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Die Arbeiter unsrer Fabrik setzten sich deutlich aus drei Bevölkerungsgruppen zusammen: aus ehemaligen ländlichen Arbeitern, Knechten, Tagelöhnern und Häuslern, die teils aus ihrem heimatlichen Dorfe verzogen waren, teils von ihm aus täglich zur Fabrik kamen; aus eigentlichen großstädtischen Industriearbeitern, die ganz selbstverständlich schon von Kindesbeinen an für die Fabrikarbeit bestimmt gewesen waren, und deren Großeltern, wenigstens aber Eltern ebenfalls schon ihr Brod und ihren Lebensberuf in der Fabrik gefunden hatten, und endlich aus Angehörigen kleiner Handwerker- und Beamtenfamilien, die meist aus kleinen oder mittelgroßen Provinzialstädten, seltner aus einer Großstadt zu uns herein gekommen waren. Die mittelste Gruppe war selbstverständlich die an Köpfen zahlreichste; jedoch kam ihnen die Schar der ehemaligen Landbewohner auch sehr nahe; die kleinste Gruppe bildeten die zuletzt genannten Klein- und Mittelstädter. Diese waren übrigens fast durchweg gelernte Leute, meist Schlosser, und standen noch in jugendlichem Alter, zwischen 18 und 23 Jahren; die Leute vom Lande thaten dagegen Handarbeit oder waren an Bohr-, Hobel- und Stoßmaschinen beschäftigt; die eigentlichen, wenn man so sagen darf, zunftmäßigen Fabrikarbeiter verteilten sich endlich auf alle drei Kategorien der Handarbeit, der Maschinenarbeit und auch – freilich zu einem geringen Teile – der gelernten Berufe der Schlosser, Schmiede, Tischler, Zimmerleute.
Es ist selbstverständlich, daß die Angehörigen dieser drei Gruppen auch den Geist, die Gesinnung, den sozialen Charakter, die Lebensanschauungen und Lebensgewohnheiten mit in die Fabrik und das Zusammenleben unsrer Arbeiterschaft hineinbrachten, die in den drei sonst getrennten Bevölkerungsschichten ganz verschiedenartig vorhanden sind. Natürlich blieben dieselben hier nun nicht scharf von einander getrennt und dauernd rein erhalten. Vielmehr rieben sie sich stark aneinander, schliffen sich gegenseitig ab und wurden, namentlich unter dem Drucke der sozialdemokratischen Agitation und des eigentümlichen neuen Fabriklebens, mehr oder weniger nivelliert. Und das geschah bei den einzelnen Leuten desto schneller und intensiver, je länger sie bereits diesem Fabrikleben angehörten und je rückhaltloser sie die Verbindung mit der Vergangenheit gelöst hatten. Dennoch flutete immer von frischem, in immer neuer Reinheit derselbe dreifache Strom der Gesinnung und Gesittung, der politischen und sozialen Anschauungen und Wünsche in unsre Fabrik herein, da immer von neuem frische Kräfte vom Lande und aus den kleinen und Mittelstädten in sie eintraten, die einen, vor allem die ländlichen, um dauernd in ihr zu bleiben, jene andern, um nur eine längere oder kürzere Zeit durch sie hindurchzugehen, zu lernen, was hier zu lernen war, und dann in den Kleinbetrieb der väterlichen Werkstatt zurückzukehren oder in kommunale und staatliche Anstalten technischer Art, wie Eisenbahnwerkstätten, Feuerwehrdepots, Gas- und Wasserleitungsanstalten als subalterne technische Beamte einzutreten oder auch, falls sie in der Fabrik blieben, doch hier oft Meister oder Monteure und damit ebenfalls der eigentlichen Arbeiterklasse entnommen zu werden.
Entsprechend dieser scharf unterscheidbaren und in ihrer Wirksamkeit nach allen Seiten und Beziehungen hin bedeutsamen dreifachen sozialen Schicht war nun auch, man kann ruhig sagen, eine dreifache Art der geistigen Bildung deutlich unter ihnen zu erkennen. Diese ist freilich nicht allein durch jenen Einfluß entstanden; aber ebensowenig würde der andre gleichwichtige Faktor, der zur andern Hälfte daran Ursache war, der Unterricht in den verschiedenen Schulen, die die Leute besucht hatten, und zwar der Dorfschule für die ehemals ländlichen Arbeiter, der sogenannten Bürgerschule, für die aus sozial besser situierten Kreisen stammenden Mittelstädter und der einfachen großstädtischen Gemeinde-, Bezirks- oder Volksschule für die eigentlich großindustriellen Fabrikarbeiter, diese dreifache Art von Bildung allein haben zeitigen können. Dazu sind die Unterschiede dort der Erwerbsart, des Einkommens, der Lebensgewohnheiten, hier des Lehrpersonals, der Lehrform, des Lehrinhalts an sich nicht groß genug. Erst der gemeinsame Einfluß beider Faktoren hat sie nach allen meinen Beobachtungen hervorgebracht. Denn indem je eine dieser drei Schularten sich überwiegend benutzt zeigt von allemal je einer der drei Bevölkerungsgruppen, und indem so die geistige Eigenart der Schule mit der ganzen sozialen Eigenart der betreffenden Bevölkerungsschicht, deren Kinder eben diese Schulen hauptsächlich besuchen, zusammentrifft und sich unwillkürlich in den einzelnen kleinen Persönlichkeiten der Kinder verbindet, entsteht in der That eine immer von den beiden andern deutlich unterscheidbare Qualität des Wissens, des Denkens, des ganzen geistigen Niveaus, von denen man jede nunmehr mit Recht als eine eigentümliche Kategorie der Bildung bezeichnen darf, und von denen eine jede in den Personen zahlreicher Arbeiter bald reiner bald unbestimmter verkörpert war.
Ich beginne mit der Schilderung der Dorfschulbildung, wie sie an meinen ehemals ländlichen Arbeitsgenossen zu Tage trat. Sie zeigte sich, das ist ihr oberstes Charakteristikum, als durchaus religiös und konfessionell dogmatisch bestimmt, als eine, man kann wohl kurz sagen, biblische Bildung. Und das war ebenso natürlich als erklärlich. Der Religionsunterricht der Dorfschule nimmt anerkanntermaßen qualitativ und quantitativ den breitesten Raum in ihrem Lehrgebäude ein. Aber nicht nur das, er ist auch das starke Rückgrat des gesamten übrigen Unterrichts. Der Geist und der Ton, der in jenen herrscht, wird weniger in ausdrücklichen Worten und mit bewußter Lehrtendenz als durch die Persönlichkeit und die Haltung des Lehrers und durch die ganze Art seines Unterrichtens auch in die übrigen Lehrstunden hineingetragen und gilt jedenfalls vor allem in den Augen der Kinder als derselbe hier wie dort. In den Singstunden werden geradezu außer Vaterlands- und Volksliedern, die aber ebenfalls vielfach religiösen Charakter tragen, besonders Choräle und Gesangbuchslieder geübt; das Lesebuch, das in der Lesestunde benutzt wird, enthält zahlreiche religiös-moralisierende Erzählungen, und der Geschichtsunterricht ist zu einem großen Teile Unterricht in der jüdischen und biblischen Geschichte; so wird auch ganz unwillkürlich in der Schreib- und Rechenstunde, in der Geographie und Naturkunde der höhere letzte Gesichtspunkt, der sie beherrscht, der religiöse sein. Dazu kommt, daß das Familienleben im Elternhause, die gesamte Lebensanschauung der Dorfgenossen, die ganze Sitte, die in der Gemeinde herrscht, kirchlich, religiös beeinflußt und bestimmt ist, daß also auch hier, außerhalb der Schule, der Heranwachsende Knabe immer und überall auf Gedankenkreise, Ansichten, Worte, Handlungen und Gewohnheiten trifft, die durch dieselben geistigen Faktoren bedingt sind, die den gesamten Unterricht in der Schule erfüllen und treiben. Und diese Einflüsse ändern sich auch nicht, wenn er die Schule verläßt und als Knecht, als Tagearbeiter oder Eigenhäusler seinen Lebensberuf in der Heimat gefunden hat. Zeigt er außerdem, was nicht häufig ist, auch nach der Schulzeit einiges Bedürfnis nach geistiger Fortbildung, so ist wieder der Pfarrer der einzige gebildete Mann, mit dem er ab und an zusammentrifft und sich auszusprechen vermag. Dieser aber hat seinerseits, so oft er mit ihm verkehrt, zunächst seelsorgerische Absichten und Pflichten gegen ihn und vermittelt ihm darum neue Gedanken auch wieder nur in vorwiegend religiöser Form und Hülle; und endlich bleibt die Kanzel die einzige Stätte, sind Bibel, Gesangbuch und vielleicht noch ein von den Vätern ererbtes uraltes Gebetbuch meist die einzigen Bücher, woher er sich seine geistige Nahrung und seine Anregungen holt.
So wird es geradezu zu einer Notwendigkeit, daß der Vorstellungskreis, den der schlichte, handarbeitende Mann auf dem Lande sich allmählich aneignet, durchaus auf der religiösen Seite liegt, daß der kleine Schatz von Wissen, den er besitzt, auf das Gebiet des profanen Wissens der Schrift beschränkt und von dem Stand ihrer geistigen Bildung durchaus abhängig ist, und daß er die Gedanken, die er allmählich selbständig denken lernt, in den Bahnen, in den Formen, den Kategorien und Begriffen denkt, in denen die Menschen der heiligen Schrift gedacht haben. Seine Geschichtsauffassung ist unlösbar verknüpft mit dem Wunderglauben, ohne den die Jahrhunderte des Altertums, des Mittelalters und des nachreformatorischen Zeitraums bis zur Aufklärungszeit die Vergangenheit nicht auszufüllen und sich vorzustellen vermochten. Die Natur ist ihm ein unerforschtes, undurchdringbares Rätsel, eine schweigende Sphinx, über die ein dichter Schleier gebreitet ist; er kennt noch nichts von den Entwicklungsgesetzen, die die moderne Wissenschaft lehrt, von Urschleim und Stoffwechsel; und der biblische Schöpfungsbericht ist ihm nach wie vor die eigentliche Quelle seiner Naturauffassung, der einzige maßgebende Ausgangspunkt seiner Gedanken über die Welt. Endlich das gesellschaftliche Leben der Menschheit erscheint ihm, wenn überhaupt, so wie in Israel vornehmlich von religiösen und sittlichen Beweggründen bestimmt und durch das in die erstarrte Sitte gebannte kirchliche Gemeindeleben geregelt.
Und diese so gestaltete biblische Anschauungsform erwies sich mir um so fester in Kopf und Herz der Leute eingeprägt, als sie deutlich in ihren Augen getragen und gestützt, verbrieft und versiegelt erschien durch die überlieferte und unfehlbare Autorität der Schrift, aus der sie stammt. Diese Autorität gilt ihnen gemäß der alten Auffassung von der Inspiration nicht bloß, soweit diese Schrift »Jesum Christum treibet,« sondern sie gilt gleichwertig und gleich einschränkungslos von allem andern, was sie an profanem Wissen mitteilt, bis auf den Punkt über dem i. Ich sah, daß sie in ihr nicht nur auf die Frage befriedigende Antwort suchten, wie der Mensch den Frieden des Herzens gewinnen kann, sondern auch auf alle möglichen Zweifel des Verstandes und Fragen des Wissens. Ja ich darf sagen, zu diesem letzten Zwecke waren sie ganz besonders gewöhnt, die Schrift zu benutzen, während ihnen ihr Wert für die Lösung der andern Frage meist völlig unklar geblieben war.
Dazu trat als eine dritte ebenso wichtige und von allen ernsten gedankenvollen Männern längst anerkannte, in meinem Verkehr mit den Leuten ebenfalls täglich bestätigte Erscheinung der Umstand hinzu, daß heutzutage in der Schule die Heilsthatsachen des Evangeliums nicht als persönliche Lebenswahrheiten unmittelbar, sondern als Lern- und Memorierstoff lehr- und schulmäßig, wie sie im Katechismus formuliert sind, nicht den Herzen, sondern den Köpfen der Kinder übermittelt zu werden pflegen. Der Religionsunterricht ist hier also vorwiegend Verstandesunterricht anstatt Erziehung des Charakters; die christliche Heilswahrheit kalter Lernstoff anstatt warme, alles durchdringende Lebenskraft; Jesus Christus – nach dem Vorgang des Dogmas – mehr ein metaphysisches Rätsel als eine historische gottvolle Persönlichkeit. Und darf ich nach meinen Erfahrungen weiter schließen, so ist auch der übliche Konfirmandenunterricht kein Ersatz für den Mangel des Schulunterrichts. Seine Hauptaufgabe, eine feste Grundlage für die Auseinandersetzung der ewigen Wahrheiten der Religion mit den mannigfachen Thatsachen der Erfahrung zu bieten, leistet auch er heute – nach seiner Wirkung auf die Leute zu schließen – nicht. Vielmehr ist es meine durchgehende Beobachtung, daß der vielleicht feierliche Eindruck der Konfirmation in kurzer Zeit schon in der Jugend spurlos verwischt ist.
Diese drei Züge, die Abhängigkeit der geistigen Bildung von den Gedankenkreisen und der Bildungsweise der Schrift, die falsche Auffassung von ihrer Autorität und die vorwiegend verstandesmäßige Aneignung der Wahrheiten des Christentums gaben ausschließlich der Bildung die Signatur, die jene ehemaligen Landbewohner, mehr oder weniger scharf geprägt, immer von neuem mit in die Stadt und unsre Fabrik hineinbrachten, und die hier für sie bis auf den letzten Mann unter ihnen auch immer von neuem die Ursache einer schweren intellektuellen und religiösen Krisis wurde, in der diese Bildung dann fast immer Bankerott und einer andern Platz machen mußte.
Einen andern Charakter zeigte die Bildung der jungen Leute, die aus meist besser situierten Handwerker- und kleinen Beamtenfamilien eben erst zu uns hereingekommen waren. In den Bürgerschulen, die sie besucht hatten, sind die Schulstunden zahlreicher, der Lehrplan reichhaltiger, der Lehrinhalt größer und gehaltvoller als in jenen Dorfschulen. Was hier an Lehrstoff geboten wird, sind nicht nur, wie dort vielfach, bloße Anfangsgründe, sondern mehr, meist ein abgerundetes, geschlossenes, systematisches Ganze, das den Versuch macht, zwar nicht den gesamten Inhalt eines Wissensgebietes den Kindern nahe zu bringen, wohl aber ihnen doch einen klaren Überblick über diese gesamte Materie, z. B. der Geographie, Naturgeschichte u. s. w., und jedenfalls die praktisch wertvollen Hauptsachen und das ganze Gerippe der Disziplin zu geben. Weiter ist der Unterricht in diesen einzelnen Fächern offenbar ganz anders als in der Dorfschule Selbstzweck. Er vollzieht sich lange nicht so wie dort in einer religiös-moralisierenden Atmosphäre; der in ihnen gelehrte Wissensstoff fußt vielmehr auf den Ergebnissen der neuen, modernen Wissenschaft und ist unabhängiger als dort von dem Wissensstoffe der Bibel und der Gedankenwelt des überlieferten Dogmas. Der Unterricht ist also moderner und profaner zugleich; nicht jede Schulstunde ist so wie dort eine religiös bestimmte Stunde.
Der Religionsunterricht selbst aber ist nur ein allerdings bedeutsamer Bestandteil des Unterrichts, aber eben nur wieder ein Bestandteil des Unterrichts, nicht der Erziehung, der im allgemeinen den andern Fächern gleichartig betrieben wird. Denn der Religionsunterricht ist auch hier genau wie in der Dorfschule vorwiegend Katechismusunterricht. Sein Gegenstand ist das logisch mit den Mitteln einer antiken längstveralteten Wissenschaft aufgebaute Lehrgebäude des kirchlichen Dogmas, seine Aneignungsform das verstandesmäßige Begreifen und Auswendiglernen dieser Glaubenssätze, Bibelsprüche und Gesangbuchverse ohne ebenso starke und innerliche Aneignung ihrer religiösen und sittlichen Lebenskräfte in der Person Jesu Christi – und all das immer auch hier unter selbstverständlicher Anerkennung der wörtlichen Inspiration der Schrift und der Richtigkeit auch aller ihrer profanen Bestandteile. Aber man erlaubt sich hinsichtlich des letztern in der Praxis eine starke, wenn auch stillschweigende Korrektur, indem man in den übrigen Unterrichtsstunden eben diese nach innerer logischer Notwendigkeit allgemeingiltige Autorität eliminiert und die modernen Erkenntnisse hier als Autorität anerkennt und benutzt, ohne jedoch in eine klare Auseinandersetzung dieses innern Widerspruchs einzutreten. So wird der Religionsunterricht einerseits zwar ebenfalls wie der andre Unterricht ein rein verstandsmäßiges Lehrgebiet, aber er wird andrerseits auch von allen übrigen als etwas besonders Heikles mit Peinlichkeit isoliert.
Das pflegt nun freilich zunächst der naiven Schülerseele fast nie zum Bewußtsein zu kommen, umsoweniger, da die in den elterlichen Kreisen noch einigermaßen als wohlanständig erhaltene kirchliche Sitte und der rationalistisch-ethische Sinn solange einen gewissen Halt zu bieten vermag, als der herangewachsene junge Mann, sozial leidlich geschützt, in dieser Schicht bleibt. Sowie er aber aus ihr heraus und, wie bei uns in einen großen Fabrikbetrieb und damit auch in eine andre soziale Gruppe, hier diejenigen der großstädtischen sozialdemokratischen Industriearbeiter eintritt, wird ihm dieser innere Widerspruch, dieser große Schaden an seiner geistigen und religiösen Bildung fühlbar, und auch er ist gezwungen, gleich dem Genossen vom Lande eine Krisis durchzumachen, die zwar nicht eine so radikale Wirkung, nicht eine so völlige Hilf- und Haltlosigkeit auch seines profanen Wissens zur Folge hat wie bei diesem, aus der er aber ebenfalls meist für immer als ein andrer hervorgeht, und die er vor allem, wie sich zeigen wird, mit der Darangabe des ganzen ihm gelehrten und bisher autoritativen Christentums zu bezahlen pflegt.
Endlich die großstädtische Gemeindeschulbildung, die Durchschnittsbildung der letzten und größten Gruppe unsrer Arbeiterschaft. Sie ähnelte wohl, nach dem Eindrucke, den ich hatte, in manchem derjenigen der Bürgerschule, aber sie steht, nach Bildungsziel und Lehrcharakter der Schule, im Grunde doch nur auf etwa demselben Niveau wie die Bildung einer großen völlig ausgebauten achtklassigen Dorfschule. Auch hier die übertriebene Abhängigkeit der profanen Wissensbestandteile von denjenigen der Bibel, auch hier die falsche Auffassung von deren Autorität, auch hier dieselbe überwiegend verstandesmäßige Mitteilung und Aneignung der christlichen Heilsthatsachen ähnlich wie bei jedem andern Lehrstoff.
Aber hier tritt nun die schlimme Wirkung dieses Zustandes viel schneller und unmittelbarer an den Tag. Denn bei den Schülern dieser Schulgattung pflegt im Durchschnitt die erhaltende, überbrückende, verbessernde Kraft der häuslichen und gesellschaftlichen Sitte zu fehlen, die sich noch in den beiden andern sozialen Gruppen lebendig zeigte. Denn unter dem Drucke der neuen alles verändernden Gebilde des großindustriellen Fabrikbetriebes wurde diese jüngste Bevölkerungsschicht der berufsmäßigen großstädtischen Fabrikarbeiter von allen überlieferten, festen Lebensformen befreit, die aus dem Boden früherer Gesellschaftsgruppierungen heraus gewachsen waren; an ihrer Stelle sind neue noch nicht geschaffen, kaum erst in Ansätzen, und dann häufig nur in unreifen und lebensunfähigen, vorhanden. Der Gegensatz aller Stätigkeit, ein fortwährendes unruhiges Hin- und Herfluten, der das Leben dieser Menschen zu keinem gleichmäßigen Gange kommen läßt, ist das maßgebende Gesetz, dem sie unterworfen sind; die Macht des Augenblicks ist an die Stelle der alten kraftvollen Sitte getreten.
Diese Unruhe des neuen sozialen Lebens übt auch auf den geistigen und religiösen Bildungscharakter der meisten einen folgenschweren Einfluß aus. Sie läßt es zu keiner Erhaltung und Festigung der in der Schule angeeigneten Bildungselemente kommen, schwemmt vielmehr eine Menge davon schnell wieder hinweg, macht bedenklich gegen die Zuverlässigkeit der bewahrten und weckt damit zugleich das Bedürfnis und die Sehnsucht nach einer bessern und umfassendern Bildung, die frei von Widersprüchen ist, die vor der modernsten Kritik besteht, die ihnen wieder imponiert, ihnen zugleich einen Ersatz und eine Befriedigung bietet für die teilweise oder gänzliche Leere und Fadheit der eintönigen uninteressanten Berufsarbeit, und für die sie bereit sind, die ganze alte, niemals geliebte, weil niemals recht fruchtbar gewordene schulmäßige Jugendbildung zu opfern. So tritt bei den meisten und gerade den Begabten, Strebsamen, Gedankenvollen dieser dritten Gruppe jene oben bereits erwähnte Krisis plötzlicher, heftiger und gründlicher ein als bei den Angehörigen der zwei andern Gruppen; und bei ihnen kommt sie im Gegensatz zu jenen meist ohne maßgebenden Zwang und Einfluß von andern aus dem Drucke der Verhältnisse, in die sie hineingeboren sind, aus dem eignen Empfinden der Gegensätze und Lücken heraus, aus dem selbständigen Nachdenken über die Menschen und Dinge rings umher.
Dieser Bildungstrieb nun sitzt tief als eine elementare Macht in vielen Köpfen und Herzen dieser dritten Gruppe von Arbeitern unsrer Fabrik. Er trat täglich und überall dem Beobachter entgegen und kam in immer neuen kleinen Einzelzügen, in Worten und Wünschen, in Fragen und Seufzern zu bald klarerem, bald unklarerem, bald ernsthaftem und schmerzlichem, bald komischem und heiterm Ausdruck; in besonders kraftvollen Naturen äußerte er sich geradezu als eine Art von Bildungshunger, der urteilslos und unterschiedslos verschlingt, wessen er habhaft werden kann; aber seinen unmittelbarsten und grandiosesten Ausdruck erhält er doch in der internationalen Bewegung für den Achtstundentag. Das ist nicht nur eine bloße Manifestation der Faulheit und der Genußsucht, des Übermuts und der Oppositionslust, auch nicht nur der sozialdemokratischen Gesinnung und wirtschaftlicher Forderungen, sondern nach meiner Beobachtung und Überzeugung zugleich ein Beweis der Sehnsucht des Fabrikvolkes nach mehr Licht, Wahrheit und Wissen. Man will Zeit gewinnen, um auch dem geistigen Menschen die Pflege zu teil werden zu lassen, auf die er selbst in einem schlichten Fabrikarbeiter Recht und Anspruch hat. Das ist aber heute, ich habe das an mir selbst zur Genüge erprobt, der Mehrzahl noch durchaus nicht möglich, die von früh sechs Uhr bis abends sechs Uhr und länger an ihre Plätze in der tosenden dunstigen Fabrik gefesselt ist, die außerdem oft einen langen, nicht selten einstündigen Weg zur und von der Fabrik hat und des Abends schmutzig, hungrig und müde heimkommt. Unter diesem Gesichtspunkte, und jene Achtstundenbewegung ernsthaft so verstanden, wie sie ein Teil des Volkes nicht minder ernsthaft tatsächlich versteht, nämlich als den einzig gangbaren Weg zu einer wirklich ausreichenden Befriedigung dieses Bildungsinteresses, scheue ich mich nicht, sie nicht nur vorurteilslos zu würdigen und anzuerkennen, sondern auch für ihre allmähliche, schrittweise Erfüllung einzutreten, unbeeinflußt und unbeirrt auch davon, daß sie von rüden Elementen als Anlaß zu ebenso unsittlichen als nutzlosen und dummejungenhaften Demonstrationen benutzt wird.
Aber freilich, so stark die Sehnsucht nach Bildung in den Köpfen steckt, so viele sind der Hemmnisse, die sich ihrer Befriedigung in den Weg stellen. Das eine hauptsächliche, die allzulange Arbeitszeit, verbunden mit weiten Fabrikwegen, nannte ich schon; weitere wichtige sind die kleinen engen Wohnungen mit den vielen Personen in dem einen Zimmer, dann die Sorgen hier, die Gelegenheiten zum Genuß und Vergnügen da. Das alles macht, daß bei vielen weniger Willensstärken und idealgerichteten Naturen dieser Drang nach Bildung immer nur Wunsch und Drang bleibt und selten über gute Absichten und Ansätze hinauskommt; das bewirkt vor allem auch, daß der größte Teil der Jugend dieses Bildungsinteresses im Grunde entbehrte. Auch die ehemaligen Landarbeiter, sahen wir, besaßen es selten aus eigner unmittelbarer Initiative, und die Angehörigen aus bessern Kreisen mir mehr als Streben nach Fachbildung. Die Strebemutigen, die Lernbegierigen, die Vorwärtsringenden waren zumeist Männer der ausgehenden zwanziger und der dreißiger Jahre aus der letzten, dritten sozialen Schicht.
Die drei Arten von Bildung, die ich bisher schilderte, machen nun in der Fabrik eine völlige Wandlung durch. Sie werden unter dem Einflusse der Sozialdemokratie unaufhörlich zerstört und gehen in einer neuen, der sozialdemokratischen Bildung unter.
Denn die Sozialdemokratie hat sich auch dieser Volksbildungsfrage bemächtigt. Sie hat den Drang nach Wissen da unten wie niemand belauscht und hat sich seit zwanzig Jahren daran gemacht, ihn durch systematische Arbeit im großen zu befriedigen. So hat sie allmählich eine Volkslitteratur geschaffen, von deren Umfange heute die Kataloge der sozialdemokratischen Buchhandlungen zeugen, von einem Gehalte, wie ihn Volksbücher bisher nie zu bieten wagten, oberflächlicher und leichtfertiger zwar als die bisherigen religiösen und vaterländischen, aber nicht weniger populär wie diese und neu, modern, zeitgemäß wie keine von beiden. Sie hat darin unternommen, was jene unterlassen: sie hat mit kühnem Griffe die moderne Wissenschaft popularisiert. Sie hat sich dabei nicht gescheut, dem Volke auch trockne Zahlen, langwierige, nüchterne Demonstrationen, ernste, schwere Kost, Dinge, die es noch lange nicht verstehen wird, zu bieten. Aber eben das will heute das Volk; es will in mühsamer Gedankenarbeit mitringen um die Probleme, die auch ihm heute nahe treten und Kopf und Stirn heiß machen; es will dasselbe Neue haben wie die andern, die Gebildeten, zu denen es bisher wunschlos aufgeschaut hat; es will mit ihnen selbständig, souverän sein auch im Reiche der Gedanken.
Doch die Sozialdemokratie hat nicht edel und ehrlich dabei gehandelt, als sie diese neue Volkslitteratur schuf. Sie mißbrauchte das Vertrauen, das das Volk ihr hierin entgegenbrachte. Sie gab ihm nicht die wahre moderne Wissenschaft, sondern ein Extrakt aus ihr, das ein Erzeugnis agitatorischer Berechnung war. Sie fälschte und strich von der neuen Wahrheit, was ihr gutdünkte, sie tauchte alles in die Farbe der Partei und stellte den so gewonnenen Inhalt ausschließlich in den Dienst ihrer Interessen. Ist es erklärtermaßen ihr oberstes höchstes Ziel, die Arbeiter in ihrem Denken, Empfinden und Handeln aus ihren bisherigen natürlichen Verbindungen mit der übrigen Gesellschaft herauszulösen, sie in unüberbrückbaren Gegensatz zu dieser, »der gesamten übrigen, reaktionären Masse« zu setzen, und ihnen nicht nur die neuen politischen und sozialen Ansichten der Partei beizubringen, sondern sie immer fester und fester auch zu einer ganz besondern, eigenartigen Gesinnung und Lebensanschauung zusammen zu schweißen, so giebt es in der That kein beßres Mittel, dies zu erreichen, als eine klug dazu zurechtgemachte und ausgenutzte neue Volkslitteratur. Diese vermag beides zugleich: den Durst der Leute nach der neuen Bildung zu stillen und den Rest der alten Bildung schnell und gründlich und für immer aus ihren Köpfen und Herzen zu reißen. Und da diese alte Bildung, wie wir wissen, völlig eingetaucht ist in den Geist des Christentums, wurzelt in dem Boden der Bibel, getränkt ist mit der Lebens- und Weltanschauung, die diese atmen, in ihr ihren letzten Halt, ihren Kern, ihre zusammenfassende, verbindende, stützende Kraft hat, mit einem Wort, da diese christliche Weltanschauung im Grunde die überlieferte Bildung und Gesinnung selbst ist, und da man wohl sah, daß alles gewonnen war, wenn sie fiel, so schnitt man die ganze neue Volkslitteratur, die man schuf, auf den Kampf mit dieser christlichen Weltanschauung zu, wählte man aus den Resultaten der modernen Wissenschaft aus, was zu ihr im Gegensatze stand oder doch bequem in Gegensatz dazu gebracht werden konnte. Der Lehre und dem Glauben von einer göttlichen Weltordnung, die die Bildung der Leute bisher bestimmt hatte, setzte man so in dieser neuen Litteratur in hundert großen und kleinen, guten und schlechten Abhandlungen aus der Religions- wie Naturkunde, aus der Geschichte und Philosophie, aus der Kunst und Litteratur die Lehre und den Glauben einer bloß natürlichen Weltordnung entgegen. Man verarbeitete die Werke eines Darwin, eines Häckel, eines Büchner; man schlachtete Spinoza und Feuerbach, Schopenhauer und Hartmann aus; die neuen Forschungen der Astronomie und Geologie, diese objektiver als andres, wurden verwertet, Strauß und Renan, Bruno Bauer und moderne katholisch-französische Encyklopädisten wurden benutzt; und endlich fälschte man – im Zeitalter der Blüte der Geschichtsforschung! – die ganze Weltgeschichte und verkündete sie dem armen Volke ausschließlich unter dem Gesichtspunkte der materialistischen Philosophie, der ökonomischen Entwicklungen. So entstand die jüngste Volkslitteratur, ein einziger, in seiner Art kühner und großartiger Versuch, in Verbindung mit der Verbreitung der neuen radikalen ökonomischen und politischen Lehren der Partei die ganze alte Bildung und Kultur, Christentum und Bibel aus Herz und Köpfen der Massen und aus der ganzen Welt hinauszufegen. In ihr findet sich kein Platz mehr für den Glauben an einen lebendigen, persönlichen Gott, der unser Vater ist, und an ein unsterbliches Leben. Sie erzählt nichts von Sünde und Schuld, von Gnade, Erlösung und Heiligung; an die Stelle des ewigen, heiligen Sittengesetzes stellt sie das kalte, starre Naturgesetz, an Stelle der Liebe das Solidaritätsgefühl, an Stelle des Ideals der Sittlichkeit die Macht der bloßen Sitte, die da wechselt mit den ökonomischen Verhältnissen des Volkes.
Und mit Gier stürzte sich nun die Schar der Bildungshungrigen da unten auf die neue Speise, die man ihnen bot. Das war ja, wie sie wähnten, das, was sie so lange gesucht und ersehnt, worum sie die »hohen Herrn« oben so lange und so bitter beneidet hatten, die Wahrheit, das Wissen, die Bildung. Diese wollten sie wenigstens haben, da sie heute noch ihr Geld, ihr Wohlsein, ihren Besitz nicht haben konnten; wenigstens geistig wollten sie ihnen ebenbürtig, nein, ihnen über sein. Und dann hatten sie ja auch die Verheißung der sozialdemokratischen Führer: daß unter dem Zeichen dieser neuen Wahrheit und Wissenschaft die Welt eine andre werden, unter ihrem Leuchten der neue, herrliche, der sozialistische Zukunftsstaat heraufziehen, und daß die Träger der neuen Wahrheit auch die Herren der neuen Zeit sein würden. So hing Gegenwart und Zukunft gerade der ringenden, vorwärtsdrängenden Arbeitergeister an diesem neuen Schatze; so kannten sie kein Halten mehr; so warfen sie um den Preis, jene zu besitzen, und diese zu erleben, freiwillig vom alten Wissen weg nicht nur das Überlebte, Überholte, den hindernden Ballast, sondern auch die edeln Güter und die wahrhaftigen Lebenskräfte, alles, alles, wie es die neuen Bücher und Lehren wohlweislich heischten; so lebten sie sich in die neuen Gedanken hinein, die diese ihnen mit demselben Anspruch unfehlbarer Richtigkeit und Autorität entgegenbrachten, wie einst die alten Lehren, die alte Bibel: so wurde die neue sozialdemokratische Bildung im Volke geboren, die eine Halbbildung ist, wie keine zuvor.
Sie trat sofort ihren Siegeszug unter den Hunderttausenden der deutschen Arbeiter an. Jene ersten, die ihr gewonnen waren und anhingen, wurden nach einem Gesetze, das alles Geistesleben durchdringt, ihre neuen Propheten, ihre begeistertsten Verkündiger. Sie waren meist kluge, begabte Köpfe, die tüchtigsten von allen und ehrliche Naturen dazu. Ihre ganze Kraft, alle ihre Fähigkeiten stellten sie aus innerm Drange in ihren Dienst. Nicht nur in den Versammlungen der Partei, sondern auch bei der Arbeit und während der Pausen in der Fabrik, beim Mittagsmahl und Abendbrot daheim, auf Spaziergängen und wo immer sie zu zweit und dritt versammelt waren, diskutierten und gaben sie die Gedanken wieder, die sie aus einem, zwei, fünf, zehn Büchern jener neuen Litteratur gesogen und bald leidlich verstanden, bald nur halbverdaut und schon halb wieder vergessen hatten, aber die sie immer wieder aufgefrischt erhielten durch die Artikel ihrer sozialdemokratischen Blätter. Ich brauche das alles nicht weiter zu schildern: das ist eben jene ganze freiwillige, unorganisierte Agitation der neuen sozialdemokratischen Gesinnung, von der ich am Schlusse des vierten Kapitels geredet habe, die gewaltigste, schneidigste, überwältigendste Waffe der Partei, die kein Fabrikherr, keine Polizei verbietet, hinter der die Macht überzeugter Persönlichkeiten steht.
Die Wirkung dieser Agitation war die gewünschte. Unter ihrem Eindruck brach die gesamte alte Bildung der Arbeiter aus ihrer Jugendzeit zusammen, bricht sie noch heute in jedem einzelnen immer wieder zusammen, der noch mit ihr in eine unter sozialdemokratischem Einfluß stehende Fabrik eintritt. Da rächen sich mit einemmale die drei großen Fehler, an denen, wie wir sahen, unsre ganze heutige Volksschulbildung krankt, jene Abhängigkeit der einzelnen profanen Bildungselemente von den Gedankenkreisen und dem Bildungsniveau der Schrift, jene falsche Auffassung von ihrer Autorität, jene vorwiegend verstandesmäßige Aneignung der Heilswahrheiten des Christentums. Vor den neuen Bildungsfaktoren können die antiken der Schrift, vor der Autorität der exakten Wissenschaften, die jene stützt, kann die Autorität der Bibel, die diese bisher trug und fälschlicherweise gleich ebenso maßgeblich und unanfechtbar erklärte wie die religiösen Wahrheiten in ihr, nicht bestehen; vor der Kritik des modernen realistisch geschulten Menschen fallen die metaphysischen Spekulationen des überlieferten Dogmas, in das man die Wahrheit des Christentums bisher hauptsächlich setzte, über den Haufen. Zwar fühlen manche ehrlichen Gesellen instinktiv, daß an dieser neuen Bildung auch nicht alles Gold ist, was glänzt und gleißt; daß sie ebenso freudelos und unbefriedigt und unklar läßt wie das Alte; daß trotz alledem in diesem Alten die letzte ewige unwandelbare Wahrheit noch ruhen konnte; aber sie vermögen den entscheidenden Punkt nicht zu finden, an dem dies der Fall ist. Es fehlen die Menschen, die ihnen dazu verhelfen, ihnen den Weg zeigen, das Überlebte, Überholte, Vergängliche, das Verstandeswerk, den Irrtum von dem ewig wahren Kern zu scheiden; niemand kümmert sich um sie in den Massengemeinden, in denen sie zumeist leben; niemand schmiedet ihnen die modernen Waffen, gießt ihnen die neuen Gewehre, vermittelt ihnen die wahren, echten, vollen, widerspruchslosen, ungefälschten Ergebnisse der jüngsten Wissenschaft, deren Besitz sie allein befähigen würde, den mächtig anstürmenden Vorkämpfern jener sozialdemokratischen Halbbildung entgegenzutreten, ihnen den Beweis des Geistes und der Kraft zu führen, ihnen ihre Thorheit aufzudecken. Dazu teilen alle ohne Unterschied das tiefe Sehnen nach ökonomischer Besserung, dessen sich ebenfalls die Sozialdemokratie bemächtigt hat, und dessen glänzendste Befriedigung sie ja auch wiederum erst mit dem Siege der neuen Wissenschaft verheißt. Auch das zwingt den noch zögernden vor dieser »Wissenschaft« auf die Kniee nieder. Und so fällt, mögen sie wollen oder nicht, Mann für Mann rettungslos der neuen Gesinnung, der neuen sozialdemokratischen Weltanschauung anheim, wirft mit dem alten Wissen den alten Glauben weg, ohne in dem neuen den Ersatz zu finden, den man ihnen versprochen hat, und den seine begeisterten Propheten zu haben behaupten, immer wieder suchend, tastend, sehnsüchtig zurückschauend, ob das Alte sich nicht doch noch verjüngen und als Wahrheit offenbaren will, und doch immer wieder verzweifelnd unter den vernichtenden Beweisgründen der klugen, gebildeten Genossen, denen sie nicht stand halten können. So lebt eine große Mehrzahl ihr armes leeres Leben hin, ohne Freude, ohne Hoffnung, ohne Hilfe. »Wenn es nur erst wieder heute um sechs, wenn es nur erst wieder Sonntag wäre!« – das war der ewige, täglich wie oft zu hörende Seufzer. Und wie manchmal fügte man ähnliches wie das folgende hinzu: »Es ist doch merkwürdig bei den Arbeitern; die wünschen sich immer weiter hinaus, das Alter auf den Hals. Das ist doch eigentlich Unsinn. Es bleibt ja immer einen Tag wie den andern. Morgen früh geht es doch wieder ebenso los. Und wir müssen noch froh sein, etwas zu verdienen.« Das ist der Ton der vollendeten Hoffnungslosigkeit, der Verzweiflung an einem Wert, einem Inhalt, einem Zweck des Daseins. Einen Schritt weiter – und er kann in den Schrei der Wut, der Empörung umschlagen, die alles zerstört, weil sie nichts für lebenswert findet, die an allem verzweifelt, weil sie an sich selbst verzweifeln mußte. Dann ist die Entfesselung aller Leidenschaften, die Revolution des Volkes da. Es ist kein Zweifel: heute ist dieser letzte eine Schritt noch nicht gethan; heute denkt das Volk, wir sahen es, noch an keine Empörung und Revolution. Aber es ist abermals kein Zweifel, daß ihre Gefahr näher ist als das Volk wohl selbst wähnt. Und sie wird in dem Augenblick da sein, wo zu der religiösen Verwahrlosung der Industriearbeitermassen, die heute im ganzen vollendet ist, die sittliche hinzutritt; wo aus jener die letzte Konsequenz für diese gezogen wird. Hier also, und nicht in der politischen und wirtschaftlichen Organisierung der Massen, liegt der verhängnisvollste Einfluß der sozialdemokratischen Agitation; und hier in der Vernichtung des überlieferten Christentums hat sie ihren bisher größten Erfolg gehabt. Es ist auch das freilich nicht ihr Verdienst oder ihre Schuld allein: sie ist auch hier nur die Schnitterin, die mit raschem, scharfem Schnitt triumphierend die Früchte erntet, die andre Hände gesät haben. Aber das ändert an dem Jammer nichts, der nun herrscht, und nichts an der Größe der Gefahr, die nun droht.
Im Folgenden habe ich nunmehr die Wahrheit des bisher Ausgeführten aus meinen Erlebnissen in der Fabrik zu erhärten. Ich werde in loser Ordnung Gespräch an Gespräch, Zitat an Zitat, Bild an Bild reihen und nicht viele Worte dazu machen. Und Gespräche, Zitate und Bilder werden für sich selber reden.
Eines Tages erhielten zwei Mann unsrer Kolonne den Auftrag, Riemenscheiben, große fünfzehn bis zwanzig Centimeter breite eiserne Räder, auf denen die Treibriemen der einzelnen Maschinen laufen, aus dem Parterre auf die zweite Empore hinaufzuschaffen. Wir luden jeder ein paar davon auf die Schultern und kletterten hinauf. Da, wo wir sie aufreihen sollten, saß einsam am Fenster ein Arbeiter in den besten Jahren. Er hatte unaufhörlich hunderte kleiner stählerner Federn mit immer demselben Loche zu versehen. Neben ihm lag, unter einer Platte halb verborgen, die neueste Nummer der »Presse.« Von seinem hohen Fenster aus übersah er die ganze Stadt mit ihren hundert rauchenden Schloten.
Mein Arbeitsgenosse, der stark schnupfte, trat zu ihm und bot ihm eine Prise. Aus der respektvollen Art, wie er es that, merkte ich, daß der neue Bekannte einer der geistig bedeutendern Arbeiter in der Fabrik und ausgesprochener Sozialdemokrat sein mußte. Ich nahm auch ein Prise, und bald waren wir ihm Gespräch.
Er fragte, warum ich eigentlich hierher in die Fabrik gekommen wäre. Ich log ihm schweren Herzens mein Märlein vom arbeitslosen Expedienten vor.
Was war das für eine theologische Zeitung, die Ihr Pastor da herausgab, forschte er dann weiter. Etwa wie das Sonntagsblatt »Der Nachbar«?
Nein, gab ich zurück. Das Blatt schreibt für die Gebildeten, die Studierten, besonders die Nichttheologen unter ihnen. Sein Ziel ist, in seinen Artikeln den Beweis zu führen, daß zwischen Christentum und Kultur, zwischen Religion und Wissenschaft durchaus keine Kluft besteht.
Das ist nicht wahr; da kann Ihr Pastor lange machen; so ein Beweis ist unmöglich.
Das bestreite ich denn doch noch, erwiderte ich.
Die moderne Wissenschaft …
Die moderne Wissenschaft, die auf der Naturforschung ruht, hat sich nur mit der sichtbaren Welt, mit der weiten sinnlich wahrnehmbaren Natur um uns her zu befassen; sie kann nur das studieren, was wir hören, sehen, fühlen, schmecken, riechen, und nur darüber kann sie ein Urteil haben.
Ja, das ist ganz schön und gut und richtig. Aber die Schlüsse daraus.
Nun gut, ziehen wir die Schlüsse daraus!
Und ich versuchte, wie manchmal, ein Experiment zu machen. Man behauptet noch immer vielfach, Gott lasse sich wissenschaftlich, verstandesmäßig beweisen. Hier war offenbar einer, der ihn verstandesmäßig leugnete. Ist jener Satz Wahrheit, so konnte ich mit dem üblichen Beweise meinen Gegner vielleicht überzeugen. Ich suchte nun möglichst populär darzulegen, was ich dem Sinne nach im Folgenden wiedergebe.
Mein Mann kannte Darwin; so knüpfte ich am besten daran an.
Darwin lehrt doch, daß die ganze Welt sich von unten herauf entwickelt habe?
Ja.
Er sagte, das Erste, was war, war der Urschleim?
Ja.
Aber jede Wirkung muß eine Ursache haben. Der Urschleim also auch?
Ja.
Es muß also eine Kraft vorhanden gewesen sein, die ihn erzeugt hat und aus ihm wieder das ganze Universum sich hat entwickeln lassen? Nennen wir diese Kraft einmal Gott. Wir sehen, daß in dem Entwicklungsprozesse und der dadurch entstandenen Welt bestimmte Gesetze herrschen. Sie müssen aus dieser Kraft stammen. Wo aber Gesetzmäßigkeit und Ordnung ist, muß Vernunft, Geist vorhanden sein. In dieser Welt haben sich nun nicht nur Steine und Pflanzen, sondern auch Tiere und Menschen entwickelt – natürlich unter dem Einflusse dieser Kraft. Menschen sind Vernunft- und geistbegabte Persönlichkeiten. Die vernunftbegabte Kraft, die sie erzeugt, muß Herrin ihrer Erzeugnisse, mehr als diese, mindestens also aber auch eine vernunftbegabte, geistige Persönlichkeit sein. Ferner das Höchste nun, was der Mensch kennt, die Vollkommenheit, nach der er ringt, liegt in der Liebe. Die schöpferische, zielbewußte, vernunftbegabte, persönliche Kraft muß aber das haben und sein, wonach die streben, die sie geschaffen hat. Daraus folgt: es giebt einen persönlichen Gott, und dieser ist die Liebe, der Vater seiner Geschöpfe.
Aber mein Gegner schüttelte den Kopf und erwiderte nur:
Mein Glaube ist: Die Natur ist Gott, aber kein vernünftiges Wesen, sondern einfach Kraft.
Es war die folgerichtige Antwort, die ich erwartet hatte. Denn solche Beweise haben nur für den Wert, der schon Christ ist.
So haben Sie also doch auch einen Glauben, fuhr ich fort, als er wieder schwieg.
Ja; aber das Christentum ist ein Wahnglaube. Es ist erst im vierten Jahrhundert entstanden, wo es durch Majoritätsbeschluß zu stande kam … Die Bibel ist ein Buch wie jedes andre. Sie ist auch erst fünfhundert Jahre nach Christo nach Belieben zusammengesetzt. Es ist ein Ausbeutungsbuch für die Großen. In der Bibel steht alles drin; man kann alles herauslesen. Und die einzelnen Bücher sind erfunden.
Ich erwiderte, daß sei doch wohl etwas zu viel behauptet:
So viel ich von dem Pastor weiß, bei dem ich war, haben Universitätsprofessoren, das genau untersucht und festgestellt, welche Bücher auf keinen Fall bloß erfunden sind. So weiß man, glaub ich, bestimmt, daß die Briefe an die Römer, Korinther und Galater vom Apostel Paulus herrühren.
Aber er fährt fort:
Es existiert kein einziges gerichtliches (!) Dokument von Christus, wie doch von Sokrates und solchen Leuten. Wie kommt es, daß über das zwölfte bis dreißigste Lebensjahr von Christus nichts bekannt ist? Das zeigt doch, daß auch das übrige von ihm sagenhaft ist.
Hierauf wird mir eine Entgegnung leicht. Und so lenkt er ein wenig ein:
Wahr ist von Christus nur, daß er ein Mensch wie wir gewesen ist. Er wollte seinen Mitmenschen helfen, und er bildete seine Lehrsätze so, wie es die damalige Zeit brauchte, er kleidete sie in ein religiöses Gewand. Heute ist die Religion nur noch zur Einschüchterung, zur Niederhaltung des großen Lümmels »Volk« da … Warum befolgen denn die Großen nicht die Lehren des Christus? Warum helfen sie nicht, stellen die Nöte nicht ab, bringen nicht Opfer? Wenn sie Religion haben, und Religion Wahrheit ist, so müssen sie es doch durch die That beweisen, erst einmal praktisches Christentum treiben; dann könnten wir eher glauben …
Er forderte den Beweis der glaubensstarken, lebendigen christlichen Persönlichkeit, eben das, was allein von der Wahrheit unsers Glaubens wirklich überzeugt.
Gewiß, gab ich zurück, Sie haben in manchem, wenn auch nicht in allem Recht. Ich hasse die Brut auch, die so heuchelt, das Heiligste ausbeutet und dadurch in den Schmutz zieht. Aber fällt durch solche Lumpen die Wahrheit des Christenglaubens gleich mit dahin? Ist es mit der Schlosserei nichts, weil manche Schlosser nur Pfuscher in ihrem Handwerke sind? Und ich habe die letzten Jahre mit guten und edeln Christen zusammengelebt, die sich Mühe gaben, ihrem Glauben auch im Leben Ehre zu machen. Die sind mir ein Beweis für die Wahrheit des Christentums.
Von denen sind sie eben hypnotisiert. Lebt man lange mit einem Menschen zusammen, so hypnotisiert der einen.
Dann sind Sie von Männern der entgegengesetzten Ansicht hypnotisiert. Dann giebt es überhaupt keine eigne, männliche, selbsterrungene Ansicht. Dann ist alles Lug und Trug. Dann beruht erst recht alles auf Glauben.
Dazu schweigt er. So fahre ich fort:
Und es ist auch so, im letzten Grunde beruht wirklich alles auf Glauben. Dort der Baum. Woher wissen Sie, daß das ein Baum ist? Man hat es Ihnen von Kindheit an gelehrt, und Sie haben es geglaubt und meinen nun, es zu wissen.
Das mag wohl sein, gesteht er zu, giebt jedoch zugleich der Sache geschickt eine andre Wendung: Aber von der Existenz dieses Baumes kann ich mich doch überzeugen, von der Existenz eines Gottes nicht.
Doch. Nur nicht auf die gleiche Weise, nicht mit dem Verstande. Daß der Baum dort wirklich existiert, das sehe und fühle ich, höre es auch, wenn der Wind hineinfährt. Aber es giebt noch ein andres Gebiet, das man nicht mit den Sinnen wahrnehmen und dem Verstande erfassen, durchdenken kann. Das ist das Gebiet des moralischen, sittlichen Lebens, wo der Verstand bankerott wird, wo das Gewissen und der Glaube entscheidet und seine Notwendigkeit und Wahrheit erweist. Die Wissenschaft, der Verstand freilich kann weder beweisen, daß es einen Gott giebt, noch daß es keinen giebt. Der Beweis aber, der unumstößliche, wird geführt durch die geschichtliche, menschliche Person Jesus Christus. Aus seinem Lehren, Leben und Sterben erkennen wir, daß es einen Gott giebt. Denn in ihm war eine Kraft, die sonst niemand besitzt, und die, sagt er selbst, hatte er von Gott. Wir erkennen aber darin auch, wer dieser Gott ist: die Liebe. Und daß dem so ist, daß es diesen von Christus verkündigten lebendigen Gott giebt, erfährt jeder, der die Sehnsucht und den Mut hat, sein Leben nach diesem Christus einzurichten, der sich entschließt, sich von ganzem Herzen diesem Gotte anzuvertrauen, mit andern Worten: der glaubt.
Aber er schüttelte abermals den Kopf:
Wer den Wahnglauben einmal hat, für den ist es selbstverständlich, daß er nun alles dreht und wendet, um seine Sache plausibel zu machen. Aber Thatsachen hat er nicht.
Er meinte massive, augenfällige und greifbare Thatsachen, wie sie der Materialismus verlangt und hat. Für historische, sittliche, geistige Thatsachen hatte er kein Verständnis und nach dem Frieden keine Sehnsucht. Ohne das aber ist Christentum unmöglich.
So brach ich ab, und wir kamen auf andre Dinge zu reden. Nicht lange. Dann jagte uns ein Werkmeister, der uns wohl schon länger beobachtet hatte, mit grobem Gepolter auseinander.
Etwa vierzehn Tage später hatten wir einmal nicht viel zu thun. So stand ich müßig bei einem an der Drehbank, einem stillen Manne, der mir sympathisch war. Vor einer halben Stunde erst hatte man einen meiner nähern Kollegen, jenen Handarbeiter nach Hause geschafft, von dem ich schon an einer früheren Stelle ausführlich erzählte, daß ihm eine eiserne Schiene von etwa zwanzig Pfund auf den Fuß gestürzt war. Der Dreher und ich sprachen von dem Falle. Ich sagte ihm, daß der Verletzte mir noch heute morgen freudestrahlend erzählt hätte, welches Glück er gestern gehabt hätte. Eine große, viele Zentner schwere und etwa sechs Centimeter starke Eisenplatte für eine Parketthobelmaschine, die schon einem unsrer Transporteure eine Zehe gekostet hatte, wäre beim Aufheben wieder zurückgefallen und hätte ihm bei einem Haar beide Beine zerquetscht.
Nun hat es ihn heute doch noch getroffen, wenn auch viel gelinder, fuhr ich fort. Ist das nun Zufall oder Fügung?
Das sind Dinge, hinter die man nicht sehen kann, erwiderte mein Dreher.
Für einen Christen giebts aber keinen Zufall.
Was ist Christentum? – Nichts. Was der liebe Gott? – Den hat noch niemand gesehen. Und Gottes Sohn? – Dann sind wir alle Gottes Kinder.
Gewiß, sagte ich, sind wir das, wenn wir Jesus nachleben, Gottes Willen thun, an ihn von ganzem Herzen glauben und täglich darum bitten. Aufs Beten kommt besonders viel an.
Aber er lächelte nur und sagte:
Dann die Bibel. Freilich steht viel Wahres drin. Aber auch viel Falsches. Sie ist auch nicht für uns gemacht, sondern für die Großen …
Also wieder diese furchtbare Anklage! … Dann redeten wir von den Pastoren.
Ach ja, sagte er, es giebt ja ganz gute und tüchtige Menschen unter den Geistlichen – im übrigen aber leben sie vom Christentum und befinden sich wohl dabei. Wo ist heute einer, der so handelte wie Christus? der so viele Entbehrungen und Verfolgungen ertrüge?
Und wenn nun ein Geistlicher, wie Christus, zu uns Fabrikarbeitern käme, würde er etwas ausrichten? fragte ich.
Nicht viel. Es ist zu spät. Nachdem Christus selbst die Not nicht hat aus der Welt schaffen können, vermag es das Christentum heute erst recht nicht mehr.
Die Not wegschaffen will es gar nicht, wollte auch Christus nicht, sondern nur den Menschen innern Frieden und heilige Kraft geben, diese äußere Not zu tragen und zu überwinden.
Kraft, Frieden? Das geben andre Dinge viel mehr!
Nein, wenn das Christentum dies nicht geben könnte, dann kann es uns nichts geben.
Dazu schweigt er still, und auch dies Gespräch hat ein Ende.
Einmal gegen Ausgang meines Aufenthalts in der Fabrik fragte ich einen direkt, was er von Religion und Christentum hielte. Ich wußte, er war eifriger Sozialdemokrat, aber die Gutmütigkeit und Höflichkeit selbst, ein richtiger Sachse. Er hatte früher im Hause eines Rechtsanwalts gewohnt und dort manches geflickt und ausgebessert. Zum Dank dafür hatte ihm dieser außer seinem pflichtmäßigen Lohn manche Bücher zu lesen gegeben, geographische, naturwissenschaftliche, geschichtliche. Ihre Titel konnte er mir nicht mehr genau angeben. Auf meine offne Frage antwortete der Mann nun gleich offen, ehrlich und kurz: Ich rede wenig von den Sachen und streite mich nie darum. Ich lasse jedem seine Ansicht. Aber ich habe auch meine eigne, und ich denke: Wo man nichts erkennen kann, da ist auch nichts. Damit basta.
Er war liebenswürdiger als ein andrer Gesinnungsgenosse von ihm aus unserm Vorort, übrigens seines Zeichens ein Fabrikwirker, aber mit leidlichem Verdienst. Ich hatte ihn eines Abends im schon erwähnten Turnverein unsers Ortes getroffen. Der Mann war, was man ein »Turngenie« zu nennen pflegt, mit tadellosem Körperbau und gleicher Muskelbildung, ein schöner, kraftvoller Mann. Ich ging mit ihm am Schlusse der Turnstunde in eine nahe einfache, von uns gern besuchte Kneipe und trank ein Glas Bier mit ihm. Er war auch ein kluger Mensch, fanatischer Anhänger der Kaltwasserheilmethode und der Sozialdemokratie und ein Führer unter der zahlreichen Weberbevölkerung von Chemnitz, die unter wirklichen Notständen seufzte, ohne anscheinend allzuviel Rücksicht bei den Unternehmern zu finden. Er erzählte mir manches aus den Lohnkämpfen, die sie geführt, und in denen er mit in den vordersten Reihen gestanden hätte, ernst, objektiv, mit der epischen Ruhe, die so vielen Leuten im Volke eigen ist. Dann lenkte ich ihn auch auf die religiöse Frage und drängte ihn zu einem Urteil. Es war kurz, bündig und konsequent sozialdemokratisch: Die Kirche ist bloße Verdummungsanstalt und wohlberechnetes Staatsinstitut; aber man soll sie trotzdem nicht beseitigen, sondern nur umwandeln, aber durch und durch. Man soll es dahin bringen, daß sie die Naturwissenschaften dem Volke lehrt und predigt.
Alle bisher Geschilderten gehörten jener zielbewußten, begeisterten, gedankenkräftigen, edeldenkenden, wirklich wahrheitsdurstigen Gruppe meiner sozialdemokratischen Arbeitsgenossen an. Bei aller Ablehnung gegen die Religion, bei aller Geringschätzung der Kirche waren sie gemäßigt in ihrem Urteil, anständig in ihren Äußerungen und mehr oder weniger bemüht, die Stellung derer, die noch glaubten, mehr oder weniger zu würdigen, zu verstehen, zu erklären. Aber es gab eine viel größere Gruppe gleich stark geprägter Sozialdemokraten, die, roher als jene, in der That nur noch Hohn und Spott und Blasphemie für die Heiligtümer unsers Glaubens hatten. Auch bei ihnen war das Stichwort: »Natur ist Gott, Gott ist die Natur.« Aber sie variierten es gern, manchmal in der unzüchtigsten Form. So saßen solche Kumpane einmal in einer Kneipe zusammen; man kam auch auf solche Dinge zu sprechen und erklärte sie kurzer Hand für Blödsinn, und einer rief aus: »Ach was, unser Gott ist ein strammes Weib.« Ein lautes Gelächter über den Witz schnitt dann die ganze flüchtige Debatte schnell ab. Andre ähnliche schlimme Dinge, die ich bei andern Gelegenheiten hörte, mag ich nicht hierher setzen.
Vorzüglich war es die Jugend, die vielfach solche Gesinnungen hatte. Hier war von Ernst, von einem Bemühen, auch nur einmal objektiv zu prüfen, am allerwenigsten die Rede. Man war selbstverständlich meist längst über solche Dinge hinweg. Dem einen, einem Thüringer, galt Christentum gleich Antisemitismus, den er als ebenso unnobel wie unberechtigt haßte, und den er, übrigens mit einigem Recht, für das Gegenteil vom Christentum erklärte. Man ginge in die Kirche, machte fromme Gesichter, und im übrigen lebte man doch draußen keinen Deut besser als die andern, Gleichgiltigen, die viel ehrlicher als jene handelten. Ich konnte ihm nur erwidern, was ich dem ersten gesagt hatte. Er war auch still davon aber von jener Gleichung: Christentum = Antisemitismus ließ er sich partout nicht abbringen. Übrigens war es schwer, mit ihm darüber überhaupt länger zu reden. Er hielt das offenbar, wie viele, die mir das geradezu ins Gesicht sagten, nicht mehr der Rede wert. Denn »Religion – det wohnt nich mehr unter den Arbeitern,« sagte in gleicher Haltung und Meinung einmal ein andrer junger Bursche, aus Berlins Umgebung gebürtig. Er war mir zu Anfang meines Fabriklebens besonders hochmütig gekommen, als ich ihn meine christliche Gesinnung merken ließ; später verkehrte ich viel und gern mit ihm; er war trotz mancher Berliner Manieren ein kleiner kluger, schneidiger, strebsamer Kerl, der es eben nicht besser wußte und allmählich, der einzige von allen, wirklich durch meinen übrigens von allem Bekehrungsstreben freien Verkehr zu andrer, tieferer, ernsterer Gesinnung über Religion und Christentum, aber wohl kaum zu wirklicher Frömmigkeit gelangte. Ich traf ihn gleich an einem meiner ersten Sonntage nachmittags und ging dann mit ihm spazieren. Unterwegs fragte er mich gelegentlich, was ich am Vormittag gemacht hätte. »Ich war in der Kirche,« antwortete ich. »Dummer Mensch,« war seine Entgegnung. Ich fragte ihn freundlich, wie er dazu käme, so zu reden, und sagte ihm einiges von der Vernünftigkeit meiner religiösen Überzeugungen, und kurz bevor ich für immer von Chemnitz fortging, sagte er mir eines Sonnabends ganz freiwillig, er wollte mit mir morgen in die Kirche gehn, wo es ihm dann auch ganz gut gefiel. Schließlich machte er mir noch eine Liebeserklärung: er wünschte, er könnte immer in solcher Gesellschaft wie der meinen sein, da würde man ein ganz andrer Mensch.
Er war übrigens schon in der besten Gesellschaft von allen. Er bewohnte mit einem Gleichaltrigen, Zwanzigjährigen eine hübsche Stube. Diesen, einen Pommern, hatte er, wenn ich mich recht erinnere, in Berlin kennen gelernt und war mit ihm zusammen nach Chemnitz gewandert. Das war ein stiller, harmloser Mensch aus einer allerdings armen Handwerkerfamilie, einer von den wenigen, die noch Christentum im Leibe hatten, an dem sie nicht rütteln ließen, und von dem alle Gegeneinflüsse wie selbstverständlich wirkungslos abglitten. Der übte einen stummen, aber guten Einfluß auf den Stubengenossen aus.
Eben dieser stille Junge, ebenfalls Schlosser, stand in der Fabrik zwischen zwei gleichaltrigen Handwerkskollegen. Von des einen religiöser Gesinnung weiß ich nicht viel. Er war aus der Gegend von Wurzen bei Leipzig, wo sein Vater in einem ganz kleinen Landstädtchen eine große, gut gehende Schlosserei hatte, und wohin er zurückkehren sollte, wenn er sich in der Welt und den Fabriken umgesehen und sich – ausgetobt hätte. Er zeigte mir einmal eine Flasche mit hellem Trinkwasser lächelnd mit der witzig sein sollenden Bemerkung: »Reines Gotteswort.« Der andre Nachbar war Typus für den durchschnittlichen jungen Fabrikschlosser und machte tüchtig lebenschön. Ich traf ihn immer des Sonntags auf den Tanzböden mit seinem Mädchen; er wußte, daß er leidlich situierte Eltern hatte. An ihm besonders hatte die glaubenslose Agitation der Sozialdemokratie ihre normale, oben geschilderte Wirkung gethan. Er war nämlich Gevatter eines verheirateten jungen Freundes. Eines Tages war sein Patenkind gestorben, drei Tage nachher, nachmittags 3 Uhr, das Begräbnis. Am andern Tage war er müde und übernächtig. Auf meine Frage darnach erzählte er mir in einem Zuge, daß der Pastor am Grabe schön gesprochen hätte, und daß sie danach den Nachmittag und die Nacht bis morgens 4 Uhr gekneipt und gezecht hätten. Man hätte ja doch einmal freien Nachmittag gehabt. Der Vater des toten Kindes wäre allerdings schon um 10 Uhr aus der Kneipe nach Hause gegangen.
Ein andrer war sein getreues Ebenbild an Alter, Beruf und Gesinnung. Er glaubte an ein »höheres Wesen,« von dem er sich aber nicht die geringste Vorstellung machte, und das ihn völlig gleichgiltig ließ. Er »glaubte« bloß noch daran, weil das so zum Menschen gehöre. Etwas müßte ihn doch vom Tiere unterscheiden.
Das sind einige Schlaglichter auf die Gesinnung und religiöse Verfassung unsrer jungen erwachsenen Leute; auch sie bewähren schon das frühere Urteil über sie. Ich kehre nun zur Charakteristik der reifern, zielbewußten sozialdemokratischen Männer zurück.
Es war eines Vormittags; ich bohrte seit einigen Tagen krampfhaft mit der Handbohrmaschine in eine hohe starke eiserne Wand eines Rundsägegatters Löcher, die ich mir mit Kreide vorgezeichnet hatte. Da trat ein Monteur, der in der Nähe arbeitete, der älteste von allen neun Monteuren, an mich heran; ein zweiter, von dem ich noch manches erzählen werde, ein Handarbeiter kam dazu; dann noch ein dritter, den ich ebenfalls schon mehrmals erwähnt habe. Der letztere war ein konsequenter Sozialdemokrat, konsequenter und von der Partei in seinem Denken bewußter abhängig als jene zwei andern. Wir kamen mit einander in ein langes Gespräch.
Man löschte mir, während ich einmal wegsah, im Scherze die Kreidekreise weg, die ich mir auf meine Eisenwand aufgezeichnet hatte. Als ich es bemerkte, nahm ich den Scherz auf und sagte: »Zerstört mir meine Zirkel nicht!« Was meinst du damit? sagte da der eine. Ich fragte, ob sie die Geschichte von Archimedes und der Zerstörung von Syrakus kennten. Sie verneinten, und ich erzählte sie ihnen und erklärte ihnen mein obiges Zitat.
Darauf fragte einer, ob das auch um die Zeit des trojanischen Krieges herum passiert wäre. Den trojanischen Krieg kennte er genau, hätte ihn gelesen. Und er schilderte ganz richtig und gut den Verlauf der homerischen Geschichte. Ich glaube, er hatte das Reklamheft, das Homers Ilias enthält, in der Hand gehabt.
Dann sprang das Gespräch auf Ägypten über, auf die Pharaonen, von denen ebenfalls alle wußten. Wir redeten von den Pyramiden, die sie vor allem um der Menschen willen lebhaft beschäftigten, die einst mühsam, mit unsäglichen Strapazen ihre Steine aufeinander getürmt hatten.
H: Das waren die Lasttiere, die Sklaven vor 4000 Jahren; wir Fabrikarbeiter von heute sind die Sklaven und Lasttiere der Gegenwart.
Das ist zu viel behauptet, erwiderte ich und wies z. B. auf die viel bessere allgemeine Bildung hin, die heute alle besitzen.
Die Leute waren damals nicht ungebildeter und unklüger, als sie heute im Durchschnitt sind.
Nein, früher waren sie noch viel klüger als jetzt, mischte sich halb ironisch halb ernsthaft der andre, S. mit Namen, ein. Früher konnte man sogar Wasser in Wein verwandeln. Er sagte das unsicher, und ich konnte nicht erkennen, wie er selbst darüber dachte.
Mein Monteur lachte laut auf, als er das hörte, und H. lächelte auch überlegen dazu.
So fuhr S. fort: Ja freilich, das ist Glauben, aber …
Aber der Monteur schnitt ihm kurzer Hand das Wort ab: Ach was, unser Glaube ist, daß zehn Pfund Rindfleisch eine gute Brühe geben.
Und jener wagte keine Entgegnung mehr. Dann redeten wir weiter und kamen wieder auf wirtschaftliche Dinge, wobei ich einmal das Schlagwort »Soziale Frage« in den Mund nahm. Sofort stach das H. auf und meinte überlegen, ich wüßte doch nicht, was die soziale Frage sei.
Das kommt noch darauf an, antwortete ich. Das ist in der That auch nicht so leicht zu sagen. Darüber kann man Stunden, Tage, Wochen lang reden. Aber jedenfalls ist sie ein Ungeheuer von vielen Fragen und mit zwei Seiten, der materiellen und der geistigen Seite, genau wie der Mensch aus Körper und Geist besteht.
Aber der Monteur und H. lachten laut auf:
Geist? Geist giebts nicht. Es giebt nur ein Gehirn, ein Nervensystem, das funktioniert, wie die Maschine. Diese Funktion, das, was dabei herauskommt, nennt man heutzutage Geist.
Wer hat euch das bewiesen? fragte ich. Das ist doch höchstens nur eine Annahme, eine Behauptung, also nichts andres als meine freilich andre Meinung auch. Übrigens habe ich auch Gründe für die meine. Nehmt z. B. eine Trompete und bläst hinein, dann giebt sie einen Ton. Aber der Ton ist etwas durchaus andres als die Trompete; so ists, so kann es wenigstens mit dem Gehirn und Geist auch sein. Jenes ist das Organ, dieser sein Inhalt.
Darauf stutzte H. eine kurze Zeit. Aber dann lächelte er abermals überlegen und sagte – wie unendlich bezeichnend für die Richtigkeit meiner Darlegungen an der Spitze dieses Kapitels! –:
Ich sehe schon, Sie hängen noch ganz an Orthodoxie und Bibel. Die ganze heutige Wissenschaft ist dagegen.
Ja und nein, gebe ich zurück. Übrigens ist das weder eine Schande noch ein Unglück, sondern das Gegenteil von beiden, wenn einem die Bibel noch was wert ist.
Man lacht Sie bloß aus damit. Wenn Sie zu einem Gebildeten dasselbe sagen wie zu mir, so wird er Sie bloß fragen, was Sie sind; und wenn er hört: bloß Arbeiter, so wird er Sie einfach auslachen und sich Ihre Dummheit erklären.
Hier mischt sich ein vierter ins Gespräch, der inzwischen mit einem Bohrer zusammen ebenfalls hinzugekommen war, ein Handarbeiter, von dessen innerer religiöser Verfassung ich noch weiter unten viel erzählen muß. Er war ebenso voll von Hoffnungslosigkeit und Mißtrauen gegen den Glauben, wie von Sehnsucht nach ihm. Er erzählte:
Gestern packten wir einen von den eisernen Särgen ein, den die Fabrik von dem kleinen noch vorhandenen Lager einmal wieder nach langer Pause verkauft hatte. Wir waren drei Mann beim Einpacken und gerieten dabei in Streit, ob es ein ewiges Leben gäbe. Die beiden andern meinten entschieden nein; auch der Meister, der hinzu kam und sich hinein mischte, sagte, daß sie recht hätten: der Mensch wäre einfach wie eine brennende Cigarre; sie verglüht, und der Rest ist Asche. Haben die nun recht oder nicht? Giebts ein Wiedersehen oder nicht?
Ja wohl, in Buxtehude, lachte abermals der Monteur.
Aber warum lehren das dann die Geistlichen?
Damit die Menschen hübsch arm und dumm und hübsch zufrieden bleiben, belehrt ihn der, der vorhin das Jesuswunder zu Kana erwähnt hatte; und der Monteur fügte bestätigend hinzu:
Der Mensch ist ein Raubtier, ja schlimmer als das. Das Raubtier will nur satt werden, der Mensch will mehr. Gäbs nicht das bißchen Religion in der Welt, so müßten wir jeden Morgen so und so viele Leichen beiseite schaffen.
Das war die weitverbreitete Meinung in der Fabrik: die längst überholte, innerlich unwahre, in ihrem Leben tote Kirche ist heute nichts als ein sehr erwünschtes und kräftiges Polizeiinstitut des bestehenden Staates, der es eifrig und künstlich aufrecht erhält.
Endlich kamen wir am Schlusse unsers langen Gesprächs auch auf Darwin und die Lehre von der Abstammung des Menschen von den Affen. Der Handarbeiter und Monteur sind für sie, S. dagegen, H. sagt gar nichts dazu. S. meinte, das wäre unmöglich; denn wir hätten den Verstand, der uns durchaus von den Tieren, auch den Affen schiede.
Das ist ja richtig, entgegnete der Handarbeiter; aber trotzdem glaube ich daran. Was bleibt auch andres übrig? Denn das kann ich auf keinen Fall glauben, wie es in der Bibel steht, daß der Mensch aus Lehm gemacht ist.
Als wir dann auseinander gingen, blieb der Handarbeiter an meiner Seite und kam wieder auf das Sterben und das ewige Leben zurück, wie noch viele male, wenn wir beisammen waren. Er hatte vor einiger Zeit ein halberwachsenes Mädchen verloren. Nun quälte ihn die Sehnsucht nach ihr, sie wieder zu sehen. Er wollte immer wieder hören, was ich darüber dächte und glaubte. Und immer wieder, so oft ich ihm mein Innerstes ausgeschüttet, mein Bestes gegeben hatte, schüttelte er den Kopf und seufzte:
Ach wenn wir nur glauben könnten. Aber Gewißheit müßten wir haben, ganz feste Gewißheit.
Auch dieser Ärmste hatte kein Verständnis mehr für eine Gewißheit, die nicht auf Augenschein und Tastgefühl, Gehör und Geschmack beruht.
Ein andermal hatte mich ein Schlosser zu einem ältern Dreher geschickt, von ihm etwas zu holen.
Die Arbeit ist noch nicht fertig, wird es morgen erst, wenn mich nicht derweile der Teufel holt – war die barsche Antwort auf meine Anfrage.
Teufel giebts nicht, meinte sein Nachbar dazwischen.
Aber Sünde, setzte ich dazu.
Unsinn; das widerspricht sich, fuhr mich der erstere an. Wenn es keinen Teufel giebt, giebts auch keine Sünde. Übrigens, glauben Sie denn auch noch an das Zeug, das einem in der Schule weis gemacht wird?
Man hat eben, das ist ein neues scharfes Charakteristikum, durchgängig nicht das geringste Bewußtsein mehr von Schuld und Sünde. Auch diejenigen nicht, die religiös noch schwanken und ringen und eben mitten in jener Bildungskrisis stehn. Ein andrer kleiner Zug aus einem Gespräche mit einem ältlichen, ernst gesinnten Manne beweist das noch. Dieser hatte mir erzählt, daß er irgend einen kleinen Gegenstand, Schrauben oder sonst, ich weiß nicht mehr was, mit aus der Fabrik nach Hause genommen hätte.
Das ist ja aber verboten, also Sünde, warf ich ein, um das Gespräch darauf zu bringen.
Nein, das ist keine Sünde. Sünde thut man in so einem großen Geschäft wie hier nie. Die Besitzer versündigen sich auch an uns. Ach, wir armen Leute!
Sonst habe ich eigentlich nur selten bemerkt, daß die Leute heimlich kleine Utensilien aus der Fabrik mit nach Hause in die Wirtschaft nahmen. Öfter beobachtete ich, daß sie sich in der Fabrik selbst ein Thürband, ein Schloß oder sonst was bauten.
Ganz gleiche Äußerungen, wie die zuletzt angeführte, fand ich auch schon in der Herberge. So bei einem, der mir eben seine Lebensgeschichte erzählt hatte. Er war früher einmal gut situiert gewesen, jetzt war er stellenlos, wohnungslos, Tagearbeiter. Seine Frau hatte er verlassen; seine drei Kinder waren erwachsen und kümmerten sich nicht um ihn, wie er sich nicht um sie. Der Branntwein war auch sein Unglück; noch kurz vorher hatte er in der Betrunkenheit in Dresden seinen ganzen Berliner »mit einem guten Anzuge und guter Wäsche« verloren.
Ich bin zu ehrlich gewesen, deswegen bin ich heruntergekommen, beteuerte er. Ich habe keinen Betrug machen wollen wie die Reichen, deren Schliche ich gar gut kenne, die betrügen und in Ansehen stehn.
Das ist aber doch nicht immer so. Und wenn es der Fall ist, so ist es eben eine Sünde und Schande, beschwichtigte ich.
Schande? fragte er da. Was ist Sünde und Schande? Frage mal die fetten Herren, ob die sie auch kennen.
Nun eine neue, interessantere Szene, wieder aus der Fabrik. Ich arbeitete mit einem Bohrer und demselben S. zusammen, der auch bei jenem langen Gespräche, das ich vorhin berichtete, dabei gewesen war. Ich weiß nicht mehr wie, jedenfalls aber ohne mein Zuthun, kam das Gespräch auf Gott. Der Bohrer, einer der stärksten Verdiener in der Fabrik, ein breiter, untersetzter, ruhiger Mann von 40 bis 45 Jahren, meinte, der liebe Gott müßte erst erfunden werden.
Oder vielmehr nein, fuhr er fort, es giebt ihn doch schon; ich habe einen Bekannten in X., den nennen sie »Lieber Gott.«
S. ist diesmal offner und geht mit der Sprache heraus. Er widerspricht dem Bohrer:
An ein höheres Wesen glaube ich. Ich habe auch viele Erbauungsbücher und die ganze Bibel mit meinen Eltern gelesen. Jetzt thue ich es nicht mehr; denn die Bibel paßt nicht mehr für unsre Zeit zum Lesen. Aber beten thue ich noch täglich das Vaterunser, früh und abends, und wenn ich die Arbeit antrete. Aber ich thue das nur so aus Gewohnheit, seit meiner Kindheit her, wo es die Eltern mir eingelernt haben. Ich weiß, daß es nichts nützt.
Dann sind wir auf einmal bei Luther.
Der hat viel Unheil angerichtet, sagt S., und die Geistlichkeit erst so mächtig gemacht, wie sie heute ist.
Wie ich nun Luther gegen diese Angriffe verteidige, gehen zwei andre, wieder ein etwa dreißigjähriger Monteur und ein Dreher, beide stramme Sozialdemokraten, vorüber, hören zufällig, was ich rede, und bleiben stehn. Der Monteur unterbricht mich bald:
Luther hat ja viele gute Seiten gehabt, aber auch viele schlechte. Ich weiß das ganz genau; ich habe ein Buch über ihn gelesen.
Welches?
Das Pfaffentum seit dem zwölften Jahrhundert.
Na, da weiß ich schon genug. Das ist ein schönes Schund- und Lügenbuch.
Das kann nicht sein, ist die aufrichtig ernste Antwort. Es muß alles wahr sein, was drin steht. Sonst hätten sie es ja längst verboten.
Der Mann dachte offenbar an das Sozialistengesetz, das alle sozialdemokratischen Schriften, die auf Entstellung beruhten, unterdrückte. Man sieht, das Sozialistengesetz zeitigt die vielseitigsten Früchte.
Der Monteur kommt dann auf Luther zurück und sein Verhalten in den Bauernkriegen:
Erst hetzte er die Bauern auf, nachher schnauzte er über sie. Und wie hat er den Fürsten geholfen, wie sie unterstützt, wie ihnen geschmeichelt und sich vor ihnen gedemütigt! Und das ist auch sein Werk, daß er erst die Kirche so fest und stark gemacht hat, daß wir sie nun nie wieder los werden.
Auch der Dreher giebt seine Meinung ab:
Ja, das muß man Luther lassen, ein gescheiter Mensch war er. Aber das fiel nur deshalb so auf, weil damals das ganze Volk so verdummt war. Jetzt wäre Luther nichts besondres mehr. Jetzt machen wirs alle so wie er mit der Kirche und dem religiösen Humbug. Ich wenigstens kümmere mich nicht mehr um das Zeug und gehe um jede Kirche weit herum.
Auch von Christus ist im weitern Verlaufe die Rede.
Er war der erste Sozialist und ist für seine Ansichten gestorben, ist die einstimmige Ansicht.
Aber Jesus hat sich doch ausdrücklich nicht um die privaten Verhältnisse, um das Vermögen der Leute und die Welthändel gekümmert, wagte ich einzuwenden. Er hat zunächst die Menschen nur fromm und gut machen wollen.
Nein, meinte der Monteur, das ist nicht wahr. Das hat Christus nicht bloß gewollt. Das ist erst eine Verdrehung der Geistlichkeit. Aber das mag sein; die Religion ist ja für frühere Zeiten, wo die Menschen noch nicht so weit waren, ganz gut und dienlich, ja nötig gewesen. Aber jetzt ist sie das nicht mehr. Jetzt haben wir Gesetze. Wer nach denen lebt, ist ein achtbarer Mensch, wer nicht, ein Lump.
Man sieht, das klingt ganz wie in sozialdemokratischen Schriften.
Mit jenem Bohrer und diesem Monteur hatte ich später noch ein paar mal ähnliche Gespräche.
Jenen traf ich bald darauf eines Morgens während der Frühstückspause in dem unsrer Fabrik benachbarten Käseladen, den ich im zweiten Kapitel bereits erwähnte. Der ganze Laden und die Wohnstube der Besitzerin waren gestopft voll von unsern Leuten. Einer, ein Stammgast, verlangte für zehn Pfennige Limburger Käse und eine Flasche Bier. Als er es erhalten hatte, sagte er:
Danke, der liebe Gott wirds bezahlen.
Da könnt ich lange warten, war die Antwort der Verkäuferin. So hats zwar immer geheißen; aber der bezahlt nichts.
Es wird wohl gar keinen lieben Gott geben, warf da der Bohrer ein, der daneben stand.
Glaubs selber, lachte die Frau. Beten ist altmodisch. Es hilft ja auch nichts. Wer nicht arbeitet, hat nichts.
An demselben Tage rief mich einmal der Monteur zu sich.
Was giebts?
Ich will ihnen einmal den Herrgott zeigen: tragen Sie hier die Welle zum Langlochbohrer. Das werden Sie schon spüren.
Sie können mir den Herrgott noch lange nicht zeigen, aber ich Ihnen. Wollen Sies?
Nein, lieber nicht.
Und er ging lachend davon.
Dann traf ich ihn auf jenem sonntäglichen Kinderfest unsers sozialdemokratischen Vorortswahlvereins wieder. Wieder kamen wir unter anderm auf religiöse Dinge zu sprechen. Er fragte mich da geradezu:
Warum geben Sie sich nur so mit dem Kram ab? Sie können ihn ja doch nicht beweisen.
Ich versuchte es an der Person Christi. Aber er ließ mich nicht lange dabei:
Genau so reden die Pfaffen auch. Die Religion ist nur für die Wilden. Mein Wahlspruch ist:
Macht euch das Leben gut und schön,
Kein Jenseits giebts, kein Wiedersehn.
Ein schöner Wahlspruch! Meiner ist es nicht.
Aber meiner. Übrigens sind die Pfaffen selbst an der ganzen Feindschaft des Volkes gegen die Kirche schuld. Denn sie haben Partei für die »großen Herren« genommen. Nur wenige machen davon eine Ausnahme. Zum Beispiel einer in unsrer Nähe, in Langenberg.
Diese Geringschätzung gegen die »Pfaffen,« die hier wieder und ganz offen zum Ausdruck kam, war so allgemein wie dieser Name, der überall im Munde der Leute, auch halbwegs wohlgesinnter, war. Ganz natürlich. Wem die Kirche nur noch als ein äußerliches, öffentliches Institut, ein politisches und wirtschaftliches Machtmittel in der Hand des Interessenstaates und der selbst ungläubigen Bourgeoisie erscheint, hat natürlich auch keine Achtung und Ehrerbietung vor ihren amtlichen Trägern und Dienern, die ihm folgerichtig nur als Heuchler gelten müssen, weil sie ihre Überzeugung opfern, um eine bequeme Versorgung und Existenz zu haben. So war es häufig, daß man die »Schwarzkittel« gar nicht etwa mehr haßte, sondern nur noch verachtete. Man sah sie auch geradezu als Tagediebe und Faulenzer an, weil man keine Schätzung mehr für geistige Arbeiten besaß, die nicht augenblickliche, sichtbare materielle Werke schaffen, und weil man auch keine Einsicht in den Umfang und die Art der Thätigkeit hatte, die einem gewissenhaften und gewandten Pfarrer obliegt. Das alles kam oft zu drastischem, für mich besonders schmerzlichem Ausdruck. So gleich in derselben Stunde, in der ich das letzterzählte Gespräch hatte, bei demselben Kinderfeste im Munde noch eines Anwesenden, der aber nicht unsrer Fabrik zugehörte, und den ich sonst nicht kannte.
Er unterhielt sich mit einem anscheinend zufällig hereingekommenen Lehrer, während ich als unbeteiligter dritter daneben stehend unbemerkt zuhörte. Der Lehrer versuchte ihn sachlich und leidenschaftslos, aber mit viel Geschick und ohne große Worte eines bessern zu belehren. Aber jener ließ sich nicht belehren.
Ach was; über die Kirche sind wir lange hinaus. Was der Pfaffe quasselt, kann ich auch, wenn ich wie er die ganze Woche dazu Zeit hätte. Der lernts doch bloß aus Büchern auswendig.
Sein Gegner sagte ihm, wie falsch das wäre; man müßte doch auch erst auf Gymnasium und Universität etwas Ordentliches gelernt und gearbeitet haben; man müßte manche gewichtige Examina bestehn – aber darauf hatte der aufgeblasene Schreihals, denn das war er, immer nur ein geringschätziges, abweisendes Ach was, sodaß der andre bald darauf verzichtete, sich weiter mit ihm einzulassen.
Dieselbe Meinung hörte ich auch schon, fast bis aufs Wort übereinstimmend, während der ersten Tage meines Herbergsaufenthaltes. Da war ein Barbier, von dem ich noch im folgenden Kapitel etwas zu erzählen haben werde, ein halber Pennbruder, der in Chemnitz von Herberge zu Herberge ging und Zureisende für fünf Pfennige rasierte und für zehn Pfennige ihnen die Haare schnitt. Eben bei der Ausübung seines Handwerks, natürlich mitten im Gastraum der Herberge, redete er mit seinem Opfer, das er gerade unter den Händen hatte, auch einmal vom Pastor:
Auch der hat nichts als eine Profession, von der er lebt; er muß das eben machen, dafür ist es sein Handwerk. Natürlich kann er nicht beweisen, was er da vorquasselt; das ist bloßer …
Dreck und Quatsch, ergänzte der andre.
Ich komme ooch in keene Kärche, lallte dann einer unsrer stets halb angetrunkenen Stammgäste dazu. Ich war emal drinne. Das ist aber lange her. Ich wollte ooch bloß drin schlafen; von Andacht keene Spur. Albernheit – Andacht!
Dann hörte ich einmal fünf junge, in der Mehrzahl verheiratete Männer, die alle aus demselben etwa eine Stunde von Chemnitz gelegenen Dorfe zu uns auf Arbeit kamen, sich bei dem Frühstück ebenfalls über ihren Pastor und ebenfalls wenig schmeichelhaft unterhalten. Einer hatte ganz sachlich von den Einnahmen des Kaisers geredet, und sie hatten ausgerechnet, wie viel er an einem Tage zu verzehren hätte. Dazu fügte nun sein Nachbar hinzu:
'S ist wie bei unserm Pastor, dem Spitzbuben. Der hat 27½ Thaler die Woche und ist trotzdem nicht damit zufrieden. Die Pfarre war früher ein großes Bauerngut. Als er nun herkam und sie sah, that er wunder wie erfreut. Sie hätte ja so viel Stuben, daß er gar nicht wüßte, wo er die Möbel alle hernehmen sollte, hätte er gesagt. Und kaum ist er ein halbes Jahr bei uns, verlangt er auf einmal eine neue Pfarre, weil die alte ihm über dem Kopfe zusammenbrechen könnte.
Ja, ergänzte ein andrer, und dazu predigt der Kerl stets genau nur 25 Minuten; aller fünf Minuten sieht er während der Predigt einmal nach der Uhr … Dann sagt er immer, daß er keinen Unterschied zwischen reich und arm mache, und macht ihn immer, besonders bei Trauungen und Taufen … Aber ich habs dem Schwarzkittel neulich einmal gründlich gesteckt, im Gasthof wars, und er hat mir kein Wort geantwortet, sondern ging weg.
Dann erzählte der erste wieder:
Einmal hat er gesagt, mit neun Mark könnte eine Familie in der Woche gut auskommen, und er selber hat 83 Mark! Und kommt doch nicht damit aus! Denn als er ein Kind bekam, verlangte er aus diesem Grunde 200 Mark jährlich mehr! Geht mir nur mit dem ganzen Pastorenkram.
Damit meinte er auch das Christentum, dessen Träger der Pastor ja vor allen sein soll.
Mitten in dies Gespräch hatte der vierte eine andre Episode erzählt, seine Erlebnisse bei den Kirchgängen während seiner Militärzeit, haarsträubende Dinge, die aber nur meine eignen Erfahrungen bestätigten.
Da sei während der Predigt unter der Kirchbank Skat gespielt worden, daß es eine Lust gewesen wäre. Ja einer hätte aus der Schnapsflasche Nordhäuser getrunken, indem er das Taschentuch über sie gehalten und gethan hätte, als schnaubte er sich die Nase.
Man lachte herzlich darüber und schimpfte dann wieder auf den Pastor weiter. Ich konnte nun freilich nicht kontrollieren, mit wieviel Recht. Darauf kommt es aber auch hier nicht an. Die Hauptsache ist, daß man daran sieht, wie unendlich rücksichtsvoll und taktvoll ein Pfarrer sein muß, wie sehr er auf sich zu achten hat, um keinen begründeten oder unbegründeten Anstoß zu geben.
Das beweist auch folgende andre Geschichte eines unsrer Packer. Ich und alle hatten den Mann besonders gern; er war bereits Großvater, hatte aber auch noch unerwachsene Kinder, die er sehr liebte, plagte sich auch mit seiner Frau ehrlich für sie und war immer nüchtern, schlicht und heiter. Er erzählte mir:
Ich komme nie mehr zu einem Geistlichen in die Kirche. Meine Jüngste – sie ist acht Jahre alt – bettelt mich zwar immer darum. Aber ich gehe nicht. Ich glaube ja an einen Gott, der für uns sorgt; ich fluche auch nicht und dulde nicht, daß andre es thun; ich halte auch Frau und Kinder zur Kirche an, aber ich gehe nicht. Ich mag mich von den Kerlen nicht veralbern lassen.
Ja, ich ging früher vor vielen Jahren auch in die Kirche. Aber da sah ich einmal eines Sonntags früh – er stammte auch aus einem Dorf in der Nähe von Chemnitz – unsern alten Pastor von der Jagd heimkommen, Sonntags früh, eine halbe Stunde vor dem Gottesdienste! Da wars aus bei mir. Ich kehrte auf der Stelle um und war niemals wieder in einer Kirche. Veralbern lasse ich mich noch lange nicht.
Und noch eine derartige muß ich erzählen. Sie ist die traurigste von allen, in Wirklichkeit glücklicherweise eine Seltenheit. Ein etwa dreißigjähriger Schlosser, einer der Lustigmacher unter uns, der sich sonst nichts um politische und soziale Dinge kümmerte, erzählte sie mir:
In unserm Dorfe – ich bin aus dem »Gebärg« (d. h. aus dem armen Erzgebirge) – trieb es der Pastor mit den Frauen im Dorfe und war obendrein ein Säufer, der sogar das mühsam zusammengebrachte Geld für ein neues Leichentuch der Gemeinde versoff. Er wurde allerdings dann seines Amtes entsetzt, aber seitdem bin ich auf alle die schwarzen Halunken wütend. Ich gebe ja zu, ein höheres Wesen mag existieren, und Religion mag auch immer gelehrt werden. Und wenn einem Pastor nichts nachgesagt werden kann, so lange muß man ja ruhig sein, so lange ist er eben ein angesehner Mann. Im übrigen aber glauben die Kerle doch selbst nicht, was sie reden. Das ist nun einmal so ihr Beruf, wovon sie leben. Da kann man es ihnen auch nicht verdenken, wenn sie einfach reden, was im Buche steht.
Ein andrer, schon ein alter Knabe, nur ein sehr unklarer Kopf, total abhängiger Sozialdemokrat und sehr unbeholfen, schimpfte einmal:
Die Pastoren sind wie die Advokaten; sie fressen alles auf, wo sie es herkriegen können. Aber jetzt sind die Leute nicht mehr so dumm wie früher und geben alles her.
Der Mann dachte wohl ebenfalls an das gute, bequeme, arbeitslose Leben, das nach ihrem Eindruck ein Pfarrer führt, und an die Geschenke, die früher vor allem die Landleute ihm zu machen pflegten, dann aber, wie ich aus Andeutungen merkte, ebenso sehr auch an die Stolgebühren, die dem Pfarrer ehemals auch in Sachsen als ein Hauptteil seines Einkommens direkt zuflossen, die aber hier glücklicherweise fast seit zwei Jahrzehnten abgelöst sind. Trotzdem ist das ganze Urteil dieses Mannes ein Zeichen dafür, wie tief das Bewußtsein von der sozialen Ungehörigkeit dieser Einrichtung noch in den ältern Bestandteilen dieses Volkes lebt. Ja, dies geht heute noch weiter: es empfindet überhaupt die Verschiedenheit der Taxen für kirchliche Gebühren und dementsprechend der kirchlichen Leistungen durch den Pfarrer als eine soziale Ungerechtigkeit. So klagte einmal einer, ein noch jung Verheirateter, dessen politische und religiöse Gesinnung ich sonst nicht näher kennen lernen konnte, direkt, daß die Geistlichen den Reichen, die es bezahlen könnten, viel schönere Taufen, Trauungen, vor allem aber Begräbnisfeierlichkeiten hielten, als den unvermögenden Arbeitern. Der Mann war obendrein verständiger als jener eben Geschilderte. Er machte wenigstens den Pastor nicht dafür verantwortlich. Vielmehr traf ich bei ihm eine überaus günstige Meinung über den Diakonus, der unser Vorstadtdorf pastorierte, an. Er wäre sehr gut und mitleidig und käme fleißig zu ihnen armen Leuten. Dies Urteil über den Diakonus fand ich noch öfter – aber immer galt er als Ausnahme, galt diese gute Meinung nicht dem Pastor, geschweige dem geistlichen Amte, sondern allein seiner Person, ein neues gewichtiges Zeichen dafür, welchen Weg allein der Seelsorger zu gehn hat, um diesen Leuten etwas zu zeigen von dem Adel, der Schönheit und dem Werte unsers Christenglaubens: den der aufrichtigen, herzlichen, opferfreudigen, durch und durch wahren Hingabe einer ganzen offenen, ehrlichen, volkstümlichen Persönlichkeit in einem anspruchslosen, unaufdringlichen Verkehr.
Eine neue Bestätigung dafür ist die gleich freundliche Haltung eines andern stark und zudem selbstbewußt sozialdemokratisch beeinflußten Mannes in den besten Jahren über denselben Diakonus. Er fluchte zwar mitunter wie selten einer, beteuerte aber auch ernsthaft und nachdrücklich, daß er fest glaubte, »daß es etwas Göttliches auf Erden gäbe,« und hatte eine unsäglich niedrige Meinung vom Katholizismus. Sehr erklärlich, da er ein in Deutschland naturalisierter Deutschböhme war, also den Katholizismus in dessen Heimat kennen gelernt hatte. Er würde darum niemals eine Frau heiraten, die katholisch wäre; denn diese stünden alle unter dem Willen und Machtgebot des Pfaffen. Dagegen war es ebenso bezeichnend, daß ich bei Einheimischen nicht die geringste Spur eines Verständnisses auch nur für den Unterschied zwischen den Konfessionen, geschweige für einen Vorzug der eignen vor der fremden fand.
Noch ein halbwegs freundliches Urteil über die Pfaffen möchte ich an dieser Stelle registrieren, um alle die wenigen freundlichen kleinen Bilder zu sammeln, die doch zwischen den vielen großen düstern und ernsten sich ab und an fanden. Da war ein Bohrer aus einem Nachbardorfe, der wie berichtet als Freiberger Jäger schon den Feldzug von 1870/71 mitgemacht hatte und mir viel und stolz und anregend davon erzählte. Er meinte einmal:
Man soll den Pastoren ihren Glauben lassen. Sie haben einmal darauf studiert; und das kann nicht jeder.
Man versteht auch diese so unendlich bezeichnende Bemerkung. Für den Mann, der ebenfalls vom Dorfe stammte, war die Religion wieder nur ein logisch aufgebautes Gedankengebäude, dessen man sich durch Verstandesarbeit, durch wissenschaftliches Studium bemächtigen müßte, und das für ihn selbst zu hoch, zu schwierig, zu unfaßbar war, – die alte rein katholisch-mittelalterliche Stellung zu den Mysterien der aus der Verbindung mit dem Neuplatonismus erwachsenen dogmatischen Spekulationen. Die Folge war, daß der aufrichtig gute Kerl, ursprünglich deutlich religiös angelegt und gestimmt, nun innerlich verwaist und vereinsamt war, zumal da er obendrein noch sichtlich unter dem Drucke des sozialdemokratischen Terrorismus stand. Denn es war weiter bezeichnend, was er sofort jener obigen Bemerkung hinzufügte:
Aber wir wollen davon nicht weiter reden; denn so etwas darf man in der Fabrik nicht laut sagen!
Ich bin hier an der Stelle, um nun die innere Verfassung auch der Gruppe meiner Arbeitsgenossen noch genauer zu schildern, die eben unter dem dämonischen Einfluß jener sozialdemokratischen Fanatiker noch mitten in der verhängnisvollen Krisis des Übergangs von der alten Bildung und den antiquierten Glaubensformen in die neue, für sie gleich lückenhafte, modern sozialdemokratische Halbbildung und Glaubenslosigkeit mit allen Zweifeln und ihrer Haltlosigkeit standen. Das kam, wie gesagt, namentlich bei wirklich mit religiösen Bedürfnissen ausgestatteten Naturen oft zu ergreifendem Ausdruck. Ich erinnere an den Handarbeiter, den ich schon mehrmals erwähnte. Er stand, von Anlage eine ziemlich kritische Natur, seit dem Tode seines zärtlich geliebten Kindes in ewigem innern Ringen, Suchen und Sehnen, aber trotzdem so sehr unter dem Banne der für ihn einfach schlagenden Argumente der glaubenslosen sozialdemokratischen Agitation, daß er nach jedem Ansatz in hoffnungsloses Verzweifeln zurückfiel. Es war nicht damals nur am Schlusse jenes langen Gesprächs vor meinem Rundsägegatter, daß er bei mir Gewißheit, aber ganz feste Gewißheit suchte. So traf ich ihn einmal sonntags auf dem Friedhof unsers Ortes am Grabe seines Kindes zusammen mit seiner Frau, die seine Zweifel und seine Hoffnungslosigkeit teilte. Da mußte ich ihnen abermals von meinem Glauben, meiner Auferstehungsgewißheit reden, auch hier wieder vergebens. Denn einige Tage nachher sagte er mir einmal ganz plötzlich und unvermittelt – es war beim gemeinsamen, mühsamen Einschmirgeln zweier großer Platten –:
Du, mit deinem Glauben ist es doch nichts. Gestern abend war ich wieder auf dem Gottesacker und traf zwei Frauen. Die hatten auch nicht viel Hoffnung wegen des Wiedersehens. Sie meinten auch, wo denn die vielen Millionen Toten hin sollten, wenn sie alle ewiges Leben hätten.
Ich versuchte abermals, diesen im Volke weit verbreiteten Gedanken, der auch so eine Frucht des alten falschen, verstandesmäßigen Glaubens ist, zu widerlegen. Ich machte ihn auf den Glauben an die Allmacht unsers Gottes aufmerksam, und daß wir darüber gar nicht grübeln könnten, und grübeln sollten, weil wir doch auf diesem Wege zu keinem Ziele und niemals zum Glauben kämen; daß wir uns nur an Gottes Liebe zu halten brauchten, deren wir aus Jesu Christi ganzer Person unerschütterlich gewiß würden.
Aber er auch da wieder:
Ja, es muß schön sein, wers glauben, ganz gewiß glauben kann, für Leben und Sterben schön. Aber wers nicht glaubt, ist doch auch nicht gerade ein Sünder. Es ist ja alles gleich, ebenso wie im Grunde auch die Katholiken, die Juden und Türken nichts andres glauben. Und davon ließ er sich nicht abbringen.
Ein andermal, eines Abends in einer ganz kleinen aber gemütlichen Kneipe, erzählte er mir folgende für seine innere Verfassung unendlich bezeichnende Geschichte mit vollstem, bitterstem Ernste:
Weißt du, wie unser Kind gestorben war, kam gleich der Diakonus zu uns und wollte uns trösten. Wir sollten vor allem Gott um Kraft und Trost bitten, meinte er. »Das haben wir auch während der ganzen Krankheit gethan, und es hat doch nichts geholfen; sie ist doch gestorben,« antwortete meine Frau. Und weißt du, was er darauf sagte? »Sie haben aber doch gebetet: Vater dein, nicht mein Wille geschehe!« Siehst du, die Leute haben doch immer eine Ausrede!
Dann traf ich ihn, es war gleich in den ersten Tagen meiner Fabrikzeit, und wir machten eben eine schmierig gewordene große Hobelmaschine rein, wieder einmal in eifrigem Gespräch mit vier andern, alle von seiner Natur, wie er im Zweifeln und Kämpfen. Ich hatte erst nicht auf ihr Gerede geachtet und kniete am Boden, um Hobelspäne zusammenzulesen. Da sagte plötzlich ganz laut und ganz energisch der eine:
Nein, nein, ich lasse es mir nicht nehmen, ein höheres Wesen giebt es.
Es war jener einzige in der ganzen Fabrik, der ein überzeugtes Christentum noch offen und ehrlich bekannte, der mir dann, ein moderner Märtyrer, sagte, daß er darum von allen in den ersten Jahren seiner Anwesenheit in der Fabrik viel verspottet worden wäre und viel zu leiden gehabt hätte, den man aber jetzt als unverbesserlich aufgegeben hatte und ruhig, ohne unfreundlich gegen ihn zu sein, seine Wege gehn und seines Glaubens leben ließ.
Als ich ihn jenes Nein, nein sagen hörte, sah ich natürlich überrascht vom Boden auf. Und sofort bemerkten sie mein Erstaunen, und nun erklärte ein dritter:
Die beiden haben oft solchen Diskur (d. i. Gespräch) mit einander. Und ich höre auch ganz gern zu. Ich habe auch ein Kind verloren und mache mir so meine Gedanken. Ist der Glaube wirklich bloß eine Einbildung, wie die meisten andern sagen? Oder ist das nicht bloß Profession von den Geistlichen, wenn sie so predigen und reden? Warum thut Gott heute keine Wunder mehr? Warum läßt er so viel Unglück in der Welt zu? Warum geht es so vielen Guten schlecht? …
Ja, und wenn es mir schlecht geht – nun da haue ich eben alles hin, fügte wieder einer hinzu. Der fünfte aber rief dazwischen hinein:
Wollt ihr noch nicht bald mit dem Zeuge aufhören!
Aber der »Bekenner,« der den andern so gut und so schlecht, als seinem selbst unklaren und natürlich ganz nach der alten Schablone zugeschnittenen Glauben möglich war, Antwort zu geben versuchte und in diesem Falle die andern auf seiner Seite und sich also einmal als der stärkere, überlegenere wußte, brachte ihn schnell zum Schweigen:
Sei du nur stille. Du bist freilich ein halber Teufel, gerade wie ein Stück Vieh, das sein bißchen Fressen hineinschüttet und schläft und damit zufrieden ist.
Aber so schlimm war es nun wirklich nicht. Auch er war vielmehr ein Typus, für eine andre freilich kleine Gruppe ehemaliger Landarbeiter, die auch jetzt noch in den nahen Dörfern ihren Wohnsitz hatten. Er erklärte mir später, zwar was die Pastoren redeten, wäre meistenteils Quatsch, aber er ginge doch auch in die Kirche, ja sogar ein »hübsch paarmal.« Bloß die letzte Zeit hätte er lange ausgesetzt, weil er keinen ordentlichen Anzug hätte. Hier zeigt sich ein andrer katholischer Zug des bisherigen kirchlichen Lebens, der sich namentlich auf dem Lande findet: daß man in die Kirche geht, ohne eine innere Anteilnahme dazu für nötig zu finden. Der bloße Gang, diese schuldige Visite bei dem lieben Gott, ist ein gutes Werk und genügt. Das übrige besorgt schon dieser liebe Gott und diese Kirche durch den Pastor, der dazu angestellt und bezahlt ist, heilig und fromm zu sein.
Sonst war natürlich der Kirchenbesuch von Leuten aus der Fabrik minimal. Der echte Sozialdemokrat, das heißt, der es wirklich war oder doch als solcher gelten wollte, ging selbstverständlich niemals in eine Kirche; aber formell aus ihr ausgetreten waren doch auch wieder nur wenige. Jener Monteur, der über Luther so absprechend geurteilt hatte, war wohl der einzige, wenn ich mich recht entsinne. Er machte sich mir gegenüber wenigstens über die Schwächlichkeit und die Kraftlosigkeit der Kirchgemeinden lustig. Die wären so ohne Leben, daß der Pfaffe dem, der öffentlich austräte, noch wegen seiner Überzeugungstreue ein Kompliment machte. Die andern, die drin blieben, hätten überhaupt gar keine Überzeugung mehr und wären die Gleichgiltigkeit selbst. Hatte er da wirklich so unrecht? Zeugt nicht das wieder für das, was uns fehlt, was wir haben müssen: lebendige kraftvolle christliche Gemeinden?
Aber auch von jenen armen Zweiflern, Abhängigen, Halben, die noch haltlos und hilflos, zweifelnd und seufzend, willenlos zwischen den beiden Weltanschauungen hin und her geworfen wurden, bei denen also noch am meisten Sehnsucht nach religiöser Aufklärung und Befriedigung vorhanden war, gingen nur wenige und ganz selten einmal in die Kirche, dagegen um so öfter auf den Kirchhof, an ihre Gräber, um hier zu trauern und zu zagen. Jener vielerwähnte Handarbeiter zum Beispiel hatte, wie er mir sagte, die Kirche seit fünf Jahren nur einmal betreten, während er früher in seiner Heimat Sonntag für Sonntag hineingegangen sei. Aber das war nun alles vergessen, und nun besann man sich des Sonntags gar nicht mehr auf sie. Das ganze heutige sonntägliche soziale Leben der Bewohner einer Fabrikarbeitervorstadt ist eben gar nicht mehr darauf zugeschnitten, auch wenn man, wie in Sachsen schon lange fast durchgängig, wirkliche Ruhe von der Arbeit, sogenannte Sonntagsruhe hatte. Das trat aus eines andern Äußerung besonders deutlich hervor.
Er war ebenfalls vom Lande, oder besser aus dem »Gebärg,« in eine der Vorstädte und unsre Fabrik hereingekommen. Er war ebenfalls einer der wenigen, die über ihren Pastor nicht direkt schnauzten, wenn er ihn auch nicht gerade als einen besondern Liebling verehrte. Er sagte in aller Ruhe:
Früher, in unserm Dorfe, gingen wir immer in die Kirche. Da war es eine Schande, wer es nicht that. Aber seit ich hierher gezogen bin, komme ich fast nie mehr hinein. Hier ist es nicht Mode, und da spielen wir sonntags vormittags lieber einen tüchtigen Skat.
Würde das – es ist das ein Bild aus einer Gesamterscheinung – möglich sein, wenn das kirchliche Leben auf dem Lande wirklich rege, die Predigt wirklich modern und kraftvoll wäre? Dann müßte die Sehnsucht nach der Kirche und nach Gottes Wort solche Herzen auch in ihren neuen weniger günstigen Wohnorten unwiderstehlich in die Kirche ziehen. Aber über die Kirche ist man eben längst hinaus, auch die, die noch Bruchstücke von ihren Lehren sich bewahrt haben, weil man in ihr meist nur die gleichartige Schwester der Schule, aber nicht das Heiligtum gefunden hat, aus dem der Mensch, auch der Fabrikarbeiter, immer wieder seinen Frieden, sein Glück, seine Kraft für das harte Leben der Woche holt.
So äußerte sich ein Dreher, ein heitrer, freilich etwas kalter, aber sonst selbständig und verständig urteilender Mann:
Ich gehe fast nie mehr in die Kirche, das haben wir ja alles schon in der Schule genug gehabt. Aber sie muß sein; sonst wäre der Teufel vollends los. Das gefällt mir auch an der Sozialdemokratie nicht, daß sie gegen die Kirche so räsonniert. Auch meinem Schwiegervater nicht. Die meisten Pfaffen sagen es doch den Großen ebensogut wie uns. Er kann es doch nicht ändern, wenn niemand auf ihn hört.
Ein Stückchen Wahrheit liegt auch darin. Ebenso ein andrer, ein echter Sohn des Dorfes:
Ich glaube nur an ein höheres Wesen und eine Fügung. Ich bete auch immer noch, wie ich es als Kind gelernt habe, und könnte abends, ohne das Vaterunser gebetet zu haben, gar nicht einschlafen, wenn ich auch weiß, daß es nichts hilft. Sonst glaube ich nichts mehr, an ein ewiges Leben nun gar nicht; und Christus war ebenso einer wie die »Sozialschen.« Aber zum Pastor gehe ich schon lange nicht mehr in die Kirche. Denn was der mir sagt, weiß ich längst aus der Schule und Konfirmation.
Diese zwei zuletzt erwähnten gehören nun wieder einer besonders gefärbten Gruppe an. Nicht allzu zahlreich, sind sie mit die gesundesten und thatkräftigsten Naturen von allen. Auch sie, die sich fast alle aus ländlichen Kreisen rekrutieren, sind ebensowenig wie alle andern von jener Krisis verschont geblieben, die alle in ihre Strudel reißt. Aber da sie weder die alte noch die neue Bildung, weder der alte noch der neue Glaube zu befriedigen vermochte, sie aber doch etwas derartiges haben mußten, so haben sie sich ihre eigne Bildung, ihr eignes bißchen Philosophie zurecht gemacht, die nun freilich oft wunderlichster Art ist, ein Gemisch von Altem und Neuem, mit viel persönlich bestimmter Kritik und Beweisführung durchsetzt, aber auch noch mit manchen Resten aus der Vergangenheit ausgestattet. Natürlich standen und stehen auch sie unter dem Einfluß der sozialdemokratischen Genossen, vor denen ihre Überzeugungen und Gründe meist nicht Stich genug zu halten pflegen. Darum bekennen sie auch nicht gleich Farbe, verhalten sich durchschnittlich zurückhaltend und stoßen ab und an mit der Sozialdemokratie in ein Horn, um sich nicht deren Spott und Hohn auszusetzen, gegenüber dem auch sie waffen- und wehrlos sind. Darum gehen sie auch gewöhnlich nur vor demjenigen aus sich heraus, zu dem sie als einem gleich oder doch ähnlich gesinnten Vertrauen gefaßt haben. Und auch dann sprechen sie sich am liebsten nur unter vier Augen aus. Aber auch ihnen fehlt jedes Leben und alle Wärme des Glaubens, das Bewußtsein davon, daß das Christentum eine Kraft, ein innerer Frieden, eine wahrhaftige unirdische und überirdische Seligkeit ist. Auch ihnen ist, was sie davon noch gerettet haben, ein Stück bloßer Verstandesbildung, nur ein Stück Wissen und alter Sitte.
Ach, die verfluchten Pfaffen, sagte einmal so einer plötzlich zu mir, als ich ihn fragte, ob sie eine Kirche in ihrer Vorstadt hätten.
Wie so?
Das sind ja alles große Heuchler, größere wie wir alle. Von denen lasse ich mir nichts mehr sagen.
Das erstere können Sie wohl kaum beweisen, und was das letztere betrifft, so haben die Leute doch mehr gelernt als alle in der Fabrik. Das wäre also auch nicht so schlimm. Lernen kann und soll man doch von jedem.
Da sah mich der Mann rasch, überrascht an. Und als er sah, wes Geistes Kind ich war, lenkte er ein. Zwar auf die Pfaffen im allgemeinen blieb er wütend. Nur von einem redete er dann lange freundlich und gut, von dem bekannten Achtundvierziger, Pastor Würkert in Zschopau, der ihn dort konfirmiert hatte.
Jetzt ist es mir freilich viel lieber, sonntags ein gutes Buch zu lesen, als in die Kirche zu gehn. Da habe ich mehr davon. Aber auch wenn ichs wollte, käme ich kaum dazu. Ich habe gar nicht einmal die Zeit. Denn da muß ich meiner Frau das Mittagsessen für unsre vielen Schlafleuten mit machen helfen. Übrigens war ich voriges Jahr zu unsrer silbernen Hochzeit zum heiligen Abendmahl mit meiner Frau.
Das klingt ja ganz anders als vorhin, warf ich dazwischen.
Ja wie die richtigen Sozialisten mache ich es auch nicht, die beim Begräbnis den Sarg in das Grab herunterlassen und dann stracks davon rennen. Ich höre mir die Rede vom Geistlichen ruhig mit an und mache mir eine Lehre daraus. Auch das ist nicht recht, wenn die Sozialisten zum Austritt aus der Kirche drängen. Ich bin getauft, dabei bleibe ich.
Ja, man muß auf seinen Glauben etwas halten, bestätigte ich.
Meinen Glauben habe ich für mich, verbesserte er. Was im ganzen Alten Testament steht, daran glaube ich nicht. Auch nicht an die Geschichte von der Schöpfung der Welt. Und im Neuen glaube ich auch nicht alles. Nur was von Gott und dem Heiland drin steht, mag ja etwa wahr sein.
Auch zwei Katholiken waren unter dieser Kategorie. Der eine war ein Deutschösterreicher, hatte in Böhmen sein Geschäft verloren und war seit anderthalb Jahren in Chemnitz und in unsrer Fabrik, erst als Handarbeiter, nun als Bohrer. Da er keine Geschäftssorgen mehr und auch keine Kinder hatte, auch seine Frau noch mitverdiente, war er immer guter Laune. Auch der Mann hatte unser langes Gespräch am Rundsägegatter meist schweigend mit angehört. Nur einmal hatte er ausdrücklich einer spöttischen Bemerkung des einen meiner damaligen Widerparts zugestimmt. Kurz vor meinem Fortgang aus der Fabrik kam ich nochmals mit ihm allein auf religiöse Dinge zu sprechen. Da redete er nun ganz anders. Da hörte ich, daß er mit seiner Frau nicht zu selten in die Kirche ging. Das letzte Jahr war er viermal drin gewesen – natürlich in einer evangelischen, wie er mir stolz versicherte. Das war in der That schon viel für die dortigen Verhältnisse. Er lobte die evangelische Predigt sehr, namentlich die Trauungen, wo eine so schöne »Lehre« dabei sei. Er glaube nicht mehr an die Heiligen, die Mutter Maria u. s. w., aber noch an Gott und Christus.
Zweifelhafter an Charakter und religiöser Gesinnung war sein Glaubensgenosse. Er war schon in die Fünfzig und kinderloser Witwer, ging aber wieder auf Freiersfüßen, was ihn jedoch nicht abhielt, sich, wo es ihm geboten ward, mit andern Mädchen aufs intimste abzugeben. Er war lange Zeit Bote des Vereins für innere und äußere Mission eines sächsischen Superintendenten gewesen und ging, wie er sagte, aller drei bis vier Wochen einmal zur Kirche. Aber niemandem sagen! fügte er dazu. Sonst geht es mir schlecht hier.
Ebenso wars noch mit einem jungen, etwa dreißigjährigen Hamburger. Auch er hatte mir früher – freilich beiläufig – wenig Schmeichelhaftes über Kirche und Christentum gesagt. Und auch er redete in der letzten Zeit meiner Fabrikzeit, wo er mich kannte, ganz anders:
Sieh, ich bin draußen ein andrer als in der Fabrik, sagte er einmal ganz unaufgefordert. Ich glaube an Vater, Sohn und heiligen Geist und auch an Wunder; denn ich habe selbst welche erlebt. Wenn ich Sonntags nichts zu thun habe, gehe ich mit meiner Frau in die Kirche. Hier drin in der Fabrik darf man aber davon nichts merken lassen.
Ich weiß nicht, ob das seine innerste Überzeugung war. Er nahm das Leben sehr leicht und oberflächlich, war übrigens ein hübscher Kerl und stand sehr unter dem Regiment seiner gleichaltrigen, ebenso tüchtigen und energischen als eifersüchtigen Frau. Ich traute ihm nicht. Er hatte mir geradezu einmal gesagt, daß er es darauf anlegte, daß die Leute nicht aus ihm klug würden. Das wäre das allerbeste. Einmal beteuerte er, daß er nicht Sozialdemokrat wäre, und dann wieder einmal, daß er aus unserm sozialdemokratischen Wahlverein austreten wollte.
Als ich ihm auf sein obiges Bekenntnis bedeutete, wenn das wirklich seine Überzeugung und sein Christentum wäre, so dürfte er es auch nicht verleugnen, sondern müßte es frei und offen bekennen, sah er mich ganz erstaunt und verständnislos an.
Aber nun genug dieser trüben Bilder, die ich wohl leicht noch durch manche andre vermehren könnte. Doch ich glaube, mein Beweis ist auch durch diese schon schlagend geführt. Und es ist in der That kein Ausweg übrig, wir müssen nach alledem anerkennen, daß der materialistisch-sozialdemokratische Einfluß nirgends so gründlich mit den überkommenen Anschauungen und Empfindungen der Arbeiter aufgeräumt hat, als auf dem religiösen Gebiete. Die alten Gebilde und Denkformen, in die der Glaube des Christentums bisher gefaßt und geprägt war, sind in der Masse der großindustriellen Fabrikarbeiter für immer zerstört. Und mit den Gefäßen ist für viele von ihnen heute auch der Geist zerbrochen, der sie erfüllte, und der allein das Wesentliche, das Wertvolle, die Wahrheit ist. Nun wächst eine Welt ohne Gott da unten herauf, zieht ihre immer größern Kreise, zwingt die noch Ringenden, Zagenden, Schwankenden, die im Grunde nichts wissen wollen von den öden Glaubenslehren der materialistischen Weltanschauung, immer von neuem in ihren eisigen Bann. Von der eignen Kirche ohne Hilfe, ohne Aufklärung, ohne Führung und Stärkung gelassen und von der Atmosphäre sozialistischer Ideen unentrinnbar umgeben, sterben sie alle einen langsamen, oft qualvollen geistigen Tod.
Ein einziges nur ist allen geblieben: die Achtung und Ehrfurcht vor Jesus Christus. Auch der ausgesprochenste Sozialdemokrat und Glaubenshasser hat sie, ja gerade er mehr als mancher sozialdemokratisch Nichtverpfändete. Wohl macht man sich ein ganz andres Bild von diesem Jesus von Nazareth als bisher; es fehlt ihm in ihren Augen der Glorienschein, den die Kirche ihm um die hohe Stirne gewoben hat; man lächelt über seine von den Theologen ihm »zugemutete« Göttlichkeit; für sie ist er meist nur noch der große soziale Reformator der mit religiösen Mitteln, aber vergeblich das goldne Weltalter heraufführen wollte, das auch sie erstreben und, glücklicher als jener, schaffen werden. Aber sie alle halten doch sinnend still vor seiner großen Persönlichkeit.