Die Fieberkurve
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Der kleine Mann im blauen Regenmantel und der andere

Es stand aber vor der Tür eine Dame, die sehr dünn war und deren kleiner Vogelkopf eine Pagenfrisur trug. Sie stellte sich vor als Leiterin der im gleichen Hause einquartierten Tanzschule und tat dies mit so ausgesprochen englischem Akzent, daß es dem Wachtmeister schien, als komme in diesem Falle, auch wenn es der von jedem Kriminalisten erhoffte »Große Fall« war, sein Berndeutsch zu kurz: Bald mußte man Französisch reden, bald Schriftdeutsch, dann gurgelten die Basler – und nun war also Englisch an der Reihe... Die ganze Geschichte ist hochgradig unschweizerisch, dachte Studer dunkel, obwohl alle Handelnden Schweizer sind – mit Ausnahme immerhin des Hellseherkorporals, über dessen Nationalität sich der Pater nicht geäußert hat... Unschweizerisch – genauer: auslandschweizerisch, ein langes und nicht gerade wohltönendes Wort...

»Ich habe eine Beobachtung mitzuteilen«, sagte die Dame, und dazu wand und drehte sie ihren schlanken Körper – unwillkürlich hielt man Ausschau nach der Flöte des indischen Fakirs, deren Töne diese Kobra zum Tanzen brachten. »Ich wohne unten...« Schlängelnder Arm, der Zeigefinger deutete auf den Fußboden. Und dann schwieg die Dame plötzlich, denn sie beobachtete erstaunt den Pater: dieser saß wieder im Klubsessel und spielte das Scheschiaspiel.

Der Wachtmeister aber stand da, stocksteif, die Hände unter dem Raglan in die Seiten gestemmt: so ähnelte er einer Schildkröte, die auf den Hinterpfoten steht – in Bilderbüchern sieht man die Tiere bisweilen in dieser Haltung abgebildet. Studers schmaler Kopf und magerer Hals unterstrich noch diese Ähnlichkeit.

»Also?« fragte er ungeduldig.

»Gestern abend wurde bei uns geläutet«, sagte die dünne Dame, das heißt sie sagte: ›Göstiörn‹ und ›göloouitöt‹. »Ein kleiner Mann stand vor der Tür, gekleidet in einen blauen Regenmantel. Er sprach mit undeutlicher Stimme, denn er trug ein Cache-nez... Ein Foulard... Wie sagen Sie? Ah ja!... Eine wollene Binde um den Hals geschlungen, die auch den unteren Teil des Gesichtes verbarg...«

Räuspern, trockenes Räuspern. Dann:

»Den Hut...«, ›den Hiut‹, »... hatte er tief in die Stirne gezogen. Er fragte nach Frau Hornuss... ›Im Stock oben‹, antwortete ich. Der Mann dankte und ging. Es war ganz still im Haus. So hörte ich ihn an der Wohnungstür hier läuten...«

»Um wieviel Uhr war das?«

»Um... um... elf Uhr... Ein wenig später, vielleicht. Ich hatte eine Tanzstunde gegeben, die war fertig um fünf Minuten vor elf Uhr. Und dann nahm ich eine Dusche...«

»Ah«, sagte Pater Matthias und rutschte noch tiefer in seinen Klubsessel. »Sie nahmen eine Dusche!... Hm!«

»Das interessiert mich nicht!« unterbrach Studer.

Die Dame schien die Unhöflichkeit der beiden Männer nicht zu bemerken, denn sie starrte wie verhext auf die Scheschia des Paters, die ihre Drehungen vollführte – bald langsamer, bald schneller...

»Und dann? Haben Sie sonst noch etwas gehört?« fragte Studer ungeduldig.

»Ja... Warten Sie... Ich hörte also läuten, unsere Wohnung liegt gerade unter dieser. Ich hatte unsere Türe nicht geschlossen, ich wollte wissen, ob Frau Hornuss öffnen würde, vielleicht war sie schon zu Bett gegangen... Aber sie schien den Besuch erwartet zu haben. Der Mann hatte kaum geklingelt, da hörte ich schon die Stimme der alten Frau: ›Ah! Endlich!‹ Es klang wie erlöst. ›Nur herein!‹ Und dann fiel die Tür wieder ins Schloß.«

»Wir in der Schweiz«, unterbrach Studer, »sagen nicht ›Nur herein!‹ Wir sagen entweder: ›Chömmet iche!‹ oder ›Chumm iche!‹ Können Sie sich nicht erinnern, Frau... Frau...«

»Frau Tschumi.«

Auch das noch! dachte Studer. Eine Engländerin mit einem Berner Geschlechtsnamen! Laut:

»Also, Frau Tschumi: Können Sie mir nicht sagen, welche Form der Anrede die Frau gebraucht hat? Ob sie den späten Besucher geihrzt oder geduzt hat?«

»Wir in England«, es klang wie: ›Ouirninglend‹, »sagen allen Leuten ›Sie‹. Darum, ich denke, die Frau hat gesagt: ›Sie‹.«

»Aber sicher sind Sie nicht, Frau Tschumi?«

»Mein Gott! Sicher! Sie müssen bedenken, ich war müde. Sie sind von der Polizei?« fragte die dünne Dame plötzlich.

»Ja... Wachtmeister Studer... – Und sonst haben Sie nichts gehört?«

»Oh, doch«, sagte die Dame lächelnd, »eine ganze Menge... Aber verzeihen Sie, Herr... Herr... Studer...« Nun, dagegen war nichts zu machen: die Franzosen nannten einen »Ssstüdère« und die englische Dame sagte ein Wort, das klang wie »Stiudaa« – fast wie der Gesang eines zufriedenen Maudis..., »könnte jener Herr dort nicht aufhören mit seiner Kappe zu spielen, es macht mich nervös...«

Pater Matthias errötete wie ein ertappter Schulbube, stülpte rasch die Scheschia über seinen Schädel und steckte die Hände in die Kuttenärmel.

»Ich habe gehört«, sagte die Dame und wand sich wieder wie eine Schlange, »Schritte in der Küche. Dann das Schleifen eines schweren Dinges durch die ganze Wohnung. Dann Stimmengemurmel, lange, sehr lange, fast über eine Stunde. Ich sage zu meinem Manne: ›Du, was ist das, die alte Lady, sie hat nie Besuch bekommen, so spät, was ist los dort oben...‹ – Sie verstehen, Inspektor«, das ›S‹ sprach sie scharf aus, das letzte ›R‹ verschluckte sie, »wir haben die alte Lady gern gehabt. Sie war ganz allein, manchmal wir haben ihr einen Besuch... abgestattet, manchmal ist sie gekommen zu uns. Sie immer war traurig...«

»Jaja«, sagte Studer ungeduldig, »weiter!«

»Plötzlich ist es still geworden in der Küche. Jemand ist leise durch die Wohnung gegangen, so leise, als ob jemand seine Schritte bewußt dämpfen wolle. Bei uns unten hören wir sehr deutlich, was in der oberen Wohnung geschieht; der Boden ist wohl hohl... Dann ist aufgegangen die Wohnungstür, ich habe die unsrige auch geöffnet... Wissen Sie, Inspektor, die Neugierde! Dann ist der Schlüssel umgedreht worden im Schloß von die Wohnungstür. Und Stille... Verstehen Sie wohl, keine Schritte, die sich entfernen, sondern absolute Stille! Ich sage zu meinem Mann, der neben mir steht: ›Was macht der Besucher dort oben?‹ Und kaum bin ich fertig mit Flüstern, so höre ich Schritte, die schleichen sich fort. Das Stiegenhaus ist dunkel, der Mann zündet nicht an das Licht, vielleicht weiß er nicht, wo der Schalter ist... Er schleicht im Dunkel die Treppe herab, auf unsere zu – und da sieht er den hellen Spalt. Er bleibt stehen, wartet. Und dann nimmt er ein paar große Schritte, ganz plötzlich, läuft vorbei, nein, es ist kein Laufen... er springt...«

Eine richtige dramatische Erzählung! Warum doch die Weiber immer schauspielern mußten!... Studer erkundigte sich trocken: »Schien er erschreckt?«

»Ja... sehr, sehr erschreckt. Er läßt etwas fallen. Es macht kein Geräusch, wie es berührt den Boden. Ich sehe es nur im Licht, das dringt aus unserer Tür... Ich höre, wie der Mann in großen Sätzen die Treppe hinunterhaset...« (»Haset!«... Wo hatte die Dame das Wort aufgeschnappt?) »Und dann ist das Haustor zugefallen.«

»Wird es nicht um zehn geschlossen?« fragte Studer.

»Nein, erst um elf, wegen meiner Schule, und oft wird es vergessen. Es gibt einen Mann, er wohnt im Parterre. Immer vergißt er den Schlüssel und wohnt allein und kommt spät heim, und wenn das Haustor verschlossen ist, läutet er bei uns... Darum wir lassen gewöhnlich geöffnet das Tor...«

»Hmmmm...« brummte Studer. »Und was hat er fallen lassen, Madame?«

»Dies hier«, sagte die dünne Dame und streckte Studer die offene Hand hin. Auf ihrer Fläche lag ein Schnürli, dünn, in Form einer Acht zusammengerollt und in der Mitte verknotet. Studer warf einen Blick auf den Weißen Vater, bevor er das Dargereichte in die Finger nahm, und auch nachher sah er wieder auf die Gestalt mit den nackten, sehnigen Waden... Um des Paters Mund lag ein Lächeln und es war schwer zu deuten. Hintergründig... vielleicht höhnisch? Nein, nicht höhnisch – dem widersprach der Ausdruck der Augen, die groß waren und traurig: graues Meer, über dem die Wolken lagern – und selten, ganz selten nur, spielte ein Sonnenstrahl über die glatte Fläche...

Studer hatte die Schnur aufgeknotet: ihr eines Ende bildete eine Schlaufe. Der Wachtmeister stieg auf das Hockerli, legte die Schlaufe um den Haupthahn, den er zuerst waagrecht gestellt hatte, rückte dann das Hockerli weiter, um die Schnur über die Gasröhre oben an der Eingangstür zu führen. Ein Ende der Schnur ließ er herabhängen... Dies fädelte er durch das Loch in der Holztüre, welches für das Schlüsselloch gebohrt worden war, trat auf den Flur hinaus, und während er die Tür mit der Linken zuhielt, begann er mit der Rechten ganz sanft an dem Schnurende zu ziehen. Nach einer Weile fühlte er keinen Widerstand mehr, er zog weiter, die ganze Schnur kam nach – und endlich die Schlaufe, die er so sorgfältig um den Eisenhebel gelegt hatte. Nun erst kehrte er in die Küche zurück.

Der Haupthahn des Gaszählers bildete einen Winkel von fünfundvierzig Grad.

»Was zu beweisen war!« sagte der Pater. »Wissen Sie noch, in den Geometriebüchern, aus denen wir in der Sekundarschule lernten, standen die Worte immer hinter den Lehrsätzen – hinter dem pythagoreischen zum Beispiel... Nur ist die Art, wie dieser Mord hier begangen worden ist, leichter zu beweisen als besagter pythagoreischer Lehrsatz. Denn dieser Lehrsatz, Inspektor, müssen Sie wissen, ist nicht nur für die Schüler und Schülerinnen...«

›Der Mann redet, um zu reden. Leerlauf könnte man sagen, nicht Lehrsatz!...‹ dachte Studer. Ihn fröstelte wieder, trotz des Mantels. Er knöpfte den Raglan zu und stellte den Kragen auf. Pater Matthias plapperte weiter. Vom pythagoreischen Lehrsatz gelangte er zu den Knabenspielen, genannt »Räuberlis«, und von diesen Jugenderinnerungen zu den marokkanischen Dschischs – so hießen, erklärte er, die Räuberbanden an den Grenzen der großen Wüste – und auch er sei einmal von einer solchen überfallen worden... Die Worte rauschten wie ein Bach, der als Kaskade in ein Felsenbecken fällt. Tief und orgelnd blieb die Stimme.

»Sie können gehen«, unterbrach Studer den Pater und wandte sich der Dame zu. »Ihre Aussage war aufschlußreich. Vielleicht wird sie uns von Nutzen sein... Ich danke Ihnen, Madame... Good bye!« fügte er hinzu, um zu zeigen, daß ihm das Englische geläufig war.

Aber dieser Abschiedsgruß schien der Dame ob seiner Familiarität zu mißfallen. Sie zog die Haut neben der Nase in die Höhe und verließ wortlos die Wohnung. Unten hörte man sie mit schrillem Gekeif etwas erzählen – dazwischen sprach eine tiefe Stimme beruhigende Worte.

»Es stimmt schon: man kann in der einen Wohnung ganz gut hören, was in der anderen vor sich geht. Meinen Sie nicht auch, Pater Matthias?«

Der Pater stand auf. Die Scheschia saß schief auf seinem kleinen Schädel. Seine Augen waren auf Studers breite Brust gerichtet, so, als wollten sie einen stummen Appell an jenes Organ richten, das allgemein als Sitz der Gefühle angesehen wird... Aber des Wachtmeisters Herz verstand nicht den Sinn dieses lautlosen Rufes.

»Ich bin gleich wieder da, dann können wir gehen«, sagte Studer und ließ den Pater stehen. Als er wiederkam, begleitet von der Tanzlehrerin, stand Pater Matthias immer noch mitten in der Küche und der Ausdruck seines Gesichts war ein geduldig-leidender.

Studer deutete mit einer Kopfbewegung auf den Mann in der weißen Kutte und fragte: »Ja?«

»Yes!« sagte die Dame und verscheuchte mit angeekelter Miene den blauen Rauchwimpel, der an des Wachtmeisters Brissago flatterte. »Die Augen«, fügte die Dame hinzu. »Ich glaube, die Augen stimmen...«

»Määrci...« sagte Studer breit und die Dame verschwand.

Das Schweigen in der hellen Küche wurde drückend, aber keiner der beiden Männer schien Lust zu haben, es zu brechen. Umständlich zog Studer seine Handschuhe an – dicke, grauwollene Handschuhe – die Brissago saß ihm im Mundwinkel und sie war wohl daran schuld, daß die folgenden Worte ziemlich gequetscht klangen:

»Wissen Sie, Pater, daß Sie verdächtig sind? Die Dame glaubt, Sie wiederzuerkennen. Die Gestalt stimme, sagt sie... Und auch die Augen... Sie werden mir genau beweisen müssen, wann Sie gestern Basel verlassen haben – wann Sie in Bern angekommen sind... Und dann muß ich Sie bitten, mir Ihre Papiere zu zeigen.«

Wahrhaftig! In die Augen des alten Mannes traten Tränen! Sie liefen ihm über die Backen, blieben im grauen Schneiderbärtchen hängen, neue kamen, ein feuchtes Aufschlucken, das ganz wie Schluchzen klang, noch eins... Und die Rechte fuhr in die tiefe Tasche, während die Linke den Kuttenzipfel festhielt. Ein Nastuch kam zum Vorschein, dessen Gebrauch sich als notwendig erwies, die Lupe, die Schnupftabaksdose – und endlich, endlich der Paß.

»Määrci...« sagte Studer, genau so breit wie vor einer kleinen Weile. Aber die Betonung war eine andere. Es schwang eine Entschuldigung in dem Wort mit.

»Passeport Pass Passaporto... pour... für... per...«

»Was... was... bedeutet denn das?« fragte Studer.

Denn hinter den drei Verhältniswörtern stand:

»Koller Max Wilhelm.«

Da streifte Wachtmeister Studer seine grauwollenen Handschuhe wieder ab, stopfte sie in die Tasche, setzte sich auf das Hockerli, zog sein neues Ringbuch aus der Busentasche, und während er, ohne aufzublicken, den Paß mit angefeuchtetem Zeigefinger durchblätterte – mit Bewegungen, wie sie jedem Polizeibeamten, von Kapstadt bis zum Nordpol und von Bordeaux bis San Franzisko, rund um die Erde, eigen sind – sagte er:

»Hocked ab...«

Er blickte nicht auf, sondern hörte nur die Federn des Klubsessels ächzen – jenes Klubsessels, in dem die alte Frau für ewig eingeschlafen war...

Aber das nun fällige Verhör sollte nicht ganz ungestört vonstatten gehen; denn unter der Küchentür stand ein ältlicher Mann, der sich auf Bärndütsch erkundigte, ob hier ein Fahnder sei, er habe etwas zu erzählen...

Er sprach viel und lange, der ältliche Mann, aber was er zu sagen hatte, ließ sich in ein paar Sätzen zusammenfassen:

Er hatte, als er spät am Abend heimgekehrt war – er wohne im Parterre, teilte er mit, und somit war es nicht schwer zu erraten, daß es sich um den Herrn handelte, der immer seinen Schlüssel vergaß – vor dem Hause ein wartendes Auto vorgefunden. Auf dem Trottoir sei ein großer Mann auf- und abgegangen. Der Erzähler habe sich bei dem großen Mann erkundigt, ob er auf jemanden warte, sei jedoch mit einer brummigen Antwort abgespeist worden. Gleich darauf sei ein kleiner Mann in einem blauen Regenmantel aus der Haustüre gestürzt – »usecheibet« – habe den Großen am Arm gepackt, ihn ins Auto gestoßen, den Schlag zugeworfen – und fort... Er, der Erzähler – Rüfenacht, Rüfenacht Ernscht – habe gemeint, das könne die Tschuggerei – äksküseeh: die Polizei – interessieren, die magere Geiß – äksküseeh: die Tanzlehrerin, im ersten Stock, habe ihm geraten, seine Beobachtungen mitzuteilen. Das tue er hiermit...

»Märci!« sagte Studer zum dritten Male – sehr trocken. Aber da er gewissenhaft war, schrieb er den Namen des »Rüfenacht Ernst, Gerechtigkeitsgasse 44« in sein Notizbuch, denn der Mann kam, wie Frau Tschumi, als Zeuge in Betracht.

Und dann blieb der Wachtmeister, abwesenden Geistes, auf seinem Hockerli vor dem mit Wachstuch überzogenen Küchentisch sitzen. Es wuchs der Aschenkegel an seiner Brissago – drückend und schwer lastete die Stille über dem Raum. Manchmal wurde sie durchbrochen von einem schüchternen Schneuzen. Dann schielte Studer unter gesenkten Augendeckeln hinüber zu Pater Matthias, der in seinem Passe »Koller Max Wilhelm« hieß und dennoch behauptete, der Bruder eines verstorbenen Geologen zu sein. Aber der Name des Toten war »Cleman« gewesen, »Cleman« – und nicht »Koller«... »Wie reimt sich Stroh auf Weizen...« Und wie reimte sich Koller auf Cleman?...

Zwei Männer, ein kleiner, in einem blauen Regenmantel; ein großer, der vor der Haustür wartet... Eine alte Frau legt Patiencen in ihrer einsamen Wohnung – oder spielt sie ein weniger harmloses Spiel? Schlägt sie ihrem Besucher die Karten? Oder sich selbst? Dieser Besucher!... Klein soll er sein – wie der Weiße Vater! Und Augen soll er haben – wie der Weiße Vater!... Wenigstens hatte Frau Tschumi dies behauptet.

Das Chacheli mit dem Kaffeesatz und dem Rest Somnifen war ausgespült worden. Wann?... Der Wachtmeister war durch die Wohnung gegangen und bei seiner Rückkehr in die Küche hatte der Pater im Lederfauteuil gehockt... Merkwürdig übrigens, wie gut Pater Matthias Bescheid wußte... Hier der Kaffee! – da der Kirsch!... War er erstaunt gewesen, daß am Schlüsselloch des herausgebrochenen Schlosses Fasern klebten? – Kes Bitzli! Aber plötzlich war er in Tränen ausgebrochen, wie ein Kind, als man ihn des Mordes beschuldigt und um seine Papiere gebeten hatte...

Zwiespältigkeit! Das einzig richtige Wort!...

Es war nicht zu leugnen, der Mann in der weißen Kutte flößte dem Wachtmeister Mißtrauen ein und dann wieder Vertrauen. Zwiespältigkeit: Wenn er Vorträge hielt – über den Kardinal Lavigerie oder über den pythagoreischen Lehrsatz, – war etwas Kindliches in seiner Art zu sprechen; aber wenn er schwieg, lag in seiner Stummheit etwas Schlaues, Verschlagenes... Das Kindliche, Weltfremde ließ sich leicht erklären: nicht umsonst war der Missionar jahrelang durch die weiten Steppen gewandert, um in verlorenen Posten Messen zu lesen, Beichten zu hören... Und das Verschlagene? Konnte man diese Art sich zu geben einfach Verschlagenheit nennen? War es nicht eher etwas wie Verlegenheit: dieses übertrieben sichere Gebaren in einem Raum, der immerhin der Schauplatz eines Mordes gewesen war. Verlegenheit: die unwahrscheinliche Geschichte vom Hellseherkorporal Collani in Géryville...

Und während das Schweigen weiter über der Küche lastete, schrieb Wachtmeister Studer in sein neues Ringbüchlein:

»Madelin in Géryville anfragen lassen, ob Korporal Collani wirklich verschwunden ist!«

Er räusperte sich, streifte die Asche von der erkalteten Brissago, zündete sie von neuem an und fragte ohne aufzublicken:

»Warum heißet Ihr anders als Euer Bruder?« Die Worte verhallten in der Küche und dann fiel es Studer auf, daß er zum Weißen Vater »Ihr« gesagt hatte, wie zu einem gewöhnlichen Angeklagten...

»Er war...« – Schlucken – »er war mein Stiefbruder... aus der... aus der... ersten Ehe meiner Mutter...«

Studer blickte auf und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Pater Matthias hatte wieder seine Scheschia über den Zeigefinger seiner Rechten gestülpt und brachte sie durch kleine Stöße der Linken zum Kreisen. Die Tränen trockneten von selbst. Aber nach dieser einen Antwort blieb der Mund des Paters verschlossen und Studer gab das Verhör auf.

Zwei Stunden später – es war inzwischen halb eins geworden – ereignete sich folgender peinlicher Vorgang: Ein Wachtmeister der Berner Kantonspolizei ging mit einem weißbekutteten Pater, dessen nackte Zehen aus offenen Sandalen hervorsahen, unter den Lauben der Stadt Bern spazieren. In diesen zwei Stunden war allerhand Arbeit geleistet worden – und daß diese Arbeit nicht resultatlos verlaufen war, hatte Studer einerseits seinem Glück, andererseits seinen guten Beziehungen zu einem Manne zu verdanken, der statt Briefmarken Fingerabdrücke sammelte – und zwar Fingerabdrücke von allen Schweizer Verbrechern. Wohlgemerkt: Verbrechern... Um mindere Gesetzesübertreter kümmerte sich der alte Herr Rosenzweig nicht. Die Wände seines Arbeitszimmers waren mit Bildern behangen – unter Glas und Rahmen! –, die aussahen wie Reproduktionen surrealistischer Gemälde. Es waren – Vergrößerungen von: Daumen, Zeigefingern, Handballen. Zehnfache, zwanzigfache Vergrößerungen... Zwischen Wellenlinien, Spiralen und Einbuchtungen schwammen winzige Inseln: die Schweißporen...

Bevor Studer den Pater in der einsamen Wohnung der Sophie Hornuss zurückließ, sprach er folgende Worte:

»Meinetwegen und wenn Ihr Lust dazu habt, könnt Ihr davonlaufen. Ich rat' es Euch nicht, denn wir würden Euch bald wieder haben. Ich muß notwendig einen Bekannten besuchen. Ihr seid mir von meinem Freunde Madelin empfohlen worden, darum möcht' ich Euch nicht einfach ins Amtshaus mitnehmen und Euch dort einsperren. Laßt mich meinen Besuch machen, dann wird sich vielleicht einiges klären; ich komm' Euch wieder abholen und dann können wir weiter sehen...« Dabei dachte Studer: ›Das klingt ganz schön: weiter sehen... Aber was wird schon das Weitere sein?‹

Der alte Herr Rosenzweig, der die Photographien von Fingerabdrücken so eifrig sammelte wie ein Kunstliebhaber Negerplastiken, wohnte an der Bellevuestraße. Und Studer nahm den Bus.

Ein großer, knochiger Mann, der eine Brille mit Goldfassung auf der Nasenspitze trug, öffnete ihm die Tür. Glattrasiert, das Haar kurzgeschoren – und die Hände waren klein und gepolstert.

»Ah, der Studer!« Herrn Rosenzweigs Begrüßung war herzlich, und dann fragte er im selben Atemzug, ob die Polizei wieder einmal am Hag sei? Das komme so oft vor in der letzten Zeit, fast alle Tage erhalte er Besuch, ob es nicht einfacher wäre, wenn die löbliche Polizeidirektion selbst einmal eine Sammlung von Fingerabdrücken anlegen würde? Hä?...

»Die Kredite!« sagte Studer entschuldigend. Und: »Die Krise!«

Der alte Herr kolderte los: Ja, da habe man immer die Ausrede mit Krediten! Kredite! Krise!... Die Krise habe einen breiten Buckel! Was der Wachtmeister Schönes bringe?

Studer packte die Tasse aus, sehr sorgfältig, um nur ja ihre Außenwand nicht zu berühren. Der alte Herr griff selbst nach einer Streubüchse, die ständig auf seinem Schreibtisch stand, wie bei andern Leuten ein Anzünder oder ein Aschenbecher. Herr Rosenzweig rauchte nie.

Die Tasse war hell, sorgfältig wurde das Graphitpulver auf die Flächen verteilt, fortgeblasen: zwei deutliche Fingerabdrücke...

»Daumen und Zeigefinger«, sagte Herr Rosenzweig. Er nahm eine Lupe zur Hand, betrachtete lange die beiden Abdrücke, schüttelte den Kopf, blickte Studer an, fragte schließlich gereizt: »Woher habt Ihr das, Wachtmeister?«

Studer erzählte seine Geschichte. Der alte Herr stand auf, murmelte etwas von Narbe... Narbe... holte einen Briefordner von einem Wandgestell (Studer sah die Jahreszahl 1903), blätterte darin und hielt dem Wachtmeister ein Blatt unter die Nase. Dazu sagte er:

»Es ist natürlich Pfusch... Aber es könnte stimmen. Wollten wir anständig arbeiten, so müßten wir die Abdrücke auf der Tasse photographieren... Das können wir später tun. Aber ›à première vue‹, wie der welsche Nachbar sagt, auf den ersten Blick, scheint es sich um das gleiche Individuum zu handeln... Schauen Sie selbst, Wachtmeister...«

Studer verglich. Eine schwere Arbeit!... Viel leichter war es, an einem Schlüsselloch Fasern festzustellen. Aber der Daumenabdruck auf der Tasse hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Daumenabdruck auf der Photographie. Über der Photographie stand:

»Unbekannt.«

»Was war das für ein Fall?« fragte Studer.

Herr Rosenzweig lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück, nahm eine Pfefferminzpastille aus einer kleinen Bonbonnière, bot dem Wachtmeister an, der dankend ablehnte, und sagte dann:

»Neunzehnhundertdrei... Der Beginn der Daktyloskopie... Wachtmeister Studer, dies ist eine Rarität, die erste in der Schweiz verfertigte Photographie eines Fingerabdrucks... Sie werden sie nirgends finden – ich meine die Reproduktion dieses Daumenabdrucks. Locard hat einmal eine Stunde lang gebettelt – er ist direkt von Lyon gekommen, Reiß in Lausanne hat mir den Gottswille angehängt – ich habe nein gesagt. Ich bin standhaft geblieben... Warum? Wenn ich tot bin, wird meine Sammlung an den Kanton Bern übergehen – ich habe ihn als Erben eingesetzt, und dann wird der Vetter irgendeines Rates zum Hüter dieses Schatzes ernannt werden. Er wird sich nicht viel um die Sammlung kümmern, sondern statt dessen jassen gehen, und wenn einmal ein Besucher kommt, wird die Ausstellung geschlossen sein... Ja! Aber ich soll erzählen... Gut...«


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