte Tag verging, und noch immer erhielt ich keine Antwort auf meinen Brief. Die Klage eines Fremden gegen den geliebten Neffen hatte vielleicht keinen Eindruck gemacht, und so verschwand auch diese Hoffnung, wie alle meine früheren. Mein Geist blieb indeß noch immer ungeschwächt, obgleich die Verhaftung und die schlechte Luft meiner Gesundheit sehr nachtheilig waren. Auch mein verbrannter Arm wurde schlimmer. Meine Kinder saßen indeß noch immer bei mir, und während ich auf meinem Strohlager lag, lasen sie mir abwechselnd vor, oder hörten weinend meinen Ermahnungen zu. Doch meiner Tochter Gesundheit nahm schneller ab, als die meinige, und jede Nachricht von ihr vermehrte meine Besorgniß und meinen Gram. Am fünften Morgen nach der Absendung meines Briefes an Sir William Thornhill wurde ich sehr beunruhigt, als ich erfuhr, daß sie die Sprache verloren habe. Erst jetzt wurde mir meine Gefangenschaft zur Qual. Meine Seele wollte ihren Kerker sprengen, um dem Sterbebette meines Kindes nahe zu sein, um sie zu trösten, zu stärken, ihre letzten Wünsche zu hören und ihrer Seele den Weg zum Himmel zu zeigen. Nach einer zweiten Botschaft rang sie bereits mit dem Tode, und doch war mir der geringe Trost geraubt, neben ihr zu weinen. Einige Zeit darauf kam mein Mitgefangener mit der letzten Nachricht. Er bat mich, gefaßt zu sein – sie sei todt! Am nächsten Morgen kam er zurück und fand mich mit meinen Kleinen allein, die ihre ganze unschuldige Beredsamkeit aufboten, mich zu trösten. Sie erboten sich, mir vorzulesen, und sagten, ich möge nicht weinen, denn ich sei schon zu alt zum Weinen. – »Ist meine Schwester nicht jetzt ein Engel, lieber Vater?« rief der ältere; »warum trauerst Du denn so um sie? Ich wollte, ich wäre ein Engel und fern von diesem schrecklichen Orte, wenn mein lieber Vater mich nur begleitete.« – »Ja,« rief mein jüngster Liebling, »der Himmel, wo meine Schwester sich jetzt befindet, ist wohl ein schönerer Ort, als dieser, und da giebt es nur gute Leute; hier aber sind sie gar zu böse.«

Jenkinson unterbrach ihr harmloses Geschwätz mit der Bemerkung, da meine Tochter todt sei, möge ich doch an die übrige Familie denken und mein eignes Leben zu retten versuchen, welches jeden Tag mehr und mehr wegen des Mangels der nöthigen Bedürfnisse und der gesunden Luft gefährdet wurde. Er setzte hinzu, es sei jetzt meine Pflicht, jeden Stolz und jede Nachsucht meinem eigenen Wohl und dem der Personen zu opfern, die von mir Schutz und Beistand erwarteten; und jetzt sei ich der Vernunft und dem Rechte nach genöthigt, den Versuch zu machen, meinen Gutsherrn wieder auszusöhnen.

»Der Himmel sei gepriesen,« erwiederte ich, »ich habe jetzt keinen Stolz mehr. Ich würde mein eigenes Herz verabscheuen, wenn ich sähe, daß noch Stolz und Rachsucht darin verborgen sei. Im Gegentheil, da mein Verfolger früher meiner Gemeinde angehörte, hoffe ich, ihn einst als eine reine und unbefleckte Seele vor dem ewigen Richterstuhl darstellen zu können. Nein, mein Herr, ich hege jetzt keine Nachsucht, und obgleich er mir genommen hat, was ich höher achtete, als all seine Schätze, obgleich er mein Herz tief verwundet hat, denn ich fühle mich matt und krank, mein Mitgefangener, soll mich das doch nie zur Rache bewegen. Ich bin jetzt bereit, meine Einwilligung zu seiner Verheiratung zu geben, und wenn diese Unterwerfung ihm irgend ein Vergnügen gewähren kann, so möge er auch wissen, daß, wenn ich ihm irgend Unrecht gethan habe, es mir sehr leid thut.« Herr Jenkinson nahm Feder und Tinte, und schrieb meine Einwilligung fast eben so nieder, wie ich sie ausgesprochen hatte, worauf ich meinen Namen darunter setzte. Mein Sohn wurde abgeschickt, um Herrn Thornhill den Brief zu überbringen, der sich damals auf seinem Landsitze aufhielt. Er ging und kehrte nach etwa sechs Stunden mit einer mündlichen Antwort zurück. Es habe ihm einige Mühe gekostet, den Gutsherrn zu Gesicht zu bekommen, sagte er, denn die Bedienten wären unverschämt und argwöhnisch gewesen; doch sei er ihm zufällig begegnet, als er gerade ausgegangen, um Vorbereitungen zu seiner Hochzeit zu treffen, welche in drei Tagen Statt finden werde. Er berichtete uns ferner, daß er sich ihm auf die demüthigste Weise genähert und den Brief abgegeben habe, welchen Herr Thornhill gelesen und gesagt, jetzt sei alle Unterwerfung zu spät und durchaus unnöthig. Er habe gehört, daß wir uns an seinen Onkel gewendet, der unsere Bitte mit verdienter Verachtung zurückgewiesen; übrigens müßten alle künftigen Gesuche an seinen Haushofmeister und nicht an ihn gerichtet werden. Da er eine sehr gute Meinung von der Klugheit der beiden jungen Damen habe, bemerkte er weiter, so würden sie ihm die angenehmsten Bittstellerinnen sein.

»Nun, mein Herr,« sagte ich zu meinem Mitgefangenen, »können Sie den Charakter des Mannes beurtheilen, der mich verfolgt. Er kann zugleich seinen Scherz treiben und grausam sein. Doch möge er mich behandeln, wie er will, ich werde trotz aller Riegel und Gitterstangen bald frei sein. Ich nähere mich jetzt einem Wohnorte, der mir immer strahlender erscheint, je näher ich ihm komme. Diese Erwartung lindert meinen Schmerz, und obgleich ich eine hülflose Familie zurücklasse, so wird sie doch nicht gänzlich verlassen sein. Vielleicht findet sich ein Freund, der sie um ihres armen Vaters willen unterstützt, und Andere werden ihnen vielleicht aus Menschenliebe um ihres himmlischen Vaters willen beistehen.«

Während ich noch sprach, kam meine Frau, die ich den Tag vorher nicht gesehen, mit Blicken des Entsetzens herein, und versuchte zu reden, war aber nicht dazu im Stande. »Nun, meine Liebe,« rief ich, »warum vergrößerst Du meinen Kummer durch den Deinigen so sehr? Wenn auch meine Unterwerfung unsern Verfolger nicht umstimmen kann, wenn er mich auch verurtheilt hat, an diesem elenden Orte zu sterben, und wenn wir auch ein geliebtes Kind verloren haben, so werden Dich doch Deine übrigen Kinder trösten, wenn ich nicht mehr bin.« – »In der That haben wir ein geliebtes Kind verloren!« erwiederte sie. – »Meine Sophie, mein liebstes Kind, ist fort – geraubt, entführt von Schurken!« – »Wie, Madame!« rief mein Mitgefangener, »Fräulein Sophie von Schurken entführt? Das ist unmöglich.«

Sie konnte nur mit einem starren Blicke und einer Fluth von Thränen antworten. Doch die Frau eines Gefangenen, die mit ihr eingetreten war, ertheilte uns einen genaueren Bericht. Sie sagte uns, meine Frau, meine Tochter und sie selber wären eine kleine Strecke aus dem Dorfe auf der Landstraße spazieren gegangen, da wäre eine zweispännige Miethkutsche angefahren gekommen und habe sogleich angehalten. Darauf wäre ein wohlgekleideter Mann, aber nicht Herr Thornhill, ausgestiegen, habe meine Tochter um den Leib gefaßt, sie in den Wagen geschleppt und dem Postillon befohlen, weiter zu fahren, worauf sie ihnen augenblicklich aus dem Gesichte gewesen.

»Nun ist die Summe meines Elends voll,« rief ich; »nichts auf Erden kann mir noch größern Schmerz verursachen. O! nicht Eine mehr übrig! Das Ungeheuer! Mein Kind, das meinem Herzen am nächsten war! Sie besaß die Schönheit eines Engels und fast die Weisheit eines Engels. Aber eilt meiner Frau zu Hülfe, sie wird hinfallen. – Nicht Eine mehr übrig!« – »Ach, lieber Mann,« sagte meine Frau! »Du scheinst des Trostes noch mehr zu bedürfen, als ich. Unser Elend ist groß; doch ich könnte dies und noch mehr ertragen, wenn ich Dich nur ruhig sähe. Sie mögen mir meine Kinder nehmen und die ganze Welt, wenn sie mir Dich nur lassen.«

Mein Sohn, welcher gegenwärtig war, versuchte ihren Schmerz zu besänftigen. Er bat sie, sich zu beruhigen, denn gewiß hätten wir noch Grund, dankbar zu sein. – »Mein Sohn,« rief ich, »blicke Dich um in der Welt und siehe, ob mir noch irgend ein Glück übrig ist. Ist nicht jeder Hoffnungsstrahl erloschen? Liegen nicht alle unsere glücklichen Aussichten jenseits des Grabes?« – »Lieber Vater,« entgegnete er, »ich hoffe, es giebt noch Etwas, das Dir Freude gewähren kann, denn ich habe einen Brief von meinem Bruder Georg.« – »Wie geht es ihm, mein Sohn?« fiel ich ein; »weiß er um unser Elend? Ich hoffe, mein Sohn ist frei von dem, was seine unglückliche Familie leidet.« – »Ja, Vater,« erwiederte er, »er ist vollkommen heiter und glücklich. Sein Brief enthält nur gute Nachrichten. Er ist der Günstling seines Obersten, welcher ihm die nächste offene Lieutenantsstelle versprochen hat.«

»Doch bist Du von alle dem überzeugt?« rief meine Frau, »bist Du gewiß, daß meinem Sohne kein Unheil geschehen ist?« – »Nichts in der That, liebe Mutter,« erwiederte mein Sohn; »Du sollst den Brief sehen, der Dir das größte Vergnügen gewähren wird; und wenn Dich irgend Etwas trösten kann, so bin ich gewiß, daß es dadurch geschehen wird.« – »Aber bist Du gewiß,« wiederholte sie noch immer, »daß der Brief von ihm selber und daß er wirklich so glücklich ist?« – »Ja, Mutter,« erwiederte er, »der Brief ist gewiß von ihm, und er wird unserer Familie einst zur Ehre und zur Stütze dienen.« – »Da danke ich der Vorsehung,« rief sie, »daß er meinen letzten Brief nicht erhalten hat. Ja, mein Lieber,« fuhr sie zu mir gewendet fort, »wenn auch in anderer Hinsicht die Hand des Himmels schwer auf uns ruht, so muß ich doch gestehen, daß er uns in diesem Falle günstig gewesen ist. In meinem letzten Briefe, den ich in der Bitterkeit meines Zornes schrieb, beschwor ich meinen Sohn bei dem Segen seiner Mutter, und wenn er das Herz eines Mannes habe, zu machen, daß seinem Vater und seiner Schwester Gerechtigkeit geschehe, und ihr Unrecht zu rächen. Doch dem Himmel sei Dank, der Brief ist nicht an ihn gekommen und ich bin beruhigt.« – »Frau,« rief ich, »Du hast sehr Unrecht gethan, und zu anderer Zeit würde ich Dir harte Vorwürfe gemacht haben. O welchem furchtbaren Abgrunde bist Du entgangen, der Dich und ihn in endloses Verderben würde gestürzt haben! Die Vorsehung ist hier in der That gütiger gegen uns gewesen, als wir gegen uns selber. Sie hat uns diesen Sohn erhalten, um der Vater und Beschützer meiner Kinder zu sein, wenn ich dahin gegangen bin. Wie ungerecht war meine Klage, daß ich alles Trostes beraubt sei, da ich höre, daß er glücklich ist und an unserer Trübsal Theil nimmt; daß er noch übrig ist, um seine verwitwete Mutter zu unterstützen und seine Brüder und Schwestern zu beschützen! Aber welche Schwestern hat er noch übrig? Er hat keine Schwestern mehr! Sie sind Alle fort, mir geraubt, und ich bin elend.« – »Vater,« fiel mein Sohn ein, »erlaube mir, diesen Brief vorzulesen; ich weiß, er wird Dir Vergnügen gewähren.« Darauf las er mit meiner Erlaubnis wie folgt:

» Lieber Vater, Ich habe meine Phantasie einige Augenblicke von den Vergnügungen abgelenkt, die mich umgeben, um sie auf Gegenstände zu richten, die mir noch angenehmer sind, nämlich auf den lieben kleinen Kamin zu Hause. Ich stelle mir jene harmlose Gruppe vor, wie sie mit großer Aufmerksamkeit auf jedes Wort dieses Briefes horcht. Ich sehe diese Gesichter mit Entzücken, welche niemals die entstellende Hand des Ehrgeizes oder des Mißgeschicks empfanden. Doch so groß Euer Glück zu Hause auch sein mag, so bin ich doch gewiß, daß es noch erhöht werden wird, wenn Ihr erfahrt, daß ich mit meiner Lage vollkommen zufrieden und hier in jeder Hinsicht glücklich bin.«

»Unser Regiment hat Contreordre erhalten und wird das Königreich nicht verlassen. Der Oberst, der mich seinen Freund nennt, führt mich in alle Zirkel, wo er bekannt ist, und überall werde ich bei fortgesetzten Besuchen mit erhöhter Achtung aufgenommen. Gestern Abend tanzte ich mit Lady G –, und könnte ich die Bewußte vergessen, so möchte ich bei ihr vielleicht glücklich sein. Doch es ist mein Loos, mich immer Anderer zu erinnern, während die meisten meiner abwesenden Freunde mich vergessen; und zu dieser Zahl muß ich auch Dich rechnen, lieber Vater, denn lange habe ich vergebens auf das Vergnügen gewartet, einen Brief von Hause zu erhalten. Olivia und Sophie versprachen auch zu schreiben, doch sie scheinen mich vergessen zu haben. Sage ihnen, sie wären ein Paar nichtsnutzige Dinger, und ich wäre bitterböse auf sie. Doch ich weiß nicht, wie es zugeht, wenn ich auch ein wenig auf sie schelte, so giebt mein Herz doch gleich sanftem Gefühlen nach. Sage ihnen also, daß ich sie bei alle dem zärtlich liebe, und sei versichert, daß ich stets bleiben werde

Dein gehorsamer Sohn.«

»Wie großen Dank sind wir bei all unserm Elend dem Himmel schuldig,« rief ich, »daß wenigstens Einer unserer Familie von dem frei ist, was wir leiden! Der Himmel schütze ihn und erhalte meinen Sohn so glücklich, damit er die Stütze seiner verwittweten Mutter sein möge und der Vater dieser beiden Knaben, die ich ihm als einziges Erbtheil hinterlasse! Möge er ihre Unschuld von den Versuchungen der Armuth zurückhalten und ihr Führer sein auf den Wegen der Ehre!« – Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, als ich unten vor der Thür des Gefängnisses einen Tumult hörte. Bald hörte das Geräusch auf und Kettengerassel kam den Gang daher, der zu meinem Gemache führte. Der Gefangenwärter trat ein und führte einen Mann, ganz mit Blut bedeckt, verwundet und mit den schwersten Fesseln beladen. Ich sah den Unglücklichen mitleidig an, als er sich mir näherte, doch mit Entsetzen, als ich bemerkte, daß es mein Sohn sei. – »Mein Georg! mein Georg! sehe ich Dich so wieder? Verwundet! Gefesselt! Ist dies Dein Glück! Kehrst Du so zu mir zurück? O möchte dieser Anblick mein Herz brechen und ich sogleich sterben!«

»Wo ist Deine Standhaftigkeit, Vater?« erwiederte mein Sohn mit fester Stimme; »ich muß den Tod erdulden, mein Leben ist verwirkt, und mag man es nehmen.«

Ich versuchte einige Augenblicke, meine Leidenschaft schweigend zu bekämpfen, doch war es mir, als sollte ich bei der Anstrengung sterben. – »O mein Sohn, mein Herz blutet. Dich so zu sehen und ich kann, ich kann Dir nicht helfen. In dem Augenblicke, wo ich Dich glücklich glaubte und für Dein Wohl betete, sehe ich Dich gefesselt und verwundet wieder. Und doch ist der Tod in der Jugend ein Glück. Ich aber bin alt, sehr alt, muß diesen Tag erleben und sehen, wie meine Kinder vor der Zeit in's Grab sinken, während ich trostlos und elend unter den Trümmern zurückbleibe! Möchten alle Flüche, die je eine Seele in die Hölle hinabzogen, auf den Mörder meiner Kinder fallen! Möchte er leben, um gleich mir zu sehen.« –

»Halt ein, Vater, oder ich erröthe vor Dir!« rief mein Sohn, »Wie kannst Du so Dein Alter und Deinen heiligen Beruf vergessen, Dir das Richteramt des Himmels anzumaßen und diese Flüche hinaufzusenden, welche bald wieder herniedersinken müssen, um Dein graues Haupt zu vernichten! Nein, Vater, laß es vielmehr Deine Aufgabe sein, mich auf den schmählichen Tod vorzubereiten, den ich bald erdulden muß, mich mit Hoffnung und Entschlossenheit zu waffnen, mir Muth einzuflößen, den bittern Kelch zu trinken, der mir bald wird gereicht werden.«

»Mein Sohn, Du darfst nicht sterben! Ich bin gewiß. Du hast nichts begangen, um eine so schmähliche Strafe zu verdienen. Mein Georg kann nimmermehr eines Verbrechens schuldig sein, dessen sich seine Vorfahren schämen müßten.«

»Das meinige ist leider ein unverzeihliches,« erwiederte mein Sohn. »Als ich den Brief meiner Mutter erhielt, kam ich sogleich hierher, entschlossen, den Räuber unserer Ehre zu bestrafen, und schickte ihm eine Forderung, worauf er nicht in Person erschien, sondern vier von seinen Bedienten schickte, um sich meiner zu bemächtigen. Den ersten, der mich angriff, verwundete ich schwer, wie ich fürchte, doch die andern nahmen mich gefangen. Der Elende ist entschlossen, das Gesetz gegen mich in Anwendung zu bringen. Die Beweise sind nicht zu leugnen. Ich bin der Forderer, und da ich der angreifende Theil bin, so habe ich, wenn man nach der Strenge des Gesetzes verfährt, keine Gnade zu hoffen. Doch Du hast mich oft zur Standhaftigkeit ermahnt, lieber Vater, laß mich dieselbe jetzt in Deinem Beispiele finden.«

»Du sollst sie finden, mein Sohn,« erwiederte ich. »Ich stehe jetzt über der Welt und den Freuden, die sie gewähren kann. Von diesem Augenblicke an nehme ich alle Fesseln von meinem Herzen, die es an die Erde knüpften, und will uns Beide auf die Ewigkeit vorbereiten. Ja, mein Sohn, ich will Dir den Weg zeigen, und meine Seele soll die Deinige hinaufgeleiten. Ich halte mich jetzt überzeugt, daß Du keine Begnadigung zu erwarten hast, und kann Dich nur ermahnen, dieselbe vor dem größten Richterstuhle zu suchen, wo wir Beide bald erscheinen werden. Doch will ich nicht karg sein mit meinen Ermahnungen, und alle unsere Mitgefangenen sollen daran Theil haben. Mein guter Kerkermeister erlauben Sie es ihnen, hier einzutreten, damit ich auch sie ermahnen kann.« – Bei diesen Worten versuchte ich, mich von meinem Strohlager zu erheben, doch fehlte mir die Kraft, und ich war genöthigt, mich an die Wand zu lehnen. Die Gefangenen versammelten sich auf meinen Wunsch, denn sie hörten mir gern zu. Mein Sohn und meine Frau hielten mich aufrecht; dann sah ich mich um und bemerkte, daß Niemand fehle, und redete sie folgendermaßen an.


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