Die Fieberkurve
Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Testament

Um zwei Uhr nachmittags betrat Studer das Bureau des Kommissärs an der Stadtpolizei. Er kannte sich dort aus, denn dies Bureau war während fünfzehn Jahren sein eigenes gewesen, bis ihn jene Bankgeschichte daraus vertrieben hatte. Aber Studer hatte es verstanden, sich die Freundschaft seines Nachfolgers zu erhalten.

Kommissär Werner Gisler bestand aus einem kahlen Kopf, der aussah, als werde er täglich mit Glaspapier geschmirgelt. Dieser Kopf saß auf einem gedrungenen Körper, der in Anzüge aus bäuerischem Stoff gekleidet war. Die Füße waren groß und steckten in Schnürschuhen, die Gisler sich nach Maß anfertigen ließ – denn er hatte Plattfüße... In Gesprächen liebte er es, die Empfindlichkeit seiner Füße zu erwähnen, ein unerschöpfliches Thema für ihn, denn diese Empfindlichkeit schien ihm ein Beweis seiner aristokratischen Abstammung zu sein. Nun, das war weiter nicht schlimm, manche haben es mit dem Magen, andere mit der Verdauung, die dritten mit der Blutzirkulation – der Stadtkommissär hatte es mit den Füßen...

Als Studer das Bureau betrat, war Gisler damit beschäftigt, seine Schuhe wieder zuzubinden. Es geschah unter Ächzen und Stöhnen, denn sein Spitzbäuchlein war ihm dabei im Wege. Nach der Begrüßung sagte er:

»Wenn Ihr wüßtet, Studer, wie diffizil das ist! Am Morgen zieht man die Schuhe an, man pressiert, man gibt nicht recht acht – und gleich hat man eine Falte in der Lederzunge. Man hat sie nicht recht gestreckt – und die Falte drückt einen, drückt einen den ganzen Tag! Immer denkt man an den Rumpf und hat dabei soviel Arbeit, daß man gar nicht dazu kommt, die Zunge zu glätten; man leidet, aber man geduldet sich, denn man denkt, einmal, im Lauf vom Tag, wird es schon eine Minute geben, um die Zunge glatt zu strecken... Man kann nicht intensiv an irgendeine Arbeit gehen, weil der Gedanke an den Falt in der Zunge immer wieder dazwischen kommt. Nun bin ich endlich einen Moment allein und da kommt Ihr! Da müßt Ihr Euch schon 's Momentli gedulden... Wißt Ihr, ich hab' so diffizile Füß!«

Studer drückte sein herzlichstes Beileid aus; er war es gewohnt, die Klagen seiner geplagten Mitmenschen, Kollegen, Freunde, Häftlinge, über sich ergehen zu lassen. Die Menschen mußten sich aussprechen, fand er, mußten über ihr Elend klagen dürfen, dann konnte man – wenn sie einmal mit den Klagen zu Rand gekommen waren – auch von ernsteren Dingen mit ihnen sprechen.

»Ich komm' da«, sagte er und nahm auf einem Stuhl Platz, »wegen der Geschichte in der Gerechtigkeitsgasse.«

»Gerechtigkeits... gasse...«, stöhnte Gisler und kämpfte mit dem Knoten seines Schuhbändels. Seine Glatze war purpurn und kleine Schweißtröpflein glitzerten auf ihr...

»Ja«, sagte Studer geduldig – man muß mit den Menschen Geduld haben, besonders wenn sie dick sind und einen Schuhbändel knüpfen müssen... »Gerechtigkeitsgasse 44. Hornuss Sophie... Leuchtgas... Ich bin selbst in der Wohnung gewesen und muß mich entschuldigen, daß ich auf eigene Faust eine Untersuchung geführt habe...«

»Pfuuuh... ähh... pfuh...«, machte der Kommissär, richtete sich endlich auf, betrachtete mißtrauisch seinen Schuh und ließ die Zehen darin spielen; endlich sagte er:

»Ich glaub', es wird gehen – wenn nur der Socken keine Rümpf übercho hätt!« Es schien nicht der Fall zu sein, denn Gisler stellte seinen Plattfuß auf den Boden, blickte aus hellblauen Äuglein gar unschuldig in die Welt: »G'wüß!« sagte er und nickte bedeutungsvoll. »G'rechtigkeitsgass' 44. Sophie Hornuss! Äbe... Äbe...« Und der Wachtmeister sei also in der Wohnung gewesen und habe gewissermaßen eine kleine Privatuntersuchung – hähähä – geführt... also geführt. Das solle ihm unbenommen bleiben. Ganz recht habe der Wachtmeister gehabt, und sehr kollegial sei es, daß er die Resultate seiner Untersuchung nun ihm, dem Kommissär Gisler, unterbreiten komme... Und wie seien diese Resultate?

»Daß es sich um einen Mord handelt...«

»Ja, ja«, seufzte Kommissär Gisler, »ein Mord! Der Reinhard hat etwas Ähnliches behauptet... Soso, und Ihr meinet, Studer, Ihr meinet auch, daß es... ääh... ein Mord ist?«

Ja, sagte Studer, er meine das auch. – Dann könne man vielleicht den Reinhard rufen lassen? Oder? – Doch doch, man könne den Reinhard rufen lassen und vielleicht auch den Murmann. Der sei doch bei der Entdeckung der Leiche dabei gewesen... – Ganz richtig, den Murmann!

Und Kommissär Gisler hob den Hörer ab, ließ dem Korporal Murmann und dem Gefreiten Reinhard bestellen, sie sollten sofort auf die Stadtpolizei kommen, hängte ab und trocknete sich die Schweißperlen von der Glatze.

Kriegsrat... Studer wurde merkwürdigerweise von niemandem ausgelacht. Wahrscheinlich war der kleine Reinhard daran schuld, der von Anbeginn zum Wachtmeister hielt. Murmann versuchte zwar zuerst, die Sache ins Lächerliche zu ziehen und meinte, der Köbu spinne wohl wieder, aber da fuhr ihm der kleine Reinhard elend übers Maul... Ihm sei es auch vorgekommen, sagte er, als ob beim Fall Hornuss nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Er habe die Auffälligkeiten übrigens in seinem Rapport vermerkt: das ausgebreitete Kartenspiel, den Klubsessel in der Küche, den schiefen Hebel am Gaszähler...

– Wie denn die Polizei benachrichtigt worden sei? wollte Studer wissen, und der Gefreite Reinhard, eifrig an seiner Parisienne saugend, erklärte, ein Arbeiter, der bei der Sophie Hornuss Aftermieter gewesen sei, eine möblierte Mansarde, habe den Gasgeruch gespürt im Vorbeigehen und der Polizei angeläutet. Darauf seien sie zu zweit in die Gerechtigkeitsgasse gegangen. Und Studer solle erzählen, was er Neues entdeckt habe. – Hier unterbrach Murmann, um mitzuteilen, wie aufgeregt der Wachtmeister gewesen sei, am Morgen, als er... Aber Murmann sprach dem vifen Reinhard viel zu langsam, der Gefreite fuhr seinem Korporal noch einmal übers Maul... Der Wachtmeister solle jetzt erzählen! – Und auch der Stadtkommissär war dieser Meinung... Er hatte eine Pfeife angezündet und hockte hinter seinem Schreibtisch. Von Zeit zu Zeit warf er besorgte Blicke auf seinen Schuh.

Und Studer erzählte; er sprach vom Geologen Cleman, der unter den Brüdern Mannesmann in Marokko gearbeitet hatte und seine Arbeitgeber dann verraten hatte, er sprach von der zweiten Frau, die in Basel einen ähnlichen Tod gefunden hatte, vom Somnifen auf dem Boden der Tasse im Schüttstein und von Herrn Rosenzweigs merkwürdigen Mutmaßungen über den Daumenabdruck... Er erzählte vom Zusammentreffen mit dem Pater Matthias, der in Wirklichkeit Koller hieß, auch die Geschichte vom Hellseherkorporal vergaß er nicht zu erwähnen, – nebenbei nur, um anzudeuten, daß der Fall seine Fäden zog bis in entfernte Länder, – kam noch einmal auf Basel zu sprechen und daß er dort geschwiegen habe; denn schließlich sei er ein Berner Fahnder und die Basler sollten merken...

»Daß sie blinde Hüng sind!« unterbrach der kleine Reinhard.

»Exakt!« bekräftigte der Kommissär und: »Sowieso!« brummte Murmann.

Man war einig: Dies war der »Große Fall«! Man war weiter einig: Der »Alte«, das war der kantonale Polizeidirektor, mußte aufgereiset werden! Das durften sich die Berner nicht entgehen lassen!... Hahaha... Das wäre gelacht!... Und überhaupt – die Basler!...

Kommissär Gisler ließ sich nicht mehr halten. Er telephonierte in die Beize nebenan und bestellte vier Flaschen Bier.

»G'sundheit, Studer!« – »Ja, der Köbu!«

Das war Balsam!

Neidlos wurde anerkannt, Studer sei der einzige, der diese Sache zu einem guten Ende führen könne... Wer hatte sonst Sprachkenntnisse, Beziehungen zu den französischen Behörden? Wer war mit einem Kommissär der Police Judiciaire befreundet?

Der Studer Köbu!

Also!... Was, meinte der mächtige Murmann, in Bern wurde ein seltsamer Mord begangen, und einen solchen sollte man den Baslern zuschanzen? Die einen Sanitätspolizisten geschickt hatten statt eines findigen Fahnders?

Aber wie den »Alten« überzeugen?

Denn – und dies war klar wie Gülle, meinte der kleine Reinhard, die Fäden reichten weit... Man würde sich in Basel erkundigen müssen, nach Paris telephonieren... Vielleicht, vielleicht würde es nötig sein, nach Géryville zu fahren, um die Rolle zu untersuchen, die ein gewisser Hellseherkorporal gespielt hatte... Nach Marokko gar?

Es könnte möglich sein, daß der Mönch, der Pater, der Weiße Priester – Stadtkommissär Gisler verhaspelte sich ein wenig – doch der Mörder war. Was dann? War er unschuldig und die Berner Polizei verhaftete ihn – nicht auszudenken war die Blamage, und vor der Wut des »Alten« hatten sie alle einen Heidenrespekt. Dann würden die lieben Eidgenossen in Luzern und Schwyz über die Berner herfallen, das »Vaterland« würde mit giftigster Feder schreiben!

Darum gab es nur eine Möglichkeit: Studer mußte den Fall übernehmen. Er hatte den Pater bei sich aufgenommen , ihn zurückgelassen unter der Obhut seiner Frau... Der Pater war die Hauptperson, er war, wie Gisler sagte – der Kommissär hatte das Gymnasium besucht –, der »nervus rerum«, der Nerv der Dinge.

Und schleunigst wurde der junge Polizist im Vorraum angewiesen, sich in Zivil zu kleiden und die Wohnung des Wachtmeisters an der Thunstraße zu bewachen...

Also: den »Alten« überzeugen. Aber wie?

Die Luft im Raume war blau und dick, aber keiner der vier Männer dachte daran, ein Fenster zu öffnen. Sie starrten vor sich hin und studierten, studierten, wie man dem Kollegen Studer Ellbogenfreiheit verschaffen könne...

Was man wußte, genügte – aber es genügte nur für die drei Männer, die Studer überzeugt hatte. Drei Männer, die nicht viel zu sagen hatten: ein Kommissär von der Stadtpolizei, ein Fahnderkorporal und ein Gefreiter... Keine Männer, deren Stimmen im Hohen Rat etwas galten – bescheidene Arbeiter, nichts weiter, klug waren sie, das wohl, vertraut auch mit ihrem Beruf... Sonst nichts.

Es war Herr Rosenzweig, der die Lösung brachte. Er betrat das Bureau und prallte zurück:

»Die Fenster auf, der Lenz ist da!« sang er und mußte husten. Aber da keiner der vier Männer sich roden wollte, so mußte er eigenhändig das tun, wozu er melodisch aufgefordert hatte. Und ein Schwall staubgesättigter Stadtluft reinigte die Atmosphäre.

Nach einer Minute aber schon verlangte Kommissär Gisler, dessen empfindliche Füße die Kälte nicht vertragen konnten, man möge den »status quo« wieder herstellen und der kleine Reinhard schloß die Flügel.

»Ich habe«, sagte Herr Rosenzweig in seinem Bundesschweizerdeutsch, »bei Ihnen angeläutet, Wachtmeister, aber da hieß es, Sie seien fort und wahrscheinlich auf der Stadtpolizei zu finden. Ich bringe Ihnen etwas Merkwürdiges, sehr – sehr – Merkwürdiges.«

Murmann grunzte und meinte, das werde sicher etwas Apartiges sein. Aber Herr Altfürsprech Rosenzweig ignorierte den Fahnderkorporal Murmann. Er zog aus seiner Tasche zwei Blätter und legte sie sanft auf Studers Schenkel.

»Was sagen Sie dazu?« fragte er, und da keine Sitzgelegenheit mehr frei war, lehnte er sich gegen die Wand. Studer nahm die beiden Blätter auf – ein dickes, ein dünnes – und betrachtete sie. Das dickere war die Fieberkurve. Das andere war voll beschrieben, unterzeichnet. An der Ecke oben klebte eine Stempelmarke. Und Wachtmeister Studer überflog das Dokument. Dann hielt er es näher an seine Augen, las es zum zweitenmal, aufmerksamer, und es dauerte eine Weile, bis er mit dem Lesen fertig war.

Im Bureau war die Luft klar und durchsichtig. Durch das Fenster hörte man das Hupen vorüberfahrender Automobile und dazwischen von Zeit zu Zeit das langsame Klappen von Pferdehufen auf dem Asphalt. Sonst herrschte Stille. Kommissär Gisler beschäftigte sich mit einem Aktenumschlag, der kleine Reinhard hatte wieder eine Parisienne angezündet und Murmann stopfte umständlich seine Pfeife.

Aber alle drei hoben die Köpfe, als von der Stelle, an der Studer saß, ein merkwürdiges Geräusch kam, auf das am besten das gut bernische Wort »Grochsen« paßte: ein Tongemisch von Seufzen, Räuspern und verschlucktem Fluchen.

– Was los sei, erkundigte sich Kommissär Gisler und blickte erstaunt auf den Wachtmeister.

An der Wand aber lehnte der alte Rosenzweig, er ließ seine Zähne schimmern, die an vielen Orten mit Goldplomben geschmückt waren. Und nachdem er eine Zeitlang sein Lächeln hatte erstrahlen lassen, setzte er mit Fragen an, akademischen Fragen allerdings, auf die er keine Antwort zu erwarten schien...

»Das haben Sie nicht vermutet, Wachtmeister, hä? Das nenn' ich eine Sensation, hä? Das übertrifft die Photographie meines ersten Fingerabdruckes, von dem es keine Doublette gibt, was?«

Er schwieg. Die Spannung der Polizeileute machte ihm Spaß. Als aber keiner der vier reden wollte – sie waren Berner und verstanden es, ihre Spannung unter gleichgültigen Mienen zu verbergen – plapperte er weiter.

»Sie wollen natürlich wissen, wie ich zu dem Dokument gekommen bin, Wachtmeister Studer. Ganz einfach. Sie haben mich gebeten, nachzusehen, ob ich auf dem Papier etwaige Fingerabdrücke feststellen könne. – Es gibt zwei Methoden: Joddämpfe oder ultraviolette Strahlen. Ich habe es mit meinem neuesten Apparat probiert – und was sah ich? Nicht nur zwei Fingerabdrücke – sie ähnelten übrigens wieder dem Fingerabdruck, mit dem ich meine Sammlung begonnen habe – nein, ich sah etwas anderes. Eine Schrift kam zum Vorschein! Eine Schrift!«

Herr Rosenzweig wartete und hoffte augenscheinlich auf eine Regung der Neugier, wenigstens bei einem seiner Zuhörer. Aber keiner tat einen Wank. Murmann balancierte auf einer Ecke des Schreibtisches, der kleine Reinhard betrachtete das glühende Ende seiner Zigarette, Studer zündete umständlich seine erloschene Brissago an und Kommissär Gisler machte eifrig Notizen auf den Rand eines Aktenstückes. In der Stimme des Fürsprechs schwang Enttäuschung mit, als er fortfuhr:

»Eine Schrift! Wo konnte sich die Schrift befinden? Auf der einen Seite des Schriftstückes befand sich eine Fieberkurve, die andere Seite war weiß. Ich prüfte den Rand mit der Hand... Zwei Dokumente waren zusammengeklebt worden. Wasserdampf. Trocknen. Und dann konnte ich das Testament lesen...«

Da kam Leben in die vier.

»Testament?« fragte Gisler. »Chabis!« sagte Murmann. »Das chönnt...«, meinte Reinhard, aber er beendete den Satz nicht.

Studer reichte das Schriftstück dem Kommissär Gisler. Ein Kopf links, ein Kopf rechts, im ganzen drei Köpfe beugten sich über das Schriftstück. Zum Überfluß las der Stadtkommissär noch halblaut.

Mein Testament.

»Ich Endesunterzeichneter, Cleman Alois Victor, Geologe, von Frutigen, Bern, bestimme folgendes: Mein Vermögen, bestehend aus einem Stück Land in der Größe von acht Hektar, rund um das im südlichen Marokko gelegene Dorf Gurama, vermache ich zur Hälfte meiner Tochter Marie Cleman, geboren am 12. Februar 1907 zu Basel, und zur anderen Hälfte dem Kanton Bern zur freien Verfügung. Bei Annahme des Vermächtnisses verpflichtet sich der Kanton Bern dafür zu sorgen, daß der Erlös, der aus den besagten Grundstücken erzielt werden könnte, zur Hälfte meiner obengenannten Tochter zur freien Verfügung überwiesen wird. Der Kauf besagter Grundstücke ist ordnungsgemäß sowohl nach französischem Recht als auch nach dem in Gurama geltenden mohammedanischen Recht getätigt worden. Ich habe auf den in den fraglichen Dokumenten näher angegebenen Grundstücken das Vorkommen von Erdöl festgestellt und wird selbiges Land nach etwa fünfzehn Jahren einen annähernden Wert von zwei bis drei Millionen Franken repräsentieren. Die Dokumente, die meine Rechte auf besagtes Landstück beweisen, sind in einer Eisenkassette vergraben worden an einem Orte, der mit Hilfe des beigehefteten Dokumentes leicht zu entdecken sein wird. Ich habe Auftrag gegeben, daß besagtes Dokument zusammen mit meinem Testament fünfzehn Jahre nach meinem Tode an meine Gemahlin, Frau Josepha Cleman-Hornuss, Basel, Rheinschanze 12, gesandt wird. Falls an diesem Zeitpunkt meine Frau gestorben sein sollte, so ist Vorsorge getroffen, daß meine Tochter in den Besitz des Dokumentes gelangt.

Fez, 18. Juli 1917.

sig. Alois VictorCleman.«

Stadtkommissär Gisler lehnte sich zurück und begann mit seinem Bleistift auf seinen Zähnen Xylophon zu spielen. Murmann richtete sich auf und verschränkte die Arme über der Brust, der kleine Reinhard fischte ein kanariengelbes Päckli aus seiner Hosentasche und klopfte gedankenvoll eine Zigarette auf seinem Daumennagel zurecht. Die Stille im Raum wurde durch Altfürsprech Rosenzweig unterbrochen, der trocken meinte:

»Ich weiß nicht, ob die Herren wissen...« – »Die Herren«, sagte er! –, »daß sowohl Shell als auch Standard-Oil um neue Ölfelder kämpfen wie im Mittelalter der Teufel und der liebe Gott um eine arme Seele... So daß allen menschlichen Berechnungen zufolge die von Herrn Cleman erworbenen Petroleumfelder wahrscheinlich das Drei- oder Vierfache wert sind... Nicht zwei Millionen – nein, sechs oder acht... Und zwar Schweizerfranken... Das brächte dem Kanton Bern drei bis vier Millionen ein... Und da der Kanton als Testamentsvollstrecker vorgesehen ist, so wird diese Summe noch erhöht durch die Provision, die der Kanton verlangen kann... Viereinhalb Millionen... Nicht übel? Was?«

»Und das Testament ist rechtsgültig?« fragte Kommissär Gisler.

»Nach französischem Recht so rechtsgültig als möglich. Es ist olograph. Von der Hand des Testators geschrieben, datiert, signiert. Und da es sich, vom Standpunkt des internationalen Rechtes, besonders um die Haltung Frankreichs handeln wird, so brauchen wir uns keinen Kummer zu machen. Ich glaube, der Kanton wird das Geld brauchen können.«

»Deich wou!« sagte Murmann trocken und zündete seine Pfeife an.

Der kleine Reinhard meinte, mit diesem Dokument werde man den »Alten« schon zur Vernunft bringen.

Studer schwieg. Er dachte verschwommen an viele Dinge. An Marie, die nun reich sein würde, an ein Sprichwort, das von einem Esel handelte, der aufs Eis tanzen ging, weil es ihm zu wohl war – und er verglich sich mit diesem Esel; er dachte weiter an die Bankgeschichte, die ihm den Kragen gekostet hatte: wie schön wäre das, wenn er nun seine Revanche nehmen und dem Staat Bern ein Vermögen zuschanzen könnte... Dann würden die bösen Mäuler plötzlich verstummen, und seine Ernennung zum Polizeileutnant wäre sicher. Aber bis dahin floß noch viel Wasser d'Aare-n-ab. Es war keine einfache Sache...

Ein hartes Pochen an der Tür schreckte ihn aus seinem Grübeln. Der Polizeirekrut meldete sich zurück. Er war in Studers Wohnung gewesen, so berichtete er, und Frau Studer habe ihm gesagt, Pater Matthias sei schon um halb drei Uhr fortgegangen. Sein Fieberanfall sei vorbei gewesen.

Dies alles rapportierte der Polizeirekrut mit geschlossenen Absätzen, in tadelloser Achtungstellung, und die Mittelfinger seiner beiden Hände hatte er an die blauen Passepoils seiner Uniformhose gepreßt.

»Abtreten!« sagte Kommissär Gisler bloß. Aber Studer stand auf. An der Türe sagte er:

»Gisler, du bringst die Sache mit dem ›Alten‹ ins reine. Ich möcht' morgen früh mit ihm sprechen. Sag ihm das. Ich hab' heut noch viel zu tun. Und dann Gisler, schau, daß mir der Polizeihauptmann sein Bureau und sein Telephon um sechs Uhr überläßt. Ich werd' eine Stunde zu telephonieren haben. Du stehst ja ganz gut mit ihm.«

Dann fiel die Tür zu. Der Stadtkommissär betrachtete nachdenklich seine empfindlichen Füße. Er studierte, studierte... Es war das erstemal, daß der Wachtmeister ihn duzte, und Gisler überlegte sich, ob er diese Familiarität als Schmeichelei oder als Beleidigung werten solle. Er entschloß sich zu ersterem: das Duzen war sicher ein Zeichen der Anerkennung für sein diplomatisches Geschick; daß aber der Held des »Großen Falles« so brüderlich zu ihm gesprochen hatte, erfüllte Gislers Herz mit Stolz und verdrängte auf fünf Minuten den anderen Stolz, den Stolz auf die aristokratische Empfindlichkeit seiner Füße...


 << zurück weiter >>