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Wider Erwarten erschien Genia noch nicht an der gemeinschaftlichen Mittagstafel. Sie mußte durch irgend einen Umstand die Gunst der Eltern von neuem verscherzt haben. Die »Kopfschmerzen«, die von der Mutter flüchtig gestreift wurden, waren für Cornelius keine zutreffende Entschuldigung, denn er hatte sich eine Stunde vorher in seinem eigenen Zimmer davon überzeugt, daß das junge Mädchen wieder frisch wie am Tag zuvor war.
In diesen und andere Gedanken versunken, aß er mechanisch und geistesabwesend. Auch die anderen Herrschaften schienen zu einer umfangreicheren Unterhaltung nicht aufgelegt zu sein und so verlief die Mahlzeit still und ziemlich schnell.
Cornelius war am Nachmittag sich selbst überlassen. Der Hauptmann und seine Frau fuhren über Land, um eine verheiratete Freundin Giselas zu besuchen. So trieb er sich auf dem Hofe, im Schloßpark herum, überall mit offenen, wachsamen Augen. Stieg auch ein-, zweimal auf den Turm und blickte sinnend nach den Türmen Bernstadts hinüber, die in leichten Nebel gehüllt herübergrüßten.
Hinter der Tür, wo Genia in einsamer Verbannung schmachtete, war es den ganzen Nachmittag über still. Engelke junior, der ihr den Tee zu bringen hatte, kam mit unbeweglichem Gesichtsausdruck wieder aus dem Zimmer heraus. Cornelius versuchte, ihn durch einen größeren Geldschein zu bestechen, um irgend eine Verbindung mit der Insassin des »Kerkers« herzustellen. Der Diener schien aber seine Hand nicht zu sehen und erwiderte auf die drängende Frage, mit was sich Genia beschäftige, nur knapp und zurückweisend: »Das gnädige Fräulein schreiben!«
Wer Genia näher kannte, der hätte bei dieser Auskunft allerdings ein betroffenes Gesicht gemacht, denn wenn Genia zur Feder griff, dann mußte bei ihr die Verzweiflung einen schlimmen Grad erreicht haben.
Zwischen fünf und sechs Uhr flog ein Papierknäuel in weitem Bogen in den Schloßpark. Dies Ereignis entging Cornelius, da er sich in diesem Augenblicke gerade auf dem Hofe befand und nachdenklich in eine dunkel schillernde Pfütze blickte, als ob er dort die Lösung des Rätsels: wo sind die beiden fehlenden Glieder meiner Kette? zu finden hoffte.
Aber gegen sieben Uhr, es begann schon abendlich kühl zu werden, wurde sein Auge durch ein schimmerndes Etwas aufmerksam gemacht, das wiederum in weitem Bogen aus einem der Fenster des ersten Geschosses ins Freie geschleudert, zwischen die Bäume fiel.
Eine Botschaft? fuhr ihm durch den Kopf.
Er hastete die Treppen hinab und fand nach längerem Suchen im Schloßpark an einer unwegsamen Stelle im Gebüsch ein gar arg zerknittertes und zusammengeballtes Blatt Papier, das mit einer engen Schrift bedeckt war.
Eine Botschaft für ihn konnte dies kaum bedeuten. Denn solche Mitteilungen pflegt man weder mit einer solch ersichtlichen Wut zusammenzuknautschen wie es geschehen sein mußte, noch war der Ort der Auffindung für einen nichtsahnenden Adressaten ein passend gewählter.
Cornelius war aber nun einmal Detektiv und fühlte sich als solcher berechtigt, ja verpflichtet, auch den Geheimnissen, die zusammengeknautschte Papierbälle enthalten konnten, nachzugehen. Sorgfältig strich er also das Blatt glatt und las mühsam folgendes:
»O Unzingen, du stolzer Bau,
Was ist aus dir geworden?
Den Augen trau ich, Arme, kaum,
Dein Nimbus ist gemorden.
Wo sind die alten Zeiten hin,
Wo Knapp und Ritter schritten
Zum Spiel, zum Kampf mit mut'gem Sinn,
Das Burgfräulein inmitten?
Der Ritter kämpfte, siegte, litt,
Bis sich die Sonne neigte.
Da wußte er, für wen er stritt,
Vor wem das Knie er beugte.
Er huldigte der Schönheit, Anmut, Milde
Der Starke, Er, den kühnen Blick
Gesenket vor dem Frauenbilde.«
– Hier war eine Zeile sehr energisch durchgestrichen. –
»Doch heut? – Die frische Wunde schmerzt. –
Was ist mit uns geschehen?
Wo ist der Ritter, wohl beherzt –
Er läßt sich nicht mehr sehen!
Wo Speer und Harnisch blutig kämpften,
Da sieht man jetzt 's Monokel glänzen.
Die einz'ge Sorge ist dem Gent
Ein saubrer Kragen, reines Hemd.
Die Maid von heute, die tut's wagen,
Der Herr der Schöpfung, er ist »müde« –!
Sie schleicht sich in den Turm, ganz ohne Zagen,
Und opfert ihrer Jugend Blüte.
Das End vom Lied: ein Hausarrest.
Und spöttisch meint er: »ich find,
Solche Affairen schaden nur dem Teint, mein Kind!« –
Ich bin auf meine Tat nicht stolz,
Tat's Euch auch nicht zu Gefallen.
Jedoch ich seh:
Der Borwurm tickt im morschen Holz,
Die Zinnen sind zerfallen.
Es gab ein »gestern«, gibt ein »heut«,
Und jedes Lied hat einen Schluß,
Interesse gestern, liebe Leut?
Heut
hass' ich Euch, Cornelius!«
»Wie furchtbar – sie dichtet schon!« sagte der so Geschmähte erschüttert und blickte unsicher in die Höhe.
Doch an der langen Reihe der Fenster ließ sich kein menschliches Wesen sehen. Er faltete das Blatt Papier mit diesem herzerweichenden, etwas zerfahrenen Ergusse zärtlich zusammen und barg es sorgfältig in seinem Notizbuche. Als er wieder in seinem Zimmer anlangte, betrachtete er sich im Spiegel. Wahrhaftig! Er war rot geworden. Es gibt aber auch eine Röte der Freude, nicht nur eine solche der Scham. Und schämen hätte er sich doch eigentlich sollen, wenn es nach dem Sinne der Dichterin gegangen wäre.
Aber das Poem war ja nicht für die Oeffentlichkeit bestimmt, am wenigsten für den, mit dem es sich ausschließlich beschäftigte. Und so trat er beim Abendbrot, das der jungen Dame endlich Befreiung brachte, mit gut gespielter Unbefangenheit auf sie zu und begrüßte sie verbindlich und hocherfreut.
Genia reichte ihm mit niedergeschlagenen Augen die Fingerspitzen. Sie war blaß und über ihrer frischen Jugend lag ein weicher Schimmer von Weiblichkeit, der sie ihm mehr als je anmutig und liebreizend erscheinen ließ.
»Ich habe heute nachmittag verschiedenes Interessante gefunden!« flüsterte er ihr zu. Sie zuckte zusammen und sah ihn mit einem tief erschreckten Blicke an.
»In unserer Geisterangelegenheit,« fuhr er fort. Sie atmete auf. »Ach so!« meinte sie nachlässig, uninteressiert, »in Ihrer Geistersache, wollen Sie wohl sagen. Das ist ja ganz brav von Ihnen. Halten Sie den »Geist« nur gut fest, wenn Sie ihn haben, damit die anderen auch etwas davon zu sehen bekommen.« Mit diesen Worten wandte sie sich Neuling zu, den sie für den Rest des Tages nahezu ausschließlich für sich in Anspruch nahm.
Cornelius konnte dies auch nicht ändern. Seine Zeit würde schon noch kommen.
Frau von Puttlitz war äußerst verkniffen und beunruhigt. Wir erraten, aus welchen Gründen.
Als man dann nach dem Essen im Jagdzimmer saß, brachte Engelke senior dem Detektiv ein Telegramm, das soeben aus dem Dorfe heraufgebracht worden war.
Schnell griff er danach und löste die Verschlußmarke. Ob Hanni bereits Antwort gab?
»Wann kommen Sie zurück? Erwarte Sie sehnsüchtig.
Gräfin Hanau.«
»Ach!« machte er enttäuscht und faltete das Blatt zusammen.
Genia aber, die zufällig hinter ihm gestanden hatte, kehrte still an ihren Platz zurück. Sie war um einen Strich blasser geworden.
»Nachricht von Ihrer Frau Tante?« fragte Frau von Puttlitz.
»Noch nicht. Eine Bekannte hat mir aus Berlin einen Gruß gesandt,« erwiderte er. Er konnte doch nicht gut sagen, daß die Absenderin des Telegramms ihn damit beauftragt hatte, den Dieb ihres Perlenhalsbandes ausfindig zu machen, und daß sie mit erklärlicher Ungeduld sein Wiedereintreffen erwartete.
»Eine vermögliche Bekannte, die telegraphische Grüße in die Welt schickt,« lächelte der Hauptmann indiskret.
»Es handelt sich um ein Perlenhalsband,« sagte Cornelius leichthin. Mehr wollte er nicht verraten und etwas anderes fiel ihm in diesem Augenblicke nicht ein.
Genia preßte die Lippen aufeinander. In ihrem Köpfchen spukte das Wort »sehnsüchtig« in dem Telegramm, dessen Zeilen ihre scharfen Augen halb wider Willen überflogen hatten.
Da trat Engelke senior wiederum mit einer Depesche ein. Er reichte sie dem Gaste mit einer beinah ehrfurchtsvollen Handbewegung. Er war ein Diener der alten Schule und in seinen Augen wuchs der Wert des Empfängers solcher aufregenden Nachrichten, die doch in diesen Briefchen mit der blauen Marke stehen mußten, mit dem Grade ihrer Häufigkeit.
Während Cornelius das Telegramm entfaltete, kurz überflog und dann in die Tasche steckte, meinte Herr von Puttlitz etwas bissig:
»Ich kann Telegramms nicht leiden. Gewöhnlich ist einer tot, oder es kommt wer, der besser zu Hause geblieben wäre. Wie Sie das nur so aushalten können, aller zwei Minuten solche alarmierenden Dinger!«
Cornelius lachte vergnügt. »Ich weiß nicht, ob Ihre Frau Gemahlin ebenso denkt ...?«
»Das neue Stubenmädchen kommt?« schnellte die Hausfrau hoch.
»Richtig erraten.«
»Was hat Ihre Frau Tante sonst über sie telegraphiert?«
Cornelius blickte zu Boden. Die Depesche hatte gelautet: »Komme selbstmurmelnd sofort. Holdrio. Hanni«, und das konnte er doch nicht gut vorlesen.
Die Ankündigung des sofortigen Kommens teilte er jedoch als den Kernpunkt mit und nachdem alte und neue Kursbücher gewälzt worden waren, konnte man mit ziemlicher Sicherheit feststellen, daß das neue Stubenmädchen am nächsten Morgen mit dem Frühzuge in Arnheim sein würde.
Der Junior erhielt den Auftrag, im Stall den Wagen zu bestellen, und dann verebbten allmählich wieder die Wogen, die die Ankündigung von dem Eintreffen einer »Perle« in den jetzigen Zeiten selbst auf einem herrschaftlichen Schlosse hervorzurufen geeignet ist.
»So ne Pute,« meinte der Junior, als er übellaunig über den dunklen Hof nach dem Stalle hinüberging, »und so ne Masse Kram, was mit der gemacht wird. Werd ihr von Anfang an die Kandare stramm ziehen, damit sie nicht so unnötige Zicken macht, wie die Anna, das Schaf ...« Den Rest dieses Selbstgesprächs verschlang ein derber Fluch.
»Wollen wir heute spuken lassen?« fragte oben hinter der Hand gähnend der Hauptmann.
»Aber Curt!« fuhr seine Frau entsetzt zusammen.
Genia richtete ihre Blicke verstohlen auf Cornelius. Was würde dieser sagen? Helfen würde sie ihm heute jedenfalls nicht wieder, überhaupt nicht wieder.
Doch dieser wippte gelassen mit dem übergeschlagenen Bein. »Es kann heute gar nicht spuken ...«
»Nanu!« fragten mehrere Stimmen gleichzeitig, »es kann nicht. Wie wollen Sie dies verhüten?«
»Sehr einfach. Ich habe das güldene Wams des verehrten Ahnherrn in meinem Zimmer eingeschlossen. Dazu Mantel und Schlachtschwert. Ich will auch mal schlafen.«
»Ich auch!« riefen die anderen außer Genia.
Diese sagte leise vor sich hin: »Du Feigling!«
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