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10. Kapitel.

An dem dieser unruhigen und aufregenden Nacht folgenden Tage begann es sich im Hause schon zeitig zu regen.

Im Stalle klappten die Deckel der Haferkisten, polterten die Tränkeimer, rasselten die Ketten, bevor noch die ersten, tastenden Strahlen der Morgensonne über die von Nebelschleiern umzogenen Berge und Höhen kletterten. Lichter huschten über den Hof. Holzschuhe klapperten. Oft hörte man die scheltende Stimme des Inspektors.

Dann rasselten Wagen über das Steinpflaster, riefen in dem Mauerviereck ein schallendes Echo hervor und rutschten mit einem lauten »Klapp!« über die Bortkante des Torweges, was jedesmal einen gelinden Fluch des Hofmeisters hervorrief, der an dieser Stelle, auf seinen derben Stock gestützt, die Einzelparade abnahm. Heute war er allein der Gewaltige, vor dessen Stirnrunzeln die Fuhrknechte sich tiefer in den hochgeschlagenen Kragen duckten. Denn das kleine Fräulein, das am gestrigen Abend Hof und Gerät mit ihm besichtigt hatte, lag oben hinter den weißen Gardinen, mit denen der kühle Morgenwind spielte, noch tief in den Federn.

»Hektor« und »Andromache« saßen als zwei unzertrennliche Trabanten zu beiden Seiten des Hofmeisters und hoben von Zeit zu Zeit schnuppernd die Nasen in die Luft. Mit einem Male knurrte der vierbeinige Gatte leise vor sich hin und spitzte die Ohren.

»Kusch!« machte Kühenmann und hielt den Hund, der sich erheben wollte, mit einem Blicke zurück, »laß die Katze im Garten in Ruh, du beziehst doch nur wieder Kratzer!«

Das Tier legte den mächtigen Kopf auf die Beine und winselte, rührte sich aber gehorsam nicht von der Stelle.

Es war aber nicht die graue Katze gewesen, die »Hektor« aufgespürt hatte und die sich jetzt mit einem elastischen Satze in die Rinde des Apfelbaumes im Garten hinten krallte. Von dem Hofmeister nicht bemerkt war ein weibliches Wesen in einem dunklen Mantel und dicht verschleiert zu dem hinteren Ausgange des Hauses gehuscht und wie in wilder, heimlicher Flucht durch den Garten geeilt. Bevor es zwischen den niederen Tannen verschwand, welche eine kleine ins Freie führende Pforte verdeckten, wandte es sich noch einmal kurz nach dem Hause um.

Hinter dem Schleier blitzten zwei dunkle Augen vor Haß und Erbitterung auf und eine Faust drohte nach dem oberen Stockwerk. Dann rauschten die Zweige, und jenes Wesen war verschwunden.

Was hatte dieses rätselhafte Vorkommnis zu bedeuten?

»Hektor«, der als einziger es wahrgenommen, kam mit seinem Hundeverstande damit nicht zu Wege. Seine Rute beschrieb einen fragenden Bogen durch die Luft ...

Nach einiger Zeit wurde es auch im Hause munter. Die Fensterläden des Erdgeschosses wurden zurückgeschlagen.

Die Mamsell erschien mit einem verschlafenen und nicht sehr arbeitsfreudigen Gesicht.

»Hier, Monsieur,« sagte sie mürrisch zu Engelke junior, der mit dem ersten Sonnenstrahle die Küchentür öffnete, »Sie könnten das Haus aufschließen. Ihr Vater kann jeden Augenblick auftauchen, 's wundert einen überhaupt, daß er jeden Morgen, den der Herr uns beschert, sich mit seinen alten Knochen den Berg herauf bemüht. Ich machte den Zimt längst nicht mehr mit, wenn ich wie er die sechzig auf dem Buckel hätte.«

Karl stellte bedächtig das Tablett, das er in Händen hielt, auf den Küchentisch. Dann knöpfte er den obersten Knopf seiner Livree sorgfältig zu, nahm eine theatralische Miene an und sagte:

»Das ist die angestammte Treue zum Herrenhause, verehrte Mamsell.«

»Ach Jotte nee!« schlug die rundliche Dame die Hände zusammen, »tun Se sich man bloß nich so affig. Treue ...! Bei Ihrem Vater vielleicht. Aber Sie dürften das Wort nich in den Mund nehmen ...«

»Bitte sehr. Ich bin der Sohn meines Vaters.«

»Ein bißchen weit vom Stamme gefallen, meine ich.«

Achselzuckend nahm Junior den Schlüsselbund und ging, gemütlich vor sich hinpfeifend, nach der Haustür.

Gähnend kam der Volontär die Treppe herab.

»Wie schön könnte man's haben ...!« Er schlug den Rockkragen hoch und trat auf den Hof. Ueber das »wenn« sprach er sich nicht näher aus.

Die einzige, die an diesem Morgen vergnügt zu sein schien, war das Stubenmädchen Luise, das nunmehr in die Küche hereinträllerte und stürmisch »heißen, süßen Mokka« forderte.

Unter den runden Fingern der Mamsell klapperten die Töpfe und Tassen. Sie ging, wenn sie ärgerlich war, nicht allzu zart mit dem Geschirr um. Dann waren aber an den Scherben ihre steifen Hände und die böse Gicht schuld.

»Wo steckt denn Anna?« klang es durch das Klappern.

Luise zog die spitzen Schultern unter dem hellen Waschkleid hoch. Ein Mund voll heißen Kaffees verbietet für gewöhnlich Antworten.

»He?« machte die Mamsell und sah sich ärgerlich um. »Natürlich! Die eine der »Stützen« ist zu fein zum Reden, wenn sie sich endlich herunterbemüht hat. Und die andere kommt gleich gar nicht zum Vorschein.«

Auch heißer Kaffee findet einmal den ihm zugedachten Weg und so sagte Luise, dazwischen mit spitzem Munde blasend, nach einiger Zeit:

»Es kommt ganz auf die Abstufungen an, Mamsellchen. Sie kriegen sechzig Emm pro Monat – dafür dürfen Sie den Morgenkaffee brauen, der heute übrigens wieder kaum nach ner halben Bohne schmeckt. Ich ›beziehe‹ vierzig. Dafür darf oder vielmehr muß ich Ihr Gebräu schlucken. Und Anna mit ihren dreißig ... ja, soll die denn schon um Mitternacht wieder im Trab sein, wenn sie sich endlich um zehn Uhr hat glücklich in die Klappe legen dürfen? Alles nach Verdienst und Würden, sag' ich immer!«

Die Mamsell brummte etwas, das nicht sehr liebenswürdig klang.

Luise lachte, stellte die leere Tasse auf den Tisch, wischte sich mit einer koketten Handbewegung den Mund und sagte mit einem spöttischen Knicks:

»Dürfte ich nunmehr um mein Tagespensum bitten?« Da hatte eine Tasse doch das Zeitliche gesegnet ... Ja, die böse Gicht!

»Ja, die verflixten Bowlen,« stöhnte oben zwischen seinen Kissen der Herr des Hauses und bewegte sich vorsichtig in die senkrechte Linie, »Potz Blitz und Wetter! Jetzt fällt mir erst ein, weshalb ich einen solch dicken Schädel habe. Das kommt von der gestörten Nachtruhe. Ich habe dir doch immer gesagt, Irma, daß mir Unterbrechungen nachts schlecht bekommen!«

Frau von Puttlitz schlug anklagend die großen Augen gegen die mit einer zierlichen Rosenborte abgesetzte Zimmerdecke.

»Aber Kuno. »Dir immer gesagt«, das klingt doch ganz so, als ob ich daran schuld wäre, daß mein armes Kind heute nacht ...«

»Nichts wie dumme Gedanken hat sie im Kopfe, die Genia. Heute noch schick' ich sie in eine Pension. Und wenn's nach Weimar wäre. Das ist mir alles gleich ...«

» Das dürfte nicht die richtige Lösung sein,« versetzte Frau Irma mit dem tragischen Tone einer antiken Seherin.

Eine Treppe höher unterhielten sich der Hauptmann und seine junge Frau in einer friedfertigeren, man kann sogar sagen, höchst verständnisinnigen Stimmung.

Gisela war damit beschäftigt, ihr reiches, blondes Haar hochzustecken, und sah dabei durch das Glas des runden Frisierspiegels ihrem Manne in die Augen, der, eine Morgenzigarette im Munde, mit übergeschlagenen Beinen in einem seidenbezogenen Sessel lehnte und ein buntes Kissen, das er über die Kniee gelegt hatte, angelegentlich und zärtlich streichelte.

»Na?« meinte er und zwinkerte mit den Augen nach dem hübschen Spiegelbilde, das ihn mit rotem Munde anlachte, »wie denkst du über den Fall, Gischen?«

»Ich denke, daß der August als Verlobungsmonat ja noch etwas warm ist, daß aber der September vielleicht gerade der passende Monat wäre.«

Beide schmunzelten verständnisinnig.

»So habe ich die Ereignisse noch nie rasen sehen. Es fehlte eigentlich nur noch der Kuß und der mit Recht so beliebte »Segen«. Abendsegen kann man weniger sagen. Es wäre eher ein Mitternachtssegen gewesen.«

»Spotte nicht so greulich. Die arme Genia ist, während wir hinter ihrem Rücken schon den Verlobungstag festsetzen, ja noch gänzlich harmlos. Sie war doch in jener Situation ohne Bewußtsein ...«

»Letzteres stimmt. Der Pyjama ist ihr entgangen. Aber damit hat es ja noch Zeit. Aber bei deinem schwesterlichen Getuschle, kaum daß sie die Augen aufgemacht, ist sie rot wie eine Päonie geworden. Ich bin auf das Wiedersehen zwischen den beiden Akteurs im mitternächtigen Drama riesig gespannt.«

»Pfui, wie du das sagst! So mit einem Gesicht, wie ein Zuschauer bei einem bevorstehenden Stiergefecht ...«

»Wobei ich mir den Torero eher denken kann, als – das Kälbchen!«

Wieder erfüllte ein heiteres Gelächter den von der Morgensonne erhellten behaglichen Raum.

So tauschten die Bewohner je nach der Veranlagung und Stimmung ihre Ansichten über die vergangene Nacht aus. Merkwürdiger Weise sprach niemand von der Hauptsache, dem Verursacher dieser Stimmungen, dem »Geist«. Es war, als ob man ihn als etwas Nebensächliches, nicht erwähnenswertes betrachte, an das man sich wohl oder übel bereits gewöhnt habe. So mit einem achselzuckenden »kann ich's ändern«?

Die verschiedensten Gefühle und Stimmungen aber durchzogen sicherlich Kopf und Herz des einen, dessen wir bisher noch nicht gedacht haben. Dies hat seinen Grund darin, daß er als letzter, allerletzter an diesem Montagmorgen erwachte.

Doktor Cornelius richtete sich, als der Gong in der Diele dröhnend zum ersten Frühstück lockte, mit einem jähen Ruck in seinem Bette auf.

»Die Kirchenglocken läuten!« sagte er schlicht, »komisch, ich dachte, ich hätte den Sonntag eigentlich schon hinter mir! Ach, du lieber Gott, es ist tatsächlich so!«

Mit benommenem Kopfe setzte er sich auf die Kante des vollständig zerwühlten Bettes und betrachtete nachdenklich die dunkelblauen Beinkleider, mit denen er sich schlafen gelegt hatte. »Der Vers, den ich mir auf diese Tatsache zu machen habe, reimt sich vorläufig nicht.«

Nachdem er aber seinen Kopf einige Minuten unter kaltes Wasser gehalten hatte, war er wieder völlig Herr seiner Sinne.

Nunmehr beschäftigten ihn vor allem zwei Dinge: Genia und der »Geist«.

Eine Anfrage bei dem Freunde gegenüber, der soeben wohlausgeschlafen und äußerst vergnügt aus dem Zimmer trat, verschaffte ihm die Gewißheit, daß das junge Mädchen so weit wieder ganz »mobil« war, sie solle nur, einem Machtspruche der Mutter folgend, für den Vormittag auf ihrem Zimmer bleiben.

»Stubenarrest?« fragte Cornelius betroffen.

»So was ähnliches. Außerdem hat meine verehrte Frau Schwiegermutter Brom aus der Hausapotheke in ihr Zimmer getragen ...«

»Ich hoffe, daß doch nicht etwa ...!«

»Keine Spur! Genia hat Nerven wie Stricke. Mama will nur die Form wahren,« lachte der Hauptmann.

»Und der ›Geist‹?«

»Danach fragst du mich? Das ist dein Ressort, mein Lieber!«

Als Cornelius nach beendeter Toilette im Frühstückszimmer erschien, hatte sich der Hausherr hinter seiner Zeitung verschanzt. Er war bei der Begrüßung sichtlich zerstreut.

Frau Irma war ebenfalls etwas geistesabwesend. Ein Zug der Verärgerung lag auf ihren edlen, sonst so majestätischen Zügen.

Gisela knabberte vergnügt an einem Hörnchen und streifte den Gast mit einem schnellen, beobachtenden Blicke. Sie schüttelte ihm die Hand herzlicher, als es Tags zuvor geschehen war: »Eine tolle Nacht, Herr Cornelius! Haben Sie nachher wenigstens noch gut geschlafen?«

Die Festigkeit seines Schlafes konnte er mit gutem Gewissen versichern. Ueber den Grund schwieg er sich vorläufig noch aus. Erst wollte er klar sehen. Vielleicht war es auch verfrüht, die Familie mit seinem Verdachte zu beunruhigen.

Das ältere Ehepaar war wortkarg, Herr von Puttlitz seufzte hin und wieder hinter dem Anzeigenteile einer Zeitung und weihte schließlich seinen Gast, der ihn fragend angesehen hatte, in seine Sorgen ein.

Anna, das zweite Stubenmädchen, war seit gestern abend spurlos verschwunden. Ihr Bett war kaum berührt. Eine mittelgroße Handtasche, in der sie ihre Habseligkeiten verwahrte, fand sich ebenfalls nicht mehr vor. Sie schien also nicht die Absicht zu haben, wieder zu kommen.

Wie lange sie denn im Dienst hier gewesen wäre, wollte Cornelius wissen, dessen graue Augen aufblitzten. Ob nach dieser Richtung nicht irgend eine Aufklärung der rätselhaften Vorgänge im Hause möglich war?

Doch die Verschwundene, die vor einem Monat aus Erfurt gekommen war, hatte ihre Obliegenheiten stets gewissenhaft und ordentlich erfüllt. Nach der näheren Beschreibung, die Cornelius sich in sein Notizbuch aufschrieb, war es ein mittelgroßes Mädchen von 23 Jahren mit einem hübschen, blonden Wuschelkopf. Stets vergnügt, heiter und willig.

»Merkwürdig!« murmelte Cornelius vor sich hin. »Zu dumm, daß ich heute nacht nicht auch die Gemächer der dienenden Weiblichkeit revidiert habe ...!«

»Oh!« machte Frau Irma und legte ihren Kaffeelöffel, mit dem sie nervös gespielt, auf den Tisch.

»Aber das gehört doch ...!« wollte sich Cornelius rechtfertigen, verschluckte aber den Rest dieser Rechtfertigung. Sehr zum Vergnügen der beiden anderen Herren, die sich heimlich anstießen.

Frau Irma lenkte das Gespräch sofort auf ein unverfänglicheres Thema. »Sie können sich denken, Herr von Cornelius, was das Fehlen einer Kraft im Haushalte, der doch nicht klein ist, bedeutet. Wo soll ich in der Eile nur einen Ersatz für das weggelaufene Ding herbekommen?«

Der Gefragte lehnte sich in seinem Stuhle zurück. Um seinen glattrasierten Mund zuckten und spielten kaum merklich tausend Teufelchen. Einen Augenblick dachte er noch nach, dann gab er sich einen Ruck und meinte:

»Ich verstehe vollkommen, gnädige Frau. Dienstboten sind gegenwärtig überhaupt kaum zu bekommen, auch wenn man sie mit Gold aufwiegen wollte. Darf ich mir aber erlauben, ein bescheidenes Angebot zu machen?«

Frau Irma fuhr förmlich in die Höhe. »Sie haben ...?«

»Ich habe nicht. Ich wüßte nur ein junges Mädchen, das vielleicht als »Anna-Ersatz« in Frage kommen würde ...«

»Ist sie denn frei? Was verlangt sie an Lohn? Wann könnte sie antreten?« überstürzte sich die Hausfrau förmlich im Hochschwall der so unerwartet sich bietenden Gelegenheit.

Cornelius lächelte. Wie doch der Wunsch nach einem Dienstmädchen selbst eine majestätische, sonst so hoheitsvolle Schloßherrin von ihrem unsichtbaren Throne herabsteigen läßt! dachte er mit innerem Behagen.

»Der Fragen sind viele, Gnädigste. Ich weiß nur, ganz zufällig fiel es mir ein, daß eine Tante von mir in Berlin, eine ganz alte, liebe Tante, die ich sehr verehre, eine »Perle« besitzt, die sich »verändern« will ...«

»Geben Sie mir die Adresse Ihrer Frau Tante!« bettelte Frau Irma, »ich will sofort an sie schreiben ...«

»Sachte mit die jungen Pferde!« mahnte der Hausherr, »ich denke doch, es wäre besser, Herr Cornelius schriebe selbst an die Dame, die dich doch gar nicht kennt.«

»Darf ich diesen Vorschlag annehmen?« sagte Cornelius erleichtert und erhob sich, »ich will in meinem Zimmer sofort einige Zeilen zu Papier bringen ...«

»Könnten Sie nicht telegraphieren?« drängte Frau Irma.

»Ich möchte Ihr Haus der »Perle« gerne ausführlicher und natürlich in den verlockendsten Farben schildern – Sie wissen: eine moderne »Perle«! – und da würden die Telegrammgebühren ins Ungemessene steigen.« –

In seinem Zimmer warf Cornelius den Schreibblock auf den Tisch, fuhr sich einmal durch die Haare, ergriff seinen Füllfederhalter und schrieb – nicht an eine »liebe, sehr alte Tante in Berlin«, sondern an ein viel jüngeres Wesen in Bernstadt, zu dem er nach dem Inhalt dessen, was seine eilige Feder zu Papier brachte, in ganz besonderen Beziehungen stehen mußte. Denn der Brief lautete:

»Mein liebes, verehrtes Fräulein Hanni!

Schon lange wollte ich Ihnen einige Zeilen zukommen lassen und mich in erster Linie nach Ihrem Befinden erkundigen. Aber verschiedentliche ›Spezialaufträge‹ (Sie wissen schon!) hetzten mich nach jener letzten Varietéaufführung, die Ihnen beinah das Leben kostete, zuerst nach Berlin, dann hierher. Zu guten Freunden. So komisch es für Sie klingen mag: ich stelle hier einem ›Geist‹ nach. Einem richtiggehenden Schloßgespenst. Romantisch, nicht? Die Sache hat aber verschiedene Haken und ich komme bei meinen Untersuchungen nicht vom Flecke.

Nun entsinne ich mich, daß Sie beim Abschiede sagten, Sie wollten nach ›all den gräulichen Ereignissen‹ einige Wochen ausspannen. In der etwas unsicheren Hoffnung, daß Sie mein Schreiben noch in Bernstadt erreicht, mache ich Ihnen einen Vorschlag zur Güte: hätten Sie Lust, hier oben für einige Tage meine Gehilfin zu sein? Ich weiß, daß Sie Mut haben und wenn es sein muß, auch dem Tod ohne mit der Wimper zu zucken ins Angesicht sehen können. Denn, das will und kann ich nicht verheimlichen, ganz ungefährlich ist das Unternehmen nicht. Sie sprachen von ewiger Dankbarkeit, die Sie meiner bescheidenen Person schulden. Darf ich einen Teil davon in Anspruch nehmen?

Auf dem Schlosse ist heute die Stelle eines Zimmermädchens frei geworden. Ich habe – in Gedanken an Sie – der Hausfrau vorgeschwindelt, meine Tante in Berlin habe eine ›Perle‹, die sich verändern wolle. Wie wär's, wenn Sie (dank Ihrer mimischen Verwandlungskunst hervorragend dazu in der Lage) den Posten antreten würden?

Ich darf wohl um telegraphischen Bescheid bitten? Noch eins: einfaches Gepäck und wie gesagt, Typ ›Zimmermädchen‹.

Falls Sie hier oben nach Zeugnissen gefragt werden: meine Tante in Berlin wird sie nachsenden. Ja, man muß als Regisseur an alles denken, damit die Sache klappt.

Mit den besten Grüßen und hoffentlich auf baldiges Wiedersehen

Ihr
Dr. W. Cornelius.

Auf Schloß Unzingen, den 25. August.«

 

Des Briefschreibers Mienen drückten Befriedigung aus, als er den Halter auf das Schreibzeug zurücklegte. Nun noch schnell die Adresse! »Fräulein Hanni Gehse, Bernstadt, Varieté Alberthalle – wenn verreist, bitte nachsenden!«

Er schlug überaus höflich das Angebot der Hausfrau ab, die den Brief durch den jüngeren Diener nach dem Postamt im Dorfe hinabsenden wollte. Bat vielmehr den Freund um die Erlaubnis, eines der Reitpferde für sich satteln zu lassen und saß eine Viertelstunde später im Sattel.

»Ja, ja,« rief er unter dem Torbogen des Hofes zurück, »zum zweiten Frühstück bin ich wieder da!« und huschte in schnellem Trabe zwischen den Hecken des schmalen Pfades der Landstraße zu.

Am Fuß des Schloßberges angelangt, überlegte er, das Zifferblatt seiner Uhr prüfend, einige Sekunden. Ob er direkt nach Bernstadt reiten sollte? Die zwölf oder fünfzehn Kilometer wären auf dem edlen Tiere rasch zurückgelegt gewesen. Doch wozu dieser Distanzritt in der Sonne, deren Strahlen schon reichlich stachen? Den Brief auf dem dörflichen Postamt aufzugeben, widerstrebte seiner vorsichtigen Natur. Ob dort das Postgeheimnis Interessenten gegenüber auch hinreichend gewahrt war?

So wählte er den Mittelweg und setzte sich nach der nächsten Bahnstation in einem schlanken Trabe in Bewegung.

Der weiche Boden, den die federnden Fesseln des Pferdes wie flüchtige Gedanken berührten, versetzten ihn bald in einen Zustand der angenehmen Träumerei und des Wohlbehagens. Und in diesem Zustande kamen und gingen allerlei Gedanken und Stimmungen. Je näher er Bernstadt kam, nahm die Erinnerung überhand an Ereignisse, die ihn noch vor kurzem dort in Anspruch genommen hatten.

»Hanni Gehse!« Ein blonder Wuschelkopf tauchte bei diesem Namen vor ihm auf. Zwei blaue, kecke Augen – aber blasse Todesangst hatte sie für den Bruchteil einer Sekunde verschleiert gehabt. Damals, als die junge Artistin durch den Blick eines verbrecherischen Hypnotiseurs beirrt den sicheren Halt verloren und in die Tiefe gestürzt wäre – wenn nicht ein gewisser Herr aus Breslau jenen Blick zu Schanden gemacht und dem jungen Ding das Leben gerettet hätte. Da hatten jene blauen Augen wieder aufgeleuchtet wie zuvor und in dem Danke, den sie ihrem Retter stammelte, lagen unausgesprochen die Worte: »Nimm alles, was ich habe!«

Da der Herr aus Breslau aber ein kühler, klug abwägender Privatdetektiv und Gentleman war, begnügte er sich mit einem Handkuß – dem ersten, den er einem »Mädel« vom Varieté zukommen ließ – mit einem trotz seiner sonstigen kühlen Gelassenheit etwas verlegenen »keine Ursache, meine Liebe!« und machte einen Strich unter dieses Abenteuer.

Dieser Strich schien aber diesmal nicht so energisch zu sein wie sonst, denn nach kaum vierzehn Tagen, nämlich heute, zog Cornelius die blonde Artistin mit einem schnell zu Papier geworfenen Briefe nicht nur in den Kreis seiner Gedanken, sondern auch in seine allernächste Nähe.

Er nahm den Hut vom Kopfe. Bewegten ihn dabei irgend welche Nebengedanken? Der frische Gegenwind strich ihm um die Stirn. Nein! sagte er halblaut vor sich hin und setzte den Hut energisch wieder auf. Das kam nicht in Betracht. Er war jetzt wieder ganz klar. Es galt nur der Sache, der Aufgabe. Außerdem ...! Ueber dieses »außerdem«! sprach er sich nicht einmal halblaut aus.

Als der bewußte Brief in den leeren Kasten der Bahnstation gepoltert war, atmete er auf.

Nach einer Stunde klapperten die Hufe seines Pferdes wieder über das Pflaster des Schloßhofes.

Er hob die Fußspitzen aus den Bügeln und sah sich suchend um. Ob wohl jemand in der Nähe war, um ihm das erhitzte Tier abzunehmen? Doch keiner der beiden Engelkes ließ sich sehen. Sie waren anscheinend im Hause beschäftigt, die Knechte auf den Feldern ...

Als er kurz entschlossen aus dem Sattel sprang, um sein eigener Reitknecht zu sein, öffnete sich die Tür des Inspektor-Hauses und ein junger Mensch eilte auf den Hof.

»Darf ich Ihnen die ›Grete‹ abnehmen, Herr Doktor? Es scheint niemand zur Hand zu sein ...«

Cornelius maß den anderen mit einem schnellen Blick. Gut geschnittener, städtischer Anzug, dessen Beinkleider in hellen Ledergamaschen steckten. Ein junges, etwas blasses Gesicht mit kleinem, in die Höhe gezwirbelten dunklen Bärtchen. Verlegenheit sprach aus den nicht unangenehmen Zügen.

Der Reiter stutzte einen Augenblick, dann stellte er sich mit einer knappen Verbeugung vor: »Doktor Cornelius!« – man konnte doch nicht wissen.

»Kühenmann!« sagte der andere mit einer hastigen Verbeugung, die keinen großstädtischen Schliff verriet.

»Ah!« lachte da der Detektiv, »der Sohn des Hofmeisters! Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Wohl auf Besuch bei dem Herrn Papa?«

»Sehr richtig. Ich ...« Kühenmann junior machte sich mit abgewandtem Gesicht an den Zügeln der »Grete« zu schaffen, »ich bin zum Besuch hier«.

Er führte das Pferd vorsichtig über die Schwelle in den Stall, während Cornelius auf dem Hofe stehen blieb. Sieh mal einer an! dachte er, da ist ja noch eine Mannsperson vorhanden, von der ich bisher nichts gewußt habe. Das Anwesen ist doch recht weitläufig.

Im Frühstückszimmer standen geleerte Gläser und Tassen auf dem Tisch. Nur die beiden Wirte, Herr und Frau Puttlitz, waren noch anwesend. Er über einem dicken Wirtschaftsbuche. Sie am Fenster, durch das sie mit einem abwesenden Blick ins Freie sah.

»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung!« sagte Cornelius beim Eintreten. »Ich sehe, ich habe mich unliebsam verspätet.«

Herr von Puttlitz meinte aber, zu einem Glase Madeira und einem Happenpappen komme man nie zu spät, und nötigte seinen Gast zu diesen Genüssen. »Wir essen heute sowieso etwas später zu Mittag.

Lassen Sie sich also das zweite Frühstück auf keinen Fall entgehen. Eine altmodische Bezeichnung, die mir aber trotzdem noch besser klingt, als das fremdländische »Lunch«. Zweites Frühstück hat etwas ausgesprochen behagliches und gibt zu verstehen, daß man ein erstes schon hinter sich hat,« scherzte er wohlgelaunt.

Und Cornelius gab durch Gesten zu verstehen, daß er nicht nur ein solches, sondern auch einen scharfen, appetitreizenden Ritt hinter sich habe.

»Nun?« machte nach einiger Zeit Frau von Puttlitz.

Der Tafelnde verstand dieses langgedehnte »nun« und konnte mit bestem Gewissen versichern, daß er das Seinige getan habe, um der Hausfrau möglichst schnell wieder zu einem Stubenmädchen zu verhelfen. Nebenbei erfuhr er durch geschickte Fragen über den jungen Kühenmann folgendes:

Der Zweiundzwanzigjährige besuchte ein Technikum (sehr zum Stolze des Vaters), brauchte aber bei diesem »Studium« ziemlich viel Geld (was dem Vater weniger gelegen kam). Während der Ferien war er zu Hause, das heißt im Inspektorhause. Man wußte aber, daß er hin und wieder kleine Spritztouren nach Bernstadt hinüber machte, nach deren Abschluß er dann allemal mit verdrossenem, blassem Gesicht auf dem Hofe herumstrich, während der alte Kühenmann sichtlich verärgert seiner Arbeit nachging. Die Knechte und Mägde hatten an solchen Tagen es nicht leicht, den alten Herrn zufrieden zu stellen.

Dies war in kurzen Zügen der »Steckbrief« Bruno Kühenmanns. Cornelius prägte sich, äußerlich mit dem knusprigen Flügel einer jungen Taube gar emsig beschäftigt, die Einzelheiten scharf ins Gedächtnis ein.

»Und Ihr Fräulein Tochter?« fragte er dann und legte Gabel und Messer hin.

»Hm!« brummte der Hausherr, schien aber nicht gewillt, sich weiter über seine jüngere Tochter auszusprechen. Er schielte nach deren Mutter.

Diese richtete ihren Oberkörper kerzengerade auf und meinte, Genia werde zu Mittag wieder sichtbar werden. Sie solle sich auf ihrem Zimmer von den Aufregungen der vergangenen Nacht noch etwas erholen. Dauernder Schaden sei aber nicht zu befürchten, denn sie habe vorhin geklagt, daß auf dem Schlosse absolut keine Sahnenbaisers zu beschaffen seien. Diese Ansicht teilte Cornelius mit stiller Befriedigung, als er auf dem Wege nach seinem Zimmer der »Kranken« begegnete, die einer Schildwache gleich dort vor der Tür auf und ab ging und mit einem halb unterdrückten Ausruf der Freude auf ihn zustürzte.

»Na endlich!«

»Sehr richtig. Aber mir scheint, als ob Sie auf mich gewartet hätten?«

Dies stellte sich auch als richtig heraus. Genia hatte, von der Mutter vorsorglich in ihr Zimmer eingeschlossen, dieser Maßregel gespottet und war kurz entschlossen zum Fenster hinausgeklettert und über eine schmale Holzgalerie auf den Korridor gelangt.

In erster Linie müsse sie doch Cornelius ihren Dank dafür abstatten, daß er den »Geist« von der weiteren Verfolgung abgehalten habe. (Cornelius lehnte diesen Dank mit einem kleinen, etwas verlegenen Lächeln ab). Dann aber sei es doch höchste Zeit, daß sie ihrem »Kollegen« Bericht erstatte über die Wahrnehmungen, die sie in der Nacht gemacht habe.

»Ich kann doch einen Augenblick in Ihr Zimmer treten? Hier zwischen Tür und Angel, wo Mama jeden Augenblick um die Ecke auftauchen kann, geht es doch nicht gut. Schicken tut sich ja heute sowieso nichts, was ich mache. Also nehmen wir dies ruhig vollends mit auf mein Schuldkonto.«

Was blieb Cornelius anderes übrig, als das kleine Fräulein in sein Zimmer zu bitten?

Und dort erzählte sie folgendes:

Die Abendunterhaltung über die sympathische »Membrane« hatte sie nicht schlafen lassen. So war sie nach Mitternacht in den Turm gehuscht und hatte tatsächlich vor der Tür des Spukzimmers längere Zeit gewartet, um ihre »Membrane« zu »überhören«.

Mit einem Mal war die Tür dieses Zimmers leise geöffnet worden und ein schwacher, grünlicher Lichtschein auf den Treppenabsatz gefallen. Die Sache sei so unheimlich gewesen, daß sie nicht einmal habe aufschreien, geschweige denn ein Glied rühren können. In dem Zimmer aber sei die Gestalt des alten Pottlitz aufgetaucht, in dem goldenen Wams, den grünen Mantel über der Schulter, genau wie das alte Oelbild im Rahmen, das sie am Abend noch betrachtet hatten. Der »Geist« habe sich an allen Wandschränken zu schaffen gemacht und hastig besonders die alten Bücher und Schriften auf den Regalen durchstöbert. Dieses Gebaren sei ihr, der Beobachterin, aber allmählich immer weniger geisterhaft, vielmehr ganz systematisch und beinah »menschlich« vorgekommen, daß sie sich an den unheimlichen Anblick nach und nach gewöhnt, ihr Herz in beide Hände genommen und den kühnen Entschluß gefaßt habe, dem »Geist« entgegenzutreten. Heute begreife sie ihren Mut allerdings selbst nicht mehr, denn das weitere sei furchtbar und rätselhaft gewesen.

Als sie nämlich mit einem schnellen Sprung das Zimmer betreten wollte, sei sie in der Tür oder kurz zuvor von einer unsichtbaren Hand zurückgeschleudert worden. Und aus Entsetzen darüber habe sie laut aufgeschrien. Denn der Geist könne es nicht gewesen sein, der sie berührt habe, denn dieser habe ihr in jenem Augenblick den Rücken gekehrt.

Auf den Schrei hin habe er sich blitzschnell umgedreht, sich zu übernatürlicher Größe aufgerichtet und ihr wütend mit der Faust gedroht. Weiter habe sie nichts gesehen noch gehört, denn sie sei die Treppen herabgesprungen und auf dem oberen Korridor wohl in Ohnmacht gefallen.

Ihr Gesichtchen war während dieser Erzählung blaß geworden und sie atmete schwer.

Cornelius konnte sich seiner tiefen Bewegung kaum erwehren. Langsam wandte er endlich seine Augen von den erregten Mienen des jungen Mädchens und blickte starr zu Boden.

»Das ist allerdings seltsam, ja unheimlich. Vorwürfe wegen Ihres eigenmächtigen Unternehmens zu machen, hierfür bin ich nicht zuständig. Ich glaube aber, Sie sind davon überzeugt, daß unser »Schloßgeist« nichts für junge Damen ist. Und ich kann Sie nur inständig bitten, von heute an Ihre Hand aus dem Spiele zu lassen ...!«

Steifer als er es wollte, öffnete er die Tür seines Zimmers und Genia schlüpfte beklommenen Herzens hinaus.

»Ein fabelhafter Mut!« sagte er drinnen und blickte lange und versonnen auf die Tür, die ins Schloß gefallen war.

Genia aber schlich sich mit gesenktem Kopf über die Galerie in ihr eigenes Zimmer zurück. Dort angelangt, schüttelte sie trotzig ihre blonden Locken und meinte:

»Das hat man nun davon! Anerkennung? 'n bißchen Mitleid? Keine Spur. Wie ein Schulmeister hat er dagestanden, mich runtergemacht und fortgeschickt wie ...« Sie fand den Vergleich nicht, sondern seufzte elegisch: »Ach Gottchen, wie bin ich unglücklich!« und brach unvermittelt in ein bitterliches Weinen aus.

Wenn sie geahnt hätte, wie wichtig die Schilderung ihres Abenteuers für Cornelius war, so wäre ihre Stimmung wohl in das Gegenteil umgeschlagen.

Denn dieser schritt jetzt erregt und angeregt in seinem Zimmer auf und ab.

Neu war vor allem die Tatsache, daß der »Geist« da oben irgend etwas zu suchen schien. Geld? Wohl kaum. Einen Schmuck? Das war möglich. Eine Urkunde? Darauf wiesen seine Bemühungen noch am ehesten hin.

Cornelius notierte sich diese drei Punkte in seinem Büchlein.

Rätselhaft blieb die übernatürliche Einwirkung, welche auch Genia vom Betreten des Spukzimmers abgehalten hatte. Hintze hatte einen derben Schlag vor der Schwelle erhalten – das junge Mädchen war »wie von unsichtbaren Händen« dort zurückgeschleudert worden.

Er klappte sein Buch zu und machte sich sofort daran, das Spukzimmer nochmals einer eingehenden Prüfung zu unterziehen.

Der Fußboden des Treppenpodestes bestand aus regelmäßigen Holzdielen, die fest aufgenagelt waren. Keine Spur von einer Versenkung oder einer Klappe, die etwa hochspringend sich vor die Tür hätte legen können. Wohl zerfiel der Türpfosten in mehrere, durch kunstvolle Schnitzereien getrennte Einzelflächen, bildete aber ein kompaktes Ganzes, wie sich Cornelius sogar unter Zuhilfenahme seiner Taschenmesserklinge überzeugte. Hier war demnach ebenfalls keine Gelegenheit, eine hindernde Zwischenwand vorzuschieben. Eine solche konnte auch kaum vorhanden sein, denn Genia wie Hintze hatten berichtet, daß sie den »Geist« bis zum letzten Augenblick gesehen hatten.

Kopfschüttelnd ließ Cornelius von der Tür und ihrer näheren Umgebung ab und machte sich an die Untersuchung des Zimmers selbst. Bereits dreimal hatte er diese Untersuchung vorgenommen, aber noch jedes Mal war ein »nichts« sein Gefühl gewesen, wenn er diesen von dichten Spinnweben durchzogenen Raum verlassen hatte. Ob ihm heute das Glück günstiger sein würde?

Er zog sein Jakett aus und wischte mit einem mottenzerfressenen Tuche, das in irgend einer Ecke lag, den Staub, der alle Möbelstücke mit einer dichten Schicht bedeckte, hinweg. Mochte immerhin der »Geist« bei seinem nächsten Erscheinen diese säubernden Spuren erblicken!

Spuren dieses »Geistes« waren allerdings in diesem Gelände, das selbst die Eindrücke einer Fliege gierig aufnahm und dem Auge deutlich darbot, zur Genüge vorhanden. Weniger auf dem Fußboden. Dieser war ja in den letzten Tagen mehrfach von anderen Füßen betreten worden. Doch auf der Platte jener schweren, geschnitzten, alten Kommode mit den verschnörkelten Säulen befand sich der Abdruck einer menschlichen Hand mit allen fünf Fingern. Mit funkelnden Augen beugte sich Cornelius darüber, um sich im nächsten Augenblick mit einem gedehnten Ah! der Ueberraschung wieder aufzurichten.

Sein Mann war mit allen Hunden gehetzt – er hatte mit Handschuhen gearbeitet! Cornelius pfiff durch die Zähne. Diese Komplikation behagte ihm. Je mehr Verschlagenheit auf der Gegenseite, desto interessanter das Nachspüren und um so größer der Erfolg, einen solchen Verbrecher überführt zu haben.

Auf leisen Sohlen schlich er sich nach seinem Zimmer zurück und holte aus einem seiner Koffer das Handwerkszeug, das ihm dazu diente, auch die feinsten Gewebespuren in Gips abzugießen und zu konservieren. Bald war diese Arbeit getan und der Detektiv öffnete das verquollene Fenster, um in dem frischen Luftzuge den feuchten Abguß schneller zu trocknen.

Bei dieser Bewegung stutzte er wieder und ergriff mit spitzen Fingern ein kleines, weißes Etwas, das in der Ecke der Fensterbank lag und deren Holz leicht angekohlt hatte. Es war das kaum zentimetergroße Ende einer Zigarette.

»Sieh einer einmal an! Der Geist ist Zigarettenraucher. Ein sehr moderner Geist, das muß ich sagen. Denn zu Zeiten des alten Herrn von Pottlitz gab es, soviel ich mich erinnere, noch nicht derartige Genüsse!«

Cornelius war äußerst aufgeräumt. Die Theorie, daß jeder Verbrecher einmal eine Dummheit macht, die ihm den Hals bricht, hatte sich allem Anschein wieder mit aller Deutlichkeit bestätigt.

Er entsann sich genau, daß er bei dem gestrigen Aufenthalt in diesem Raume der einzige gewesen war, der sich eine Zigarette angebrannt hatte, und diese war von ihm auf dem großen Gutshofe zur Erde geworfen und ausgetreten worden.

Der »Geist« rauchte also bei seiner nächtlichen Tätigkeit. Dann war es entweder ein sehr unbekümmerter Mensch oder aber ein nervöser, der sich durch dieses Narkotikum zu beruhigen trachtete.

Cornelius führte das Restchen vor seine Augen. »Statesman« war auf dem Papier aufgedruckt.

Er lachte vor sich hin. Die Marke und Firma kannte er, ebenso die kleinen, roten Packungen mit dem weiteren Aufdruck: »Westminster, London.«

Nun, ein großer Staatsmann war der jedenfalls nicht, der dieses Ende so unbekümmert bei Seite gelegt hatte, anstatt es in seiner Tasche zu verbergen.

Was aber hatte er in diesem Zimmer gesucht?

Kostbarkeiten nicht. Denn in den Fächern und Schubladen des einen der drei mächtigen Schränke, deren kunstvolle Schlüssel sämtlich steckten, lagen verschiedene goldene und silberne Geräte und altmodische Schmuckstücke. Der Münzsammler regte sich in Cornlius, als er mit der Lupe die Inschrift einer grünspanüberzogenen kleinen Münze prüfte:

»Durch Actjen, Credit, Teich, Lotterie, Gaerten, Kux, Lib'roß, Billetts, Wie auch durch Alchymie kommt man zums liebe Gelt Und weiß so gar nicht wie ...«

Mit einem feinen Lächeln legte er die Spottmünze auf John Law in den Kasten zurück. Das Verschen paßte auch auf die jetzige Zeit. Wie recht hatte doch der selige Ben Akiba!

Doch der »Geist« schien nicht auf die Schätze dieser Welt aus zu sein.

Die alten Schriften und Bücher, die auf den Regalen standen, aufeinander gehäuft in den Schränken lagen, mußten es sein, die sein Auge angezogen hatten. Bei ihrer Durchsuchung war er sonder Scheu und Pietät zu Werke gegangen. Dort war von ihm eine vielhundertjährige Bibel auf den Boden geschleudert worden. Hier in der Ecke hatte er mit hastigen Händen einen Stoß vergilbter Pergamente durchwühlt.

Es gab Cornelius einen Stich durch das Herz, als er eine Urkunde aus dem 17. Jahrhundert aufhob, deren kunstvolles Siegel der Fuß des anderen achtlos zertreten hatte. »Hunne!« sagte er grimmig und seine Augen verhießen nichts Gutes.

Den Gipsabguß in der Tasche, stieg er nach einer halben Stunde die Treppe hinab. Er hatte sonst nichts von Belang gefunden.

Der Hofmeister Kühenmann stand vor dem Kuhstall und stieß rasche Rauchwolken aus der kurzen Pfeife. Eine Kuh kalbte unter regelwidrigen Begleiterscheinungen da drin. Ueberhaupt schien heute alles in die Quere zu gehen. Was sollte man da auch nicht ärgerlich sein? So war er ziemlich kurz angebunden, als Cornelius ihn begrüßte.

»Nun, Herr Kühenmann, haben Sie auch den Schlüsselbund zum Georgenbau heute nacht gut verwahrt, so wie es Fräulein von Puttlitz Ihnen anbefohlen hatte?« versuchte es Cornelius mit einem Scherze.

Der alte Meister brummte und sah den »Jagdgast« von der Seite an. »Was das gnädige Fräulein mir gibt, ist in guten Händen, mein Herr!«

»Sie haben also darauf geschlafen?«

Wieder musterte der andere ihn mit einem mißtrauischen Blicke. »Verzeihen Sie, aber was geht Sie die Geschichte an?« Die Schwierigkeiten im Kuhstalle und sonst noch manches umgaben ihn mit einer Welle des Mißmuts und der Verärgerung. Der »Hofton« in des Wortes eigentlicher Bedeutung war ihm heute jedenfalls ein unbekannter Begriff.

Cornelius schluckte hinunter, was ihm auf der Zunge gelegen hatte, griff an seinen Hut und ging weiter. Die Rolle, die er als fremder Gast in diesen Mauern zu spielen hatte, hinderte ihn zu seinem Mißbehagen, heute zum erstenmal, an einem durchgreifenden Einschreiten und Inquirieren.

Doch da konnte Rat geschafft werden.

Durch eine Türspalte unterhielt er sich wenige Minuten später mit Genia, die noch immer in ihrem Zimmer der Erlösung harrte, und klagte ihr sein Leid.

Er hörte ein Rascheln, das Knistern von Papier und ein schmaler Streifen kam über der Schwelle unter der verschlossenen Tür zu ihm herausgewandert.

»Ausweis! Von allen, die es angeht, zu beachten! Inhaber dieses darf sich überall dorthin begeben und hat das Recht auf Auskunft, wohin ich sonst meinen Fuß setze und was ich selbst fragen würde. Auf Weigerung setze ich Todesstrafe. Gegeben

Genia von Puttlitz.«

Cornelius schmunzelte, als er diesen »Befehl« las. Stilistisch, nicht gerade hervorragend, aber klar und energisch. Dulce et decorum est pro Genia mori! Versuchen wir unser Heil.

Und dieser Passepartout tat Wunder.

Er erfuhr, daß der »goldene Bund« tatsächlich die ganze Nacht in dem rotkarierten Bette des Hofmeisters zugebracht hatte. Er stellte fest, daß Wams und Mantel des alten Pottlitz sich wieder im Schranke der Rüstkammer des Georgenbaues befanden, als ob sie nie berührt worden wären, und er fand durch Vergleichung seines Gipsabdruckes mit einem Paar alter Lederstulpen, die auf dem Boden desselben Schrankes lagen, daß der »Geist« in diesen Lederhandschuhen im Turmzimmer tätig gewesen war. Besonders die eine Nahtstelle am Daumen der rechten Hand war in dem Abguß unverkennbar wiedergegeben.

Doch damit nicht genug.

Bruno Kühenmann, der Techniker, hatte sich am gestrigen Abend in der Küche aufgehalten und großes Interesse an der Bowle gezeigt, die oben im Jagdzimmer von der »Herrschaft« getrunken wurde. Nachdem Cornelius außerdem in Erfahrung gebracht hatte, daß Kühenmann im Schloß nicht gern gesehen wurde, daß er eine Liebelei mit der spurlos verschwundenen Anna hatte, daß man ihn vor vierzehn Tagen auf einer Leiter zu mitternächtiger Stunde aus der im Hochparterre gelegenen Küche hatte steigen sehen, entwölkte sich seine Stirn immer mehr, als er diese Tatsachen seinem Notizbuche einverleibte.

Nun fehlte nur noch der Nachweis dafür, wie dieser Mensch in den Georgenbau gelangt sein und was ihn – außer seinem Bestreben, der verhaßten Herrschaft einen Streich zu spielen – in das Turmzimmer geführt haben mochte.

Wenn diese beiden, noch fehlenden Glieder gefunden waren, schloß sich die Kette und Cornelius – konnte wieder abreisen.

Aber Hanni Gehse, die vielleicht schon auf dem Wege hierher war? Die mußte eben wieder umkehren. Umsobesser. Dann heimste Cornelius allein die Lorbeeren ein.

Und Genia? Wieso Genia? Cornelius schrak bei diesem Gedanken zusammen. Welchen Sinn hatte er ihm unwillkürlich untergelegt? Genia war die Tochter des Hauses, das man von einem »Gespenst« befreit hatte, und der man beim Abschied eben die Hand küßte, wie so üblich. Und dann fuhr man halt nach Berlin zurück, stürzte sich in neue Unternehmungen, und schlug sich ein paar blaue Augen, ein vergnügt winkendes grünes Mützchen aus dem Sinn ...

Cornelius seufzte kurz auf, schloß sein Zimmer ab, in dem er jene »Kette« geschmiedet hatte und begab sich wieder auf den Hof, um dort ziemlich planlos auf und ab zu wandern.

Die »Entbindung« im Stalle war unterdessen vor sich gegangen. Hochroten Gesichts kamen verschiedene Mägde, die Mamsell und zuletzt Bruno Kühenmann heraus. Letzterer brannte sich eine Zigarette an.

Cornelius lüftete den Hut: »Ach, wenn Sie so liebenswürdig sein würden, mir auch etwas von Ihrem Feuer zukommen zu lassen ...!«

»Bitte, mit dem größten Vergnügen!«

Der andere reichte dem Detektiv seine Zigarette. Mit keiner Miene verriet der »Jagdgast«, daß seine scharfen Augen gelesen hatten: »Statesman, Westminster«.

Er tat nur einen tiefen Zug durch die Lunge und meinte dann nachlässig: »Ah, eine englische?«

Bruno Kühenmann bestätigte mit sichtlichem Stolz:

»Ich rauche nur englische.«

»Hm. Das ist aber eine ziemlich gefährliche Geschichte.«

Der junge Techniker sah ihn betroffen an. »Gefährlich? Wie meinen Sie das?«

Cornelius lachte trocken. »Es soll Opium darin enthalten sein ...«

»Und wenn schon!« sagte der andere etwas patzig.

»Ich meine weniger die Bekömmlichkeit, als die Gefahr, daß dem Raucher während des Genusses vorübergehend leicht schwindlig wird, daß er die kühle Ueberlegung verliert, sich in eine gewisse Sorglosigkeit einschläfern läßt ...«

»Wenn ein solches Stadium mir aber angenehm wäre, wenn ich es suchte ...?«

»Das ist Geschmackssache,« versetzte Cornelius achselzuckend, »für mich wäre es nichts«.

Er drehte sich auf dem Absatze herum. Die Kette schien sich zu schließen. Doch noch war es zu früh, um zuzupacken. Der andere sah ihm mit ironischem Lächeln nach.

*


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