Die Fieberkurve
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Gangster in Bern und eine vernünftige Frau

Wachtmeister Studer schritt langsam die Thunstraße hinan. Er hatte den Kopf gesenkt und die Krempe seines breitrandigen Hutes versperrte ihm jegliche Aussicht.

Es kam ihm aber ein Betrunkener entgegen, der sang. Dies war auffallend in einer Stadt wie Bern, in der man auch mäßige Leute gern wegen Trunksucht administrativ versorgt. Der Mann sang also und Studer hob den Kopf; nun konnte der Wachtmeister feststellen, daß der Mann auch torkelte. Der Betrunkene war groß und stattlich, soweit in seinem Zustande von Stattlichkeit die Rede sein konnte. Plötzlich stand er – vor drei Sekunden war er noch zehn Meter entfernt gewesen – plötzlich stand er vor Studer, hielt ihm die Faust unter die Nase und sagte mit einer Stimme, die merkwürdig nüchtern klang – und er schwankte gar nicht mehr.

»Du verdammter Sauschroter, wart du nur!...«

Man kann es nicht anders als einen Reflex bezeichnen, die Bewegung nämlich, die Studer plötzlich machte. Ja, es war ein und dieselbe Bewegung, und sie bewies, daß Studer noch nicht reif für die Pensionierung war. Er schlug aus wie ein junges Füllen, nicht ganz, denn nur sein linker Fuß schnellte nach hinten, während zu gleicher Zeit seine Faust, die mäßig groß war, den Kieferknochen des Betrunkenen gerade unter dem linken Ohr traf. Der Betrunkene sackte ohne einen Laut zusammen, aber in seinem Rücken hörte Studer einen spitzen Schrei. Er wandte sich um. Auf dem Boden krümmte sich ein kleiner Mann, er hielt die Fäuste auf den Bauch gepreßt, und neben seiner rechten Hand lag ein Totschläger... Studer nickte. Gar nicht dumm ausgedacht. Der stattliche Betrunkene sollte die Aufmerksamkeit ablenken, mit Geschimpf und wüsten Reden, um dem Kumpan Zeit zu lassen, mit dem Totschläger zu operieren. Die beiden hatten nicht daran gedacht, daß ein Fahnder, wenn er tüchtig ist, ein Auge am Hinterkopf hat...

»Gangster in Bern!« Es war ein ehrlicher Kummer in Studers Stimme. »Was glaubst du denn, Blaser? Du bist doch erst im Dezember aus dem großen Moos entlassen worden?« Damit meinte er die Strafanstalt Witzwil. Er kannte den Kleinen. Gewohnheitsdieb.

»Was soll das heißen, Blaser? Bin ich nicht anständig mit dir gewesen, das letztemal? Hab' ich dir nicht einen Becher gezahlt? Hä? Was sind das für Manieren? Und dein Freund da!« Er beugte sich nieder zum stattlichen Betrunkenen. »Der Schlotterbeck! Jetzt aber hört doch alles auf!«

Schlotterbeck: chronischer Alkoholiker, St.Johansen, Witzwil. Das letztemal zwei Jahre Thorberg wegen schwerer Körperverletzung... Wer hatte die Leute aufgereiset?

»Also«, sagte Studer, nachdem der Alkoholiker Schlotterbeck sich mühsam auf sein Hinterteil gesetzt hatte. Er glotzte den Wachtmeister verständnislos an. »Warum habt ihr mich überfallen wollen?« Und er packte den kleinen Blaser mit einer Hand am Nacken, zog ihn in die Höhe und stellte ihn unsanft auf die Beine. »Red du!«

Eine sonderbare Geschichte erzählten die beiden im Duett. Blasers heisere Stimme ergänzte die Erzählung des Alkoholikers Schlotterbeck, der im tiefen Brustton der gekränkten Unschuld sprach...

Ein Mann sei heute mittag in den Witzwiler Wartsaal gekommen, so nannte sich eine Schnapsbeize in der inneren Stadt, der habe sich zu den beiden gesetzt und eine Runde spendiert. Dann habe er sich erkundigt, ob sie Kurasch hätten. Das hätten sie bejaht. Der Mann habe darauf gesagt, der Wachtmeister Studer trage in der Busentasche ein wertvolles Papier. Ob sie es holen wollten? Er zahle jedem fünfhundert. Hundert als Anzahlung...

»Wir haben Euch abgepaßt, Wachtmeister... Aber Ihr habt nie das Tram genommen... Und da haben wir's hier probiert...«

»Wann habt ihr den Mann getroffen?«

»Um halb eins.«

»Hat er einen blauen Regenmantel getragen?«

Eifriges Nicken des erstaunten Blaser.

»Wohin hättet ihr das Papier bringen sollen?«

»Er hat uns eine Adresse gegeben...« Blaser suchte im Hosensack, brachte ein zerknülltes Papier zum Vorschein und reichte es dem Wachtmeister hin. Studer entzifferte:

»30-7 Poste restante. Port-Vendres.«

Port-Vendres? Wo lag Port-Vendres? Port hieß Hafen. Aber Häfen gab es viele, am Mittelmeer sowohl als auch am Atlantischen...

Die beiden Attentäter standen ängstlich vor dem Wachtmeister. Er sah sie an. Sie trugen keine Mäntel und ihre Hände waren blau vor Kälte. Am liebsten hätte sie Studer zu einem heißen Grog eingeladen. Denn er war nicht nachtragend. Aber das ging nicht an. Was würde das Hedy sagen?

So bat er die beiden nur, sich zum Teufel zu scheren.

Und weiterstapfend schmunzelte er. Zwei Dinge freuten ihn an dieser Begegnung: erstens bewies der Überfall, daß die Fiebertabelle wirklich einen Wert hatte. Und zweitens waren in dem verkachelten Fall endlich einmal zwei waschechte Berner aufgetaucht. Daß es Vorbestrafte waren und daß sie ihn hatten niederschlagen wollen, tat der Freude keinen Abbruch.

»Und, Hedy, wie hat dir der Pater gefallen?« fragte Studer seine Frau. Er saß neben dem grünen Kachelofen in einem bequemen Lehnstuhl, trug einen grauen Pyjama, und seine Füße steckten in Filzpantoffeln.

»Ein lieber Mann«, sagte Frau Studer, die an einem Paar winziger weißer Hosen strickte. »Aber mich dünkt, er hat vor irgend etwas Angst. Ich hab' ihn die ganze Zeit beobachtet. Er hätt' dir gern etwas erzählt, aber die Kurasch hat ihm gefehlt.«

»Ja«, sagte Studer und zündete die vierzehnte Brissago des Tages an. Er war hellwach und hatte beschlossen, die Nacht aufzubleiben. Nicht daß er gehofft hätte, aus dem ganzen Fall klug zu werden, dazu fehlten ihm die Schlüsselworte. Aber erstens wollte er auf das Telegramm von Madelin warten, und zweitens gedachte er mit seiner Frau über den Fall zu sprechen – richtiger: einen Monolog zu halten.

»Hast du ihn noch gesehen?« fragte Studer.

»Nein.«

»Warum nicht? Ist er dich nicht besuchen kommen?«

»Er hat den Genfer Zug genommen, um halb vier...« Studer blickte seine Frau nicht an. Auf seinen Knien lag die Fieberkurve und der Wachtmeister murmelte:

»Am 15.Juli morgens 36,5, abends 38,25; am 16.Juli morgens 38,75, abends 37... Wir hätten also zu Anfang die Zahlen 3653825387537... Hat die Drei etwas zu bedeuten?«

»Wa machschst, Köbu?« fragte Frau Studer.

»Nüt«, brummte Studer. Und fuhr fort: »Man könnt's in Brüchen schreiben: 36½, 38¼, 38¾... Himmel...«

»Fluech nid, Köbu«, sagte Frau Studer sanft.

Aber Studer war wild. Er werde wohl noch daheim fluchen dürfen, wenn es ihm darum sei; das lasse er sich von niemandem verbieten...

– Das Jakobli sei bsunderbar e g'schyts Büebli, lenkte die Frau ab; es werde dem Ätti gleichen.

Studer blickte auf, denn das Hedy hatte es faustdick hinter den Ohren... Wollte es sich über ihn lustig machen? Aber Frau Studer saß am Tisch, die Lampe schüttete viel Glanz über ihre Haare... Jung sah sie aus.

»Los einisch, Frou«, sagte Studer und räusperte sich. Ob er schon von der Marie Cleman erzählt habe?

Frau Studer beugte sich tiefer über ihre Arbeit; ihr Mann sollte das Lächeln nicht sehen, das sie nicht unterdrücken konnte. Dreimal hatte der Jakob diese Frage schon gestellt, dreimal in einer Stunde. Diese Marie Cleman schien den Mann arg zu beschäftigen. Der Jakob! Da war voriges Jahr auch so ein Fall gewesen, in dem ein Meitschi eine Rolle gespielt hatte, ein Meitschi, das mit einem entlassenen Sträfling verlobt gewesen war. Und der Jakob hatte natürlich eine Brustfellentzündung erwischt, weil er in strömendem Regen mit dem Meitschi Töff gefahren war. Ganz zu schweigen von dem Autounfall, der den Fall abgeschlossen hatte. Und warum hatte der Jakob sein Leben, seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt? Um die Unschuld des entlassenen Sträflings zu beweisen. So war der Jakob, dagegen war nichts zu machen. Und die Bankaffäre? Und der Fall im Irrenhaus? Hatten dort nicht auch Weiber den Ausschlag gegeben? Manchmal schien es Frau Hedwig Studer, als lebe in dem massigen Körper ihres Mannes die Seele eines mittelalterlichen Ritters, der gegen Drachen, Tod und Teufel kämpfte, um die Unschuld zu verteidigen. Ohne Dank zu begehren. Und da war nun diese Marie Cleman...

»Nei, Vatti«, sagte Frau Studer sanft. Was denn mit der Marie los sei?

– Man solle ihn nicht Vatti nennen, brauste Studer auf. Er war überreizt. Ein langer Tag lag hinter ihm, viel war an diesem Tag geschehen, es war begreiflich, daß ihm die Geduld riß – und Frau Studer verstand dies auch.

»Nämlich die Marie...«, sagte Studer und tippte mit dem Strohhalm, der seiner Brissago entragte, auf das Temperaturblatt, »paßt nicht in den Fall. Sie ist damals mit dem ehemaligen Sekretär ihres Vaters nach Paris geflohen – begryfscht, Hedy? – weil die Mutter eine Kartenschlägerin war. Und dann hat der Koller Konkurs gemacht. Koller! Alle heißen Koller in dieser Geschichte...« Er schwieg, kreuzte die Beine, die Fieberkurve flatterte zu Boden und blieb neben Frau Studers Stuhl liegen. 's Hedy hob das Blatt auf.

Studer erzählte. Und während der Erzählung schien es ihm, als käme Ordnung in das Chaos. Die verschiedenen Koller nahmen Gestalt an: Pater Matthias und jener andere, der Philosophiestudent, der sich mit Ulrike Neumann im Hotel zum Wilden Mann getroffen hatte, damals, im Jahre 1903... Und der dritte Koller, Jakob mit Vornamen, der mit dem Geologen nach Marokko gefahren war – als Sekretär... Sehr verständlich war, daß der zweite Koller, mit Vornamen Alois Victor, seinen Namen geändert hatte. Er hatte sich vor einer Entdeckung gefürchtet; war sein Gewissen nicht belastet mit dem Tod der Ulrike Neumann?

Studers Gehirn arbeitete mühelos. Pater Matthias hatte zugegeben, daß der Geologe sein Bruder gewesen war – sein Stiefbruder hatte er gesagt; Stief- oder nicht, Pater Matthias hatte die Verwandtschaft zugegeben.

Blieb die Frage offen: War der Hellseherkorporal identisch mit dem Geologen? Es sprach allerlei gegen eine solche Auffassung des Falles. Welchen Grund hätte der Geologe gehabt, zum zweitenmal seinen Namen zu wechseln und die Persönlichkeit des Sanitäters Collani anzunehmen? Und warum hatte der Schweizer Geologe mit dem gekräuselten Bart fünfzehn Jahre gewartet, um seiner Frau in Basel Nachricht zu geben?

Nahm man hingegen an, Pater Matthias sei der verstorbene Geologe Cleman, alias Koller Victor Alois, und Gast des Hotels zum Wilden Mann, dann kam Vernunft in das Ganze: Ein junger Philosophiestudent tötet seine Geliebte. Um den Nachstellungen durch die Polizei zu entgehen, ändert er seinen Namen, seine Nationalität, und unter dem fremden Namen Cleman erwirbt er von neuem das schweizerische Bürgerrecht. Unter dem neuen Namen, dem Namen Cleman, heiratet er: zuerst die Sophie in Bern. Aber der Tod der Ulrike Neumann bedrückt ihn. Er spricht mit seiner Frau darüber... Die Sophie ist nicht dumm – nun, da sie etwas weiß, benutzt sie dieses Wissen, um ihren Mann auszubeuten.

»Kannst du dir das vorstellen, Hedy?« fragte Studer, als er seine Mutmaßungen soweit ausgesponnen hatte. »Diese Ehe? Die Frau weiß, daß ihr Gatte ein Mörder ist. Sie verlangt Geld, denn der Koller-Cleman verdient gut. Sie hat ein eigenes Bankkonto. Und die Nächte? Kannst du dir die Nächte der beiden vorstellen? Du hast die Wohnung in der Gerechtigkeitsgasse nicht gesehen: das alte Haus, in dessen Mauern der Schimmel hockt. Und der Schimmel vergiftet die Seelen der beiden. Kein Wort darf der Alois Victor sagen, denn sobald er den Mund auftut, heißt es gleich: ›Schweig, du Mörder!‹ – Wie lange kann ein Mann eine solche Ehe aushalten? Ein Jahr? Zwei Jahre? In diese Ehe fallen die Reisen nach Marokko, der Kontrakt mit den Brüdern Mannesmann. Nur die Reisen sind daran schuld, daß die Ehe nicht früher geschieden worden ist. Du hättest die beiden Schwestern sehen sollen – ihre Bilder mein' ich. In der Wohnung an der Gerechtigkeitsgasse hat mir der Mönch heute früh die Jugendbilder der beiden Frauen gezeigt. Die Sophie – du kennst doch diese Art Weiber: hochgeschlossene Bluse, ein Stehkragen mit Stäbli, der das spitze Kinn trägt. Und die Augen! Mi hätt's tschudderet, und ich bin doch nicht apartig sensibel, wie die Welschen sagen.«

Studer schwieg. Seine Frau saß still am Tisch, ein Blatt lag vor ihr – die Fieberkurve. Frau Studer hatte schon lange aufgehört zu stricken. Sie nickte nur hin und wieder zu der Erzählung ihres Mannes.

Eine Turmuhr schlug – vier hellere Schläge, dann einen dumpfen. Ein Uhr. Andere Kirchen fielen ein, dazwischen klimperte das nahe Schulhaus eilig und oberflächlich – wie ein Schüler, der ein Versli herunterplappert. Und all die Töne prallten gegen die Fensterscheiben und waren ganz nah, bevor sie irgendwo, fern im dunklen Himmel, verhallten. Dann war die Stille im Zimmer noch tiefer.

»Scheidung...«, sagte Studer leise. »Der Mann hält die Ehe nicht mehr aus. Er sieht neben seiner Frau die Schwester Josepha. Gell, das kommt vor, Hedy? Daß nämlich zwei Schwestern so grundverschieden sind? Es ist doch manchmal so, daß die eine alle Güte für sich genommen hat und die andere alle Bosheit. Die Josepha war gut. Der Koller-Cleman heiratet die Josepha. Er ist glücklich. Die andere läßt es geschehen. Hat sie sich nicht bezahlen lassen?... Und dann kommt der Krieg. Der Geologe hat seine Tochter lieb – aber er muß Geld verdienen. Wahrscheinlich muß er immer noch für das Schweigen der Sophie zahlen, er kann der Josepha, der zweiten Frau, und seiner kleinen Tochter nicht das sorglose Leben bereiten, das er gern möchte. Da bietet sich eine Gelegenheit, auf eigene Faust zu schaffen. Die Gebrüder Mannesmann haben Verrat getrieben – Koller-Cleman denunziert sie. Nun darf er auf eigene Rechnung arbeiten. Und er tut dies auch. Er stellt das Vorkommen von Petroleum fest. Er hört von einem riesigen Projekt: eine große Linie soll von Oran durch die Wüste bis zu den französischen Kolonien in Äquatorialafrika führen. Für diese Linie wird man Brennstoff brauchen. Er kauft Land... All sein Erspartes steckt er in diese Spekulation. Und dann wird er krank, kommt ins Spital nach Fez...«

Ein Streichholz flammte auf – Studer zündete die erloschene Brissago wieder an.

»Zwei Möglichkeiten«, sagte er. »Während der Blattern-Epidemie in Fez gelingt es dem Koller-Cleman, sich die Papiere des Sanitäters Collani zu verschaffen. Dann ist Collani tot und der Geologe hat in der Fremdenlegion Dienst genommen. Oder: Der Geologe hat im Fleberdelirium dem Sanitäter Collani seine Geschichte erzählt und ihm die Fieberkurve übergeben, die Fieberkurve, die den Platz der vergrabenen Kassette angeben soll. In diesem Fall gibt es wieder zwei Möglichkeiten: Collani ist der Testamentsvollstrecker des Geologen Koller-Cleman, des Mörders und Besitzers von Petroleumquellen, oder Koller-Cleman lebt noch und dann ist er...«

»Der Mönch!«

»Der Mönch, der Pater. Ganz richtig, Frau.«

Frau Studer stand auf, ging zu ihrem Nähtischli am Fenster, warf dort den Inhalt durcheinander und kam zum Tisch zurück. In der Hand hielt sie einen Bogen Papier und einen Bleistift. Sie legte beides nieder, schritt zum Büchergestell in einer Ecke des Zimmers und holte sich dort ein paar Illustrierte. Dann setzte sie sich wieder.

Studer fuhr fort.

»Collani ist wirklich Collani, das heißt ein ehemaliger Sanitäter. Das wäre die erste Möglichkeit. Ihm ist aufgetragen worden, fünfzehn Jahre zu warten. Warum fünfzehn Jahre?

Weil nach fünfzehn Jahren Verjährung eintritt. Cleman-Koller hat ganz sicher gehen wollen. Der Mord an der Ulrike Neumann – wenn es wirklich ein Mord war, wir sind nur auf Vermutungen angewiesen – ist 1903 passiert. Vielleicht meint er, nach dreißig Jahren könne man ihm gar nichts mehr anhaben. Denn, wohlgemerkt, er ist ein Geologe und kein Jurist. Wenn er für tot gilt, kann er versichert sein, daß sein Vermögen endlich seiner Tochter zugute kommt. Denn seine Tochter hat er lieb gehabt. Und nach dreißig Jahren kann die Sophie, die von seinem Morde weiß und von seiner Vergangenheit, nichts mehr tun. Nehmen wir diese Möglichkeit an – immer vorausgesetzt, daß der Mönch mir keine Märli erzählt hat –, dann ist Koller-Cleman tot. Aber der Tote hat einen Mitwisser hinterlassen, den andern Koller, der den gleichen Rufnamen hat wie ich, den Jakob Koller, seinen Sekretär. Der weiß etwas von dem Schatz, von den Landkäufen. Dieser Koller verschwindet im September aus Paris, und ein paar Tage später taucht ein Fremder in Géryville auf, einem verlassenen algerischen Dörflein. Warum ist der Fremde dorthin gefahren? – Um den Collani zu sprechen. Und Collani, der Hellseherkorporal, verschwindet. Die beiden machen sich auf die Suche nach der Fieberkurve. Collani hat sie nach Basel geschickt. Also fahren sie nach Basel. Und eine alte Frau stirbt. Aber sie finden die Fieberkurve nicht. Die Fieberkurve wird von einem Fahnderwachtmeister gefunden, der in dem Rufe steht, zu spinnen. Was tun die beiden? Sie mieten einen Buick und fahren nach Bern. Vielleicht hat die Josepha die Fieberkurve ihrer Schwester geschickt? Auch das ist bekannt: wenn von zwei Schwestern die eine böse ist, die andere gutmütig, so wird die Gutmütige immer von der Bösen tyrannisiert werden. In Bern geschieht das gleiche wie in Basel...

Aber es sind ein paar Dinge, die ich mir noch nicht erklären kann: Warum sind die beiden Morde, wenn es sich um solche handelt, so kompliziert ausgeführt worden? Warum find' ich jedesmal ein ausgelegtes Kartenspiel mit dem Schaufelbauer in der Ecke oben links? Warum wäscht der Pater die Tasse mit dem Somnifen-Satz aus? Und vor allem: Wieso kommt der erste Daumenabdruck der Sammlung Rosenzweig auf die Tasse? Ein Daumenabdruck mit einer Narbe? Und der Daumen des Paters ist glatt?

Du wirst mir einwenden, Fraueli«, dabei dachte Frau Studer keinen Augenblick daran, irgend etwas einzuwenden, »du wirst mir einwenden, daß zu der Zeit, da der Altfürsprech Rosenzweig auf einem Glas in Freiburg einen Daumenabdruck photographiert hat, es mit der Technik der Daktyloskopie nicht weit her war... Ja. Aber eine Narbe bleibt eine Narbe. Und der Daumen des Mönchs hatte gar keine Ähnlichkeit mit der Aufnahme des Rosenzweig und auch keine mit dem Abdruck auf der Tasse. .

Also?... Man müßte an Ort und Stelle nachforschen. Bis jetzt hab' ich nur Geschichten gehört, Märli; der Mönch kann zuverlässig sein – aber wer garantiert mir, daß der Mönch nicht doch der Cleman-Koller ist? Dich stört der Daumenabdruck, Hedy.« Frau Studer schüttelte den Kopf. Sie malte Buchstaben auf das weiße Papier und diktierte sich selbst:

»E, M, O, Q, H, Z, T...«

»Wa machscht, Hedy?« fragte Studer. Die Frau winkte ungeduldig ab. Da stand der Wachtmeister auf und trat an den Tisch. Er beugte sich über die Schulter seiner Frau. Sie hatte den weißen Bogen auf den Tisch gelegt und mit vier Gufen die Fieberkurve darauf festgeheftet, so zwar, daß das Blatt mit der Schmalseite nach unten lag und die Striche, welche die Temperaturunterschiede darstellten, senkrecht verliefen. Dann hatte sie jeden dieser Temperaturstriche über die Fieberkurve hinaus mit einem Lineal verlängert und das Ende jedes verlängerten Striches mit einem Buchstaben versehen. So stand am Ende des Striches, der die Temperatur 35,5 angab, der Buchstabe A; das B war der Zwischenraum zwischen 35,5 und 36, während 36 selber C bedeutete. Nun begann sie, die auf der Fieberkurve angegebenen Morgen- und Abendtemperaturen des Cleman, Alois Victor, in Buchstaben zu übersetzen. Am 12. Juli war die Morgentemperatur 36,5 gewesen – Frau Studer schrieb E; abends war 38,2 5 vermerkt – Frau Studer schrieb M. Am 13. Juli 38,75; Frau Studer schrieb O. Und endlich entstand folgende Reihe.

E M O Q H Z I T F I Z O Z H H M Q M I Q V R X S V O Z N N U V P H V N I M G

Studer starrte auf die Buchstabenreihe. Etwas an ihr kam ihm bekannt vor. Sein Ellbogen lag auf der Schulter seiner Frau.

»Jakob!« stöhnte Frau Studer. Er tue sie ja plattdrücken!

Aber Studer war stumm gegen solche Klage. Das... das war... das war die primitivste Geheimschrift, die es gab!... Das umgekehrte Alphabet.

»Steh auf!« kommandierte er. Lächelnd machte Frau Studer Platz.

Und unter die großen, ein wenig unbehilflichen Buchstaben seiner Frau schrieb Studer in seiner winzigen Schrift, die viel Ähnlichkeit mit dem Griechischen hatte:

V O M K S A R G U R A M A S S O K O R K E I C H E M A N N F E L S E N R O T

Und wiederholte leise:

»Vom Ksar Gurama SSO Korkeiche Mann Felsen rot...«

Schweigen. Frau Studer hatte den Unterarm auf ihres Mannes Achsel gelegt, sie las die Worte vom Papier ab und fragte:

»sso? Was heißt das?«

»Südsüdost. Die Himmelsrichtung. Und Ksar? Das wird wohl der Name für ein Dorf sein. Äbe: Das arabische Wort für Dorf.«

–Ja ja, der Köbu syg ganz en G'schyter.

Studer blickte auf. War das wieder einmal Hohn? Aber diesmal war man gegen den Hohn gewappnet. Man erwiderte dem Hedy, die G'schytheit vo der Frou habe auf den Mann abgefärbt. Und durfte es erleben, daß das Hedy rot wurde.

Dann nahm Wachtmeister Studer wieder auf dem Stuhle Platz, der neben dem grünen Ofen stand, dem Sternsdonner, der nie ziehen wollte; er hielt die Fieberkurve und ihre Übersetzung in der Hand und konnte sich nicht satt sehen an dem Dokument. Aber egoistisch, wie Männer sind, vergaß er sogleich den Anteil, den seine Frau an der Entzifferung des Kryptogramms genommen hatte.

»Hab' ich dir schon von der Marie Cleman erzählt?« fragte Studer. Da lachte die Frau, daß ihr die Tränen in die Augen traten; sie konnte sich nicht beruhigen, auch nicht, als der Wachtmeister ärgerlich fragte:

»Was häscht?«

»Nüt... nüt!« Frau Studer schluchzte fast. »Gib mir eine Zigarette!« sagte sie, als sie wieder zu Atem kam. Und wie die Marie Cleman zog das Hedy den Rauch tief in die Lungen.

»Du gleichst ihr«, sagte Studer.

»So, so...« Und ob der Wachtmeister in das Meitschi verschossen sei, wollte Frau Studer wissen.

Verschossen? Chabis! Studer war rot geworden. Nein, er war nicht verliebt. Er mochte die Marie Cleman gern, gewiß, aber wie eine Tochter, und er machte sich Sorgen um ihr Wohlergehen. Warum hatte sie ihm heut abend angeläutet? Vom Bahnhof Basel? War sie am Verreisen?

In Studers Wohnung war das Telephon im Schlafzimmer angebracht. Das war eine Notwendigkeit, die der Beruf erforderte. Wie oft hatte die Klingel mitten in der Nacht geschellt! Dann hatte man aufstehen und stundenlang in der Kälte ein Haus bewachen müssen... Studer ging in das Schlafzimmer. Er suchte im Telephonbuch nach der Nummer der Cleman-Hornuss, Josepha, Witwe... Da... Es stimmte: Spalenberg 12.

Es ging gute fünf Minuten, bis er die Verbindung hatte. Und dann hörte er das eintönige Summen, das wie ein leiser Ruf tönte, aufstieg, verhallte, wieder begann. Und Studer glaubte die leere Wohnung zu sehen, die winzige Küche, die nur ein Durchgangskorridor war, und die vergilbten Emailbehälter auf der schiefen Etagère: »Mehl«, »Salz«, »Kaffee«...

Ganz langsam legte er den Hörer ab, zog das Schnupftuch unter seinem Kissen hervor und schneuzte sich; es dröhnte durch die Wohnung. Und dann läutete die Klingel im Flur...

Telegramm:

»Sûretè Paris Inspektor Studer Thunstraße Bern stop Collani Giovanni engagiert 20 Casablanca stop Ausbildung Bel-Abbès stop Spitaldienst Saida 21 bis 23 stop 24 Korporal 25 Sergeant stop kassiert 28 wegen unerlaubtem Fernbleiben von 5 Tagen stop 28 Korporal stop 29 Fourier Géryville stop meldet sich August 32 freiwillig nach Gurama-Marokko zu berittener Compagnie desertiert 28 September 32 stop Fehlen jeglicher Spur.

Madelin.«

»Fehlen jeglicher Spur«, wiederholte Studer und blickte seine Frau an. »Und der Pater hat behauptet, er habe den Collani hier in Bern gesehen, zusammen mit der Marie Cleman, in einem Auto, das die Nummer trug BS 3437– Und das Auto war ein Buick, gehörend der Agence Américaine in Basel, allwo es ein Mann gemietet hatte...«

Frau Studer hielt sich die Ohren zu.

»Hör auf!« rief sie. »Du machst einen ganz sturm!«

Aber unerbittlich fuhr Studer fort, als sage er Auswendiggelerntes auf:

»Ein Mann gemietet hatte, von gelber Gesichtsfarbe, ein Wollschal bedeckte den unteren Teil des Gesichtes. Das Auto wartete vor dem Haus Gerechtigkeitsgasse 44 – Aussage Rüfenacht Ernscht – und bei dem Auto hielt ein Mann Wache, der groß war... Nun hat mir Madelin heut am Telephon mitgeteilt, der verschwundene Börsenmakler Koller Jakob, der Mann, der die Marie nach Paris mitgenommen hat, sei 1,89 hoch. 1,89 – das ist hochgewachsen, nid, Hedy?«

»Wowoll!«

»Vielleicht...« sagte Studer und kratzte sich an der Stirne. »Vielleicht war es der Koller Jakob, der mich in Basel am Telephon ausgelacht hat... Aber welche Rolle spielt das Meitschi? Denn weischt, Hedy, die Marie, die paßt eigentlich gar nicht in den ganzen Fall! Ich glaub' halt immer, sie ist mit dem Koller verheiratet... Oder vielleicht ist der Koller ein entfernter Verwandter? Sie hat mit ihm zusammen in der gleichen Wohnung in Paris gelebt... Was ist dabei?... Die Marie nämlich isch es suubers Meitschi, du kannst sagen, was du willst... Es suubers Meitschi!« bekräftigte Studer.

Er schwieg. Frau Studer saß wieder an ihrem Platz unter der Lampe, sie hielt den Kopf gesenkt. So konnte der Wachtmeister das kleine Lächeln nicht sehen, das in ihren Mundwinkeln aufblühte.

»Wenn das Meitschi mit dem Koller zusammengelebt hat, mit dem Koller Jakob, mein' ich, so hat die Marie einen stichhaltigen Grund gehabt. Denn wenn sie auch raucht, die Marie, so will das gar nichts sagen! Du rauchst auch manchmal, Hedy!...« endete er und es klang wie ein Angriff: er senkte die Stimme nicht, sondern hielt sie in der Schwebe, so, als erwarte er einen Widerspruch.

Aber es kam kein Widerspruch, nur eine sanfte Antwort. Frau Studer erkundigte sich, ob der Wachtmeister etwa traurig sei, daß er seinen Schatz am Telephon nicht erwischt habe?

»Chabis!« sagte Studer. Doch konnte er es nicht verhindern, daß ihm das Blut in die Wangen stieg. Er stand da, die großen Hände in den winzigen Taschen seines Pyjamakittels, schaukelte sich auf den Fußballen, und die Brissago stach kriegerisch zur Decke. »Ich als Großvater!«

Ein merkwürdiges Geräusch kam vom Tisch her. Und Studer sah mit Erstaunen, daß die Schultern seiner Frau zitterten. Da wurde er ängstlich. Ging die Sache dem Hedy so zu Herzen? Weinte sie etwa, weil sie fühlte, daß der Mann weit fortgehen wollte, weit, sehr weit fort, um sich Gefahren auszusetzten, die... Studer trat an den Tisch, seine Hand legte sich auf die bebenden Schultern. Und tröstend meinte er, es sei da keine Ursache, traurig zu sein. Millionen! sagte er. Millionen stünden auf dem Spiel. Und Marie dürfe man nicht allein lassen.

Da hob Frau Studer den Kopf und ärgerlich stellte der Wachtmeister fest, daß das Hedy schon wieder lachte. So hemmungslos lachte sie, daß sie nur mühsam die Worte formen konnte, die den Wachtmeister wie Ohrfeigen trafen.

»O Köbu!« rief sie und fand kaum den Atem wieder. »Du bi scht ja so dumm!«

Sie wickelte die weiße Babyhose in Seidenpapier. Und immer noch zuckten ihre Schultern, während sie sachlich erklärte:

»Also, du willst den Collani suchen und feststellen, ob der Hellseherkorporal der Geologe Cleman-Koller ist... Nid?... Du hoffst, bei der gleichen Gelegenheit die Marie wiederzufinden – aber erst, nachdem du die Millionen entdeckt hast? Du weißt ja jetzt, wo sie liegen. SSO Gurama Korkeiche, Mann, Felsen rot. Und ich will dir noch etwas verraten. Zwei Kilometer von Gurama entfernt, in südsüdöstlicher Richtung, liegt der Schatz... Item. Und du hast deswegen Audienz beim Alten verlangt. Gell? Soll ich deinen Koffer packen? Wenn du am Nachmittag fährst, kannst du noch heimkommen zum Mittagessen. Ich mach' dir Bratwurst mit Härdöpfelsalat und es Zybelisüppli. Das hescht du ja gärn...«

Studer brummte. Natürlich war er zufrieden mit diesem Menü. Aber es wurmte ihn, daß seine Frau ihn nicht ernst nahm. Darum hüllte er sich in Schweigen und verzog sich ins Schlafzimmer.

»Guet Nacht, Vatti«, rief ihm Frau Studer nach.

Auch noch Vatti!

Die Filzpantoffeln flogen in zwei verschiedene Ecken. Und dann löschte Studer das Licht. Mochte die Frau sehen, wie sie in der Dunkelheit z'Schlag kam...


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