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Der Mann schwieg. Er hockte auf dem Zementblock, der ihm als Bett diente, rutschte ein wenig gegen die Hintermauer und lud Studer mit einer Handbewegung zum Sitzen ein. Dann musterte er ihn genauer, spitzte die Lippen, pfiff, spuckte aus und meinte:
»Ein Zivilist! Was willst du hier?«
Studer zucke mit den Achseln. Der Mann sprach ein gutes Französisch, aber man merkte es der Sprache dennoch an, daß der Mann Ausländer war.
»Vo wo bisch?« fragte Studer. Der Mann zog die Augenbrauen in die Stirn. »Vo Bärn«, antwortete er kurz.
»Ig au...«
»Soso... Du au...« Schweigen. Zwischen zwei Bohlen der Türe war eine Ritze und ein Sonnenstrahl drang in die Zelle. Er ließ viel Staubkörnchen tanzen...
Das vergitterte Fenster aber lag im Schatten, denn das Wellblechdach sprang vor. Der Mann zog ein Kartenspiel aus der Seitentasche seines Uniformrockes und begann auf dem schmalen Streifen des Zementblockes, der zwischen seinem Körper und der Mauer war, die Karten auszulegen.
Was er da mache? fragte der Wachtmeister. – Eh, Kartenschlagen. Aber es kämen immer schlechte Karten. Immer der Schaufelbauer... – Wie damals z'Basel und z'Bärn, meinte Studer nebenbei.
Der Mann zeigte kein Erstaunen. Er nickte nur, verträumt.
»Exakt«, murmelte er. Damals habe es angefangen.
Und was denn der Schaufelbauer bedeute? Den Tod?
Der Mann schüttelte müde den Kopf.
»Den Tod? Dumms Züüg! I selber bin dr Schuufelbuur...«
Der Mann mischte wieder die Karten. Es war ein seltsames Geräusch in der Stille. Und dann fragte er, ob der Kamerad aufs Maul hocken könne.
»Sowieso«, erwiderte Studer. Er saß auf dem Zementblock in seiner Lieblingsstellung, die Unterarme auf den Schenkeln, die Hände gefaltet, und starrte zu Boden.
Klatschen der Karten, Stille, wieder das Klatschen. Ein paar Worte, Schweigen, Klatschen... Ein paar Worte, Schweigen. Studer blicke nicht auf, obwohl dieses Stillsitzen ihm Qualen verursachte. Da saß neben ihm ein alter Mann – und der Mensch litt. Es war heillos schwer, sich zu beherrschen, nicht aufzustehen, dem Mann die Hand auf die Schulter zu legen und ihm zu sagen: »Du bist ein armer Kerl, schlecht haben sie es dir gemacht, sie haben dich aufgeweckt aus deinem sechzehnjährigen Schlaf – du hattest vergessen, sie haben dich gezwungen, die Vergangenheit neu zu erleben, nur damit ein Konzern Ölquellen erschließen kann. Und jetzt? Wird man dich jetzt in Ruhe lassen? Nein. Man wird dich weiter quälen, quälen... Es ist doch besser, daß ich den Zahnarzt mache, bei mir geht's schmerzloser...«
»Willst du mir einmal die Karten schlagen?« fragte Studer.
»Gärn!« sagte der Mann. Bis jetzt hatte er dem Wachtmeister den Rücken zugewandt, nun drehte er sich um. Ein Gesicht voll Falten... Der Pater hatte es nicht schlecht beschrieben, damals in der kleinen Beize bei den Pariser Hallen. Ein Gesicht, wie man es manchmal an verkrüppelten Kindern sieht, traurig und alt. Stoppeln am Kinn, einige Borsten über der Oberlippe... Und ganz verschwommen nur, wie bei einer Aufnahme, auf die durch Zufall Licht gefallen ist, schimmerte durch die vergrämten Züge ein anderes Gesicht hindurch – das Gesicht, dessen vergrößertes Abbild über dem Bette der Sophie Hornuss in der Wohnung an der Gerechtigkeitsgasse gehangen hatte...
Und der Mann mischte die Karten. Seltsam dünn und wie zerfasert drangen die Geräusche des Postens durch die Ritze zwischen den beiden Bohlen der Tür: Klappern von Mauleselhufen – und Studer dachte an seinen Friedel, mit dem er tiefsinnige Gespräche geführt hatte auf der Straße zwischen Bouk-Toub und Géryville; Schleifen genagelter Schuhe auf der harten Erde – und Studer sah den Weißen Vater auf dem Ruhebett liegen, in der Wohnung auf dem Kirchenfeld, und die offenen Sandalen hatten Sohlen, die sich nach oben bogen... »Wie weit die haben wandern müssen, gell Vatti!« sagte Frau Studer – in der Ferne knallten Schüsse, wahrscheinlich war die Kompagnie ausgerückt, und Studer dachte, daß es manchmal viel schwerer sei, ein Ziel willkürlich zu verfehlen, als einen Menschen zu treffen... Die Schießerei in der Offiziersmesse sollte eine Täuschung sein, und doch war es nicht leicht gewesen, im gegebenen Augenblick in die Luft zu schießen, während man doch so gerne jemanden getroffen hätte...
Da wurde Studer aus seinen Träumen aufgeschreckt, denn der Mann sprach, und sein Schweizerdeutsch klang so merkwürdig verschollen und fremd, es war so kindlich in seiner Ausdrucksweise, daß der Wachtmeister am liebsten zu dem Mann gesagt hätte: »Schweig! Ruh dich aus! Und wenn du auch früher einmal, vor dreißig Jahren, gesündigt hast, so hast du bezahlt, teuer bezahlt!«
»Kreuz-Nell«, murmelte der Alte und strich mit dem Rücken der Finger über die Bartstoppeln. Das gab ein unangenehm kratzendes Geräusch. »Kreuz-Nell – Geld, viel Geld. Und das Kreuz-As. Wieder Geld, noch mehr Geld. Da, der Ecken-König – das bist du und die Ecken-Dame, das ist deine Frau. Ein Brief ist unterwegs. Der Brief geht verloren. Aber du wirst deine Frau bald wiedersehen. Sie kommt grad nach dir – im Päckli... Heb ab! Schaufel-Dame, Treff-Dame und das Schaufel-Nell. Es sind zwei Frauen gestorben. Das geht dich etwas an, der Tod der zwei alten Frauen... Aber schau, da ist wieder Geld, die Kreuz-Acht. Glück, viel Glück. Du hast gute Karten. Aber ich hab' immer schlechte Karten. Bei mir kommt immer der Schaufel-Bauer heraus und gleich neben ihm die Schaufel-Zehn. Das bedeutet Tod...« Die alte Hand fuhr über die Zementplatte – da waren die Karten wieder ein Päckli. Der Mann hielt das Päckli in der linken Hand und strich mit dem Daumen und Mittelfinger der Rechten über deren Ränder.
»Du siehst gescheit aus«, sagte der Mann mit eintöniger Stimme. »Ich will dir etwas erzählen... Du bist nicht der einzige, der es gern hört, wenn man ihm aus den Karten erzählt. Weißt, ich war einmal verheiratet, das erstemal war das, da hat die Sophie immer gesagt: ›Vicki‹, hat sie gesagt – denn sie hat mich immer Vicki genannt –, ›Vicki, schlag mir die Karten!‹ – Ich hab's getan schließlich, weil die Frau immer gekärrt hat... Und dann war's ein Fehler. Denn weißt du, bei mir ist's so, wenn ich Karten schlag', dann muß ich die Wahrheit sagen. Und ich hab' der Sophie die Geschichte erzählt, die Geschichte, die in Freiburg passiert ist... Weißt, die Freiburgerin ist immer wieder aufgetaucht in den Karten – jetzt weiß ich nicht mehr so genau, wie das damals alles zugegangen ist... Ich war verliebt, wir haben uns getroffen, in Bern, im Hotel. Wir haben uns heiraten wollen und ich hab' immer gesagt: ›Meitschi, du mußt warten, ich bin ja nur Student.‹ – ›Ich will nicht warten‹, hat sie gesagt. Sie war immer so aufgeregt. Chemie hab' ich studiert damals. Sie hat immer alles von den Giften wissen wollen. Was es für starke Gifte gibt. ›Cyankalium‹, hab' ich gesagt. Ob ich ihr nicht eine Pille verschaffen könnte. Zuerst hab' ich nicht gewollt. Und dann hab' ich mich doch überreden lassen...«
Drei Karten vom Päckli abgehoben, zwei beiseite geworfen, eine aufgelegt. Wieder drei Karten, zwei beiseite geworfen... Das eintönige Klatschen der Karten in der winzigen Zelle!...
»Schau, da ist sie wieder, die Freiburgerin! Die Schaufel-Dame... Und daneben der Schaufel-Bauer... Das bin ich... Wir können nicht auseinanderkommen. Immer kommen wir zusammen aus dem Päckli heraus. Untrennbar... Und das alles hab' ich der Sophie erzählt. Dir muß ich es auch erzählen... Wenn ich Karten schlage, muß ich die Wahrheit sagen... Wie heißt du eigentlich?«
»Jakob«, sagte Studer kurz.
»Jakob?... So! Merkwürdig... Wie mein Bruder... Weißt du, wo mein Bruder ist?«
»Ja«, sagte Studer.
Ein ungeheures Erstaunen breitete sich über das alte Gesicht aus.
»Du weißt, wo der Jakob ist?«
»Ja«, sagte Studer noch einmal.
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es.«
Der Alte mischte wieder die Karten, um seine Lippen lag ein Lächeln, das wohl niemand verstanden hätte. Studer verstand es.
War es wirklich so schwer zu verstehen, wenn man das Telegramm gesehen hatte, das Capitaine Lartigue von Marie erhalten hatte? Das Telegramm war in Bel-Abbès aufgegeben worden. Wozu hatte Marie in Bel-Abbès fünftausend Franken gebraucht?... Mit der Hälfte der »Prime«, die Despine, alias Koller Jakob, eingesackt hatte, mit den 250 Franken, kam man nicht weit. Sie war ein tapferes Meitschi, die Marie. Sie hatte sehr gut vorgearbeitet...
»Gell«, sagte Studer. »Du hast der Sophie die ganze Geschichte mit der Ulrike erzählt und dann hast du ihr Geld geben müssen, damit sie geschwiegen hat... Obwohl du die Ulrike...«
»Richtig, Jakob«, sagte der alte Mann, »Ulrike hat sie geheißen... Ulrike Neumann. Jetzt besinn' ich mich... Und du hast recht, ich hab' sie nicht umgebracht. Sie war ein wenig verrückt, die Ulrike. Wie sie die Pille gehabt hat, ist sie abgereist, mit dem nächsten Zug... Nach Freiburg. Da hab' ich Angst bekommen. Und bin ihr nachgefahren...
Aber ich bin zu spät gekommen. Niemand hat mich ins Haus gehen sehen. Sie ist auf ihrem Bett gelegen – ein Glas ist auf dem Nachttischli gestanden, ich hab's in die Hand genommen, daran gerochen... Dann hab' ich Bescheid gewußt...«
»Zeig einmal deinen Daumen!«
Schade, daß der Altfürsprech Rosenzweig nicht anwesend war... Er hätte sich gefreut, den Besitzer des Daumens kennenzulernen, des Daumens, dessen Abdruck eine Rarität war.
Da ging die Türe auf. Ein Korporal – zwei winzige rote Borten trug er auf seinem Ärmel – rief:
»Beide zum Capitaine!«
Der Alte stand auf. Er war klein, kleiner als Pater Matthias, und neben Studer sah er aus wie ein Zwerg.
Vier Mann mit aufgepflanztem Bajonett umgaben die beiden. Einer vorn, einer hinten, einer links, einer rechts. Der Korporal führte die Gruppe an. Der Wachtmeister war nicht gefesselt.
Als der Alte aus der Zelle trat, blinzelte er wie eine Eule. Das harte Nachmittagslicht blendete ihn...
...Eine Baracke war ausgeräumt worden. Vor der Türe lagen die dünnen Matratzen übereinandergeschichtet. Im Hintergrund des Raumes saßen fünf Männer:
Capitaine Lartigue in der Mitte, ein Adjutant zu seiner Rechten, ein Sergeant zu seiner Linken. Neben dem Sergeanten zwei Korporale und der kleine Leutnant Mauriot rechts am Ende. Vor ihm stand ein Tischchen, auf dem weiße Blätter lagen.
Im Raum war es so dunkel, daß Studer erst nach einiger Zeit Marie bemerkte, die in einem Lehnstuhl neben dem Capitaine saß. Und ganz in eine Ecke gezwängt, saß Pater Matthias auf einer Matratze, mit untergeschlagenen Beinen, die Hände in den Ärmeln seiner Kutte versteckt.
Studer und der Alte mußten stehen. Der Capitaine begann das Verhör.
Er wandte sich an seine vier Beisitzer und erklärte ihnen, der große Mann, der da vor ihnen stehe, reise mit einem falschen Paß. Er habe sich ausgegeben als französischer Polizeiinspektor. Dann wandte er sich an Studer und forderte diesem die Papiere ab. Studer gab gutwillig den Paß des Inspektors Joseph Fouché ab. Das Papier wurde herumgereicht. Kopfschütteln.
Was er zu seiner Verteidigung zu sagen habe, wollte der Capitaine wissen.
»Viel«, sagte der Wachtmeister nur.
Dann solle er erzählen!
Und Studer begann – merkwürdigerweise mit einer Frage. Er wandte sich an den alten Mann, der neben ihm stand und fragte, indem er auf den Weißen Vater deutete:
»Kennst du den da?«
Der Alte fuhr sich mit der Hand über die Wangen, erkundigte sich dann schüchtern, ob es erlaubt sei, den Mann näher zu betrachten? Der Wunsch wurde ihm vom Capitaine gewährt.
So trat der Alte näher vor den Pater, blickte ihn lange an, und der Pater hielt dem Blick stand. Der Alte sagte:
»Ich kenn' ihn von Géryville her. Ich hab' ihm gebeichtet.«
»Von früher her kennst du ihn nicht?« fragte Studer.
Der Alte schüttelte den Kopf.
»Hör einmal, mein Alter«, sagte Studer freundlich. »Du kannst jetzt die Wahrheit sagen. Wie heißest du in Wirklichkeit?«
»Ich hab' viele Namen gehabt. Zuerst hieß ich Koller, dann nannte ich mich Cleman und da war ich reich. Schließlich hat mich das Reichsein gelangweilt, da hab' ich einem andern die Papiere abgekauft und bin als Giovanni Collani in die Legion eingetreten. Aber ursprünglich hab' ich Koller geheißen. Victor Alois Koller. Das ist mein richtiger Name.«
»Also hör einmal, Koller«, sagte Studer. »Der Mann, vor dem du stehst, behauptet, daß er dein Bruder ist, daß er Max Koller heißt...«
Der Alte schüttelte den Kopf, schüttelte ihn lange und nachdrücklich.
»Es stimmt schon«, sagte er nach einer Welle, »daß der Max unter die Pfaffen gegangen ist – die Eltern haben ihm das nie verziehen. Aber der da ist nicht Max... Dem da hab' ich gebeichtet in Géryville, das heißt, das stimmt auch nicht. Er hat mich ausgefragt und dann hab' ich ihm die Geschichte erzählt vom Kartenschlagen, daß ich beim Kartenschlagen nämlich immer die Wahrheit sagen muß – was ich dir erzählt hab', grad vorhin, Jakob. Und da hab' ich auch ihm die Karten schlagen müssen. Das war Anfang September vorigen Jahres. Da hatt' ich den Brief schon abgeschickt an die Josepha. Fünfzehn Jahre nach meinem Tod. Nach fünfzehn Jahren konnte die Sophie, die Hex' in Bern, nichts mehr unternehmen und da wollt' ich der Josepha endlich meine Dankbarkeit zeigen. Das hab' ich dem da erzählt. Ich weiß nicht, was er getan hat, aber eines Abends war plötzlich mein Bruder Jakob da und der hat mich gezwungen, mit ihm zu fahren. Ich hätt' bei der Josepha sollen die Fieberkurve holen... Die Fieberkurve, die angegeben hat, wo der Schatz liegt...«
»Wart jetzt«, unterbrach ihn Studer. »Ich verlange, daß das Gepäck jenes Herrn durchsucht wird!« Und der Wachtmeister deutete auf Pater Matthias.
Der Pater sprang auf. Er protestierte laut, seine Stimme überschlug sich, manchmal klangen die Worte nach verhaltenem Weinen. Da wurde Studer grob:
»Sie haben oft genug versucht, uns mit Ihrem Weinen hineinzulegen«, sagte er barsch. »Ich verlange, daß Ihr Gepäck untersucht wird.«
Der Capitaine gab mit ruhiger Stimme den Befehl weiter.
Zwei Koffer wurden in den Raum geschleppt. Capitaine Lartigue forderte die Schlüssel. Widerwillig gab sie der Pater. Der eine Koffer enthielt Meßgewänder, Kultgegenstände. Im andern wurde unter einer Kutte und verschiedenen Wäschestücken eine Kassette gefunden. Sie war verrostet. Der Capitaine öffnete sie und schüttete ihren Inhalt über den Tisch.
Papiere, Papiere... An manchen hingen Siegel. Andere waren in fremdartiger Schrift geschrieben. Eines von diesen griff der Capitaine heraus:
»Vollgültige Kaufverträge«, sagte er, während er las. »Landkäufe... Vom arabischen Bureau beglaubigt... Ohne Zweifel rechtsgültig. Verkauft an einen gewissen Cleman Alois Victor...«
»Der bin ich«, sagte der Alte. »Und ich habe die Ländereien meiner Tochter Maria vermacht, die meinen zweiten Namen trägt, und meinem Heimatkanton Bern... Jawohl... Der dort hat sie stehlen wollen!« Und der Alte wies mit dem Finger auf Pater Matthias.
Der Weiße Vater trat vor.
»Das Land«, sagte er, »ist mit gestohlenem Geld gekauft worden. Unser Orden hat durch den Kriegsminister den Auftrag erhalten, nach den Papieren zu forschen. Die Mission ist mir übertragen worden, weil ich den Fall zum Teil kannte. Max Koller, der schon jung in unseren Orden eingetreten ist, war mein Freund. Er hat mir viel erzählt. Darum ist es mir auch gestattet worden, mich seiner Papiere zu bedienen. Ich mußte die Fieberkurve, das echte Dokument, auftreiben. Denn dieser Mann da«, Pater Matthias wies auf den Alten, »hat mir erzählt, daß die richtige Fieberkurve zugleich sein Testament enthalte. Mir hat er nur die Kopie geben können. Die Kopie ohne das Testament.«
»Schweigen Sie!« sagte Studer streng und es war, als ob er, der Angeklagte, plötzlich der Leiter des Prozesses geworden wäre. »Es handelt sich nicht um gestohlenes Geld. Das Geld ist von den Gebrüdern Mannesmann dem Geologen Cleman übergeben worden... Hast du die beiden verraten?« wandte er sich an den Alten.
Der Mann, der so viele Namen getragen hatte, schüttelte den Kopf. »Sie haben sich selbst verraten«, sagte er.
»Und die beiden Frauen haben sich wohl selbst umgebracht?« fragte Pater Matthias boshaft. »Und du bist kein Mörder, Collani?«
Es ging alles so schnell, daß niemand dazwischenspringen konnte. Vielleicht war Studer der einzige, der etwas Derartiges erwartet hatte – aber auch er tat keinen Wank, bis alles fertig war.
Der alte Mann, der so zerbrechlich aussah, hatte dem Legionär, der neben ihm stand, das Gewehr aus der Hand gerissen, das Gewehr, das oben am Lauf das Bajonett trug. Und zugeben mußte man, daß der Alte sich noch gut an die Lektionen des Bajonettfechtens erinnerte. Denn das Gewehr schwang vor, allein von seiner Rechten am Kolben gehalten, schwang vor – und zurück. Das schwärzliche Eisen war mit einer dünnen Blutschicht überzogen und Pater Matthias lag auf dem Boden. Vorn an der Kutte wurde ein roter Fleck langsam größer und größer...
»Jetzt bin ich ein Mörder«, sagte der Alte. »Jetzt könnt ihr machen mit mir, was ihr wollt.«
Aber Capitaine Lartigue zuckte nur mit den Achseln.
»Es ist wohl die beste Lösung«, sagte er. Und seine vier Beisitzer, die sich ebensowenig wie er gerührt hatten, nickten. Nur Marie, auf ihrem Lehnsessel, hatte die gefalteten Hände vors Gesicht gelegt...
Der Alte schien auf etwas zu warten. Da ihn aber niemand anrührte, ging er mit kleinen, unsicheren Schritten – richtigen Greisenschritten – auf das Mädchen zu. Sehr sanft legte sich seine Hand auf die verkrampften Hände des Mädchens.
»Weißt du Marie«, sagte er. »Ich hab' deine Mutter nicht umgebracht.«
Marie antwortete leise:
»Das weiß ich schon lange, Vater. Das hast du mir doch schon erzählt. Damals, im Auto, wie wir mit deinem Bruder nach Bern gefahren sind. Du hast doch nichts dafür gekonnt, daß die Mutter so Angst gehabt hat vor dem Gas...«
Studer stand ganz einsam inmitten des Raumes. Nicht weit von ihm lag der Pater am Boden. Und der Wachtmeister erinnerte sich an seine Wohnung auf dem Kirchenfeld: Da war das Männlein, das dem Schneider Meckmeck glich, auch so still auf dem Ruhebett gelegen, und neben ihm hatte eine Tasse voll Lindenblusttee gestanden – Tee, den 's Hedy bereitet hatte...
Es war kein großer Fall gewesen, dachte Studer. Man hat wieder einmal danebengegriffen... An allem waren die Karten schuld. Man sollte nicht Karten schlagen, dachte er dunkel... Man sollte vieles nicht tun! dachte er weiter. Beispielsweise betriebsam sein, eine Hauptrolle spielen wollen, für ein Meitschi ein Vermögen retten... Für seinen fernen Heimatkanton Millionen erobern...
Der Mann, der so viele Namen getragen hatte, hockte auf der Armlehne und hatte sich an Maries Schulter gelehnt; ganz gebückt saß er dort und flüsterte vor sich hin. Aber so tief war die Stille in der ausgedehnten Baracke, daß jedes Wort zu verstehen war:
»Weißt du, Marie, ich hab' mit deiner Mutter Neujahr feiern wollen. Sie hat mich gebeten, bei ihr Wache zu halten, bis sie eingeschlafen ist. Ich hab' ihre Hand gehalten. Sie hat dann wollen, ich soll ihr Karten schlagen... Da ist der Schaufelbauer als erster herausgekommen... Dann haben wir uns einen Kaffee gekocht – und sie hat ihr Schlafmittel nehmen wollen. Ich hab's ihr gegeben. Sie hat gesagt, sie will nicht ins Bett, sie will im Lehnstuhl schlafen. Ich soll ihr die Hand halten, bis sie eingeschlafen ist. Und dann soll ich den Gashahnen zudrehen. Aber dazu hätt' ich sollen auf einen Stuhl steigen. Da hat sie gesagt, ich könne ein Schnürli anbinden an den Hebel und das Schnürli durchs Schlüsselloch führen. Dann brauch'ich nur zu ziehen, hat sie gesagt, und dann schließt es den Hahnen. Und ich weck' sie nicht. Ich hab' mich nicht ausgekannt. Ich hab' an den Hahnen probiert – hab' ich vergessen, einen zu schließen? Draußen vor der Tür hab' ich dann am Schnürli gezogen. Und dann hast du sterben müssen, Josepha! Ich hab's nicht gewußt...«
Schweigen. Der alte Mann war ganz zusammengesunken.
»Sie hat so auf dich gewartet, die Mutter. Warum bist du nicht gekommen? Und der Jakob hat immer die Fieberkurve haben wollen. Ich hab' sie gesucht und hab' sie nicht gefunden. Die Mutter hat mich nicht erwartet. Sie hat schon die Schuhe angehabt, sie hat mit einer Freundin Silvester feiern wollen. Und da bin ich gekommen. Sie hat gelacht und erzählt, sie hätt' gerade heut' ihre Schlüssel verloren... Sie hat mir zeigen wollen, daß sie noch alle Andenken an mich hat – aber die Schublade war verschlossen, da hab' ich sie aufgesprengt...«
Studer nickte, nickte... Da hatte man gemeint, einen weiß Gott wie raffiniert ausgeführten Mord entdeckt zu haben... Und dabei war alles Zufall gewesen... Ein Zufall, den sich der Pater zunutze gemacht hatte. Schuldig! Wenn man von Schuld reden wollte, so war einzig der Pater schuld, der Theater gespielt hatte, von Anfang bis zu Ende! Aber war es nicht unverantwortlich, daß man sich so hatte beschwindeln lassen von seinem Theaterspiel? Natürlich, ein Doppelmord paßte in das Spiel des Paters. Wenn man an einen Doppelmord glaubt, dann sucht man einen Täter – wie raffiniert ist das gespielt, wenn man den Verdacht auf sich selbst lenkt! Man weiß dabei ganz genau, daß man ein Alibi hat! Wie hat der Mann über den »Inspektor«, wie er ihn nannte, lachen müssen!
»Wissen Sie, Capitaine«, sagte Studer, »die Tante der Marie, die Tante, die in Bern gewohnt hat, hat gewußt, daß der Mann, von dem sie sich hat scheiden lassen, nicht tot war. Ihre Schwester in Basel hat ihr von der Fieberkurve geschrieben... Hab' ich recht, Alter?«
Der Mann nicke. Dann sagte er:
»Mein Bruder, der Jakob, hat gewollt, ich soll sie besuchen, die Sophie. Denn er hat die Fieberkurve haben wollen...«
Der Alte stand auf, kam nach vorne. Er stellte sich neben Studer. Und dann sprach er:
»Hohes Gericht! Ich muß mich verantworten... Der Mann, den ich getötet habe, er trägt die Schuld. Er hat alles wieder aufgeweckt, er hat meinen Bruder in Paris benachrichtigt. Sie haben den Schatz finden wollen – und der Mann, der Priester, hat meinem Bruder die Hälfte versprochen von dem Vermögen. Es gibt viel Petroleum hier herum... Und bald, sehr bald, wird es sehr viel wert sein, das Öl. Der Mann, der da liegt, ist zum Kriegsminister gegangen, er hat es mir selbst erzählt... Er hat das Testament, mein Testament, vernichten wollen... Darum hat er mich aufgeweckt aus dem fünfzehnjährigen Schlaf... Mit den Karten!... Er hat mich nicht in Ruhe gelassen, in Géryville – er hat mich als Hellseher ausgegeben... Verzeihung, hohes Gericht, ich bringe alles durcheinander. Aber ich bin ein alter Mann und mein Schicksal war schwer. Ich habe nur gewollt, daß meine Tochter und meine Heimat meinen Reichtum erben. Ich hab' weiterschlafen wollen. Er hat alles aufgeweckt. Er hat die Sophie besucht und ihr erzählt, daß ich noch lebe... Und er hat den Jakob, meinen Bruder Jakob gezwungen, mich nach Bern zu führen, im Auto. Sie hat mir gedroht, die Sophie, sie hat gesagt, sie will alles der Polizei erzählen, mich verhaften lassen... Aber geweint hat sie auch, die Sophie. Ich habe mit ihr sprechen wollen, sie überzeugen wollen. Ich hab' mich erinnert, wie es in Basel gegangen ist mit der Schnur und dem Gashebel. Auch die Sophie hat Angst gehabt vor dem Gas. Da hab' ich ihr den Lehnstuhl in die Küche geschleift, habe Kaffee gekocht – aber das Fläschchen mit den Schlaftropfen der Josepha hab' ich noch in der Tasche gehabt... Ich hab' in den Kaffee geschüttet, viel, sehr viel... Sie hat nichts gemerkt, denn ich hab' auch Kirsch dazugegossen... Und dann bin ich zum Spaß – ich hab' gesagt, es sei Spaß – auf den Stuhl geklettert und hab' das Schnürli befestigt am Hahnen – wie in Basel. Und die Sophie hab' ich getötet. Sie war eine böse Frau... Sie hat mich ausgesogen... Sie hat der Josepha nichts gegönnt... Sie hat mich verraten wollen. Hohes Gericht! Mon Capitaine! Ich habe nicht lange mehr zu leben. Ich weiß, daß Sie die Marie lieb haben... Und auch du, Jakob«, er wandte sich an Studer, »du bist ein besserer Jakob als mein Bruder... Machet ihr beide, daß die Marie zu ihrem Recht kommt, und meine Heimat auch... Ich habe geschlossen.«
Es blieb lange still im Raum. Dann stand Marie auf, ging auf ihren Vater zu und führte ihn zum Stuhl, in dem sie gesessen hatte. »Hock ab, Vatter«, sagte sie auf deutsch. Der Alte ging zum Stuhl, setzte sich, lehnte sich zurück.
»Inspektor Stüdère«, fragte der Capitaine. »Warum habe ich Sie eigentlich verhaften müssen?«
Studer räusperte sich. Dann erwiderte er:
»Aus zwei Gründen – Der Pater wäre geflohen oder hätte wenigstens die Kassette versteckt. Denn er hat gemerkt, daß ich Verdacht geschöpft hatte. Und zweitens wollte ich ungestört mit dem alten Mann in der Zelle reden können.«
»Ja«, sagte Capitaine Lartigue. »Einleuchtend. Aber Sie müssen zugeben, daß Sie Glück gehabt haben. Wäre ich nicht mit Marie verlobt gewesen...«
»Dann«, sagte Studer, »wäre es mir schlecht gegangen. Aber man muß manchmal auch mit den Imponderabilien rechnen.«
»Imponderabilien!« sagte Capitaine Lartigue. »Wie gelehrt Sie sprechen!«
Marie aber ging auf den Wachtmeister zu.
»Märci, Vetter Jakob!« sagte sie.
Der kleine Leutnant, der noch immer vor seinen weißen Blättern saß, fragte laut:
»Was soll ich ins Protokoll schreiben?«
»Schreiben Sie«, sagte der Capitaine Lartigue, »was Sie wollen. Meinetwegen, daß der Pater schwerverwundet den Posten erreicht hat und hier gestorben ist. Sind alle damit einverstanden?«
Die vier Beisitzer, der Korporal der Wache und seine vier Mann nickten schweigend.
»Wo soll er begraben werden?« fragte der Korporal der Wache. Da sagte Wachtmeister Studer:
»Er hat sich ja sein Grab selbst geschaufelt; bei der Korkeiche, wissen Sie, neben dem roten Mannfelsen...«
Der Capitaine nickte. Dann fragte er:
»Eines möchte ich noch wissen. Wo ist Maries Onkel? Der Börsenmakler, bei dem das Mädchen in Paris als Sekretärin angestellt war?«
Sie schritten auf und ab im freien Raum zwischen den Baracken; die Sonne stand tief und der kalte Wind, der von den Bergen kam, erinnerte die Männer daran, daß es noch Winter war.
»Ich weiß nicht«, sagte Studer. »Ich habe nur Vermutungen. Sie sollten Ihre zukünftige Frau fragen; Sie erzählten mir doch, Marie habe Ihnen von Bel-Abbès aus telegraphiert und Geld verlangt? Die Reise von Bel-Abbès bis Gurama kostet nicht fünftausend Franken, auch wenn man den Umweg über Fez nimmt.«
Die beiden kehrten um, traten in die Baracke, in der die merkwürdige Verhandlung geführt worden war. Die Mitglieder des Gerichts hatten sich entfernt. Im Lehnstuhl saß der Alte und auf der Armlehne, an ihren Vater gelehnt, Marie.
»Marie«, fragte der Capitaine, »wo ist dein Onkel Jakob?«
»Deine Frage klingt, mein lieber Louis«, sagte Marie bedächtig, »wie jene andere, schwerwiegendere: ›Kain, wo ist dein Bruder Abel?‹... Du mußt nicht so mißtrauisch sein, Louis. Du hast mir Geld nach Bel-Abbès geschickt. An einem Abend habe ich dort den Jakob Koller getroffen – und ich bitte dich ernstlich, ihn nie mehr meinen Onkel zu nennen. Du weißt ja selbst, Vetter Jakob, daß Pater Matthias Bern fluchtartig verlassen hat. Wir hörten dann nichts mehr von ihm. Er hatte die Kopie der Fieberkurve – das genügte ihm vorläufig. Aber Jakob Koller war wütend, weil er wußte, daß er nichts mehr von dem großen Vermögen zu erwarten hatte. Er engagierte in Lyon – ich blieb bei meinem Vater. Und ich begleitete ihn bis Colom-Béchar, führte ihn zum dortigen Platzkommandanten; der sollte ihn weiter nach Gurama schicken. Und auch dich, Vetter Jakob, hatte ich ja dorthin bestellt. Uns dreien würde es schon gelingen, den falschen Priester zu überführen...«
»Falschen Priester! Wie du redest, Marie!« sagte Capitaine Lartigue vorwurfsvoll.
»Ich rede, wie es mir paßt«, meinte Marie, und Studer dachte: ›Im Anfang wird es in dieser Ehe nicht sehr harmonisch zugehen – aber mit der Zeit schleift sich der eine am andern ab. Vielleicht werden die beiden sogar noch glücklich?‹ Laut sagte er: »Lassen Sie das Mädchen sprechen, Lartigue!«
»Meinetwegen, Stüdère! Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich ihr nur einen kleinen Vorwurf gemacht habe – meine zukünftige Frau soll nicht reden wie die Heldin eines Schundromanes... Falschen Priester!« brummte er.
»Nun«, sagte Marie gereizt. »War er vielleicht ein richtiger Priester? Er war ein falscher Priester.«
»Ja – er war ein falscher Priester und ein falscher Mensch«, sagte der alte Geologe mit scheppernder Stimme.
»Gewiß, Vater. Du hast recht und sie auch.« Lartigues Stimme war versöhnlich.
›Er nennt den Alten: du und Vater!‹ dachte Studer. ›Ein merkwürdiger Mann! Kein Wunder, daß man ihm auf dem Kriegsministerium schlechte Noten gibt... Aber er ist doch... ein Mann.‹
Marie fuhr fort:
»Ich hab' ihn auf der Straße in Bel-Abbès getroffen, als ich von Colom-Béchar zurückkam. Wißt ihr, ich habe nie gewußt, was Angst ist... Aber als ich Jakob Koller sah, da wußte ich es plötzlich... Schließlich, er war gut zu mir gewesen, hatte mich nach Paris mitgenommen, als ich es bei der Mutter nicht mehr aushielt. Und darum fühlte ich mich verpflichtet, ihm zu helfen. Ich fragte ihn, was ich für ihn tun könne. Wir saßen in einem kleinen arabischen Café – und ich erkannte ihn kaum wieder. Man hatte ihm die Haare kurzgeschoren, die Uniform flatterte um ihn, er war mager – seine Augen aber! Sie schossen hin und her... Ich hab' als Kind einmal zur Jagdzeit in einer Ackerfurche einen Hasen gesehen – dem seine Augen flitzten genau so ängstlich hin und her wie die des Jakob Koller...
Er sagte: ›Gib mir Geld, Marie. Damit ich fliehen kann.‹ – Vielleicht bin ich grausam gewesen, aber der Mann hat mich angeekelt. ›Jakob Koller‹, sagte ich, ›erstens haben Sie mich nicht zu duzen. Ich will Ihnen helfen, obwohl Sie viel auf dem Gewissen haben. Wieviel brauchen Sie?‹ – ›Zehntausend Franken.‹ Da lachte ich ihn aus. Er bekomme viertausend französische Franken, keinen Centime mehr. Morgen um die gleiche Zeit solle er hier ins Café kommen, dann wolle ich ihm das Geld geben. Und dann telegraphierte ich dir, Louis. Am nächsten Abend ist er geflohen. Ich hab' ihm noch Zivilkleider verschafft. Wohin er geflohen ist, weiß ich nicht. Aber wir haben wohl nichts von ihm zu fürchten. Ich habe ihm gesagt, daß ich dir, Vetter Jakob, die ganze Geschichte erzählen werde. Er war dann noch anständig und hat mich vor dem falschen Priester gewarnt. Vor dem falschen Priester!« wiederholte Marie und sah ihren Verlobten kampflustig an.
»Ja, Marie vor dem falschen Priester«, sagte Lartigue sanft. Er stand vor dem Tisch und begann die Dokumente zu sammeln, die dort herumlagen. »Ich habe heute Urlaub verlangt – und ich denke, in acht Tagen können wir in die Schweiz fahren. Und von dort versuchen wir dann, diese Blätter«, er klopfte auf die Papiere, »zu verwerten...«
Schweigen. Langes Schweigen.
»Und den Vater?« fragte Marie.
»Den nehmen wir mit. Glauben Sie, daß er in der Schweiz... Ich meine... verstehen Sie... ich möchte nicht, daß...«
Studer unterbrach das mühselige Stottern.
»Man wird ihn«, flüsterte er dem Manne zu, der Postenchef, Arzt, Veterinär, Viehhändler, Stratege und Boxer war, aber trotzdem schüchtern sein konnte und unbeholfen, »man wird ihn wohl in ein Spital tun...« Lartigue nickte. Und Studer fuhr fort: »Sie könnten mir nicht ein Paar marokkanische Sennenhunde auftreiben?«
»Marokkanische... Sennenhunde... ?« Der Capitaine blickte den Wachtmeister an, als ob er an dessen Vernunft zweifle.
»Gibt's das nicht?«
»Nei... nei... ein. Soviel ich weiß...«
»Dann bringen wir dem ›Alten‹ eben Ihren schottischen Terrier mit.«
»Dem Alten? Welchem Alten?«
»Eh«, meinte Studer ungeduldig, »unserem Polizeidirektor.«
Nach dem Nachtessen saßen die beiden Männer auf der Terrasse des Turmes.
»Glauben Sie nicht«, fragte Studer, »daß die ganze Geschichte doch einmal auskommt? Und die Rolle, die Sie dabei gespielt haben?«
Lartigue kicherte leise. Dann – und Studer traute seinen Augen nicht – streckte er die flachen Hände aus, die Handflächen nach oben, ein Heben der Arme, die Hände drehten sich und fielen klatschend auf die Schenkel zurück. Die rechte Hand löste sich, zur Faust war sie geballt und nur der Zeigefinger ragte auf, einsam und gerade. Der Finger berührte die Lippen, wies nach oben. Und Studer verstand die dumpf gemurmelten Worte:
»Was sorgst du dich, Bruder, über das, was kommen wird? Wolltest du bedenken, was die Zukunft dir bringen kann – verzweifeln müßtest du. Er aber, der Ewig-Schwelgende, kümmert er sich um Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft? Er, dem die Ewigkeit gehört?«
Auf der Ebene, die zwischen dem Posten lag und dem Ksar, bewegte sich ein kleiner Trupp langsam vorwärts. Trommeln dröhnten dumpf herüber. Pater Matthias, der »falsche Priester«, wie ihn Marie genannt hatte, wurde dort zu Grabe getragen...
Aus dem Zimmer kam eine leise Stimme:
»Mußt nicht denken, Meitschi, daß ich dir zur Last fallen will. Mußt das nicht denken...«
»Aber nein, Vater«, sagte Marie.
»Kommen Sie«, des Capitaines Stimme war heiser, »wir wollen den dort«, er wies auf die Ebene, »zur Korkeiche begleiten. Schließlich hat er das Geld ja nicht für sich gewollt.«
Und Studer war einverstanden. Da er zu frieren vorgab, bat er den Capitaine um einen Mantel. Er bekam eine resedagrüne Capotte aus dickem Stoff und mit weißem Leinen gefüttert; die Aufschläge am Hals trugen das Abzeichen der Fremdenlegion: die rote Granate, aus der Flammen schlagen. Studer zog den Mantel mit Befriedigung an: so konnte er einmal vor seinem Tode die Uniform tragen, von der er so oft geträumt hatte in Bern, an den Tagen, da ihm alles verleidet gewesen war...