Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6. Kapitel.

»Menschenskind! Du hast aber einen Schlaf! Und was schreist du denn so erschrecklich?« In der offenen Tür stand Hauptmann Hintze und blickte lachend den Freund an, der ganz verstört auf seinem Lager saß und sich die Augen rieb, »bei dir kann man ja klopfen – die Toten würden erwachen!«

»Gott sei Dank!« sagte da der andere und gab einen schweren Seufzer von sich, »bitte sprich noch ein bißchen weiter, damit ich merke, daß du ein richtiger Mensch bist. Ich glaube, ich habe scheußlich geträumt,« bekannte er dann mit einem schwachen Lächeln.

»So siehst du aus, ganz verdaddert. Gar nicht wie ein »Detektiv«, aber gar nicht. Wenigstens habe ich die mir bisher anders vorgestellt. Und gestern warst du doch noch ganz normal.«

»Danke! Das hat gut getan. Jetzt bin ich wieder auf der Erde. Sie hat mich wieder. Aber was willst du denn so früh am Tage?«

Hintze zog die Uhr. Mit feierlicher Gebärde.

»Es ist acht Uhr. – Die Pferde sind gesattelt, Euer Gnaden.«

»Reiten?!« schrie der Herr im Nachthemd und sprang mit beiden Beinen aus dem Bette, »hei, fein!«

»Nun?« sagte Hintze, als eine Stunde später die beiden Freunde auf den edlen Pferden des Hauses Unzingen in kurzem Trabe dem nahen Walde zustrebten, »nun, wie steht's denn in Berlin mit der Reiterei?«

»Schauderbar! Wenn nur die Kriegsgewinnler nicht auch noch auf die Idee verfallen wären, sich dem Volke hoch zu Roß zeigen zu wollen.«

»Das muß für ein altes Kavalleristenauge allerdings schauderbar sein!«

»Die alten, guten Familien so vom Grunewald zum Beispiel nehme ich natürlich aus. Da kann man in der Frühe hin und wieder wirklich mal eine gute Fessel und eine gute Haltung sehen ...«

»Pferdefessel, meinst du doch wohl?« schielte der Hauptmann über die lange Nase nach dem Freunde hinüber.

»Auch das,« gab dieser lächelnd zurück.

Zur Linken winkte ein eben abgeerntetes Feld. Die Gäule hoben die Köpfe und stellten die Ohren.

»Aha! Die Ludersch merken was. Wie wär's mit einem kleinen Tribünengalopp? Aber Vorsicht ... zwischen den Pappeln kommt ein Dreimetergraben!«

Cornelius nickte nur kurz mit dem Kopfe, nahm die Zügel straffer und hei! da jagten auch schon die Tiere in gestrecktem Galopp dicht nebeneinander über die Stoppeln.

Die Bäume der Landstraße zur Linken huschten vorüber, die Felder zur Rechten kreisten strahlenförmig, gelb, grün ...

Der Rappe, den Cornelius zwischen seinen Schenkeln hatte, schäumte im Gebiß. Weiße Flocken flogen durch die Luft. Die Augen des Reiters glänzten. Seine Brust weitete sich. Da tauchten auch schon die Pappeln auf. Pfeilschnell schienen sie entgegen zu fliegen.

»Hei!« rief der Reiter halblaut, gab den Kopf des Rappen frei und setzte über das Hindernis.

Das Tier kam drüben gut an. Da – ein Ruck!

Cornelius flog in weitem Bogen über den Hals seines Tieres.

Er fühlte noch den eigenen, schweren Zusammenprall mit der Erde, hörte einen bestürzten Ausruf hinter sich, dann schwanden ihm die Sinne.

Als er nach einigen Minuten wieder zu sich kam, sich mit schmerzenden Gliedern und dröhnendem Kopfe aufrichtete, blickte er in das angstvolle Gesicht des Freundes, der vor ihm kniete und ihm das wohl vom Wasser des Grabens getränkte Taschentuch über die Stirn legte.

»Ich danke dir, Lebensretter!« sagte er leise, »ich glaube, ich bin beinah »hopps« gegangen. Wie ein blutiger Anfänger.«

»Gott sei's gedankt, daß du wenigstens wieder reden kannst,« atmete der andere auf. »Ich bekam einen furchtbaren Schreck, als du so vor mir durch die Luft segeltest ...«

»Pégoud ... Kopp nach unten, was?«

»Mach jetzt noch lieber keine Witze,« bat Hintze ernst, »fühlst du dich irgendwo verletzt?« Er tastete den Körper des anderen ab.

»Irgendwo? Das ist gut. Ueberall. Du kitzelst mich übrigens. Laß lieber deine Samariterdienste. Sieh mal, die Arme kann ich schon heben. Die Schlüsselbeinerchen, die Achillesferse des Kavalleristen, machen noch mit.« Er erhob sich schwerfällig. Bloß der Kopf! Aber der ist ja nicht der edelste Teil des Menschen, sagt man immer. Sag mal, sind meine Augenbrauen verbrannt?«

»Verbrannt?«

»Nicht? So, dann ist es gut. Ich dachte nur. Weil mir nämlich so das Feuer aus den Augen schlug.«

Der Freund sah ihn mitleidig an. Sollte sein Geist nicht doch gelitten haben? Denn daß ein Mensch, der so lange bewußtlos gelegen, schon wieder so »blutige« Witze machen könnte, wollte ihm nicht einleuchten.

»Wenn ich nur wüßte, wie ich dich nach Hause brächte!« sagte er ratlos.

»Nach Hause bringen?« wiederholte Cornelius erstaunt und sah sich um, »wo ist denn mein liebes Hottopferdel? Denn ich entsinne mich dunkel, daß ich nicht zu Fuß hierher gekommen bin.«

»Du willst tatsächlich ...?«

»Sehr richtig. Tatsächlich will ich.« Cornelius bemühte sich, möglichst elastisch auf seinen Rappen zuzugehen, der fröhlich und unbekümmert an der einen Pappel herumknabberte. Die Zügel schleiften am Boden.

Bekümmert betrachtete Cornelius dieses an sich so friedliche Bild. »Blamiert wie ein Sonntagsreiter!« sagte er vor sich hin, »das verstehe ich nicht!«

Plötzlich stutzte er. Ein halblauter Ausruf der Ueberraschung entfuhr ihm: »Jetzt verstehe ich manches!«

Am Sattel hing nur noch ein Steigbügel. Der andere war gerissen. Er lag dort, wo der Unfall sich ereignet hatte. Cornelius ging etwas steifbeinig nach dem Graben zurück und suchte. Bald fand er Bügel nebst Riemen. »Hm!« brummte er vor sich hin, »alles in Ordnung, da muß der Fehler wo anders liegen.«

»Bedächtig wog er den Bügel in der Hand, als er zu dem Pferde zurückging. Hier hob er das Leder des Zwiesels, um den Bügel an der linken Trachte wieder zu befestigen. Da zuckte er zusammen und pfiff leise vor sich hin. Er mußte eine Entdeckung gemacht haben, die ihn betroffen machte. »Aha, man ist schon am Werk!«

»Wer ist am Werk?« fragte Hintze erstaunt, der näher getreten war und die halblaut gesprochenen Worte vernommen hatte.

»Habe ich etwas gesagt?« meinte der verunglückte Reiter, »lege nicht alles auf die Goldwage. Ich komme allmählich schon wieder zu klarer Besinnung. Jedenfalls stelle ich fest, daß die Fortsetzung unseres Morgenrittes für mich kein ungeteiltes Vergnügen mehr sein wird. Ich kann den Bügel nicht mehr benützen, das Ding da oben ist kaputt ...«

Der andere betrachtete kopfschüttelnd das »Ding da oben«, nämlich die Metallöse, die zur Befestigung des Bügelriemens diente und die gerissen war. Als Besitzer von Tier und Zubehör war ihm die Sache natürlich sehr unangenehm. Er stammelte einige verlegene Entschuldigungen. Doch Cornelius wehrte mit der Hand ab.

»Bitte, laß. So etwas kann bei dem Ersatzzeuge von heute leicht passieren. Es ist ja nicht der Rede wert.«

Er schwang sich trotz des fehlenden Bügels, den er in die Tasche gesteckt hatte, leicht in den Sattel und meinte:

»So! Wollen wir wieder weiter? Mit dem einen Beine hänge ich allerdings in der Luft ...«

»Besser, als damit im Grabe stehen,« scherzte der Hauptmann und bestieg auch seinen Fuchs wieder.

Wenn er in diesem Augenblicke hätte das Gesicht des Freundes sehen können, so hätte ihn dieser Anblick wahrscheinlich in höchstem Maße betroffen gemacht. Denn dieses Gesicht drückte mit den funkelnden Augen und dem vorgeschobenen Unterkinn Ingrimm und erhöhte Wachsamkeit aus. Er hatte die Wahrnehmung gemacht, daß ein anderer ihm auf der Spur war.

Bald umfing sie die dämmernde Kühle des Buchenwaldes, der sie wie ein Dom vor den allmählich immer mehr stechenden Strahlen der Sonne da draußen schützte. Nur einzelne Sonnenflecke lagen wie gleißendes Gold auf dem weichen, dunklen Untergrunde. Dann wurde der Weg wieder breiter und gestattete ein Nebeneinanderreiten.

»Sag mal, Curt,« begann Cornelius träumerisch, »hast du schon einmal das Gefühl gehabt, mit einem Fuße im Grabe zu stehen? Du gebrauchtest wenigstens vorhin dieses liebliche Wort.«

Hintze sah ihn überrascht an. »Aber, Bester, wir waren doch einige Jährchen im Felde zusammen, dort, wo meistens »dicke Luft« war ...!«

»Nicht so. Das ist ein Kapitel für sich. Da wußte man wenigstens, daß der böse Feind gegenüber einem pflichtgemäß nach dem Leben trachtete, so wie wir ihm. Wobei man allerdings Ratespiel machen konnte, ob der Tod durch Blei, Eisen oder Gas vorzuziehen sei. Das meine ich nicht. Schalte einmal den Krieg aus. Hast du sonst einmal jenes Gefühl gehabt ...?«

»In seligen Friedenszeiten? Nee! Aber ... Weshalb bist du auf einmal so trübetimplig? Der Sturz vorhin ist dir also doch auf die Nerven gegangen ...«

»Der Sturz nicht. Da kannst du dich beruhigen. Lassen wir überhaupt dieses Thema. Ich würde dich auch bitten, nichts zu Hause davon zu erwähnen ...«

»Selbstverständlich!« versicherte Hintze, der annahm, daß die Erwähnung des kavalleristischen Mißgeschicks seinem Gaste peinlich sein würde.

Dann brannte er sich eine Zigarette an, da er sah, daß Cornelius nachdenklich an einer beinahe zu Ende gerauchten zog.

»Danke, ich habe schon Feuer, wie du siehst.«

»Erzähle doch ein bißchen von der Landwirtschaft,« sagte Cornelius nach einer Pause, in der jeder seinen eigenen Gedanken nachgehangen, »ich bin als Großstädter bei euch da draußen das bekannte »Grünhorn«, das Mühe hat, die Getreidesorten auseinander zu halten.«

Hintze rückte sich im Sattel bequem, legte die Zügel auf den Hals seines Fuchses, der mit vorwärts gestrecktem Kopfe lammfromm elastisch ausschritt, und schilderte wortreich und angeregt durch die verschiedenen Zwischenfragen des Freundes die Freuden und Leiden des modernen Landwirts.

»... und abends sitzt ihr dann, du und der alte Herr, wenn die Damen sich zurückgezogen haben, wohl noch ein oder zwei Stündchen beisammen und liebäugelt mit irgendeiner ründlichen Flasche ...?«

Hintze antwortete nicht. Ihn schien etwas anderes abzulenken. Er nahm die Zügel auf und hielt sein Pferd an.

Der Wald hatte sich gelichtet. Die beiden standen auf einer kleinen Anhöhe, von der ihr Blick durch die letzten Stämme über ein in goldgelber Reife stehendes Feld nach der in der grellen Sonne liegenden Landstraße schweifte.

Und auf einen Punkt dort drüben starrte der Hauptmann, indem er sich leicht im Sattel aufrichtete.

»Was hast du denn,« fragte Cornelius und bemühte sich, den Blicken des anderen zu folgen, »krebst denn da gar unser Bock herum?«

»Bock is jut!« berlinerte Hintze, »Kitze wäre richtiger. Das aber nur unter uns gesagt. Denn wenn sie den Ausdruck erfährt, kommen wir in Deibels Küche!«

»Ich verstehe nicht. Ich kann nur eine Staubwolke erkennen. 's wird wohl nichts Rechtes dahinter stecken ...«

Hintzes Kopf fuhr zu ihm herum. Seine Augen lachten übermütig. »Freundchen, das wirst du am Kreuze bereuen. Ich bin ja auch deiner Ansicht. Aber sie dürfte anders darüber denken, schätze ich. »Nichts Rechtes!« Das ist einfach ... na, ich finde keine Worte.« Er lachte unbändig.

Cornelius, der immer nur eine Staubwolke auf der Landstraße erkennen konnte, war über diese grundlose Heiterkeit ärgerlich. Er dachte aber, daß Schweigen jetzt wohl der Klugheit besserer Teil sei, und hatte das Gefühl, sich irgendwie vergaloppiert zu haben. Ein Galopp war heute morgen ja schon einmal unglücklich verlaufen.

Aus der Staubwolke schälte sich allmählich ein Gefährt heraus und man erkannte hinter dem Kutscher, an dem Cornelius mit stillem Schauder die Uniform des Schlosses Unzingen feststellte, eine Dame.

Eine Dame, die noch jung sein mußte. Und wieder überlief Cornelius ein gelinder Schauder. Denn er wußte, daß junge Damen immer etwas »Rechtes« sind oder wenigstens zu sein glauben.

Nun schien sein Gefährte die Dame erkannt zu haben; denn er stieß einen gewaltigen Jodler aus und setzte sich zwischen den Stämmen hindurch in rasche Bewegung: »Sie ist's!«

»Sie ist's,« wiederholte Cornelius beklommen und folgte, langsamer und mit dem linken Fuße schlenkernd. Dieses Schlenkern drückte drastisch seine Gefühle aus. Und die sagten: warum soll sie es auch nicht sein? Ich habe zwar keine Ahnung, wer diese »sie« ist. Aber es ist immerhin eine sie, die mein Freund kennt, die ihm womöglich sehr nahe steht, und die ich Harmloser als ein »nichts« bezeichnet zu haben mich erkühnte. Woldi, Woldi! Dein einstiger Bursche, der Aloisel Hintertupfer aus Aibling, der hätte in einer solchen Situation wohl gesagt: »blamiert bis auf die Knochen«. Hoffentlich hält der Hintze dichte, sonst lasse ich Schloßgeist Schloßgeist sein und ...

Aber der Freund schien doch nicht so ganz reinen Mund gehalten zu haben, denn der bekümmerte Nachzügler, der gerade vorsichtig das Getreidefeld umritt – vielleicht etwas zu behutsam, um ja keinen Halm niederzureiten – hörte von der Straße her jetzt ein übermütiges, silbernes Lachen. So reizend dieses Lachen klang, es gab ihm doch einen Stich ins Herz.

Da hatte er endlich die Straße erreicht und setzte seinen Rappen in Trab, da er das Gefühl hatte, daß man immerhin auf ihn warte. Der Trab war aber auf der harten Straße kein allzu eleganter, zumal er des fehlenden Bügels wegen deutsch traben mußte.

Als die gegenseitigen Staubwolken sich gelegt hatten, beschien die helle Morgensonne folgendes Bild:

Hinter dem Kutscher, der sich als Engelke senior entpuppte, stand im Wagen eine junge, bildhübsche Dame, deren zurückgeschlagener grauseidener Staubmantel ein Reisekostüm sehen ließ. Um den frischen, roten Mund spielte ein Lächeln, das der aufmerksame Betrachter als leicht spöttisch bezeichnet hätte. Hinter ihr auf seinem Pferde äußerst aufgeräumt der lange Hauptmann, der sich fortgesetzt mit der mageren Hand das Kinn rieb. Und vor den beiden, erhitzt, mißgelaunt und instinktiv mit dem linken Beine nach dem Steigbügel angelnd, der aber in seiner Rocktasche steckte, der Privatdetektiv aus Breslau. Der Hut noch vom Sturze her leicht zerdrückt. Im Aermel des verstaubten Rockes ein Loch, auf das die hämischen Sonnenstrahlen sich mit ausgesuchter Rücksichtslosigkeit stürzten. Nur das Monokel im linken Auge saß noch fest und bemühte sich, dem peinlichen Drumrum wenigstens etwas Würde zu verleihen.

Und an diesem Monokel blieben die Augen der jungen Dame bei ihrer eingehenden Musterung hängen.

Auf einmal schien ihr eine Erkenntnis zu kommen.

»Hi!« lachte sie und strahlte über das ganze Gesicht, »das ist ja der Herr, der sich das Jlas ins Auge jetreten hat!«

»He?« machte der Reiter hinter ihr erstaunt, und sein Pferd trat einen Schritt vor.

»Das gnädige Fräulein vom Wannseebad!« aber sagte der andere Reiter entsetzt, und sein Pferd trat einen Schritt zurück.

»Die Herrschaften scheinen sich zu kennen?« faßte sich Hintze als erster wieder, da die beiden andern sich noch immer anstarrten, »da brauche ich wohl gar nicht erst vorzustellen, immerhin ist dies mein Freund Cornelius und das da meine geliebte Schwägerin Genia.«

Die Saaten drehten sich um den Gentleman aus Breslau, der in diesem Augenblicke aber wie ein Sonntagsreiter nach dem ersten Sturze dreinblickte und wünschte, daß der Neumond am Himmel stünde oder daß er wieder in einem Granattrichter in Flandern läge.

»Wir wollen uns doch wenigstens guten Tag sagen, wenn Sie mein Anblick auch nicht gerade zu freuen scheint.«

Eine sehr kleine, aber anscheinend sehr energische Hand, die in grauem Wildleder Nummero sechs steckte, erschien vor seinen Augen. Er beugte sich darüber und bemerkte erst bei dieser Gelegenheit, daß sein eigener Handschuh geplatzt war. Schnell zog er die Hand zurück und steckte sie in die Tasche.

»Sie sind weder sehr höflich, noch sehen Sie heute so pikfein aus, wie vor ein paar Tagen am Wannsee,« bemerkte die junge Dame mit dem Freimut ihrer 17 Jahre.

Da glaubte ihr Schwager, endlich einspringen zu müssen.

»Aber Genia! Herr Cornelius hat einen äußerst unangenehmen Sturz hinter sich, am Walde drüben ...«

»Richtig gehend vom Hottehü jefallen? Is de Möglichkeit!« Neugierig und jetzt reichlich von oben herab – in des Wortes doppelter Bedeutung – betrachtete sie den Aermsten, der ihren Blicken mit einem verlegenen Lächeln begegnete. Er, der in seinem Leben schon hundertemal vor Großen gestanden, der bei seinen Feinden in dem Rufe eines nicht zu verachtenden Gegners stand, der dem Tode mehr als einmal ins Auge gesehen, unter den Strahlen dieser kühl und kritisch abwägenden Jungmädchenaugen überkam ihn das Gefühl: der ist nichts vorzumachen!

Zunächst nahm er instinktiv sein Augenglas ab und steckte es in die Tasche. Warum er dies tat, war ihm nicht so recht bewußt. Vielleicht war es weniger der Aerger über den Spott über dieses ihm bisher als unentbehrlich erscheinende Requisit, als die Erkenntnis, daß eben dieses Requisit doch nicht auf alle Menschen dieser Welt Eindruck machte. Ueberdies war sein linkes Auge von anerkannt vorzüglicher Sehschärfe.

»Sehen Sie!« vernahm er nach dieser Selbstkasteiung, »jetzt kommen Sie mir gleich viel weniger ...« »affig vor« hatte die Maid sagen wollen, verschluckte diese Kritik aber noch schnell, zur rechten Zeit.

»Aber Genia!« ließ sich wieder die Stimme ihres Schwagers hören, der mit stillem Entsetzen die einigermaßen herablassende Behandlung des von ihm so hoch verehrten Freundes hatte mit ansehen müssen. »Ich finde dein Benehmen ... na! Und was hast du dir denn in den letzten fünf Wochen für einen entsetzlichen Dialekt angewöhnt? Vordem war doch dein gutes Thüringer ganz unverkennbar!«

»Pah!« machte die Gescholtene ohne Reue, »was ist denn überhaupt Thüringen? Ein überlebter Raubstaat von anno eins her, als de Elbe brannte und se die Bauern mit Stroh löschen wollten. Mit Stroh, hör gut zu, lieber Schwager und laß deinen Fuchs in Ruh, er ist ja ganz artig. Und Bauern hab ich auch gesagt. Wer wie ich fünfzig Tage, nicht fünf Wochen – dein Kalender scheint in eurem ländlichen Stillleben da oben stehen geblieben zu sein – vom Strudel der weltbewegenden Großstadt verschlungen war ...«

»O Gott!« machte Hintze und sah ganz erschüttert drein.

»Vom Groß der Strudelstadt verschlungen war,« wiederholte, sich verheddernd, das kleine Fräulein in seinem Eifer und suchte nach einer schwungvollen Fortsetzung, fand sie aber nicht gleich, weshalb sie schloß: »mit mir fangste jedenfalls nich an. Im übrigen durschtert's mich jetzt allmählich und der Senior macht ooch schon so 'nen mißvagniegten Buckel. Denn man los!«

Die beiden Herren hatten gegen diesen Vorschlag nichts einzuwenden, und so setzte sich die Kavalkade auf Unzingen zu in Bewegung.

Cornelius machte Miene, als höflich erzogener Mann zur Linken des Wagens zu reiten, ein Wink des Freundes hielt ihn aber davon ab. »Brich dir wegen dem Jör um Gottes willen keine Verzierungen ab, um in dessen Jargon zu reden. Soll erst mal ein bißchen zur Einkehr kommen. Ich schäme mich vor dir tatsächlich wegen dieser schnoddrigen Range. Was wirst du denken ...!«

Cornelius bog sich zu ihm herüber: »Offen gestanden: ein ganz reizender Käfer, wenn ich deine Schwägerin als »Käfer« bezeichnen darf ...«

»Darfst du ruhig, mir gegenüber. Immerhin ein Plus gegen dein wegwerfendes »nichts Rechtes« von vorhin.«

»Ich bitte dich um alles in der Welt, die junge Dame ist sogar etwas sehr Bedeutendes, ich kam mir diesem Wesen aus der »Strudelstadt« gegenüber wie ein Waisenknabe vor.«

Beide lachten herzlich. Und bei diesem lauten Lachen wandte das Fräulein vor ihnen den Kopf. Man sah ein keckes Profil, um dessen Mund jedoch ein unsicherer Zug spielte. Galt das Lachen etwa ihr? Oh, das wäre nicht gentlemanlike. Mit einem Rucke der Empörung verschwand das Profil sofort wieder.

Jetzt ging's den steilen Schloßberg hinan. Engelke senior saß unbeweglich und unbewegt auf seinem Bocke.

Die wortgewandte kleine Reisende war längst verstummt. Eine nachdenkliche Falte saß über der weißen Stirn, und die roten Lippen waren fest aufeinandergepreßt. Aergerte sie sich über ihre eigene Schnoddrigkeit von vorhin? Dieser junge Herr – war er denn überhaupt noch so jung, wie es schien? Daß die Männer von heute sich auch so glatt rasieren, da hat man gar keinen Anhalt! – dieser Herr war doch immerhin der Freund ihres Schwagers und Gast bei ihren Eltern. Ach was! beruhigte sie sich schnell, was braucht er auch vom Pferde zu fallen, gerade wenn ich meinen Einzug halte. Da ist er selbst daran schuld, wenn ich in ihm nicht einen Siegfried sehe. Denn so was bilden sich die Männer ja ein.

Trotz dieser wegwerfenden Weltweisheit zuckte das kleine Fräulein aber immer leicht zusammen, wenn hinter ihr wieder jenes heitere Gelächter ihrer »reisigen Trabanten« erklang.

Allmählich verstummte aber auch diese Unterhaltung – auch »reisige Trabanten« pflegen eine trockene Kehle gegen Mittag zu bekommen – und so langte man denn endlich oben an.

»Uff!« machte Genia und sprang mit beiden Füßen zugleich aus dem Wagen, stürmisch umheult von einem Rudel Terriers, die aus dem Schatten des Stalles auf sie zustürzten.

»O weh,« sagte Cornelius leise, als er von seinem Rappen herunterglitt. Jetzt erst merkte er, wie ihm jeder Knochen von dem Sturze schmerzte.

»Junior!« rief der Hauptmann mit schallender Stimme über den Hof, »wo steckt denn der Kerl?«

Doch da kam der Gesuchte auch schon aus der zu ebener Erde gelegenen Küche gerannt und fing geschickt die ihm zugeworfenen Zügel seines Herrn auf. »Hier, kümmere dich vor allem um den Herrn Doktor, dem ist unterwegs ein kleines Malheur passiert. Bring das Zeug in Ordnung und halte reinen Mund!«

Der Ton des Hauptmanns klang ärgerlich.

Der Diener trat auf den Rappen zu und zog die Augenbrauen hoch. Dann streifte er mit einem Blicke den Verunglückten, so mit einem Blicke, der zu sagen schien: das ist uns allerdings noch nicht passiert. »Haben Herr Doktor den Bügel ...?«

Der Gefragte zog ihn aus der Tasche und hielt ihn dem Junior wortlos hin.

Der Diener stutzte, sah schärfer hin und machte: »Ft!«

»Ft!« meinte der Reiter, »was wollen Sie damit sagen?«

»Kaputt.«

»Sehr richtig,« lachte Cornelius, »das hab' ich auch bemerkt.« Dann folgte er den beiden andern, die der Treppe des Seiteneinganges zuschritten. Als er von der Diele her die Laute einer überaus stürmischen Begrüßung der Familie Puttlitz vernahm, schlug er sich schnell in die Büsche, das heißt, er benutzte die Hintertreppe, um ungesehen sein Zimmer zu erreichen. Denn salonfähig sah er nicht aus.

»Im Gegenteil!« konstatierte er oben, als er seine reduzierte Erscheinung in dem großen Ankleidespiegel musterte. »Wie ein Strauchdieb und gar nicht wie ein Kavalier aus der weltbewegenden Strudelstadt, wie das kleine Fräulein sehr richtig bemerkte. Uebrigens eine Krabbe mit Stacheln – oder eine Rose mit Dornen? Wo sie wohl ihr grünes Mützchen haben mag? Der kecke Jockeyhut stand ihr ja auch ganz niedlich, aber über mein grünes Mützchen geht mir doch nichts ...« Unter solchen Selbstgesprächen stellte er allmählich den eleganten Dr. Cornelius wieder her. Mit einem Male erschrak er vor sich selbst.

Eine flüchtige Röte zog über seine Stirn. Und »altes Kamel!« sagte er mit entschiedener Betonung.

In diesem Augenblicke klopfte es an die Tür.

»Kann ich dich mal stören?« fragte draußen eine Stimme.

»Immer rein, wenn's kein Gerichtsvollzieher ist!«

Hintze stand auf der Schwelle. »Du bist allein?« sagte er erstaunt.

»Wieso nicht?«

»Du sprachst doch eben mit jemandem ...«

Der andere lachte. »Nur mit meinem besseren Ich. Ich habe neben meinem Aeußeren auch mein Inneres ein wenig wieder ins Gleichgewicht gebracht. Du gestattest doch, daß ich mich in deiner Gegenwart rasiere?«

»Um Himmels willen, weshalb auf einmal so höflich?«

Cornelius schlug bedächtig Schaum. »Seit so viele Damen unter diesem Dache weilen ...«

»Hör mal, Woldemar. Ich wäre nicht erstaunt, noch würde ich mich wundern, wenn du auf meine Schwägerin böse wärst ...«

»Böse? I gar! So ein reizendes junges Mädchen – es kann uns doch niemand hören? – Ich habe vor diesem Spiegel hier fortwährend mit dem Kopfe genickt, zu dem nämlich, was sie mir auf der Landstraße versetzt hat.« Mit breiten Strichen trug er den Schaum auf.

»Ich habe sie soeben ins Gebet genommen, ihr Vorwürfe wegen ihres unqualifizierbaren Benehmens gemacht ...«

»Oh!« machte der andere, es war ihm Seife in den Mund gekommen.

»... und sie hat Besserung gelobt.«

»Das ist schade!«

»Wie?«

»Ich habe mich geschnitten. Du darfst nicht so aufregende Dinge erzählen, da hast du den Erfolg!«

Er deutete mit dem Finger auf seine Wange.

Nach einer Minute angestrengten Nachdenkens meinte Hintze: »Ob wir es auch vor ihr geheimhalten können ...?«

»Es – ihr?« muschelte Cornelius mit schiefem Munde. Er hatte gerade mit spitzen Fingern die Haut seiner Backe erfaßt. »Das Gespenst – deiner verehrten Schwägerin gegenüber, meinst du wohl?«

»Ach, das hat sie in der ersten halben Minute von Mama erfahren, du kennst doch die Frauen. Ich meine etwas anderes, Kritischeres ...«

»Hm?«

»Daß du als Detektiv hier bist?«

Die hochgezogene Backe schnellte in ihre natürliche Lage zurück. Cornelius ließ das Messer sinken.

»Darauf kann ich in dieser Situation nicht antworten. Du berührst da eine große Frage, bei der man doch aufpassen muß. Und so mit dem scharfen Messer in der Hand, da verbietet sich's.« Es klang bestimmt und, wie es dem andern schien, ärgerlich. So zog er sich denn wieder in seinen Korbsessel zurück und schwieg geduldig, ob ihm auch hundert andere Fragen auf der Zunge brannten.

Endlich tupfte sich der neugeborene Cornelius Gesicht und Hals mit kölnischem Wasser ab und band mit besonderer Liebe und Sorgfalt Kragen und Krawatte um.

»Darf man jetzt wieder den Mund auftun?« klang es aus dem Korbstuhle bescheiden herüber.

»Man darf.«

»Danke gehorsamst. Und die Antwort auf meine Frage von vorhin?«

»Nichts davon sagen!« erwiderte Cornelius nach einer kleinen Pause. Ein Schatten flog über seine Stirn.

»Gut. Du hast vielleicht recht. Es wissen schon genug Leute um deinen Auftrag ...«

»Nanu!« fuhr Cornelius herum.

»Na ja: mein Schwiegervater und ich. – Wo hast du übrigens dein Monokel? Du wirst doch nicht wegen ...?«

»Das werde ich nicht tun, sehr richtig,« er holte das Einglas wieder aus der Westentasche, »nu grade nicht!«

Und so betraten sie Arm in Arm den Speisesaal im Erdgeschoß.

*


 << zurück weiter >>