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Wir waren etwa fünfhundert Mann in unsrer Fabrik beschäftigt, denen allen ich selbstverständlich nicht gleich nahe gekommen bin. In täglicher intimer Berührung war ich eigentlich nur mit 120 bis 150 Mann, von denen die meisten mit mir einer Abteilung, dem Werkzeugmaschinenbau, angehörten. An diesen habe ich vornehmlich die Erfahrungen gemacht, die ich mitteile.
Unter ihnen wiederum war die überwiegende Mehrzahl Sachsen, soviel ich habe herausbekommen können, 70 bis 75 Prozent. Ich bitte, diese Thatsache für alle folgenden Erörterungen im Auge zu behalten und meine Erfahrungen nicht, wider meinen Willen, unbesehen auch auf andere Stämme zu übertragen. Der Rest von 25 Prozent verteilte sich etwa auf 10 Prozent Norddeutsche, 5 Prozent Süddeutsche, 10 Prozent Österreicher und einige Schweizer. Die hohe Ziffer der Österreicher erklärt sich leicht aus der Nähe der sächsisch-böhmischen Grenze. Übrigens waren sie zumeist Deutschböhmen und bereits in Sachsen naturalisiert. Unter den Sachsen überwog wieder das eingeborene Element, geborene Chemnitzer, oder aus der nähern und weitern Umgebung der Stadt, oder wenigstens aus dem Erzgebirge und Vogtlande. Viele dieser engern Landsleute waren mit einander verwandt. Ich fand bei flüchtiger Umschau allein vier Brüderpaare bei uns, fünf Väter, die einen Sohn, mehrere, die Schwiegersöhne, einen, der Sohn und Schwiegersohn mit in der Fabrik hatte.Aus den übrigen drei sächsischen Kreisen war die Zahl der Eingewanderten verhältnismäßig gering, kaum 15 bis 20 Prozent. Dagegen war das einheimische Element in der Chemnitzer Wirk- und Webindustrie viel stärker als bei uns, im Gegensatz wieder zum Baugewerbe, wo die Österreicher, speziell die tschechischen Arbeiter, ein überraschend großes Kontingent stellten.
Über das Einkommen meiner Arbeitsgenossen nun kann ich nicht ganz sichre Zahlenangaben machen. Denn ich habe sie selbstverständlich nur von den Leuten selbst und kann darum für ihre genaue Richtigkeit nicht bürgen. Es war ungemein schwer, hierüber die volle Wahrheit zu erfahren. Jeder suchte seinen Verdienst vor den: andern zu verheimlichen, der eine, der mehr verdiente, um durch seinen Lohn nicht in den Geruch eines Schleichers und Günstlings zu kommen oder die Mitarbeiter nicht zu einer gleichhohen Lohnforderung zu veranlassen; der andre, der weniger verdiente, aus Scham und Furcht vor dem Spott und der Hänselei unvernünftiger Mitarbeiter.
Die damaligen Löhne standen offenbar unter dem Drucke der verfehlten Maifeier und der nahenden MacKinley-Bill. Dann einmal wurden neu Eintretende mit niedrigerm Stundenlohn als der vorhergehende eingestellt, und dann wurde jede Bitte um Lohnzuschlag zurückgewiesen. Wer mit seinem bisherigen Verdienst nicht zufrieden war, wurde entlassen.
Ich selbst, um damit zu beginnen, bekam als Neuling und Handarbeiter 20 Pfennige Lohn für die Stunde, den gewöhnlichen Anfangslohn, der aber aus Bitten, namentlich Verheirateter bald um 1 bis 2 Pfennige erhöht zu werden pflegte. Das machte bei mir täglich mit Ausnahme des Montags und Sonnabends, wo eine Stunde weniger gearbeitet wurde, 2,13 Mark, an den beiden genannten Tagen 1,93 Mark, in der ganzen Woche genau 12,78 Mark. Davon gingen stets fast zwei Mark ab: an Krankenkassenbeiträgen, Strafgeldern für Verspätungen und Arbeitsversäumnissen, sodaß ich selten mehr als 11 Mark Verdienst auf die Woche herausbekam. Die übrigen Handarbeiter verdienten 12 bis 15 Mark, durchschnittlich wohl 14 Mark die Woche, Schlosser 15 bis 21, ihre Monteure 22 bis 28, Bohrer, die um Lohn arbeiteten, 15 bis 19 Mark. Dagegen kamen die Akkordarbeiter bedeutend höher: Hobler im Durchschnitt bis auf 25, Dreher von 20 bis 30, Stoßer und Bohrer von 20 bis 30, 35, einzelne gar bis 40 Mark in der Woche. Der Maschinist an der großen Dampfmaschine verdiente nach seiner eignen Angabe bei vierzehnstündiger täglicher und regelmäßiger Sonntagsvormittagsarbeit 24 Mark die Woche. Bei den Monteuren wird ebenso wie bei einigen Meistern das Einkommen bedeutend durch sogenannte Prozente für von ihnen fertig gestellte Maschinen erhöht. Das Jahreseinkommen der letztem sollte nach Angaben der Leute im Durchschnitt 1800 bis 2000 Mark betragen. Unter den starken Verdienern sind viele junge Leute mit einem angeblichen Mindestverdienst von 100 Mark im Monat. Ein Teil dieser Angaben kann eher noch zu niedrig als zu hoch gegriffen sein. In einigen andern Maschinenfabriken sollte der Lohn noch höher sein, aber auch die Arbeit länger und anstrengender. Doch vermochte ich selbstverständlich die Richtigkeit dieser Angaben nicht zu prüfen.
Aus alledem geht hervor, daß von Not unter dieser Arbeiterklasse nicht die Rede sein kann. Jedenfalls ist sie eine der verhältnismäßig bestgestellten, konsumtionskräftigsten unter der gesamten sächsischen Arbeiterschaft, auch wenn man sich immer vor Augen hält, daß die angegebenen höchsten Zahlen nur für einen kleinen Prozentsatz der Arbeitsgenossen gelten, daß der Durchschnittsverdienst 80 Mark im Monat beträgt, und ein Stundenlohn von 32 Pfennigen schon als sehr günstig angesehen wird.
Die vielen, die, wie namentlich Handarbeiter, bedeutend weniger als diese angegebene Summe verdienten, dazu eine zahlreiche Familie, Sorgen und Schulden hatten, die aber fleißig und strebsam waren und auf sich und ihre Angehörigen hielten, suchten durch Nebenverdienst ihr Einkommen einigermaßen zu erhöhen. Sie suchten sich auf alle Weise in ihren knappen Feierabendstunden sowie am Sonntage außerhalb der Fabrik ihre bald besser bald schlechter gelohnte, bald leichte und angenehme, bald mühsame Nebenbeschäftigung. Hier einige Beispiele. Ein Packer, der gern und mit herzlichem Behagen von seinem Heim, seiner Frau und seinen erwachsenen und halberwachsenen Kindern zu erzählen pflegte, ein schlichter, treuherziger Charakter, schnitzte den Sonntagmorgen über Kleiderbügel und machte am Nachmittag und in der Nacht auf einem nicht allzufernen Dorfe den Tanzmeister; ein ehemaliger Schneider trieb in seiner Freizeit sein altes Handwerk, um sich Taschengeld zu verdienen, da er, wie er uns sagte, sein ganzes Verdienst, allvierzehntägig 27 Mark, bis auf eine Mark seiner Frau und seinen zwei Kindern heimbrachte; ein Zimmermann tischlerte nebenbei; ein andrer, der einst Barbierjunge gewesen, aber aus der Lehre entlaufen war, ging des Abends von Haus zu Haus und barbierte Bekannte und Genossen aus der Fabrik; mehrere machten des Sonntags Tanzmusik, einer, ein Dreher, in einer »fidelen« Kneipe Ulkmusik; wieder einer verhandelte Fässer; ein Bohrer war Sonntags nachmittags Hilfskutscher eines in den vermehrten Sonntagsbetrieb eingestellten Wagens der Chemnitzer Pferdeeisenbahn; ein Schlosser, der seinen Sohn Kaufmann werden ließ und etwa vierzig Jahre alt sein mochte, ein gutmütiger Kerl, aber ein großer, wenn auch nicht allzu unanständiger Verehrer geistiger Getränke, kellnerte allabendlich und allsonntäglich in einer unsrer vielbesuchten bessern Arbeiterkneipen – wohl ebenso aus dem Streben, etwas zu verdienen, als ab und zu einen billigen Trunk zu thun; endlich fand ich nicht einen nur, der unter den Fabrikgenossen einen schwunghaften Handel mit billigen Zigarren im Preise von drei, vier, auch fünf Pfennigen trieb. Auch sonst suchte man sich auf allerhand Weise zu verdienen: durch Kohleneintragen bei Meistern und Direktoren, durch Grasmähen in deren Gärten und ähnliche Dinge.
Einzelnen wenigen brachten auch Überstunden und Sonntagsarbeit in der Fabrik etwas Nebenverdienst. Es waren das freilich meist ganz bestimmte, vom Meister ausgesuchte Leute, denen dieser »Vorteil« zufiel: um den Preis ihres gewöhnlichen Stundenlohnes übernahmen sie die Werkstattreinigung an jedem Sonnabend nach Feierabend, ferner die Reinigung der Dampfmaschinen und sonst sich nötig machende Reparaturen am Sonntag Vormittag.
Einen weitern Zuschuß brachte die Arbeit der Frauen und manchmal, doch nicht zu häufig, der größern Kinder. Es ist mir unmöglich, hierüber Genaueres zu sagen, ich vermag nur anzugeben, daß diese Frauenarbeit die allerverschiedenste war: Schneidern, Nähen für ein Geschäft, Waschen und Scheuern, Hausieren oder Handeln mit Grünzeug und andern Waren; wohl nicht häufig ging man in Fabriken, viel mehr wurden daheim auf der Strickmaschine Strümpfe gestrickt.
Auch wurde das Halten von Schlafleuten und Mittagskostgängern, wobei ebenfalls der Frau die ganze Arbeit obliegt, als Quelle zur Erhöhung des Fabriklohnes angesehen – kaum mit vollem Rechte. Denn so viel ich beobachten konnte, kommt in Anbetracht der dadurch den Frauen auferlegten schweren Mühe und der Opfer an häuslicher Bequemlichkeit, von andern tiefern, aber mehr ausnahmsweisen Schäden hier einmal ganz abgesehen, ein pekuniärer Vorteil selten heraus.
Das alles aber gilt immer nur von den geringer gestellten Arbeitern. Ich glaube bemerkt zu haben, daß wer nur immer dazu imstande war, auf solche Nebenverdienste zu verzichten, es auch mit einigen Ausnahmen that.
Aber mein Bild würde unvollständig bleiben, wenn ich ihm nicht einen goldnen Rahmen gäbe und nicht noch erzählte, daß wir doch auch fünf Hausbesitzer unter den Arbeitern unsrer Fabrik hatten. Wenigstens sind mir fünf bekannt geworden: ein enorm fleißiger, auf Akkord arbeitender Dreher, der sich das Vesperbrot am Munde absparte, und den man scherzweise den Kommerzienrat nannte, hatte es sich durch seiner Hände Arbeit und seinen, wie einige sagten, Sparsinn, wie andre meinten, Geiz erworben; dasselbe galt von einem andern Arbeiter; ebenfalls ein junger Dreher war – wohl durch Erbschaft – Eigentümer des flottgehenden Gasthofes eines engbenachbarten Dorfes; und ein Schmied und ein Schmirgler waren ebenso im Besitz eines Wohnhauses. Dann war einer in meiner Kolonne, ein guter, bei allen beliebter Kerl, der aus einer Bauernfamilie der Umgegend stammte und, wie man sagte, aber wohl übertrieb, im Besitze von soviel tausend Mark sei, daß er es nicht nötig gehabt hätte, sich bei uns herumzuplagen. Endlich mußte ich einmal als gelernter »Schreiber« einem andern schon älteren Manne, dessen Vater gestorben war und den Kindern je mehrere hundert Mark hinterlassen hatte, einen Kontrakt aufsetzen, auf Grund dessen er seinen Anteil einem Bruder als Hypothek auf dessen Haus überließ – wie er mir sagte, da er das Geld ja doch nicht brauchte. Doch habe ich es kaum nötig, noch ausdrücklich zu erwähnen, daß diese glücklichen Hausbesitzer und Kapitalisten nicht die Regel unter uns bildeten.
Nach dem allen wiederhole ich meine oben gemachte Aussage, daß von Not in unsrer Arbeitergruppe nicht die Rede sein konnte. Freilich auch nicht von Überfluß. Denn der oben angegebene Betrag des jährlichen Durchschnittseinkommens von 800 bis 900 Mark gestattet bei den heutigen hohen Wohnungs- und Lebensmittelpreisen eben gerade, daß ein Arbeiter mit einer nicht allzu zahlreichen Familie ohne schwere Nahrungssorgen leben kann. Die Sache liegt aber sofort bedeutend ungünstiger, wo wie bei uns Handarbeitern das Jahreseinkommen nur zwischen 600 bis 700 Mark betrug, oder wo Krankheiten, Todes- und andre Unglücksfälle, längere Reserve- und Landwehrübungen des Mannes oder endlich ein häufig mit einer Arbeitspause verbundener Wechsel der Arbeit einen beträchtlichen Teil auch des höhern Einkommens verschlangen. Bei denen, die 1200 bis 1500 Mark Einkommen hatten, war allerdings eine bessere höhere Lebenshaltung und einiger Luxus möglich und zu meiner Freude vielfach auch vorhanden. Im allgemeinen muß das Urteil aber dahin zusammengefaßt werden, daß auch bei dem angegebenen Durchschnittsverdienste die Lebensführung für eine Arbeiterfamilie nur in den allerbescheidensten, sagen wir in beschränkten Verhältnissen möglich war.
Das werden schon die nicht erschöpfenden Beobachtungen zeigen, die ich über Wohnung, Kleidung, Nahrung meiner Arbeitsgenossen gemacht habe, und die ich trotz aller Lückenhaftigkeit doch der folgenden Mitteilung für wert halte.
Meine Arbeitsgenossen wohnten zu einem beträchtlichen Teile nicht in dem Vorstadtdorf, in dem unsre Fabrik lag und wo auch ich mich einquartiert hatte. Viele wohnten in der Stadt, viele in den umliegenden nahen und fernern Dörfern. Die Fälle waren nicht vereinzelt, in denen sie stundenweit bis nach Hause hatten. Ein Handarbeiter unsrer Kolonne, der älteste von uns, ein hoher Fünfziger, hatte so weit zu gehen, daß er es vorzog, die Woche über bei seinem Schwiegersohn in unsrer Vorstadt Quartier zu nehmen und nur Sonnabends seine Frau und sein Heim zu besuchen, das ein andrer von uns, der ihn einmal besuchte, wegen seiner Nettigkeit, Sauberkeit und »Heimlichkeit« nicht genug zu rühmen vermochte. Über die Wohnungsverhältnisse aller dieser vielen Auswärtigen vermag ich fast keine Einzelheiten zu bringen und nur zu sagen, daß die in der Stadt lebenden bedeutend schlechter, die von den weiter entfernt und oft in reizender Natur gelegenen Dörfern hereinkommenden, im Durchschnitt unstreitig besser wohnten, als wir in unserm Viertel.
Unser Vorstadtdorf schloß sich so dicht an Chemnitz an, daß man beider Grenzen nicht mehr herausfinden konnte. Beide gingen ineinander über, und auf der andern Seite des Dorfes bildete eine ganze stundenlange Kette von Dörfern, wie das in dem dicht bevölkerten Sachsen nicht selten vorkommt, seine Fortsetzung. Dieser Zusammenhang bestimmte Aussehen und Anlage unsers Ortes. Er war halb Stadt halb Dorf: zwischen den alten charakteristischen hochgiebeligen, kleinfenstrigen, niedrigen Landhäusern hoben sich die zum Sterben nüchternen städtischen zwei- bis dreistöckigen Mietskasernen empor. Nur ein kleines Viertel gab es noch, wo der alte Charakter des ehemaligen Dorfes in den niedrigen primitiven, planlos und willkürlich nebeneinander gestellten Tagelöhnerhäuschen und den schmalen, zickzackigen Gängen und Wegen dazwischen ganz rein erhalten war. Aber dicht daneben wuchs mit Riesenschnelle wieder ein rein städtischer Teil empor, zwei breite, mächtige parallel laufende Straßen, wo in gerader Linie Kaserne an Kaserne stand, deren kalte Front freilich kleine grüne Vorgärtchen freundlich belebten und schmückten. So gab auch die äußere Gestalt dieses Vorstadtdorfes ein Abbild der wirtschaftlichen Wandlung, die seine Bewohner eben durchmachten: die Entwicklung aus Land- und Ackerbauern in großindustrielle Fabrikarbeiter.
Meine hier ansässigen Arbeitsgenossen wohnten je nach den Wohnungspreisen, den Ansprüchen, den Neigungen, der Gewohnheit, oft auch nach bloßem Zufall teils in dem neuen Viertel, teils in den alten Häusern, deren Inneres gewöhnlich nach der Weise der neuen Häuser umgebaut und in mehrere Familienwohnungen, »Parten« genannt, geteilt war. Ich weiß nicht, welcher Art Wohnungen ich den Vorzug geben soll. Die in den alten ländlichen Häusern hatten niedrige Stuben, kleine Fenster, enge Fluren und waren mitunter äußerlich verwahrlost; aber dafür lag fast jedes derartige Wohnhaus mitten in einem Gärtchen, mitten im Grünen. Jene andre Sorte hatte größere und höhere Räume, mehr Luft und mehr Licht, aber eben auch den ganzen öden Kasernencharakter, und die Häuser waren vielfach auch recht flüchtig und mangelhaft gebaut. Die geringsten und unfreundlichsten Wohnungen aber fanden sich jedenfalls in den häufigen Hinterhäusern dieser neuen Straßen, die vielfach die Schattenseiten der beiden eben genannten Gattungen in sich vereinigten und an Armseligkeit der innern Anlage und Ausstattung sowie ihrer Umgebung oft nichts zu wünschen übrig ließen.
Es ist schwer, das, was die Leute an Räumen inne zu haben pflegten, noch Familienwohnungen zu nennen. Oder kann man wirklich eine zweifenstrige Stube und ein einfenstriges unheizbares Gelaß daneben noch so bezeichnen? Eben dies aber und nicht mehr bildete das Heim eines – wenn ich recht sah – sehr großen Teiles unsrer Arbeiterfamilien. Darum sprach man da unten auch immer nur von Stuben. »Ich will mir eine neue Stube mieten«; »Was bezahlst du für deine Stube?« waren ganz übliche Worte.
Bedeutend besser, geräumiger, anheimelnder erschienen schon die Wohnungen, die aus einer Stube und zwei solcher Gelasse, im Volke dort fälschlich »Alkoven« genannt, oder gar aus zwei heizbaren Stuben und einem Alkoven bestanden. Doch auch ihnen fehlte sehr oft, wie den Stuben immer, die Küche, dagegen gehörte zu allen genannten Gattungen regelmäßig noch eine sogenannte Bodenkammer, d. h. ein enger Bretterverschlag unter dem Dache, deren jeder mit einer kleinen Luke versehen war.
Die meisten, namentlich modernen, nach städtischer Art gebauten Häuser hatten von jeder der geschilderten Wohnungsparten eine Anzahl, aber in erdrückender Gleichmäßigkeit auch nichts als solche; größere Wohnungen fanden sich in solchen eigentlichen Arbeitermiethäusern gar nicht. Für die wenigen Leute am Orte, die danach verlangten, gab es besonders gebaute Häuser dazwischen und außerdem noch einige wenige Villen oder dem ähnliche Gartengebäude.
Die Preise für diese Wohnungen waren hoch im Vergleich zu ihrem Werte wie zu dem Einkommen der meisten Arbeiter, doch wohl niedriger als diejenigen für gleiche in der Stadt. Ich vermag hier keine Zahlen zu geben; die wenigen, die ich mir damals notiert habe, sind ungenügend, ich setze sie darum gleich gar nicht erst her. Aber an Berliner Preise reichten sie freilich nicht hinan.
Auch darüber, welche nach der Höhe des Einkommens geordnete Arbeitergruppen je diese einzelnen Sorten von Wohnungen bewohnten, läßt sich schwer etwas Allgemeingiltiges festsetzen. Man kann wohl sagen, daß jene kleinsten Räume natürlich immer die schwachen Verdiener oder Väter mit zahlreicher und darum kostspieliger Familie oder junge Eheleute mit noch keinem oder einem einzigen kleinen Kinde bewohnten, die größern immer die stärkern Verdiener. Aber es war nicht selten, daß auch Leute mit weniger Lohn solche größeren Wohnungen innehatten, die aber dann immer eine Anzahl Schlafleute hielten, die ihnen die hohe Miete mit erbringen mußten. Es war, um dies gleich an dieser Stelle zu sagen, in der Fabrik immer ein Ach und Weh, wenn der »Zinstermin« kam; an dem Lohntage, der diesem Termine zuvorging, pflegte besonders wenig für die übrigen Bedürfnisse übrig zu bleiben.
Wie es nun innen in den Wohnungen aussah? Gut, mittelmäßig, schlecht – das kam auf viele verschiedene Ursachen an. Ein Sofa, ein häufig runder Tisch, eine Kommode, ein größerer Spiegel, mehrere Rohr- und noch mehr Holzstühle sowie einige Bilder pflegten wohl fast immer vorhanden zu sein; nicht selten auch eine Nähmaschine, eine Hängelampe und ein hübscher; äußerlich eleganter, wenn auch sehr oberflächlich fabrizierter Kleiderschrank oder Vertikow. In der Ecke oder an der Seite, wo der zum Kochen benutzte Ofen stand, pflegte das wenige Küchengeschirr zu hängen; Töpfe, das »Geschühte« und sonstiges Gerümpel, vielleicht auch noch irgend ein Schrank befanden sich dann in dem anstoßenden Zimmerchen, das im übrigen fast vollständig mit Bettgestellen besetzt war. Einem jungverheirateten Paare fehlte häufig eins oder mehrere der oben genannten Stücke, etwa das Sofa, der Spiegel, die Uhr: man war da eben noch nicht in der Lage gewesen, sie sich schaffen zu können, denn da unten heiratet man ja ohne Mitgift. Ob aber in einem solchen Haushalt Ordnung, Reinlichkeit, verständnisvolles Arrangement und bei aller Enge und größter Einfachheit ein freundlich einladender Geist herrschte oder nicht, das bestimmten die Zahl der Kinder, ihr Alter, das Verdienst und die Haltung des Mannes, die Beschäftigung und vor allem natürlich der Charakter, die Anlage, die Vergangenheit der Frau. Ich war bei Arbeitskollegen im Hause, die kaum ein paar Pfennige mehr für die Arbeitsstunde hatten als ich und genug Kinder und wenig gute Möbel, und bei denen man doch nur gerne blieb; ich war bei Stoßern und Bohrern, die auf Akkord arbeiteten und 40 bis 50 Mark die Woche verdienten, wo es nicht einfacher aussah als in meines Vaters Haus, und weiße Decken den Tisch, das Sofa und die Kommode, weiße Gardinen die blumenbestandenen Fenster, manches Bild die reinlichen Wände schmückten, und ich sah auch das Gegenteil bei Leuten sowohl mit großem als mit geringem Verdienste, mit vielen und wenigen Kindern, mit neuem und altem Hausgerät.
Jedenfalls – und ich betone das scharf und nachdrücklich – war die Zahl der Familien, die bei aller Beschränktheit der Lebenshaltung und Wohnung so gut als möglich auf Adrettheit und Anstand zu halten versuchten und auch tatsächlich hielten, unendlich größer, als diejenigen, bei denen das aus irgend einem Grunde nicht der Fall war.
Das Traurige an dem ganzen Wohnungswesen dieser Leute war vielmehr ein andres, schon oft beklagtes: das Mißverhältnis zwischen der Enge der Räume und der Zahl ihrer Bewohner. Solche eben geschilderte Wohnräume genügten wohl jungen, erst verheirateten Leuten mit ein oder zwei Kindern zu einem halbwegs gesunden, zufriedenen Wohnen: wo sich aber eins, zwei, drei Kinder mehr einstellten, und wo man um des bessern Auskommens willen noch gar Fremde in Kost und Logis zu nehmen gezwungen war, gab es dann Zustände, die sich leicht nachfühlen, aber schwer beschreiben lassen. Das aber war selbstverständlich die Regel. Weitaus die meisten Familien hatten eine Schar Kinder, hatten Schlafleute und Kostgänger. Tadellose Wohnungsverhältnisse gab es darum nur da, wo weder die einen noch die andern vorhanden waren: wenn kinderlose oder auch ältere Ehepaare, deren Kinder bereits erwachsen und versorgt waren, leidliches oder gar gutes Einkommen hatten, blieb man gern für sich und machte es sich freundlich, gemütlich daheim. So bei einem Stoßer, den ich mehrmals besuchte, dessen Jüngster eben aus der Schule war. Hier wars einfach reizend. Auch das waren noch günstige Verhältnisse, wo, wie in der Familie eines aus unsrer Kolonne, der in einem solchen ehemaligen zum Miethause umgewandelten Bauernhause wohnte, Vater, Mutter, eine erwachsene Tochter aus erster Ehe der Frau und drei kleine Kinder aus der jetzigen Ehe eine geräumige Eckstube, einen einfenstrigen Alkoven und eine Bodenkammer inne hatten: Da schlief das Mädchen in der letztern allein; die übrigen im Alkoven, und zwar das Kleinste in der umfangreichen Wiege, die zwei andern in einem und die Eltern auch in einem Bette. Solches allnächtliches Zusammenschlafen einmal der Eltern und dann von Geschwistern, auch schon größern, und dann auch von Bruder und Schwester in einem Bette war übrigens nach meinen Erfahrungen weitaus die Regel: nur bei zwei kinderlosen Ehepaaren fand ichs auch in diesem Punkt anders und besser; da hatten die Gatten je ein Bett für sich. Ungünstiger schon als bei der eben geschilderten Familie lagen die Dinge bei einer andern mir befreundet gewordenen, die aus den jungen Eltern, einem zweijährigen und einem halbjährigen Kinde und einem erwachsenen fremden Fabrikmädchen bestand, und die sich nur mit einem einzigen engen Zimmer zur ebnen Erde und der Dachkammer, wo jene Fremde schlief, begnügen mußte. In dieser einzigen Stube, die natürlich Wohnzimmer, Schlafzimmer, Besuchszimmer und Küche zugleich war, stand ein einziges Bett für die Eltern, ein Kinderwagen, ein Tisch, ein paar Stühle, eine Kommode, ein Kleiderschrank und Küchenzeug eng zusammen. Aber auch so wars noch verhältnismäßig gut. Es kommt noch schlimmer. Wieder ein Handarbeiter meiner Kolonne, bei dem ich am häufigsten war, der eine energische, fleißige Frau, ehemalige Köchin, zwei von ihm und ihr herzlich geliebte und sorgsam gehütete Kinder, ein Mädchen von etwa nenn und einen Jungen von sechs Jahren hatte, bewohnte in einem mit Menschen vollgestopften Hintergebäude mit drei jungen Schlossergesellen aus unsrer Fabrik ebenfalls nur ein enges zweifenstriges Zimmer, einen Alkoven und eine Bodenkammer. Auch hier schliefen Eltern und Kinder je in einem Bette zusammen, und zwar so, daß diese zwei Betten fast den ganzen Raum einnahmen, die drei Burschen in der etwas geräumigern Bodenkammer ebenfalls nur in zwei Betten, also zwei einander fremde zusammen in einem Bette, und nur einer allein, wofür er natürlich entsprechend mehr zu bezahlen hatte. Wie verbreitet diese Sitte war, beweist die geringfügige Thatsache, daß ich, wenn ich auf meinen Wohnungssuchen meinen Wunsch zu erkennen gab, ich möchte gern »für mich,« wie ich meinte, in einem Zimmer allein, schlafen, wohl fast immer dahin verstanden wurde, allein in einem Bette.
Das ärgste von Wohnungsnot aber, was ich erlebte, war bei einem andern Mann aus meiner Fabrik. Das war tatsächlich nicht mehr menschenwürdig. Der Mann war ein alter, langjähriger Arbeiter und hatte eine Maschine zu bedienen. Er war nicht mehr jung, knapp über die fünfzig, ein kleiner, biedrer, guter Kerl, mit dem ich mich besonders viel und gern unterhielt. Er hatte eine kränkliche, halbgelähmte, blutflüssige Frau, deren Lebens- und Liebesgeschichte er mir wie seine eigne in der ganzen Massivheit, wie sie sich unter diesen Leuten abspielt, und mit der ganzen naiven Offenheit und kameradschaftlichen Vertraulichkeit, wie sie da unten auch zwischen ältern und jüngern schnell entsteht, doch nicht ohne poetischen Schimmer ausführlich erzählte. Ihre Kinder waren bereits erwachsen und verheiratet; sie hatten nur eine von ihnen herzlich gepflegte Enkelin noch bei sich, dagegen fünf fremde Schlafleute! Dieses Mannes Wohnung nun bestand aus folgenden Gelassen: aus einer Stube, einem wirklichen Alkoven, einer einfenstrigen Kammer und einer Dachkammer. In der einfenstrigen Kammer standen zwei Betten, in deren einem ein Pferdebahnkutscher, und in deren anderm zwei böhmische Maurer nächtigten. Im Alkoven, in einem Bette für sich, schlief die kränkliche Frau allein; ihr Mann seit drei Jahren, seit seine Frau niemand mehr neben sich liegen haben konnte, auf dem Sofa derselben Wohnstube, die vom frühen Morgen bis nach zehn Uhr abends, das heißt für diese Leute bis tief in die Nacht und in die Schlafenszeit hinein, von sämtlichen schwatzenden, essenden, rauchenden Haushaltungsmitgliedern frequentiert wurde. Denn die beiden Maurer mußten schon früh ½5 Uhr weg und vorher noch ihren in eben dieser Stube gekochten Kaffee getrunken haben, und der Pferdebahnkutscher kam erst abends ½10 Uhr von seinem schweren Dienst zurück und wollte dann noch Abendbrot essen. Wo war da eine wirklich erquickende Nachtruhe für Mann und Frau möglich? Aber das Ärgste kommt noch. In der noch übrig bleibenden Bodenkammer standen ebenfalls zwei Betten: in dem einen schlief ein ganz junges Ehepaar, das hier zur Aftermiete wohnte, tagsüber auf Arbeit war und wohl nichts sein Eigen nannte, und in dem andern das zwölfjährige Mädchen, das Enkelkind. Man macht sich leicht ein Bild von dem, was dies Kind nächtlicherweile hören und erleben konnte, wie es überhaupt in diesem und ähnlichen Haushalten selbst bei dem besten Willen aller Bewohner zugehen mußte.
Kamen nun obendrein noch Verwandte oder Bekannte zu Besuch, so war ihre Beherbergung mit weitern großen, fast unglaublichen Einschränkungen verknüpft. Jenen letztgenannten Arbeiter, bei dem so jammervolle Wohnungszustände herrschten, besuchte einmal mit zwei ihrer Kinder seine nach Thüringen verheiratete Tochter, »eine Schlange, die ihre Eltern auszunutzen sucht,« wie der Vater in einer mürrischen Stunde einmal meinte. Da schliefen auch diese beiden Kleinen noch bei den Großeltern, und zwar in der Dachkammer, mit der Zwölfjährigen zu dritt in einem Bette, während die Tochter bei Verwandten in der Nachbarschaft untergebracht war. Und alle solche Zustände herrschten unter einer Arbeiterschaft, die vorher als eine verhältnismäßig gutgestellte bezeichnet werden mußte!
Die meisten und größten dieser Übel kamen jedenfalls durch das Schlafstellen- und Kostgängerunwesen. Das ist der Ruin der deutschen Arbeiterfamilie. Aber es ist für sie in den allermeisten Fällen eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Der geringe materielle Vorteil, der dabei herauskommt, ist ein ersehnter Zuschuß zum Wirtschaftsgeld der Arbeiterfrau. Daß die Arbeiter sich nur zum Spaße mit solchen Fremden herumplagen, braucht niemand zu glauben. Im Gegenteil machte ich häufiger die Erfahrung, daß, wer es durchsetzen kann, womöglich sich diese Leute vom Halse und aus dem Hause hält. Wenn man es aber thut, nimmt man jedenfalls immer lieber junge Männer als junge Mädchen.
Es gab ganz bestimmte, von einander verschiedene Arten von Schlafstellen, bessere und schlechtere. Die traurigsten, moralisch und sanitär gefährlichsten hat glücklicherweise eine verständige und nachahmungswerte Verordnung des Chemnitzer Amtshauptmanns unmöglich gemacht. Durch diese Verordnung wurde für jeden Schläfer ein nach Kubikmetern bestimmter notwendiger Raum vorgeschrieben und den einzelnen Familien das gleichzeitige Halten von Schlafburschen und Schlafmädchen streng untersagt. Bei meinen Besuchen und Gängen fand ich etwa noch folgende Arten an:
a) Schlafstellen unter dem, Dache, in den obengeschilderten Bretterverschlägen. Hier pflegte fast jede Familie ein bis drei Betten stehen zu haben. Und keine Etage des ganzen Hauses war des Nachts oft dichter besetzt, als diese Dachräume, deren schiefe Decke Dachsparren und die nackten Ziegel bildeten. In alten Häusern mußten es, namentlich im heißen Sommer, nächtliche Marterkästen sein; in solider gebauten waren es mit die besten Schlafräume. Jedenfalls hatte diese Art von Schlafstellen den großen Vorzug, daß sie des Nachts den Fremden von der ihn beherbergenden Familie isolierte. Sie waren ungemein zahlreich und je nach ihrer Güte teurer oder billiger. Die geringwertigere Sorte bevorzugten mit Vorliebe die anspruchslosen böhmischen Maurer und Erdarbeiter, die nur den Sommer über hier auf Arbeit waren. Der wöchentliche Durchschnittspreis war etwa zwei Mark; dafür bekam man noch den Morgenkaffee. Bei kleinen Meistern schlafen die Lehrjungen, ab und zu auch einer ihrer Gesellen hier, manchmal mit einem oder mehreren fremden Schlafburschen zusammen. In kleinen Beamten-, Kaufmanns- oder ähnlichen Familien, wo ein Dienstmädchen nötig gebraucht wird, und die Wohnräume knapp sind, wird auch deren Bett mitunter, dann natürlich allein, hier aufgestellt. Außer der Bettstelle und einigen Nägeln in der Wand giebts gewöhnlich kein Mobiliar in diesem Gelaß, es sei denn, der Fremde brächte sich eine Kommode oder eine Kiste mit. Jenes passiert selten, dies häufig. Die paar Kleider, die so ein Menschenkind zu besitzen pflegt, werden dann an die eingeschlagenen Nägel gehängt, die Wäsche und die andern Siebenfachen in der Kiste und das andre Paar Stiefel in einer Ecke der Bodenkammer untergebracht. Wer ganz billige Unterkunft haben wollte oder mußte, mietete sich solchen Bretterverschlag mit einem Bette mit einem Freunde zusammen.
b) Die zweite Reihe Schlafstellen befindet sich in den Wohnräumen der Familie selbst. Die bedenklichsten darunter, die mit der Familie in einem Raume gemeinsamen, sind nebst den durch die angeführte Verordnung untersagten heute wenn auch noch nicht ganz beseitigt, so doch selten. Wer in einem Alkoven (in der Stadt wird oft auch die Küche dazu benutzt) mit mehreren andern zusammenschläft, pflegt wöchentlich eine Mark zu zahlen; wer in einem leeren, d. h. nur mit einem Bette ausgestatteten Alkoven allein schläft, mindestens zwei Mark. Dann kommen die beiden besten, aber auch seltensten Kategorien: schlicht möblierte Stübchen mit zwei und drei Betten, die namentlich unter einander befreundete junge Schlosser aus bessern Familien für je zwei Mark die Woche gemeinsam bewohnen, und ebensolche mit einem Bette, die freilich wegen ihrer Kostspieligkeit (drei Mark für die Woche) weniger verlangt werden und bereits den Übergang zu den in studentischen Kreisen üblichen schlichten Garçonwohnungen bilden.
Die angeführten Wohnungspreise sind natürlich nur, aber ziemlich sichere, Durchschnittsangaben. Sie verstehen sich immer mit Morgenkaffee, häufig auch mit Abendkaffee. Sie sind nicht hoch; für den jungen Burschen, der meist eben so viel als ein verheirateter Mann verdient und für niemand zu sorgen hat, mit die geringste Ausgabe für notwendige Bedürfnisse. Dennoch kommt es nicht selten vor, daß einer mit dem Logisgeld durchbrennt. Der Chemnitzer Lokalanzeiger brachte fast täglich eine derartige Notiz, wobei zu bedenken ist, daß nur ein kleiner Teil der Fülle von den Betroffenen zur Anzeige gebracht wird. Dann pflegt man gewöhnlich eine verschlossene, aber leere, mit einigen Steinen beschwerte Kiste als Pfand zurückzulassen. Namentlich Arbeitslose manövrieren gern so. Sie spiegeln ihren neuen Wirtsleuten vor, daß sie Arbeit hätten, gehen des Morgens zur vorgeschriebenen Stunde weg, vertreiben sich den Tag teils auf der Herberge, teils mit Spaziergängen, teils mit Arbeitsuchen und kommen zur Feierabendzeit ins Quartier zurück. Wenns paßt, fliegt dann der Vogel einmal aus – auf Nimmerwiedersehen. Das ist dann immer eine herbe Einbuße für die Familie.
Über die Kleidungsverhältnisse meiner Arbeitsgenossen habe ich natürlich weniger zu sagen. In der Fabrik war die Kleidung selbstverständlich primitiv und schmutzig. Ein festes, wenn auch durch langen Gebrauch abgeschabtes, glänzig gewordenes Beinkleid, eine Weste und darüber ein blauer Leinwandkittel war das übliche Kostüm. Mit Vorliebe zog man in der Fabrik die Stiefel aus und Holzpantoffeln an. Wenn man die Stiefel anbehält, schmerzen die Füße nach dem elfstündigen Stehen und Gehen auf dem Ziegelpflaster zu sehr. Nur wenige arbeiteten mit unbedecktem Kopfe; die meisten trugen teils des herumfliegenden Staubes und Schmutzes wegen, teils aus alter Volksgewohnheit eine leichte billige Mütze oder den alten abgenutzten Hut, den sie auch auf den Gängen von und zur Fabrik aufhatten. Außerdem banden wir Handarbeiter und noch einige andre, die viel zu heben und zu transportieren hatten, noch eine aus altem Sackleinen meist selbst gefertigte Schürze vor. War es, wie an manchen Tagen des vergangenen Sommers, besonders heiß und darum trotz allen Wassersprengens, wozu dann drei Mann von uns kommandiert waren, erstickend dunstig in den mit schwitzenden Menschen erfüllten Räumen, so zog man gern die Westen aus, krempelte die Ärmel der Bluse hoch auf und schlug vorn Hemd und Bluse weit zurück, daß die Brust weit offen lag. Unterbeinkleider trug man selten, dagegen meist wollene Strümpfe und wollene bunte Hemden; bunte Leinenhemden sah ich wenig, ganz vereinzelt grobe weiße nur bei einigen Tischlern und Zimmerleuten. Wollene Kleidungsstücke wurden überhaupt, wo es anging, mit Vorliebe sowohl von Männern wie von Frauen, auch ohne Professor Jägers Sanktion, doch in längst erprobter Kenntnis von dem, was richtig an seinem »System« ist, getragen.
Es war allgemein Sitte, daß die üblichen blauen leinenen Blusen allwöchentlich gewechselt wurden, und es fiel geradezu auf, wenn Montag morgens einer wieder die altwaschene mitbrachte. Nur ein bestimmter Arbeitsanzug aus starkem blauem englischen Lederstoff, den man bei einem einhändigen Expedienten unsers Büreaus mit Erlaubnis der Direktoren auf Abzahlung billig und preiswert kaufen konnte, der schwer zu waschen war und auch nicht so leicht schmutzte, wurde länger, zwei bis drei Wochen ohne Anstoß getragen.
So alt und bleiglänzig auch die ganze Kleidung meist war und sein mußte, so wurde doch durchschnittlich darauf gehalten, daß sie nicht zerrissen war. Wo das der Fall war, namentlich bei Verheirateten, wurde es gar wohl bemerkt. Man machte mich bei ein paar solchen Leuten geradezu darauf aufmerksam mit den halb entschuldigenden, halb bedauernden Worten: »Na, es kann ja auch nicht anders sein; seine Frau ist eben eine Schlumpe.«
Nur wenige befolgten bei uns die Sitte, die nach Erzählungen einiger junger Schlosser in Berlin unter den jungen Leuten mit gutem Verdienste sehr üblich sein soll, daß man nach Schluß der Arbeitszeit gleich in der Fabrik das Arbeitszeug aus und gutes anzog; die meisten von uns gingen im Arbeitsanzuge nach Hause, über die blaue Bluse nur einen alten ehemaligen Rock oder eine Jacke gezogen, den Blechkrug, in dem man sich gewöhnlich morgens Kaffee mitbrachte, in der Hand. Ab und zu kam es aber doch vor, daß man wenigstens die Beinkleider wechselte oder doch während der Arbeit über die bessern leinene blaue zog.
Das gerade Gegenteil dieser eben geschilderten Werktagskleidung pflegte der Sonntagsanzug zu sein. Dieser war fast bei allen höchst anständig und modisch, oft so sehr, daß ich viele der Arbeitskollegen nicht wieder erkannte, als ich sie zum erstenmale des Sonntags sah. Namentlich die jungen, unverheirateten legten den größten Wert auf diese Sonntagskleidung. In dem einen der besten Säle, wo Sonntag abends junge Offiziere in Zivil, Referendare, Kaufleute, Handwerker und Fabrikarbeiter mit eleganten Ladenmädchen und vornehm gekleideten Dirnen zum öffentlichen Tanz zusammen zu sein pflegten, waren sie in den meisten Fällen von ihren Tanzgenossen aus höhern Regionen kaum, höchstens an den größern, derbern Händen und dem Mangel eines Klemmers zu unterscheiden. Ebenso ließen es auch die Verheirateten nicht an Schmuckheit in der Sonntagskleidung fehlen. Aber es trat dies Streben bei diesen doch natürlich und desto mehr zurück, je besonnener, sparsamer, schlichter einer war, je größere Familie er hatte, je mehr er auf sie hielt und wendete; auch trug sich immer derjenige, der vom Lande war oder wohl gar noch dort wohnte, selbstverständlich nicht so modisch wie der Städter und Vorstädter. Gleichwohl war auch unter ihnen auf diesem Gebiete die Nivellierung weit vorwärts geschritten. Rote Schlipse und jene gewaltigen Turnerhüte, die einen so unsäglich komischen Eindruck namentlich auf Köpfen mit noch ganz jugendlichen bartlosen Gesichtern machen, waren weniger in Gebrauch, als man annehmen sollte. Abschließend ist zu sagen, daß sich fast alle über ihre Verhältnisse hinaus gut kleideten. Was sie dieser spezifisch sächsischen Neigung opferten, sparten sie sich dann am Essen, am Leibe ab.
Über die Ernährungsverhältnisse der Arbeitsgenossen ist nun manches zu sagen. Zunächst: wir hatten in der Fabrik nur zwei Eßpausen. Früh 8 bis 8 Uhr 20 Minuten war Frühstückszeit, 12 bis 1 Uhr Mittagszeit. Sonst wurde die beinahe elfstündige Arbeitszeit, von früh 6 bis abends 6 Uhr nicht unterbrochen. Nachmittags 4 Uhr durften allein die Lehrlinge ein halbstündiges Vesper machen; wer von den übrigen Bedürfnis hatte, aß mitten in der Arbeit ein paar Bissen. Die früher allgemein übliche Vesperpause war unter Billigung der Leute beseitigt worden, sodaß sie schon um 6 Uhr Feierabend haben konnten.
Das Frühstück wurde von beinahe allen in der Fabrik selbst eingenommen; nur wenige, die in allernächster Nähe wohnten, gingen dazu nach Hause. Wenige setzten sich auch in den der Fabrik benachbarten Budikerladen, wo man guten Käse billig kaufte und in der vollgepfropften Wohnstube des Besitzers oder in dem Laden zum mitgebrachten Butterbrot verzehrte. Einigen andern brachten auch die Frauen das Frühstück oder schickten es durch die Kinder, meist mit peinlicher Pünktlichkeit.
Die allermeisten aber nahmen das bereits am Morgen mitgebrachte Brot in der Fabrik ein. Hier verteilte man sich nun dabei ganz nach freiem Belieben. Sobald das Wetter einigermaßen schön war, setzte man sich ins Freie, d. h. in den geräumigen Fabrikhof, an den Lattenzaun, der ihn von einer vorüberführenden Eisenbahn trennte. Aus alten Kisten, Brettern, Eisenteilen baute man sich da schnell seinen Sitz. Ein Teil frühstückte auch im Speisesaale, einem großen, hellen Raum zu ebener Erde, mit nüchternen, kahlen Wänden, langen hölzernen Tischen und Bänken, einem Wärmeofen und dem Schanktisch des Kantinenverwalters, der zugleich der Kutscher der Fabrik war. Junge Schlosser blieben wohl auch gleich an ihrem Arbeitsplatze und ließen es sich da schmecken.
Das ganze Frühstück ging ohne viel Umstände vor sich; an vorheriges Toilettemachen war natürlich nicht zu denken. Die Kürze der Zeit verbot selbst eine gründliche Reinigung der schwarzen Hände am Waschtroge. So begnügten wir uns damit, sie an der selbst schmutzigen Schürze, an Putzfäden, Sägespänen oder sonst etwas flüchtig abzuwischen. Ich kann nicht sagen, daß uns das den Appetit auch nur im geringsten verdorben hätte, der gerade um 8 Uhr bei allen stark vorhanden war. Es schmeckte uns allen niemals besser als bei diesem zweiten Frühstück, nach zweistündiger Morgenarbeit.
Es wurde sehr stark gegessen: ein großes Butterbrot und stets etwas dazu, Wurst, rohes Fleisch, Käse, ab und zu gekochte Eier, saure Gurken. Je weiter der letzte Lohntag zurücklag, desto mehr herrschte der Käse vor. Und die Zukost war außer bei den Handarbeitern und andern mit besonders wenig Verdienst und vielen Kindern gesegneten reichlich und immer gut bemessen. Stets auch wurde dazu etwas getrunken, was infolge unsrer Beschäftigung eben so notwendig war wie gutes Essen. Man trank gleich häufig kalten oder warmen Kaffee oder Buttermilch, ein bei der Chemnitzer Arbeiterbevölkerung allgemein beliebtes, eben so nahrhaftes als billiges Sommergetränk. Nur in seltenen Fällen habe ich beobachtet, daß die Wohlhabendem sich auch bairisch Bier leisteten, und dann auch nur in den ersten Tagen nach der Löhnung. Dagegen war der Genuß von einfachem Bier, wovon die Flasche sieben Pfennige kostete, in stetem Zunehmen und verdrängte immer mehr und mehr den Schnapsgenuß. Eine Hauptursache dazu ist wohl die Erfindung des allbekannten Patentverschlusses gewesen. Denn der Arbeiter, der früher die Schnapsflasche in der Tasche hatte, nimmt jetzt die ebenso transportable Bierflasche mit. So wird eine kleine technische Erfindung von großer sozialethischer Bedeutung – hier einmal in günstigem Sinne – und wirkt mehr als viele moralisierende Reden und andre Reformversuche.
Speisen und Getränke brachte man sich entweder von daheim mit oder kaufte sie sich in der Kantine. Jenes pflegten vor allem die ältern verheirateten, darum sparsamen, dies die unverheirateten Leute zu thun. In dieser Kantine war nur der Verkauf von Brot, Semmel, dreierlei Wurst, Käse, ab und zu auch Eiern, sowie von Kaffee und einfachem Bier gestattet. Die Preise waren nicht hoch, doch so, daß der Verkäufer noch etwas dabei verdiente; ein Topf Kaffee mit Zucker kostete vier Pfennige, eine Flasche Bier sieben Pfennige. Eine Einrichtung dabei wurde besonders dankbar empfunden. Wir waren etwa vier- bis fünfhundert Arbeiter; nimmt man an, daß nur ein Viertel von ihnen in der Kantine kaufte, so hätten gegen hundert Mann allmorgendlich sich um den Verkaufstisch gedrängt, und die letzten hätten glücklich am Schlusse der Pause bedient werden können. Um diesen Übelstand zu beseitigen, war gestattet, daß einer von uns Handarbeitern, ein dazu fest bestimmter, eine Stunde vorher von Mann zu Mann ging, dessen Bestellungen entgegennahm und dann kurz vor 8 Uhr dies Bestellte den einzelnen an ihren Platz brachte: den heißen Kaffee in einer großen, blitzblank gescheuerten blechernen Gießkanne, aus der jedem in seinen Blechkrug geschenkt wurde.
So primitiv in vielen Punkten dies ganze Frühstück war, so wurde das doch nicht unangenehm empfunden. Man sah ein, daß es nicht anders anging, und ließ es sich schmecken.
Für das Mittagessen war, wie gesagt, auch bei uns die übliche Stunde von 12 bis 1 Uhr frei. Grundsatz war für alle: Wer zu Tisch nach Hause kommen kann, geht nach Hause. Das war in unsrer Fabrik doch einer sehr großen Zahl möglich. Und so wiederholte sich täglich in unsrer Vorstadt ein interessantes Bild. So wie die Dampfpfeifen punkt 12 Uhr ihr Signal gaben, waren mit einem Schlage die sonst stillen Straßen mit Hunderten von Menschen belebt, die im schnellsten Schritt in der verschiedensten Richtung, allein oder zu zweien und dreien, an einander vorübereilten; wer unter sie gehörte, begegnete alltäglich immer denselben Gesichtern. Und dasselbe Bild eine Stunde später, kurz vor 1 Uhr, bis dasselbe Signal die Straßen wieder säuberte. So reguliert, wie früher der Klang der Glocken, heute der schrille Schrei der Fabrikpfeifen das tägliche Leben der Bewohner unsrer Fabrikorte. Denn wie mittags 12 und 1 Uhr gellen früh ½6 und um 6 Uhr und ebenso zum Feierabend diese Pfeifen.
Was mittags in den einzelnen Familien gegessen wurde, vermag ich selbstverständlich nicht zu sagen. Häufig fragte ich, was es gegeben hätte, aber manchmal erfuhr ich nicht die Wahrheit. Dann war anzunehmen, daß es besonders dürftig gewesen war. Fleisch gab es bei den hohen Fleischpreisen natürlich nicht immer, doch vermochte es eine kluge, sparsame Hausfrau öfter auf den Tisch zu bringen als ihr Gegenteil. Denn innerhalb bestimmter, durch das Einkommen gezogener Grenzen kommt auch hier alles auf das Talent und den Wert der Frau an. Eine tüchtige Hausfrau macht in dieser Weise – und sie sind nicht in der Minderzahl – fast Unmögliches möglich. Die Frauen von zwei meiner engern Arbeitskollegen, die wöchentlich noch nicht fünfzehn Mark verdienten, sagten mir, es gebe bei ihnen immer Fleisch in irgend welcher Form. Die eine von ihnen hatte ein zweijähriges und ein halbjähriges Kind, die andre ein neun- und ein fünfjähriges, eins unter dem Herzen und zwei auf dem Friedhofe; jene hatte außer ihrem Mann und ihren Kindern noch ein Schlafmädchen, die andre noch zwei Schlosser am Tisch. Beide Frauen hatten früher als Dienstmädchen gedient. Dann wieder war bei uns ein Monteur, der verhältnismäßig viel verdiente; wer seine Frau sah, wußte, warum seine Kleidung so vernachlässigt war, warum er, wie er mir einmal erzählte, häufig selbst kochte und briet und sie nicht mitthun ließ. Eines Sonntags sollte es bei ihm als besondre Delikatesse Hundebraten geben.
Anstatt der Butter wurde in manchen Familien viel Fett und viel Leinöl gegessen. Im allgemeinen schließlich gilt der Satz, daß man am Anfang einer Lohnperiode immer besser lebte als am Ende.
Zwei Konsumvereine am Orte wurden von den Familien viel benutzt, namentlich am Abend des Lohntages, wo man gleich für mehrere Tage Einkäufe machte. Der eine Verein war eine ausgesprochene sozialdemokratische Gründung, der andre noch jung; beide florierten.
Viele Familien hatten außer ihren eignen Angehörigen, wie schon gesagt, noch Kostgänger, häufig ihre eignen Schlafleute, oft noch andre junge Burschen und Mädchen dazu, ab und zu auch verheiratete Männer, die selbst zu weit nach Hause hatten, ihrer Familie die Unbequemlichkeit des Essentragens ersparen, aber auch den noch etwas teuren Mittagstisch in der Kneipe vermeiden und sich doch auch nicht mit einem kalten Imbiß in der Fabrik begnügen wollten. Des Sonntags aber war es allgemeinste Sitte, daß jeder in der Familie aß, in der er wohnte. Soviel ich erfahren konnte, gab es, wo Fremde mit aßen, häufiger Fleisch, immer aber bessere Speisen, und der Preis, den der Kostgänger zahlte, war stets niedriger als der, den wir im Gasthaus zahlten.
Das war wieder eine andre, verhältnismäßig große Gruppe, die zum Mittagstisch in eine der in der Nähe liegenden, ganz einfachen Kneipen ging. Meist waren es junge, unverheiratete Leute mit besserm Verdienst, und vor allem Schlosser, denen die Engigkeit einer Arbeiterwohnung, die in der als Küche und Eßzimmer benutzten Stube und bei der Eile aller Beteiligten gegen mittag am fühlbarsten wurde, unbequem und die Ordnung einer Restauration lieber war. Oder sie wohnten sehr weit und hatten keine ihnen bekannte Familie in der Nähe, von der sie mittags aufgenommen werden konnten. Ich that es ihnen nach, weil es mir anfangs ebenso ging. Ich habe hinter einander in drei Kneipen gegessen, in der einen von ihnen fast dreiviertel der Zeit, die ich in der Fabrik verbracht habe. Es war das ein kleines, einfaches, aber anständiges Restaurant; die hübsche Tochter des Wirtes trug auf in genauer Reihenfolge, wie wir saßen, und um keinen zu benachteiligen, jeden Tag bei einem andern beginnend. Das Essen war reichlich und leidlich schmackhaft; einen Tag um den andern gab es Braten, den man trotz seiner Wässrigkeit sehr liebte, die übrigen Tage setzte es Kochfleisch und Gemüse, das mir lieber war. Dazu erhielt jeder außer einer tüchtigen Portion von Kartoffeln ein großes Stück Brot, und das Ganze kostete Tag für Tag mit einem Glas einfachen Braunbiers vierzig Pfennige. Es herrschte gute Ordnung unter den Tischgenossen, ein höflicher Ton und ein anständiges Gebaren. Man aß ruhig, ohne Hast. Es wurde wenig gesprochen und viel gelesen, sodaß, wenn einer ein Blatt zu Ende hatte, ein andrer schon immer darauf wartete, es zu erhalten. Und genau wie hier ging es in dem zweiten Lokale zu. Das dritte, nur von wenigen besuchte, stand tiefer. Es war die sogenannte Kutscherstube eines großen Etablissements. Diese allgemein verbreiteten Kutscherstuben sind sozial und moralisch ganz bedenkliche Institute: meist unsauber, eng und unfreundlich, bilden sie den Übergang zu jenen berüchtigten Stehbierhallen und Destillationen, die, häufig mit Kauf- und Budikerläden verbunden, durch die Leichtigkeit, Einfachheit und Schnelligkeit der Bedienung, durch die Möglichkeit, sofort wieder gehen zu können, die größten Verführungsstätten zum Trunk für die untern Schichten sind.
Die eben geschilderten Restaurationen vertrat im Innern der Stadt teilweise die städtische Speiseanstalt, die täglich von 12 bis 1 Uhr geöffnet war, von Hunderten von Arbeitern und auch Arbeiterinnen besucht wurde und sich gut rentieren soll. Vier große Speisesäle zu ebener Erde und im ersten Stock waren in dieser Stunde immer gedrängt voll; selbst auf dem öden, weiten Hofe hatte man Tische und Bänke aufgestellt. Es gab zwei Klassen hier. In der einen kostete der Mittagstisch dreißig, in der andern fünfzehn Pfennige. In der ersten gab es an gedeckten Tischen, doch ohne Bier, etwa dasselbe wie in unsern Vorstadtrestaurants, in der zweiten in einem großen Napfe, den man sich selbst holen mußte, Bohnen, Reis, Graupen, Linsen und ähnliche Hülsenfrüchte, gewöhnlich mit einem Scheibchen Wurst oder Fleisch. Während meiner Herbergszeit habe ich in beiden Klassen gegessen; in beiden war es reichlich und verhältnismäßig gut. Einmal wurde ich dabei aus dem Lokal hinaus geworfen. Ein Bummler in abgetragener modischer Kleidung, mit langem, grauem Haar und dem Auftreten eines ehemaligen, nun verkommenen Künstlers, ein häufiger Gast der Herberge, verkaufte einmal drei Speisemarken zweiter Klasse, das Stück für fünf Pfennige. Ich nahm natürlich auch eine und ging damit mittags in die Anstalt zu Tische. Als ich sie vorwies und meinen Napf mit Erbsen in Empfang nehmen wollte, fragte man mich barsch, woher ich diese Marke habe, die ganz anders aussah als diejenigen aller übrigen. Ich erzählte es, aber man schien mir nicht recht zu trauen, sagte, das seien Armenmarken und wahrscheinlich gestohlen, und jagte mich schleunigst zum Tempel hinaus. Als ich dann in die Herberge zurück kam und es erzählte, setzte es dann noch ein zweites Donnerwetter vom Herbergsvater, das sich dann noch mehrmals wiederholte, so oft wir, »die ihm den Tag über, ohne etwas zu verzehren, die Stühle durchsäßen,« mittags noch anderswohin essen gingen. Denn ich war nicht der einzige, der sich so in der Herberge herum drückte. Es gab noch manchen, der keinen Pfennig mehr in der Tasche und Hunger im Leibe hatte, und der dann auch in die Speiseanstalt ging, um dort im Gedränge die auf dem Tische herumstehenden Näpfe mit Resten leer zu essen. Einer meiner neuen guten Freunde empfahl mir heimlich diesen Weg als den besten und kostenlosesten besonders angelegentlich.
Der Rest der Arbeitsgenossen brachte die Mittagsstunde ganz in der Fabrik zu. Es waren Junge und Alte, Verheiratete und Unverheiratete, eine immer noch große Zahl, alle diejenigen, die zu weit ab von der Fabrik wohnten, und zu sparsam waren oder zu wenig verdienten, um bei Fremden ein warmes Mittagbrot zu bezahlen; sie begnügten sich meist mit einem gleichen kalten Imbiß wie zum Frühstück und mit Kaffee, oder sie wärmten sich Tag für Tag das Gemüse, das ihnen die Mutter oder die Frau am Abend vorher schon bereitet hatte, und das sie des Morgens in einem Blechkännchen mit in die Fabrik brachten. Für sie war der nüchterne Speisesaal eine wahre Wohlthat, denn da in der Mittagsstunde alle Werkstätten geschlossen wurden, war er der einzige Raum, in dem sie sich aufhalten konnten. Mir thaten die Leute, namentlich die ältern unter ihnen, aufrichtig leid; die elf Stunden am Tage wahrhaftig keine leichte Arbeit zu thun hatten, denen fehlte in dieser einzigen Stunde des Ausruhens beinahe jede Bequemlichkeit. Man denke sich nur in die Lage hinein, man versuche es selbst einmal, Mittag um Mittag mit kalter Küche oder nur aufgewärmtem Zeug fürlieb zu nehmen und man wird begreifen, daß das dauernd kein würdiges Mittagbrot für einen Menschen ist, der tagsüber stramm seine Pflicht thut. Das empfanden die Leute selbst auch sehr gut. Wenn ich kurz vor Beginn der Nachmittagsarbeit in die Fabrik zurück kam und – wie es Sitte war – ihnen Mahlzeit, gesegnete Mahlzeit wünschte, da kam es vor, daß einer das bitter abwehrte. Das sei ja keine Mahlzeit, am allerwenigsten eine gesegnete.
War das Wetter schön oder der Tag sehr heiß und darum der Körper besonders schlaff und matt, dann legte man sich, wenn man mit seinem Butterbrot zu Ende war, im freien Hofe an einer schattigen Stelle irgend wohin auf ein Brett oder auf die Erde, um seufzend sein Mittagsschläfchen zu halten. Nur selten brach, wenn wir so abgespannt und stumm neben einander saßen und lagen, dann einer das Schweigen, und dann war es oft nur ein herbes Wort, wenns auch scherzend klingen sollte, wie das: Hats der arme Arbeiter doch gut!
Eins fehlte bei uns jedoch fast ganz: daß sich die Zurückbleibenden von daheim das Essen in die Fabrik bringen ließen, was wieder an den allzu weiten Entfernungen liegen mochte. In der Stadt war das aber ganz allgemein Sitte; Hunderte von essentragenden Arbeiterfrauen und Kindern durcheilten da täglich kurz vor 12 Uhr die Straße, um pünktlich bei dem harrenden hungrigen Gatten und Vater oder der Mutter zu sein. Und auf den Bänken der städtischen Anlagen sah man dann die ruhenden Männer mit dem rauchenden Topfe in der einen und dem Löffel in der andern Hand sitzen, Frau oder Kind daneben und oft mit essend, – denn die städtische Speiseanstalt ist selbstverständlich nur für die erreichbar, deren Werkstätte in der Nähe liegt. Diese Art des täglichen Mittagsbrotes erkläre ich für unwürdig. Unwürdig der braven Familien, die dazu gezwungen, unwürdig unsrer Zeit, die sich prahlend ihrer humanen Gesinnungen rühmt, unwürdig der Männer, in deren Händen heute das Wohl und Wehe dieser Fabrikarbeiter ruht. Wie kann solch eine Mahlzeit auf der Straße jemals eine gesegnete sein? Wie kann man im Ernst tadeln, daß sie ohne Gebet und Händefalten hineingeworfen wird? Wie muß sie ganz anders, als Agitatorenworte es vermögen, den Familiensinn des Vaters und der Mutter und damit Familienglück und Familienleben zerstören? Denn diese Zustände und ihre Folgen treffen ja nicht nur den, dem man das bißchen Essen im Topfe auf die Promenadenbank bringt, sondern stets die ganze Familie. Oft wird es infolge dessen auch daheim bei Mutter und Kindern keinen geregelten Mittagstisch geben. Nur ein drastisches Beispiel dazu. Es war auf der Promenade an dem großen schönen Chemnitzer Schwanenteiche. Ich saß auf der Bank neben einem, der eine knappe Viertelstunde von da beim Trottoirlegen geholfen hatte. Er war in sieben Minuten bis zu unserm Platz gelaufen und wartete nun auf seinen Knaben, den er mit dem Essen dorthin bestellt hatte. Aber es wurde ein Viertel, es wurde halb, und der Junge kam immer noch nicht. Nun gingen wir ihm entgegen, und endlich, kurz vor dreiviertel kam er atemlos, voll Angst vor dem ärgerlich gewordenen Vater angerannt: die Schule, die sonst pünktlich 12 Uhr zu Ende zu sein pflegte, war 20 Minuten länger ausgedehnt worden. In einem Atem war dann der arme Junge von der Schule nach Hause und von da zu uns gelaufen; in fünf Minuten hatte der Vater das Essen hinunter und lief dann an die Arbeit zurück, während sein Kind müde, hungrig, abgespannt nach Hause trollte, um sich nun erst, wohl allein, zum Essen zu setzen, das Mutter, Geschwister und Kostgänger ihm übergelassen hatten. Vielleicht ist dies ein seltnerer und besonders unerfreulicher Fall; aber die Hauptsache daran, daß Kinder, die von 8 Uhr morgens bis 12 Uhr mittags auf der Schulbank müde und hungrig geworden sind, nun erst, ohne einen Bissen gegessen zu haben, den Vater bedienen müssen, passiert täglich und nicht einem nur, sondern hunderten von ihnen.
Doch zurück in unsre Fabrik. Einzelne von denen, die sich des Mittags mit kalter Küche begnügten, pflegten allerdings dafür des Abends einen warmen Ersatz daheim vorzufinden; manchmal aß die ganze Familie erst um diese Zeit mit ihnen das aufgeschobene Mittagsbrot. Dann lag ja die ganze Sache nicht so schlimm, wenigstens wenn die ganze Familie nur aus Erwachsenen oder doch schon größern Kindern bestand. Wo aber Kinder waren, da war dann das erste Übel durch ein zweites abgelöst. Denn eine Hauptmahlzeit des Abends ist für Kinder bekanntlich nie förderlich und gesund.
Das Abendbrot bestand bei der übrigen Mehrzahl meiner Arbeitsgenossen aus Kartoffeln oder Brot mit Butter, Fett oder Leinöl und auch Zukost. Quantität und Qualität dieser Speisen richtete sich stets nach der Höhe des Einkommens, nach der Sparsamkeit und den sonstigen augenblicklichen Ausgaben der einzelnen Familien. Aber nie fehlte der Kaffee, wovon immer auch die Schlafleute ohne Entgelt einige Tassen bekamen. Brot und Butter aber hielten diese sich gewöhnlich selbst.
Das ist, was ich von Bemerkenswertem über die Wohnungs-, Kleidungs- und Ernährungsverhältnisse meiner Arbeitsgenossen mitzuteilen vermag. Ich meine, auch diese lückenhaften Angaben beweisen schon die Richtigkeit meiner oben gemachten Behauptung von der notwendigen Engigkeit und Bescheidenheit ihrer Lebensstellung. Aber sie machen auch noch eine andre Thatsache begreiflich, die man im Zusammenleben mit diesen Menschen täglich erfährt, und die unendlich bedeutsamer und verhängnisvoller als jene ist, nämlich die Thatsache, daß infolge dieser Zustände in weiten Kreisen unsrer großstädtischen Industriebevölkerung die überlieferte Form der Familie heute schon nicht mehr vorhanden ist. Der alte, auf der Blutsverwandtschaft von Eltern und Kindern ruhende und aus allein solchen blutsverwandten Gliedern zusammengesetzte Organismus der Familie, an den sich in bessern Ständen bisher nur einzelne Dienstboten fester oder loser anschlossen, hat in der That in jener Bevölkerungsschicht heute bereits mehr oder weniger einem erweiterten, auf den rein wirtschaftlichen Bedürfnissen gemeinschaftlichen Wohnens und Lebens aufgebauten, in der Zusammensetzung seiner Glieder durch Zufälligkeiten gebildeten Kreise von Blutsverwandten und Fremden Platz gemacht. Deutlich treten hier die verwandtschaftlichen Neigungen vor den wirtschaftlichen Verpflichtungen zurück. Aus der Mutter wird der Haushaltungsvorstand, der von dem eignen Manne, den erwachsenen Kindern und den Fremden eine fest bestimmte Summe erhält und dafür verpflichtet ist, die Ausgaben für Wohnungsmiete, Nahrung, Wäsche und ähnliches zu bestreiten, während für die Kleidung ein jeder für sich zu sorgen pflegt. Und nicht die Sozialdemokraten und deren Agitation haben daran die Hauptschuld, sondern eben jene Zustände, die eine Frucht unsrer ganzen wirtschaftlichen Verhältnisse sind, und die es den Arbeiterfamilien unmöglich machen, gemeinsam ihre Morgen- und Mittagsmahlzeiten einzunehmen, die sie zwingen, die allerdürftigsten Häuser und allerengsten Wohnungen zu beziehen, dazu noch wildfremde, häufig wechselnde Schlafgäste bei sich aufzunehmen und ihnen den vertraulichsten gemeinsamen Umgang zu gestatten, den man sonst nur mit den eignen Familienangehörigen zu pflegen gewohnt war. Man denke daran, wie dicht in solchen Arbeitermietskasernen und den nach ihrem Muster umgebauten ehemals ländlichen Wohnhäusern »Stube« an und über »Stube,« d. h. also Wohnung neben Wohnung liegt, ohne jede gegenseitige Abschließung, wie dünn die Wände der Zimmer in solchen flüchtig gebauten Häusern sind, so dünn, daß jedes laute Wort in der Nachbarfamilie deutlich verstanden wird; und wie die drei und vier »Stuben« einer Etage immer nur einen Korridor zu haben pflegen, dessen Benutzung ebenso gemeinsam sein muß wie diejenige der Wasserleitung, des Klosets u. a. Das alles führt zu einer Gemeinsamkeit des täglichen Verkehrs und einer Öffentlichkeit des Familienlebens, über die man erschrickt, wenn man hinein sieht, und die notwendig der Tod jedes Familienlebens werden muß. Es ist ja gar nicht anders möglich, als daß die Kinder solcher Familien dauernd fast wie Geschwister unter einander leben, wobei der Korridor der Ort des gemeinschaftlichen Aufenthalts, ihrer Spiele und Plaudereien ist; daß die jungen Burschen und Mädchen dieser Familien in intimste Berührung, die Männer in nahen Gedankenaustausch, oft freilich auch in Streit und Hader geraten, und daß die Frauen jeden Winkel, jeden Makel, jedes Kleidungsstück und Hausgerät aus den benachbarten Familien auf das genauste kennen, ja daß die gemeinsame Benutzung solcher Geräte z. B. für die Küche durch Entleihen und Verleihen einen sehr kommunistischen Zug in die ganze mit solchen Dingen oft recht dürftig ausgestattete Hauswirtschaft solcher Familien bringt. Dazu tritt die Enge und Beschränktheit der einzelnen Wohnungen, die die Menschen mit Macht zur Thüre hinaus und des Abends, so oft das nur möglich ist, ins Freie, auf die Straße und den Hof, in die bessern, geräumigem Zimmer der Nachbarn oder in die Kneipen und Versammlungen drängen. Man bedenke weiter, wie diese Enge noch erhöht wird durch die Anwesenheit der fremden Schlafleute, die fremde, und oft genug nicht gerade fromme, beßre Sitten und Gewohnheiten mitbringen, eine andre Art, andre Anschauungen und Bedürfnisse, die sie auch ungeniert wie daheim äußern und zur Geltung bringen wollen. Man bedenke, daß diese fremden Gäste zugleich mit dem eignen Manne und den eignen erwachsenen Kindern das Haus verlassen, daß sie zu derselben Zeit wie diese zurückkehren und meist bis zum Schlafengehen am gleichen Tisch wie diese miteinander sitzen, lesen, rauchen, sich unterhalten, Karte spielen. Es ist in der That in vielen Familien so, daß Eltern und Kinder ungestört zusammen allein nur noch während der Nacht, im Schlafen sein können. Denn auch die letzte Gelegenheit eines gemütlichen gemeinsamen Beisammenseins, die Morgens- und Mittagsmahlzeit wird, wie aus meinen obigen Schilderungen hervorgeht, vielfach vereitelt durch die Arbeitsbedingungen, die den Vater, den Sohn und die Tochter abhalten, zu Tische nach Hause zu gehn. Wo es aber geschieht, da genügt meines Erachtens die einstündige Pause nur gerade, um den doppelten Weg nach und von Hause machen und das Essen einnehmen zu können, auch dies bei nur halbwegs größern Entfernungen, die für die Arbeiter großer Etablissements natürlich die Regel ist, ohne richtiges behagliches Sichzeitlassen, in Hast und Eile.
Über die Wirkung dieser Zustände auf die Sittlichkeit, den Charakter, die Gesinnung der Arbeiter habe ich an einer andern Stelle zu reden. Hier sollte nur die Thatsache der bereits vollzogenen Wandlung in dem Wesen der Arbeiterfamilie konstatiert, und die Ursachen dargestellt werden, die sie hervorgerufen haben. Ich wiederhole nochmals, daß sie in erster Linie eine Frucht unsrer heutigen wirtschaftlichen Lage sind. Und darum ist vor allem diese, nicht aber die Sozialdemokratie als die Hauptschuldige anzuklagen, die hier nur wie so oft die letzten Konsequenzen aus den Wirkungen der herrschenden Zustände gezogen und in ein System gebracht hat. Die vorhandenen traurigen Zustände sind erst Grundlage und Anlaß zur Verbreitung des sozialdemokratischen Familienideals der Zukunft. Über diese Thatsache sollte man sich namentlich auch in bestimmten kirchlichen Kreisen nicht wegtäuschen und, anstatt Klagelieder über den allerdings vorhandenen Verfall des alten christlichen Familienideals und Anklagen gegen die Sozialdemokratie zu erheben, in diesem Falle zuerst lieber mit daran arbeiten, daß die verhängnisvollen wirtschaftlichen Ursachen dieser Zustände endgiltig und dauernd beseitigt werden.