Nikolai Gogol
Tote Seelen
Nikolai Gogol

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel

Als sich die Würdenträger bei dem Polizeimeister versammelt hatten, der unsern Lesern als der Vater und Wohltäter der ganzen Stadt noch in Erinnerung sein dürfte, da konnten sie es sich einander nicht verhehlen, daß sie vor lauter Aufregung und Sorgen schlechtweg abgemagert waren. Die Ernennung des neuen Oberpräsidenten, der Eingang jener beiden amtlichen Zuschriften höchst fatalen Inhalts und die Fülle törichter Gerüchte, – das alles hatte seine Spuren in die Gesichter eingegraben und manchem Manne seinen Frack zu weit gemacht. Kaum einer, der nicht gottserbärmlich ausgesehen hätte: der Gerichtsdirektor war sehr blaß und mager, der Kreisphysikus sehr blaß und mager, und der Staatsanwalt sehr blaß und mager. Und sehr blaß und mager war auch noch ein Herr mit Namen Semjon Iwanowitsch, dessen Familienname scheinbar absichtlich nie ausgesprochen wurde, und der an dem rechten Zeigefinger einen Ring trug, den er sehr gerne abzog und den Damen zum Bewundern überreichte.

Natürlich gab's auch hier, wie wohl in jedem solchen Fall, ein Fähnlein der Aufrechten, das sich seine Geistesgegenwart nicht rauben ließ; zwar war es sehr gering an Zahl, denn es bestand nur aus dem Postmeister allein. Er war der einzige, der immer der gewohnten Ruhe treu blieb und in solchen Situationen philosophisch sagte: »Ach, die Herren Oberpräsidenten, – na, die kennt man schon! Drei, vier von ihnen sind gekommen und gegangen; aber ich, geschätzter Herr, steh' unterdes schon dreißig Jahre fest auf meinem Posten!« Auf so tapfere Worte sagten dann die anderen Beamten wohl: »Du, parlewuh frangßeh, du hast leicht reden, Postmeister! Wer nichts zu tun hat, als bloß Postsendungen annehmen und fortschicken . . .! Unregelmäßigkeiten sind bei dir ja ganz unmöglich. Schlimmstenfalls kannst du das Postamt eine Stunde früher schließen, oder du läßt dir mal von einem Kaufmann etwas dafür zahlen, daß du einen Einschreibbrief nach Schalterschluß noch annimmst, oder, lieber Gott, du expedierst, wenn's hoch kommt, eine Sendung, die du eigentlich nicht expedieren darfst. In dem Beruf kann jeder leicht ein Heiliger sein. Aber steck du einmal in unserer Haut: tagtäglich schiebt der Teufel dir das schöne Geld gerade vor die Nase hin; du möchtest es nicht nehmen, aber er drängt es dir doch einfach auf. – Und du, mein lieber Postmeister, bist außerdem noch fein heraus: du hast bloß den einen Jungen; versetz dich aber mal in meine Situation: mein teures Eheweib ist ja vom lieben Gott mit einer Fruchtbarkeit gesegnet, – jedes geschlagne Jahr beglückt sie mich mit einem Jungen oder einem Mädel. Es sollte dir bloß auch so gehn, – dann pfiffest du aus einem andern Ton!« So sprachen die Beamten; nun, und der Verfasser fühlt sich nicht berufen, zu entscheiden, ob man dem Teufel nicht trotz allem widerstehen könnte.

Bei diesem Kriegsrat der Beamten fehlte es gar sehr an dem, was der gemeine Mann den »richtigen Dreh« zu nennen pflegt. Wir Russen sind ja überhaupt nicht sehr für feierliche Tagungen geschaffen. Ob sich bei uns die Bauern zum Gemeinderat versammeln, oder unsere Gelehrten und andre wichtige große Tiere zu Kongressen, – es herrscht dabei in jedem Fall das schönste Kuddelmuddel, wenn nicht ein starker Mann als Vorstand da ist, der die anderen unbedingt beherrscht. Woher es kommt, das ist nicht leicht zu sagen; es liegt wohl schon im Volkscharakter, daß wir uns wirklich meisterhaft doch nur auf Sitzungen feuchtfröhlicher und nahrhafter Natur verstehn, auf muntere Vereinsveranstaltungen und Festmähler nach deutschem Brauch. Wir gründen gottvertrauend, frisch und fröhlich Wohltätigkeits- und weiß der Kuckuck was noch für Vereine. Der Zweck ist immer edel, gut und schön, aber heraus kommt dabei niemals das geringste. Mag sein, daß wir zu bald zufrieden sind und meinen, mit dem Grundsteinlegen sei auch schon die Hauptsache getan. Wir gründen beispielsweise einen Hilfsverein für arme Leute und bekommen eine Menge Geld zusammen; aber kaum ist das geschehn, so geben wir, um unsere Güte auch gebührend zu verherrlichen, den Spitzen der Gesellschaft ein Diner, das ungefähr die Hälfte der gesammelten Beträge glatt verschlingt; und um die andere Hälfte mieten wir dem Komitee ein prachtvolles Bureau mit Heizung, Dienern und Portiers; so bleiben für die Armen von der ganzen Summe bestenfalls fünf Rubel fünfzig; und wegen der Verteilung dieses Restes gibt es dann die größten Streitereien, da jedes Vorstandsmitglied darauf aus ist, die paar lumpigen Rubel seinen eigenen notleidenden Verwandten zuzuschustern.

Betont muß aber werden, daß die Versammlung unserer Würdenträger der Stadt N. ganz anderen Charakters war; denn sie entsprang ja bitterster Notwendigkeit. Hier drehte es sich nicht um arme Leute und dergleichen kümmerliche Zeitgenossen, – nein, die Sache ging jeden Beamten höchst persönlich an, dasselbe Unheil dräute über allen Häuptern . . . Man sollte meinen, daß dies das Gemeinsamkeitsgefühl sowie die Einigkeit wohl hätte stärken müssen. Und trotzdem kam nichts richtiges dabei heraus. Wenn die verschiedenen Herren ganz verschiedener Meinung waren, so konnte das nicht wundernehmen, das ist bei jeglicher Beratung so der Brauch, hier aber war sich jeder einzelne der Herren auch nicht einmal mit sich selber einig. Sagte zum Beispiel jemand, daß er Tschitschikow für den steckbrieflich ausgeschriebenen Falschmünzer hielte, dann ergänzte er das ungesäumt dahin: »Vielleicht ist er's auch nicht.« Ein anderer verfocht die Ansicht, Tschitschikow sei unbedingt ein Sendbote des Oberpräsidenten, knüpfte aber gleich den Satz daran: »Weiß übrigens der Teufel! Auf der Stirne steht's ihm nicht geschrieben.« Gegen die Hypothese, daß sich hinter Tschitschikow ein Straßenräuber berge, regte sich ein allgemeiner Widerspruch. Ganz davon abgesehn, daß er in seinem Äußern viel zu bürgerlich und staatserhaltend wirkte, war noch nie ein einziges Wort aus seinem Mund gekommen, das auch nur auf eine Spur von Neigung zu blutgieriger Gewalttat hätte schließen lassen.

Der Postmeister saß schon seit einiger Zeit in tiefem Sinnen da, gleichsam von einer Eingebung beschattet; plötzlich rief er unvermutet:

»Herrschaften, wollt ihr wissen, wer er ist?«

Der Ton, in dem er sprach, schlug wie ein Blitz in alle ein; die andern riefen wie aus einem Munde:

»Nun? Wer ist er? Wer?«

»Ja, wertgeschätzter Herr, er ist, daran besteht für mich kein Zweifel, niemand anderes als – der Stabshauptmann Kapékin!«

Und wiederum rief alles wie aus einem Mund:

»Der Stabshauptmann Kapékin? Wer ist das?«

»Der Stabshauptmann Kapékin?« fragte der Postmeister. »Sie wissen gar nicht, wer der Stabshauptmann Kapékin ist?«

Alle Herren erklärten einstimmig, sie hätten von dem Stabshauptmann Kapékin noch niemals ein Wort gehört.

»Der Stabshauptmann Kapékin . . .« sagte der Postmeister und öffnete gleichzeitig seine Tabakdose, doch vorsichtshalber nur zu einem Spalt, aus lauter Angst, es könnte einer von den andern Herren seine Finger in die Dose stecken, – Finger, deren Sauberkeit er immerhin in Zweifel zog. Er sagte gern in solchen Fällen: Wertgeschätzter Freund, was weiß denn ich, in was für Gegenden Sie, mit Respekt zu sagen, mit den hochgeehrten Fingern bohren: Schnupftabak verlangt die reinlichste Behandlung! – »Der Stabshauptmann Kapékin,« fuhr er fort, als er sich eine Prise zu Gemüt geführt hatte, »ja, wenn ich das erzählen wollte, das wäre nämlich, sozusagen, wohl der dankbarste Romanstoff für einen Dichter von Talent; mit einem Worte: eine Epopöe!«

Die Herren waren alle neugierig auf die Geschichte oder, wie es der Postmeister so schwungvoll ausdrückte: die Epopöe, den dankbaren Romanstoff für einen Dichter von Talent. Er ließ sich auch nicht lange bitten und begann:

Die Geschichte vom Stabshauptmann Kapékin.

»Nach dem Feldzug von anno zwölf, geschätzter Herr,« begann der Postmeister, trotzdem nicht etwa nur ein Herr anwesend war, sondern ein volles halbes Dutzend Herren, »nach dem Feldzug von anno zwölf wurde eines schönen Tages mit einem Verwundetentransport auch ein gewisser Stabshauptmann Kapékin zurückgeschafft. Er war ein leichtes Tuch gewesen, ein toller Teufelskerl, er hatte auf der Hauptwache und im Arrest gebrummt und war gehetzt mit allen Hunden. War's nun bei Krasnoje, war es bei Leipzig oder wo, – ihm waren da, verstehn Sie mich, durch eine feindliche Kanonenkugel der eine Arm und außerdem das eine Bein zerschmettert worden, – stellen Sie sich mal vor! Nun also, damals, müssen Sie bedenken, gab es noch keine, na, wie sagt man gleich, Verwundetenfürsorge; dieser gewisse, hm, Invalidenfond ist nämlich, sozusagen, verstehn Sie mich, erst lange Zeit nachher begründet worden. Der Stabshauptmann Kapékin sieht sich mithin auf seiner Hände Arbeit angewiesen; zum Unglück aber hat er nur, verstehen Sie mich, die eine, und zwar bloß die linke Hand. Er wendet sich daheim an seinen Vater; der aber sagt: ›Ich kann dich auch nicht füttern‹ – stellen Sie sich das vor –, ich hab' ja selber kaum genug zu essen.‹ Also, mein Stabshauptmann Kapékin, geschätzter Herr, entschließt sich kurz, nach Petersburg zu fahren und bei den obersten Behörden dort um eine Unterstützung nachzusuchen, weil er doch . . . Dings . . . gewissermaßen, sozusagen, sein Leben aufgeopfert, ja, beziehungsweise sein Blut fürs Vaterland vergossen hat . . . Und darum reist er irgendwie, was weiß ich, auf militärischen Bagagewagen, mit staatlichen Transporten; kurz, geschätzter Herr, er schlägt sich schlecht und recht nach unserer Hauptstadt an der Newa durch. Nun können Sie sich denken, dieser bewußte Zeitgenosse, das will sagen, dieser Stabshauptmann Kapékin, findet sich plötzlich in der Residenz, der, wenn das Wort gestattet ist, nichts auf der Erde gleichzusetzen ist! Urplötzlich liegt die Welt vor ihm, gewissermaßen, wenn ich so sagen darf, der Markt des Lebens, wie ein Märchen aus Tausend und einer Nacht, verstehn Sie mich, im wahren Sinn des Wortes. Da dehnt sich, stellen Sie sich vor, so eine Winkelgasse wie dort der Newa-Boulevard, oder, verstehn Sie mich, die Erbsenstraße, oder, hol' mich der Teufel, die Erzgießereistraße; hier ragt so eine Kirchturmspitze in den Himmel, da hängen, stellen Sie sich das bloß vor, die Brücken, weiß der Kuckuck wie, frei in der Luft, ganz ohne Stütze sozusagen; kurz, geschätzter Herr: hängende Gärten der Semiramis mit einem Wort, vergleichsweise gesprochen! Mein Stabshauptmann sieht sich nach einer Wohnung um, aber dabei wird ihm bald schwül zumut: Gardinen, Stores und alles Teufelszeug, persische Teppiche, der reinste Orient, wertgeschätzter Herr, – man tritt, wenn ich so sagen darf, ein ganzes Kapital mit Füßen. Und geht man auf der Straße, ja, so riecht es geradezu nach Tausendern; und dabei hat mein Stabshauptmann Kapékin, verstehn Sie mich, nichts weiter als zehn blaue Fünfrubelscheine im Vermögen und dazu noch gewissermaßen ein bißchen Silbergeld . . . Na ja, ein Rittergut kann man dafür nicht kaufen, das heißt: am Ende doch, wenn man noch vierzigtausend drauflegt; ja, und diese vierzigtausend, die pumpt man sich vom Großmogul von Indien. Nun, schließlich kommt denn unser Hauptmann glücklich irgendwie im Gasthof zur Stadt Reval unter. Dort zahlt er einen Rubel für den Tag und kriegt zu Mittag Kohlsuppe und Klops . . . Daß da nicht lange seines Bleibens sein kann, merkt er bald. Er fragt herum, wohin er sich in seiner Sache wenden soll. Und er bekommt die Antwort: ›Wohin wollen Sie sich wenden? Die obersten Behörden sind nicht in Petersburg. Das alles, verstehn Sie mich, ist jetzt noch in Paris, und die Armee ist noch nicht heimbefördert. Aber es gibt da eine provisorische Kommission. Versuchen Sie's bei der! Vielleicht kann die was für Sie tun.‹ – ›Jawohl, dann geh' ich also zu dieser Kommission,‹ sagt mein Kapékin, ›und mach' es denen klar, daß ich . . . Dings . . . nämlich . . . hm . . . beziehungsweise . . . gewissermaßen so . . . mein Blut vergossen und, wenn der Ausdruck mir gestattet ist, mein Leben aufgeopfert hab'.‹ Na, schön, er steht recht früh am Morgen auf, rasiert sich mit der linken Hand – denn zum Barbier zu gehn, das wäre, gewissermaßen, doch wieder eine Ausgabe –, dann zieht er seine Uniform an und humpelt, stellen Sie sich vor, auf seinem Stelzfuß los, um den Direktor jener Kommission persönlich heimzusuchen. Er hatte sich erkundigt, wo der Direktor wohnt. ›Dort in dem Haus am Newakai,‹ wird ihm gesagt. ›Ne ganz bescheidne Bauernkate, verstehn Sie mich: zwei Klafter hohe Spiegelscheiben in den Fenstern, Marmor und Lack, geschätzter Herr, – mit einem Worte: sinnverwirrend! Der Klopfer an der Tür aus Bronze vom allerherrlichsten Komfort. Man fühlt sich, wenn ich so sagen darf, einfach gedrängt, zuerst in einem Laden einzukehren und sich für einen Groschen Seife zu besorgen und sich damit zwei Stunden lang die Hände, so gewissermaßen, abzuschruppen, bevor man wagt, die Klinke anzufassen. Und ein Portier steht vor der Tür, begreifen Sie, so einen Knüppel in der Hand, – von Aussehn wie ein Graf, mit einem Kragen von Batist, recht wie ein angefressener, fetter Mops . . . Nun, mein Kapékin humpelt mühsam auf seinem Stelzfuß in das Wartezimmer und drückt sich dort in eine Ecke, denn er hat Angst, er könnte, stellen Sie sich vor, mit seinem Ellbogen so ein Stück Indien oder Amerika herunterstoßen, beziehungsweise so eine schwervergoldete Vase vom allerfeinsten Porzellan. Und stehen durfte er da selbstverständlich lang' genug. Denn er war ja zu früher Stunde schon erschienen, wo der Direktor, sozusagen, erst gerade aus dem Bett gestiegen war und ihm der Kammerdiener, wissen Sie, erst so die kleine Wanne aus gediegenem Silber brachte, zu allerlei besonderen Waschungen, verstehn Sie mich. So wartet mein Kapékin denn vier volle Stunden, bis endlich der diensthabende Beamte eintritt und erklärt: ›Der Herr Direktor kommt sofort.‹ Im Wartezimmer blitzt's von Epauletten und von goldenen Fangschnüren, – Leute, zahlreich wie die Fliegen um den Milchtopf. Endlich, geschätzter Herr, erscheint dann der Direktor. Sie stellen sich wohl vor . . . Ich sag' bloß: der Direktor! Die Miene, sozusagen, direktorial und exzellenzlich, Sie verstehn mich schon. Die richtige hauptstädtische Benehmität! Er macht die Runde bei den Leuten: ›Was wünschen Sie, was wünschen Sie, was ist gefällig, in welcher Sache kommen Sie?‹ Und so, geschätzter Herr, gelangt er endlich zu Kapékin. Und mein Kapékin sagt: ›Dings . . . nämlich . . .‹ sagt er, ›ich hab' doch mein Blut vergossen, ich hab', beziehungsweise, sozusagen, Arm und Bein verloren und bin nicht arbeitsfähig. Darum erdreiste ich mich zu der Bitte, ob mir nicht eine Unterstützung zugewiesen werden kann, ob sich keine Verfügung treffen läßt, daß ich, gewissermaßen, sozusagen, eine Belohnung, beziehungsweise, etwa in Form einer Pension, bekommen kann?‹ Verstehn Sie mich! Nun, der Direktor sieht: der Mann hat einen Stelzfuß, der rechte Ärmel ist leer an den Waffenrock geheftet. ›Schön,‹ sagt er, ›fragen Sie in ein paar Tagen wieder nach!‹ Kapékin ist begeistert. ›Fein! Hurra,‹ denkt er, ›nun ist die Sache schon im Lot!‹ In dieser Stimmung nun, verstehn Sie mich, hüpft er auf dem Trottoir dahin. Er trinkt zuerst im Restaurant von Palkin einen Schnaps, diniert darauf, geschätzter Herr, in der Stadt London, er bestellt ein Kotelett mir Kapern, eine Poularde mit allerhand Fisematenten, trinkt eine Flasche Wein, geht dann am Abend ins Theater, – kurz, läßt, wie man so sagt, den lieben Gott 'nen guten Mann sein. Dann sieht er auf der Straße eine biegsame Engländerin schön langsam vor sich herflanieren, – von einer Grazie wie ein Schwan, verstehn Sie mich. Na, mein Kapékin – nun, sein Blut, begreifen Sie, ist mal in Wallung – steigt mit dem Stelzfuß, klapp klapp klapp, ganz flott der hübschen Phryne, sozusagen, nach. Dann aber überlegt er sich's zum Glück doch noch und denkt bei sich: – Nein, lassen wir's! Fürs erste hol' der Fuchs das lasterhafte Leben! Dafür ist ja noch immer Zeit, wenn mir die Pension erst ausbezahlt wird; ich hab' heute so wie so schon viel zu viel verjuxt. – Und wirklich war auf diese Art, das müssen Sie beachten, an dem einen Tag sein halbes Barvermögen draufgegangen. So drei, vier Tage später also, geschätzter Herr, beschließt er nun, wieder zu dem Direktor jener Kommission zu gehn, jawohl! ›Ich komme, mir Bescheid zu holen,‹ sagt er. ›Dings . . . nämlich . . . da ich doch so lange im Lazarett und schwerverwundet war und, sozusagen, doch mein Blut fürs Vaterland vergossen hab' . . .Et cetera, verstehn Sie mich, – natürlich, alles korrekt und wie geziemend ausgedrückt, im vorgeschriebenen Kanzleistil. ›Ja aber,‹ sagt ihm der Direktor, ›vor allem dürfen Sie sich über eins nicht täuschen: Ich kann zu Ihren Gunsten ohne eine Entscheidung unsrer obersten Behörde nicht das geringste tun. Sie sehn ja selber, wie die Dinge derzeit liegen. Die kriegerischen Operationen sind, sozusagen, wenn man die Sache richtig ansieht, noch nicht endgültig abgeschlossen. Warten Sie also freundlichst, bis der Minister wieder im Lande ist, und haben Sie Geduld! Sie können überzeugt sein, daß man Sie seinerzeit nicht ohne Hilfe lassen wird. Und wenn Sie ohne Mittel sind,‹ sagt der Direktor, ›so nehmen Sie fürs erste dies; mehr hab' ich für den Zweck nicht zur Verfügung . . .‹ Und was er ihm da gab, verstehn Sie mich, war ja natürlich nicht besonders viel; doch hätte sich Kapékin damit bei weiser Sparsamkeit bis zum endgültigen Bescheid auf sein Gesuch durchschlagen können. Aber ihm stand der Sinn nach andern Dingen. Er hatte sich ganz einfach eingebildet, man würde ihm schon heute oder morgen so einen Haufen Tausendrubelscheine überreichen und freundlich lächelnd dazu sagen: ›Na, lieber Freund, iß, trink und sei vergnügt!‹ Statt dessen hieß es: warten, und zwar auf unbestimmte Zeit. Und ihm steckt mittlerweile, verstehn Sie mich, die schlanke Engländerin im Kopf, und allerhand Soufflés und Koteletts. So ging er nun als Abgeblitzter zur Tür hinaus, wie ein begossener Pudel, der sich mit eingezognem Schwanze trollt und seine Ohren hängen läßt. Er war nun mal im Schwung des petersburger Lebens drin und hatte schon davon gekostet. Und nun soll er da leben, weiß der Kuckuck wie, verstehn Sie mich, und gar nichts Gutes naschen. Wo er doch ein gesunder, frischer Mensch ist und einen Hunger wie ein Wolf hat, wissen Sie! Er kommt an irgendeinem Restaurant vorbei, bedenken Sie mal das, der Koch ist ein Franzose mit speckig glänzendem Gesicht, trägt seine holländische Wäsche und eine Schürze, nur vergleichsweise gesprochen, so weiß wie Schnee, er kocht gerade ein köstliches fines herbes oder er brät ein Kotelett mit Trüffeln, – kurz, Delikatessen, daß man vor lauter Appetit sich selber fressen möchte. Oder Kapékin kommt an dem Miljutinschen Geschäft vorbei: im Ladenfenster lächelt, sozusagen, ein Lachs von dem Format, und Kirschen, von welchen jedes Stück fünf Rubel kostet, und eine riesige Melone, fast wie ein Omnibus so groß, liegt protzig da und wartet, gewissermaßen, auf den Dummen, der hundert Rubel für sie hinlegt, – kurz, Verlockungen auf Schritt und Tritt, das Wasser, sozusagen, vergleichsweise gesprochen, läuft einem armen Kerl im Maul zusammen, und er soll, gewissermaßen, warten! Versetzen Sie sich in Kapékins Lage: da winken auf der einen Seite der Lachs und die Melone, und auf der andern wird ihm das bittere Gericht serviert, das ›warten‹ heißt. ›Nein,‹ denkt er sich, ›das sollen sie nur halten, wie sie wollen, – ich gehe einfach,‹ sagt er, ›und mache diese ganze Kommission rebellisch, samt allen ihren Direktoren, und sage ihnen: so und so!‹ Naja, ein taktloser und frecher Bursche war er von Natur, nicht grade ein großes Licht, dafür ein Draufgänger, wie man ihn selten findet. Und so erscheint er wieder bei der Kommission. ›Was wollen Sie denn noch?‹ wird er gefragt. ›Sie haben doch Bescheid bekommen?‹ – ›Ja aber,‹ sagt er da, ›ich danke schön für den Bescheid!‹ sagt er. ›Ich kann mich nicht so kümmerlich behelfen. Ich will mir,‹ sagt er, ›auch Koteletts und eine Flasche französischen Bordeaux erlauben dürfen, ich will mich amüsieren und auch manchmal ins Theater gehn.‹ In diesem Sinn, verstehn Sie mich. – ›Da muß ich sehr bedauern,‹ antwortet ihm der Herr Direktor. ›Da kann ich Ihnen nur das eine raten, sich gefälligst zu gedulden. Sie haben für die erste Zeit soviel bekommen, daß Sie, bis Ihr Gesuch entschieden ist, nicht zu verhungern brauchen. Sie werden zweifellos für Ihre Dienste auf angemessene Art entschädigt werden: es wäre ja das erstemal in unserem großen Russenreich, daß einer, der dem Vaterlande, gewissermaßen, sozusagen, treu gedient hat, nicht seine reichliche Versorgung vom Staat empfangen würde. Hingegen, wenn Sie jetzt in Koteletts und in Theaterbesuchen schwelgen wollen, dann muß ich wirklich sehr bedauern. Dann treiben Sie die Mittel hierfür selbst auf, sehr geehrter Herr, dann helfen Sie sich nur auch selber!‹ Na, mein Kapékin aber, stellen Sie sich vor, zuckt nicht mit einer Wimper. Die Worte des Direktors prallen von ihm ab wie Erbsen von der Mauer. Er macht den fürchterlichsten Krach und wäscht dem ganzen Amt mit großer Gründlichkeit den Kopf. Er sagt den Direktoren und den Sekretären, so viele ihrer da sind, seine Meinung, daß es ganz einfach nur so knattert . . . ›Ja, ihr,‹ sagt er, ›ihr seid mir schon die rechten!‹ sagt er. ›Ihr,‹ sagt er, ›ihr seid mir seine Leute!‹ sagt er. ›Ihr,‹ sagt er, ›ihr habt keinen Schimmer, was eure gottverdammte Pflicht ist!‹ sagt er. ›Ihr,‹ sagt er, ›ihr treibt ja Schacher mir dem Gesetz!‹ sagt er. So machte er der ganzen Kommission den größten Krach. Selbst den Direktor einer anderen Behörde, der ahnungslos hereinkam und von seiner Sache gar nichts wußte, beschimpfte er unflätig und vollführte einen gräßlichen Krawall! Was sollte man mit diesem Satan tun? Kurz, der Direktor sieht, es läßt sich nicht vermeiden, daß man, gewissermaßen, sozusagen, strengere Saiten aufzieht. ›Schön!‹ sagt er also. ›Wenn Sie sich nicht mit dem begnügen wollen, was wir Ihnen gutwillig gegeben haben, wenn Ihnen das nicht paßt, schön ruhig in der Hauptstadt abzuwarten, was über Ihre künftige Versorgung beschlossen wird, dann lass' ich Sie per Schub nach Ihrem Heimatwohnsitz bringen. Der Feldjäger soll kommen,‹ sagt er, ›und ihn nach seinem Heimatwohnsitz eskortieren!‹ Na ja, der Feldjäger, der steht natürlich schon im Nebenzimmer bereit, verstehn Sie mich, – ein Mannsbild von drei Ellen Länge, mit Händchen, stellen Sie sich vor, die schon vom lieben Gott extra geschaffen sind, um widerspenstigen Postkutschern die Flötentöne beizubringen, – kurzum, ein Zahnbrecher, wie er im Buche steht. – Mein guter, armer Stabshauptmann Kapékin muß denn mit diesem Feldjäger wohl oder übel in den Wagen steigen. ›Na,‹ denkt Kapékin, ›dann fahr' ich wenigstens gratis heim, – auch dafür muß man Gott schon dankbar sein.‹ So fährt er mit dem Feldjäger dahin, und wie er so mit ihm dahinfährt, sagt er, gewissermaßen, so zu seinem Bruder Innerlich: ›Schön,‹ sagt er, ›schön, ihr ratet mir, ich soll nur selber für die Mittel sorgen und soll mir, sozusagen, selber helfen? – Ist schon recht,‹ sagt er, ›ich werde für die Mittel sorgen!‹ sagt er. – Kurz, wie und wohin er abgeliefert wurde, das weiß kein Mensch. Und so, verstehn Sie mich, versank die Kunde vom Stabshauptmann Kapékin im Strome des Vergessens, in dieser sogenannten Lethe, wie sich die Dichter auszudrücken pflegen. Aber nun passen Sie mal auf, geschätzter Herr, eben an diesem Punkte schürzt sich, vergleichsweise gesprochen, recht eigentlich der Knoten unseres Romans. Freilich, wohin der Stabshauptmann Kapékin kam, das weiß kein Mensch; doch dafür gingen, stellen Sie sich vor, nur knapp zwei Monate ins Land, und in den Wäldern der Provinz Rjäsan, da tauchte eine Räuberbande auf, und deren Hauptmann, wertgeschätzter Herr, war niemand andres als . . .

»Entschuldige einen Augenblick, mein lieber Postmeister,« fiel hier der Polizeimeister dem Freund ins Wort, »du sagst doch selbst, der Stabshauptmann Kapékin hätte nur einen Arm und nur ein Bein gehabt, und Tschitschikow hat doch . . .«

Der Postmeister schrie auf, er schlug sich kräftig vor die Stirn und nannte sich selber öffentlich und deutlich ein ganz ungeheures Hornvieh. Er konnte einfach nicht begreifen, warum ihm dies nicht gleich zu Anfang seiner Erzählung eingefallen war, und gab dem Sprichwort recht, das von dem Treppenwitz der Russen kündet. Doch als der erste Schreck verflogen war, versuchte er sich pfiffig darauf auszureden, daß ja in England sehr verschmitzte Kunstarme und Kunstbeine angefertigt würden. Es hätte in der Zeitung irgendwas von Stelzfüßen gestanden, bei denen man nur auf eine geheime Feder drücken müßte, damit ein solcher Fuß den Menschen, der ihn trüge, so geschwind entführte, daß er einfach niemals wieder aufzufinden wäre.

Die anderen Beamten aber hatten ihre starken Zweifel, ob Tschitschikow mit jenem Stabshauptmann Kapékin irgendwie identisch wäre, und sie fanden diese Annahme des Postmeisters doch recht weit hergeholt. Aber sie selber ließen ihre Phantasie auch nicht zu kurze Sprünge machen, sondern schweiften, durch die geistreiche Kombination des Postmeisters zum Wettbewerb gereizt, mit ihren Hypothesen noch viel mehr ins Weite. Und gar mancherlei in ihrer Art gewisse scharfsinnige Vermutungen bekam man aufgetischt. Zuletzt auch eine, die so kühn war, daß ich es kaum wage, sie hier zu Papier zu bringen, – die Vermutung nämlich, Tschitschikow sei höchstwahrscheinlich niemand andres als der – raffiniert maskierte Kaiser Napoleon. Man wußte ja, daß England unserm Rußland von jeher auf seine Macht und Größe neidisch war. Es gab Karikaturen, die einen Engländer und einen Russen im Gespräche zeigten; der Engländer hielt einen Hund am Strick, welcher den korsischen Eroberer darstellte, und sagte zu dem Russen: »Lieber Freund, wenn du Geschichten machst, dann hetz' ich diesen Hund auf dich!« – War es darum nicht vorstellbar, daß England Napoleon einfach von Sankt Helena zurückbefördert hätte? Und vielleicht trieb er sich ungeniert in unserem Vaterland herum und tat, als sei er ein ganz harmloses Subjekt, mit Namen Tschitschikow. Und war dabei in Wirklichkeit ganz jemand anderes und hieß durchaus nicht Tschitschikow.

In vollem Ernste glaubten die Honoratioren der Stadt N. natürlich nicht hieran, nachdenklich aber wurden sie trotzdem; und wenn sie es recht bedachten, mußten sie tatsächlich eingestehn, daß Tschitschikow, besonders im Profil, Napoleon verdächtig ähnlich sah. Der Polizeimeister, der hatte anno zwölf im Feld den Kaiser in Person gesehn. Napoleon, das stand nach seinem Zeugnis fest, war an Statur nicht größer als Tschitschikow und ließ sich gleichfalls zu den Leuten zählen, die nicht eben dick sind, aber auch nichts weniger als dürr.

Der Schreiber dieser Zeilen ist überzeugt davon, daß mancher seiner Leser das alles unwahrscheinlich finden wird, und gibt sehr gerne zu, daß es auch unwahrscheinlich ist; aber mag es uns passen oder nicht, – es trug sich alles ganz genau so zu, wie hier berichtet wird. Und dies ist um so sonderbarer, weil die Stadt N. nicht irgendwo in einer gottvergessenen Gegend liegt, sondern so ziemlich halbwegs zwischen unsern beiden Hauptstädten. Man darf dabei nicht aus dem Auge lassen, daß dies alles kurze Zeit nach dem glorreichen Siege über die Franzosen vor sich ging. Zu jenen Zeiten waren beinah alle unsere Gutsbesitzer und Beamten, Kaufleute, Ladendiener, kurz jeder Mensch mit Volksschulbildung, und auch gar mancher ohne solche, – alle waren, für eine Reihe Jahre wenigstens, begeisterte Politiker geworden. Die »Moskauer Neuesten Nachrichten« und die »Russische Reichspost« wurden fanatisch kurz und klein gelesen und kamen bei dem letzten Leser so zerfetzt an, daß sie für die primitivsten Zwecke nichts mehr taugten. Man fragte sich bei der Begegnung auch nicht mehr: »Na, alter Freund, wie teuer haben Sie den Scheffel Hafer losgeschlagen?«, oder: »Haben Sie gestern den ersten Schnee zur Hasenjagd benutzt?«, sondern man fragte immer nur: »Was gibt es Neues in der Zeitung? Ist etwa Bonaparte von Sankt Helena zurückgekehrt?« Die Kaufleute besonders waren deswegen sehr besorgt, – sie glaubten nämlich steif und fest an die Weissagungen eines Propheten, der übrigens schon seit drei Jahren fest im Loche saß. Dieser Prophet war weiß der liebe Gott woher gekommen, in Bastsandalen und in einem Pelze ohne Überzug, er hatte fürchterlich nach faulem Fisch gestunken und hatte laut vor allem Volk verkündet, Napoleon sei der Antichrist, er läge an einer Kette aus Marmelstein gefesselt hinter sieben Mauern und sechs Meeren, über ein Kleines aber würde er die Kette sprengen und alsdann die ganze Welt beherrschen. Dieser Prophet nun ward, und recht geschah ihm das für seine Prophezeiung, in das Loch gesteckt, doch hatte er vorher sein Werk getan und namentlich die Kaufleute vollkommen aus der Contenance gebracht. Selbst wenn sie sich nach glänzenden Geschäften beim Tee im Wirtshaus trafen, sprachen sie von nichts mehr als vom Antichrist. Auch viele höhere Beamte und hochgeborene Edelleute zerbrachen sich den Kopf darob. Der Mystizismus, der die große Mode jener Tage war, hielt sie im Bann. Sie suchten hinter jedem der Buchstaben, aus denen sich der Name »Napoleon« zusammensetzt, eine besondere Bedeutung, ja, mancher fand in diesen Buchstaben die Zahlen der Johannisoffenbarung.

Darnach wird es wohl niemand wundern, daß die Beamten der Stadt N. sich allerlei Gedanken machten. Freilich, bald besannen sie sich wieder und erkannten klar, daß ihre Phantasie doch gar zu kühn ins Weite schweife, und daß dies alles Unsinn sei. Sie grübelten und grübelten, sie redeten und redeten und kamen dann zu dem Beschluß, sich an Nasdrjow um Aufklärung zu wenden. Er hatte ja als erster die Geschichte von den toten Seelen ausposaunt und war doch, sozusagen, sehr intim mit Tschitschikow, – da müßte er wohl sicher ganz genaue Auskunft geben können. Ja, man wollte hören, was Nasdrjow zu sagen hätte.

Höchst wunderliche Heilige, diese Beamten der Stadt N., obgleich wohl kaum in höherem Grade wunderlich als Leute jeden Standes und an jedem Ort: sie wußten, daß Nasdrjow ein Lügner war, dem man nicht eine Silbe glauben durfte, der die klarsten, einfachsten Geschichten kraß entstellte, – aber dennoch suchten sie nun Aufklärung bei ihm. Da werde einer aus den Menschen klug! Manch einer glaubt nicht an den lieben Gott, doch glaubt er, daß es seinen nahen Tod verkünde, wenn's ihn in der Nase juckt. Mancher verachtet keck die Meisterwerke eines Dichters, die klar sind wie der Tag, erfüllt von hoher Harmonie und weiser Einfalt, und preist die Sudeleien eines frechen Machers, der die Natur verwirrt, verdreht, verrenkt und vergewaltigt; vor dessen Werken schreit er hochentzückt: »Ja, hier, hier steckt die echte, tiefe Herzenskunde!« Mancher schilt sein Leben lang die Ärzte unnütze Scharlatane, jedoch am Ende läuft er zu einem alten Weib, das mit Besprechungen und Spucke heilt, oder er braut sich gar nach eigenen Rezepten ein ekliges Dekokt aus weiß der Teufel was für Schund und meint, seltsamerweise, daß dies Zeug für seine Krankheit gut sein könnte.

Freilich mag es zur Entlastung unserer Würdenträger dienen, daß die Lage, darin sie steckten, in der Tat recht schwierig war. Ein Mann, der am Ertrinken ist, greift, wie das Sprichwort sagt, nach einem Strohhalm; denn er hat in dem gefährlichen Moment nicht die Besinnung, es sich klar zu machen, daß ein Strohhalm höchstens eine Fliege über Wasser halten kann, nicht aber ihn, der seine vier Pud lebend wiegt, und wenn er wohlgenährt ist, seine fünf. Darauf kommt er in dieser Lage nicht, – er greift verzweifelt nach dem Halm. So griffen unsere Beamten denn am Ende nach Nasdrjow. – Flugs setzte sich der Polizeimeister an seinen Schreibtisch und lud ihn durch ein kurzes Briefchen für den Abend ein. Der muntere Kommissar mit den Reitstiefeln aus blitzblankem Lackleder und den vergnügten roten Bäckchen schnallte den Säbel um und rannte spornstreichs in die Wohnung zu Nasdrjow.

Nasdrjow war zu der Zeit mit etwas äußerst Wichtigem beschäftigt. Schon seit vier Tagen saß er fest in seinem Zimmer eingesperrt, ließ niemand über seine Schwelle und nahm sogar die Mahlzeiten durch eine Klappe in der Tür entgegen, – er war buchstäblich abgemagert und grün vor Blässe im Gesicht. Die Arbeit, die ihn so in Anspruch nahm, verlangte freilich allergrößte Sorgsamkeit: er suchte sich aus ein paar Dutzend Kartenspielen eins zusammen, das ganz zuverlässig wäre, und dem er vertrauen dürfte wie dem allertreuesten Freund. Das kostete noch mindestens zwei Wochen Zeit; Porfiri aber hatte Auftrag, während dieser Zeit dem jungen Bullenbeißer mittels einer eigens dafür konstruierten Bürste seinen Nabel dreimal täglich gut mit Seife abzuschruppen.

Nasdrjow war wütend ob der Störung. Zunächst erklärte er dem Kommissar kurzweg, er solle sich zum Teufel scheren. Aber als er aus dem Brief des Polizeimeisters entnommen hatte, daß Aussicht auf ein günstiges Geschäft bestand, weil zum Souper ein krasser Neuling eingeladen sei, da legte sich sein Zorn alsbald. Er schloß sein Zimmer zu, zog sich in Hast und Eile an und trat nach kurzer Zeit in das Gemach, wo unsere Würdenträger tagten.

Nasdrjows Erzählungen, Behauptungen und Phantasien entfernten sich so weit von alledem, was die Beamten selber meinten, daß sich deren Hypothesen schlechterdings in Dunst auflösten. Denn hier saß ein Mensch, für den es Zweifel überhaupt nicht gab. So schwankend und bedenklich sie in ihren Folgerungen waren, so fest überzeugt war er in dieser Hinsicht. Er erklärte alle zweifelhaften Punkte, ohne nur ein einzigesmal mit seiner Zunge anzustoßen. Ja, natürlich hätte Tschitschikow gestorbene Seelen eingehandelt, und zwar mehrere tausend Stück. Er selber hätte ihm auch welche abgelassen, weil er nicht begriffe, was ihn eigentlich daran verhindern solle. Auf die Frage, ob denn Tschitschikow wohl ein Spion sei, der geheime Dinge auszuforschen trachte, hatte er die Antwort, selbstverständlich sei er ein Spion. Schon in der Schule, wo sie auf derselben Bank gesessen hätten, hätte man ihn allgemein den »Detektiv« genannt und sei er wegen dieser Eigentümlichkeit von seinen Mitschülern, darunter auch ihm selber, so erbärmlich durchgehauen worden, daß man ihm bloß an den Kopf zweihundertvierzig Blutegel zu applizieren nötig fand. Nasdrjow hatte natürlich sagen wollen: »vierzig«, – die zweihundert schlüpften ihm nur ganz von selber mit heraus. Und auf die Frage, ob nicht Tschitschikow am Ende jener Falschmünzer sein könne, den die Polizeibehörde suchte, gab Nasdrjow zurück, natürlich sei er das, und knüpfte daran eine Anekdote, welche Tschitschikows besondere Abgefeimtheit illustrieren sollte. Die Polizeibehörde hätte eines schönen Tags erfahren, daß in seinem Haus für zwei Millionen Rubel falsche Kassenscheine lägen, und man hätte daraufhin sein Haus versiegelt und umstellt, vor jede Tür zwei Leute. Tschitschikow nun hätte in der einen Nacht sämtliche Scheine umgetauscht, so daß am nächsten Morgen, als die Polizei die Siegel abnahm, lauter echte Kassenscheine vorgefunden wurden. Schließlich auf die Frage, ob denn Tschitschikow in Wirklichkeit sich damit abgegeben hätte, die blutjunge Präsidententochter zu entführen, und ob er ihm nicht geholfen und an dieser Sache teilgenommen hätte, gab Nasdrjow die Auskunft, selbstverständlich hätte er dabei geholfen, weil ja ohne seine Hilfe überhaupt gar nichts daraus geworden wäre. Hier nun stutzte er denn freilich einen Augenblick, weil ihm dunkel schwante, daß er völlig sinnlos log, und daß er sich auf diese Art am Ende selber in des Teufels Küche brachte; doch er konnte seine Zunge einfach nicht im Zaume halten. Und das wäre auch zuviel verlangt gewesen: ihm fielen nämlich gleich so interessante Einzelheiten ein, daß er sie erzählen mußte. Selbst das Dorf, in dem die Trauung vor sich gehen sollte, gab er keck mit Namen an. Das Dorf hieß Truchmatschowka, der Pfarrer hieß Sidor und kriegte für die Trauung fünfundsiebzig Rubel. Doch selbst diese Summe hätte ihn wohl nicht dazu bewegt, – er wich im Grunde nur der Drohung Nasdrjows, ihn der Behörde anzuzeigen, weil er einen Krämer namens Michail verbotnerweise mit einer nahen leiblichen Verwandten ehelich verbunden hätte. Er, Nasdrjow, hätte ferner seinen eigenen Wagen für diese Entführung hergeliehen und sei darauf bedacht gewesen, daß auf jeder von den Poststationen frische Pferde sie erwarteten. Nasdrjow verlor sich so in Einzelheiten, daß er selbst die Namen aller Postillione angab. Die Honoratioren machten dann zu guter Letzt den schüchternen Versuch, Napoleon mit hineinzuziehen, doch sie wurden dieses Unterfangens selbst nicht froh, denn nun begann Nasdrjow solch ein Geschwätz, daß man von Unwahrscheinlichkeit schwerlich noch reden konnte, – es war vielmehr der hellste Blödsinn, was er sagte. Alle die Beamten seufzten tief; sie hatten nun genug und machten sich drum auf die Strümpfe. Der Polizeimeister allein hockte noch eine ganze Weile mit Nasdrjow zusammen und ließ sich geduldig vorschwätzen, – er hoffte immer noch, es käme irgendwas an Aufklärung dabei zutage. Schließlich aber hatte dann auch er genug. Er sagte ungeduldig: »Nein, da werde doch der Satan klug aus der Geschichte!« Und so bewährte sich von neuem das bekannte Wort: »Tust du den Ochsen melken gehn, so wirst du nicht viel Milch besehn.«

Die Würdenträger fühlten sich geschlagener als zuvor. Das Lange und das Breite von der Sache blieb, daß niemand wußte, was sich hinter Tschitschikow verbarg. Hier zeigte sich die menschliche Gebrechlichkeit im hellsten Licht: klug, weise und vernünftig ist der Mensch in jeglichem, was andre Leute angeht, aber nie in dem, was seine eigene Person betrifft. Wie umsichtig, wie geistesgegenwärtig und bestimmt weiß er den liebsten Nächsten in den schwersten Lebensnöten zu beraten! »Was für ein klarer Kopf!« ruft alle Welt. »Was für ein eiserner Charakter!« Soll aber nur ein Unglück über diesen klaren Kopf hereinbrechen, soll er nur selbst in schwere Lebensnöte kommen, – wo bleibt da der Charakter und der Kopf! Ganz auseinander ist der Mann von Eisen, und statt seiner glotzt dich ein erbarmungswürdiger Jammermeier an, ein schwaches, zimperliches Knäblein, kurz, ein Schlappschwanz, wie Nasdrjow zu sagen pflegte.

Dies Geschwätz, diese Gerüchte und Kombinationen gingen – ich weiß selbst nicht warum – besonders hart dem Staatsanwalt ans Leder. Und so niederschmetternd war die Wirkung auf den Ärmsten, daß er, von der Sitzung heimgekehrt, tiefsinnig vor sich niederstarrte, noch kopfschüttelnd eine Weile grübelte und dann ganz unvermittelt, »stehend freihändig«, wie man zu sagen pflegt, den Geist aufgab. Ob ihn ein Schlagfluß aus dem Leben raffte, oder was es sonst war, – sicher ist, daß er, so wie er ging und stand, urplötzlich längelang zu Boden stürzte. Es gab das übliche Geschrei, man rang die Hände überm Kopf und stöhnte: »Gottogott!« Man schickte nach dem Doktor, daß er ihm noch schnell zur Ader lasse; doch man konnte es sich leider nicht verhehlen, daß der Staatsanwalt nur noch ein seelenloser Leichnam war. Und dabei ist der Tod solch eines Dutzendmenschen von der gleichen Furchtbarkeit umwittert wie des größten Mannes Tod. Da lag er nun, der eben noch umherging und sich munter rührte, Whist spielte, Haftbefehle unterschrieb und ein so häufiger Gast im Kreise der Beamten war mit seinen dicken Brauen und dem Augenzwinkern, – da lag er auf dem Eßtisch steif und kalt und zwinkerte nicht mehr. Die eine seiner Brauen war um eine Kleinigkeit emporgezogen, und dadurch kam in das spitzgewordene Gesicht etwas wie eine stumme Frage. Ob der verblichene Beamte fragte, warum er eigentlich gestorben war, oder – warum er eigentlich gelebt hatte, – das weiß der liebe Gott allein.

– Aber das ist denn doch im höchsten Grade übertrieben! Das geht doch über Kreid' und Rotstein! Es ist völlig ausgeschlossen, daß sich die Beamten der Stadt N. so in das Bockshorn jagen ließen, daß sie sich so hirnverbrannten Unsinn aus den Fingern saugen und soweit danebenhauen konnten, wo die schlichte Wahrheit doch selbst für ein kleines Kind glatt auf der Hand lag! Also spricht wohl mancher meiner Leser jetzt und wirft mir krasse Übertreibung vor. Die unglückseligen Würdenträger aber nennt er schlechtweg »Narren«. Denn mit der Bezeichnung »Narr« sind wir gar freigebig, wir Menschenkinder; diesen Titel werfen wir dem liebsten Nächsten zwanzigmal des Tages ins Gesicht. Es braucht ja einer unter zehn verschiedenen Eigenschaften auch nur eine törichte zu haben, o, dann gelten schon die andern neun nichts mehr, – er ist ein Narr, und damit Schluß! Der Leser hat leicht urteilen: er sitzt in seinem stillen Winkel auf der Höhe, wo der Blick bis an den Horizont schweift und leicht überschaut, was drunten vor sich geht, – da drunten, wo der Mensch nur sieht, was dicht vor seiner Nase liegt. Auch in der großen Weltenchronik unserer Erde finden sich Jahrhunderte, die der geehrte Leser wohl am liebsten streichen und zerreißen möchte, weil sie ihm vollständig unnütz scheinen. Ist die Welt nicht häufig durch Verirrungen getaumelt, welche heute, sollte man doch meinen, selbst ein kleines Kind vermeiden würde? Und wie viele krumme, finstere, schmale und mit spitzigem Gestein beschotterte, weit in die Irre führende Umwege hat die Menschheit in dem dumpfen Drang nach ewiger Wahrheit eingeschlagen! Und dabei lag der direkte Weg doch groß und breit vor ihren Augen, glatt und eben wie die Straße, die zum Prunkportal des königlichen Krönungsschlosses führt! Es ist der breiteste und der bequemste Weg, die Sonne strahlt auf ihn, bei Nacht glänzt er von tausend Fackeln; doch die Menschen übersehen ihn und wandern rechts und links von ihm in Finsternis. Und weist sie selbst die göttliche Erleuchtung einmal auf den rechten Weg, – sie kommen immer wieder von ihm ab und gehen in die Irre. Selbst am hellen Tag geraten sie von neuem in verwachsene Dickichte, sie machen sich und ihren Nächsten immer wieder blauen Dunst und Nebel vor die Augen, jagen jedem Irrlicht nach und stehen schließlich vor dem Abgrunde und fragen sich in tödlichem Entsetzen: »Wo ist der Weg, wie finden wir ins Freie?« – Ja, das heute lebende Geschlecht erkennt das klar, es schüttelt staunend den Kopf ob solcher Torheit, und es lacht ob der Verblendung unserer Ahnen, weil es nicht sieht, daß diese Weltenchronik mit dem Feuer, das vom Himmel stammt, geschrieben ist, daß jede Letter dieser Chronik schreit und mit gestrecktem Finger erdwärts zeigt. Auf wen? Auf niemand andres als das lebende Geschlecht! Das lebende Geschlecht jedoch, – es lacht und geht mit Zuversicht und Stolz die neue Straße der Verblendung, daß die künftigen Geschlechter auch etwas zu lachen haben.

Tschitschikow selber hatte unterdes von allen diesen Dingen keine Ahnung. Denn ein Zufall, der fast neckisch wirkte, wollte, daß er sich gerade um die Zeit erkältete, – bloß Schnupfen allerdings und eine leichte Mandelschwellung. Mit dergleichen Leiden segnet ja das Klima unserer nördlichen Provinzstädte die Einwohner sehr freigebig. Damit sein Leben nicht, um aller Heiligen willen, jäh ein Ende nehme, bevor er seinen schönen Namen Tschitschikow auf eine muntere Kinderschar vererbt hätte, entschloß sich unser Held, zur Sicherheit doch lieber ein paar Tage in der Zimmerluft zu bleiben. Und während dieser Tage pflegte er seinen Hals die ganze Zeit mit warmer Milch, in welcher eine Feige schwamm, die er nachher verzehrte, und trug auf seiner rechten Backe Beutelchen voll Kampher und Kamillen. Sich die Langeweile zu vertreiben, brachte er in diesen Tagen neuerdings ein paar höchst detaillierte Listen der von ihm gekauften Bauern zu Papier, durchblätterte auch einen Band aus den Memoiren der Herzogin von Lavallière, der sich in seinem Felleisen gefunden hatte, auch holte er aus der bekannten Kassette mancherlei an Gegenständen und an Zettelchen hervor und las von diesen Zetteln viele selbst zu wiederholten Malen; dennoch langweilte das alles unsern Helden so, daß man es kaum beschreiben kann. Es war ihm einfach unbegreiflich, was es eigentlich bedeuten solle, daß von allen städtischen Beamten nicht ein einziger auch nur ein einziges Mal erschien und sich erkundigte, wie es ihm ginge. Früher hatte doch fast immer mindestens ein Wagen vor der Tür gestanden, bald der Wagen des Herrn Postmeisters, bald der des Staatsanwalts, bald der des Kreisgerichtsdirektors. – Er zuckte oft erstaunt die Achseln und ging sehr verstimmt im Zimmer auf und ab.

Endlich wurde sein Befinden besser, und er freute sich gleich einem kleinen Kind darauf, nach langer Pause wieder an die frische Luft hinauszukommen. Flugs schritt er zur Toilette. Er schloß seine Schatulle auf, goß warmes Wasser in den Napf, schlug mit dem Pinsel Schaum und machte sich mit Eifer ans Rasieren. Dafür war es denn auch freilich hohe Zeit. Als er mit den Fingerspitzen sich das Kinn betastete und in den Spiegel sah, rief er erschrocken: »Gott, da ist ja mittlerweile wohl der reinste Urwald aufgeschossen!« Mochte allerdings der Ausdruck »Urwald« etwas übertrieben sein, – von einem üppigen Saatenstand auf Kinn und Wangen durfte man schon sprechen. Als dann unser Held rasiert war, warf er sich so schwungvoll und elastisch auf das Anziehn, daß er um ein Haar aus seinen Pantalons gesprungen wäre. Bald war er gestiefelt und gespornt, er sprengte noch ein Rüchlein Kölnisch Wasser über sich, umhüllte seinen Leib mit einem warmen Pelz und eilte auf die Straße. Eine Backe trug er vorsichtshalber noch verbunden. Was immer ihm ins Auge fiel, schien ihm zu lachen: alle Häuser, alle Bauern auf der Straße, welche übrigens in Wirklichkeit höchst ernsthafte Gesichter schnitten, und von denen mehr als einer heute ganz bestimmt schon einen seiner guten Freunde tüchtig übers Ohr gehauen hatte.

Die erste der Visiten Tschitschikows war nun dem Haus des Präsidenten zugedacht. Wie er mit diesem Ziel dahinging, fiel er unwillkürlich in Gedanken: das blutjunge blonde Mädchen tauchte auf, und seine Phantasie trieb üppige Blüten, – er schalt sich selber scherzhaft aus und mußte beinah lachen über seine eigene Träumerei. In solcher Stimmung trat er durch die wohlbekannte Haustür ein. Er wollte hastig seinen Pelz abwerfen, da erklärte der Portier zu seinem grenzenlosen Staunen:

»Tut mir leid: die Herrschaften sind nicht zu sprechen.«

»Wie? Was willst du denn? Du kennst mich wohl nicht mehr? Sieh mir doch richtig ins Gesicht!« rief Tschitschikow.

»Wie soll ich Sie nicht kennen?« sagte der Portier. »Ich seh' Sie nicht zum erstenmal. Für Sie gerade ist die Herrschaft nicht zu sprechen, für die andern Leute – schon

»Das wäre ja noch lustiger! Warum? Wieso?«

»Die Herrschaft hat's gesagt; dann weiß sie auch, warum sie's sagt,« gab der Portier zurück und fügte noch ein »Ja!« hinzu. Dabei stand er dem Gast höchst ungezwungen gegenüber und zeigte keine Spur von der Devotion, mit der er sonst wohl unserm Helden aus dem Pelz geholfen hatte. Er dachte zweifellos bei sich: – Ja, ja, wenn meine Herrschaft jetzt nicht mehr für dich zu sprechen ist, dann bist du auch kein richtiger Herr, – das ist doch klar!

Ganz unbegreiflich! dachte Tschitschikow bei sich und eilte zum Gerichtsdirektor; dieser aber wurde bei dem Anblick unseres Helden so verlegen, daß er keinen nur halbwegs vernünftigen Satz zusammenbrachte, und er stotterte solch wirres Zeug daher, daß es dem Wirte wie dem Gast bald peinlich ward. Als Tschitschikow dann wieder auf der Straße war, bemühte er sich eine ganze Zeit, darüber Klarheit zu gewinnen, was denn der Direktor wohl gemeint und worauf seine Worte hätten zielen wollen; doch der Sinn davon blieb ihm vollkommen dunkel. Er ging noch zu einigen seiner Freunde: zu dem Polizeimeister, zum Vizepräsidenten und zum Postmeister, sie aber ließen ihn entweder gar nicht vor oder benahmen sich so auffällig und redeten so seltsam dunkel und gewunden, sie waren so verwirrt, und ihre Worte entbehrten so vollkommen jedes logischen Zusammenhangs, daß er im Ernst an ihrer geistigen Gesundheit zweifeln mußte. Er suchte noch den einen und den andern anzutreffen, um wenigstens die Gründe dieses seltsamen Benehmens zu erfahren, doch er brachte keinen Grund heraus. Fast wie im Halbschlaf schlenderte er ziellos durch die Stadt und fragte sich vergebens, ob er selbst auf einmal den Verstand verloren hätte, oder ob urplötzlich die Beamten allesamt verrückt geworden wären, ob er dieses alles träume, oder ob hier eine Wirklichkeit vor seinen Augen stehe, die noch toller als der dümmste Traum war. Gegen Abend erst, als es schon leise dämmerte, begab er sich zurück in seinen Gasthof, den er heute Vormittag so glänzend aufgelegt verlassen hatte, und bestellte sich aus lauter Langeweile Tee. In dumpfen, dumm verwunderten Gedanken über die Verdrehtheit seiner Lage goß er sich die erste Tasse ein, da tat sich plötzlich seine Tür auf, und vollkommen unerwartet stand Nasdrjow im Zimmer. Dieser nahm die Mütze ab und rief:

»Wie sagt das Sprichwort noch: für einen Freund sind einem sieben Werst kein Umweg! Grad komm' ich vorbei und seh', dein Fenster ist noch hell. – Hallo! denk' ich, da mußt du schnell mal rauf! Er ist bestimmt noch nicht im Bett! Das trifft sich glänzend, daß du Tee da hast, – ich trinke eine Tasse mit. Ich hab' heut' mittag einen Haufen Dreck in mich hereingefressen; und mir kollert es so sonderbar im Magen. Laß mir eine Pfeife stopfen, lieber Freund! Wo hast du deine Pfeife denn?«

»Ich bin ja Nichtraucher,« bemerkte Tschitschikow verdrossen.

»Quatsch! Ich weiß doch, daß du wie ein Schornstein rauchst! Wart, sag mal, wie heißt gleich dein Diener? Richtig, ja! Heda, du, Wachramé, hallo!«

»Er heißt nicht Wachramé er heißt Petruschka.«

»Wie? Seit wann? Er hat doch immer Wachramé geheißen?«

»Nein, ich hab' in meinem ganzen Leben keinen Wachramé gehabt.«

»Ach richtig, ja. Der Diener von Derjobin, der heißt Wachramé. Hat der Derjobin einen Dusel! Denk dir mal: die Tante von dem Kerl kriegt Krach mit ihrem Sohn, weil der eine Leibeigne heiratet. Und nun vermacht die Frau diesem Derjobin alles, was sie hat. Was, lieber Freund?! Das wär' mal was für unsereinen, – so 'ne Tante in der Hinterhand! Sag aber, Alter, warum ziehst du dich denn so von aller Welt zurück und läßt dich nirgends blicken? Ja, ich weiß, deine gelehrten Studien kosten dir viel Zeit, und du mußt ewig schmökern (woraus Nasdrjow entnahm, daß unser Held sich mit der Wissenschaft beschäftige und so viel lese, weiß ich nicht, und Tschitschikow, der wußte es erst recht nicht). Was ich noch sagen wollte, alter Freund und Kupferstecher Tschitschikow: neulich, da hättest du dabei sein müssen . . .! Das wäre so ein Fressen für dein böses Maul gewesen (weshalb Tschitschikow ein böses Maul besitzen sollte, ist desgleichen unbekannt). Also, stell' dir mal vor, geliebter Gönner, bei dem Kaufmann Lichatschow, da haben wir getempelt . . . Himmel, wurde da gelacht! Perependjow war auch dabei und sagte gleich: ›Jetzt fehlt hier bloß noch Tschitschikow, – das wär' so was für ihn!‹ (Und dabei hatte Tschitschikow den Herrn Perependjow in seinem ganzen Leben nicht gesehn.) Eins aber kannst du nicht bestreiten, lieber Freund: neulich, wie wir bei mir da draußen Dame spielten, – das war schon hundsgemein von dir. Ich hatte positiv gewonnen . . . So 'ne Schummelei! Bloß, weiß der Teufel, wie es kommt: ich kann nun einmal keinem böse sein. Du, kürzlich beim Gerichtsdirektor . . . Ach, was ich noch sagen wollte, ja: die ganze Stadt ist wild auf dich. Du machst gefälschte Kassenscheine, sagen sie. Sie haben sich natürlich alle gleich auf mich gestürzt . . . Na aber, ich hab' mich wie eine Mauer vor dich hingepflanzt. Ich habe ihnen vorgeschwindelt, daß wir beide Konpennäler wären, und ich hätte auch schon deinen Vater gut gekannt. Du kannst ganz ruhig sein, – ich hab' sie mächtig angesohlt!«

»Ich mach' gefälschte Kassenscheine?!« sagte Tschitschikow und sprang von seinem Sitz empor.

»Warum jagst du der Bande auch den Schrecken ein?« sagte Nasdrjow. »Sie sind ja, hol's der Kuckuck, ganz verrückt vor Angst. Du wärst ein Straßenräuber und ein Spitzel, meinen sie. Der Staatsanwalt ist ja vor Angst schlankweg gestorben. Morgen ist schon die Beerdigung. Du kommst doch hin? Wenn man's bei Licht besieht, so fürchten sie sich wohl besonders vor dem neuen Oberpräsidenten, daß der ihnen deinetwegen schließlich eklig in die Suppe spuckt. Na, meine Meinung ist: wenn dieser neue Oberbonze seine Nase gar zu hoch trägt und sich erst groß mausig macht, wird er bei unserm Adel nicht viel Seide spinnen. Denn der Adel will mit Sammetpfötchen angefaßt sein, – ist's nicht wahr? Natürlich kann er sich in der Kanzlei verschanzen und sich, wenn er das will, vom Bällegeben drücken. Aber was bezweckt er denn damit? Auf die Art kommt er hier nicht weit. Eins muß ich dir ja sagen, Tschitschikow: es ist 'ne recht gewagte Sache, die du vorhast.«

»Was? Gewagte Sache?« fragte Tschitschikow beunruhigt.

»Na, die Entführung der Präsidententochter. Wenn ich dir die Wahrheit sagen soll: ich wußte das von Anfang an, bei Gott, ich hab's von Anfang an gewußt. Gleich, wie ich dich mit ihr dort auf dem Balle sah, dacht' ich mir schon: – Da steckt etwas dahinter, wenn Tschitschikow . . . – Im übrigen ist mir ja dein Geschmack vollkommen unverständlich, – ich finde sie auch nicht die Spur von hübsch. Da wüßt' ich dir 'ne andre, lieber Freund: die Nichte von Bikussow, die Tochter von der Schwester seiner Frau. Das ist ein Mädel, sag' ich dir! Ein Bild von einem Weib, mit einem Wort!«

»Ja aber sag, was faselst du denn da? Entführung? Präsidententochter? Bist du toll?« rief Tschitschikow und machte große Augen.

»Hör schon auf, du Heimlichtuer! Wenn ich dir doch sag': ich komme extra zu dir rauf, weil ich dir helfen will. O, furchtbar gern! Ich mache dir den Trauzeugen, ich sorge für den Wagen und den Vorspann und verlange dafür nur, daß du mir gleich dreitausend Rubel pumpst. Ich bin in einer fürchterlichen Klemme, lieber Freund!«

Während Nasdrjow all dieses Zeug daherschwätzte, rieb Tschitschikow sich wiederholt die Augen, um sich darüber klar zu werden, ob er träume oder wache. Was, er sollte falsche Kassenscheine machen? Was, er sollte mit dem Plane umgehen, die Präsidententochter zu entführen? Was, man legte ihm den jähen Tod des Staatsanwalts zur Last? Und nun kam noch ein neuer Oberpräsident! Das alles jagte ihm den tollsten Schrecken ein.

– Nein, wenn die Dinge so stehn, dachte er bei sich, dann darf ich hier nicht lange fackeln; und es ist die höchste Zeit, daß ich mich drücke.

Er suchte seinen Freund Nasdrjow aufs schnellste loszuwerden. Und als dieser draußen war, rief er sofort nach Selifan und gab ihm die gemessene Weisung, morgen mit der Sonne aufzustehen, die Halbchaise herzurichten, ihre Räder gut zu schmieren und so fort. Er wolle unbedingt um sechs Uhr früh die Stadt verlasen.

»Schön, gnädiger Herr!« gab Selifan zur Antwort. Doch er blieb noch eine ganze Weile an der Türe stehn und rührte sich nicht einen Zoll vom Fleck.

Der gnädige Herr befahl Petruschka, ungesäumt das Felleisen, auf dem der Staub in einer dicken Schicht lag, unter dem Bett hervorzuziehen. Herr und Diener warfen darauf ohne langes Überlegen alles, wie es traf, hinein: schmutzige Wäsche, saubere Wäsche, Strümpfe, Hemden, Stiefelhölzer, den Kalender . . . Dies alles stopfte Tschitschikow in seinen Koffer, wie's ihm in die Finger kam, – er wollte unbedingt noch heute Abend fertig werden, damit es morgen früh gar keinen Aufenthalt mehr gäbe.

Selifan sah diesem Wirken zwei Minuten seelenruhig zu; endlich entschloß er sich, langsam zur Tür hinauszugehn. Und langsam, mit der größten Langsamkeit, die eines Menschen Phantasie sich malen kann, stieg er die Treppe in das Erdgeschoß hinab und ließ auf jeder von den ausgetretenen Stufen den getreuen Abdruck einer nassen Stiefelsohle hinter sich. Und dabei kratzte er sich nachdenklich am Kopf.

Was hatte dieses Kratzen zu bedeuten? Was steckt überhaupt dahinter, wenn sich einer auf die Art den Kopf kratzt? – Hatte Selifan vielleicht für morgen mit einem Kumpan, der sich so schäbig trug wie er, ein fröhliches Beisammensein in einem kaiserlichen Schnapsausschank verabredet, und war er nun verstimmt, weil man ihm das verpurrte? Oder hatte er am neuen Ort schon zarte Herzensbande angeknüpft, und ging's ihm ans Gemüt, daß er fortan nicht mehr, die weiße Hand der Maid manierlich in der seinen, drunten vor dem Hoftor stehen konnte, abends um die Schummerstunde, wenn in der Nähe irgendwo ein Bursch in rotem Hemd den Mädeln leis ein Stückchen auf der Laute klimpert und das arbeitsmüde Volk halblaute Worte miteinander tauscht? Oder fiel ihm der Abschied schwer vom angewärmten Schlafplatz auf der Ofenbank in der Gesindestube und von der guten Kohlsuppe sowie den mürben städtischen Pasteten? Graute dem dadurch Verzärtelten vor Regen, Schnee und Schlackerwetter, vor der Last und Plackerei des Reiselebens? – Weiß der liebe Gott, – wir werden es wohl kaum enträtseln. Denn es sagt gar viel und kann gar vieles sagen, wenn ein Russe aus dem Volk sich so am Kopfe kratzt . . .

 


 << zurück weiter >>