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Totenklage

Jetzt sind fünf Minuten vergangen, und niemand ist gekommen. Den Schuss hat also im Hause keiner gehört. So kann ich noch eine halbe Stunde bei dir sitzen und mit dir sprechen. Du hörst mich nicht mehr, und das ist gut so. Komm, ich will dir die blaue Pyjamajacke noch über der Brust schliessen, damit ich das kleine dunkle Loch nicht mehr sehen muss. Es hat fast gar nicht geblutet. Und der Browning, der aussieht wie ein Spielzeug, will ich dir in der Hand lassen. Wie hast du das zuwege gebracht, ihn mir noch aus der Hand zu nehmen? Ja, du warst immer geschickt.

Morgen werden sie dich finden, und ich werde schon weit weg sein. Niemand hat mich kommen sehen, ich habe gut achtgegeben, und es wird mich auch niemand aus dem Haus gehen sehen. Morgen ... morgen werde ich heiraten. Er ist ein guter Kerl und hat mich lieb. Ich werde ein Heim haben und Kinder und die sechs Jahre vergessen, die ich mit dir verloren habe. Weisst du, sechs Jahre sind eine lange Zeit für eine Frau. Schau, ich bin jetzt schon neunundzwanzig, und wie habe ich mich mit dir herumgequält! Du bist wahrhaftig nicht jemand, mit dem man Staat machen kann, du bist kein Mann, auf den eine Frau stolz sein kann. Du brauchst gar nicht so niederträchtig zu lächeln. Hast du eigentlich meine Briefe verbrannt? Bei deiner bekannten Unordnung ...

Ja, so anständig bist du gewesen ... Aber was ist das? Hast du das heut' abend geschrieben? Hast du denn gewusst? ... »Ich habe es satt. Ich mache Schluss. Da ich nichts besitze, ist auch ein Testament unnötig.« Und deine Unterschrift. Kurz und bündig, nicht sehr geschmackvoll. Warum nicht einige traurige Worte? Es hätte sich so schön in der Zeitung gemacht. So wird es nur zu lesen sein, ganz klein, unter »Unglücksfälle und Verbrechen«: »Gestern erschoss sich in seiner Wohnung ein gewisser N.N. Not wird wohl die Triebfeder dieser traurigen Tat gewesen sein.« Punkt. Schluss.

Und unter »Gesellschaftliches« wird es heissen »Die bekannte Geigenkünstlerin X.Y. hat sich heute mit Herrn Direktor Soundso vermählt. Die Trauung fand statt und so weiter, und so weiter«. Ja, so wird es sein, denn heutzutage muss ja alles in der Zeitung stehen. Und niemand wird wissen, dass wir sechs Jahre zusammen waren. Denn dich kennt niemand, und ich war immer so vorsichtig ... Die Einzimmerwohnung hier hab' ich dir doch gemietet, du hast doch von meinem Geld gelebt, sechs Jahre lang. Nicht ganz. Im Anfang hast du ja auch etwas verdient und hast mir geholfen, als es mir schlecht ging. Aber nachher ... Um gerecht zu sein, muss ich ja sagen, dass ich dir immer freiwillig geholfen habe, du hast mich nie angebettelt. Aber faul warst du! Mein Gott! Immer hast du schlafen wollen, und wenn du schlafen wolltest, durfte ich nicht einmal üben. Wozu taugen solche Menschen wie du? Warum gibt es die auf der Welt? Verkommene, nutzlose Existenzen, da haben die rechtschaffenen Leute ganz recht, die Leute, die du immer Spiessbürger nanntest. Was hast du schon geleistet? Ein paar Gedichte, die schlecht sind, ein paar Kritiken, die unreif waren, unreif wie du ... Es ist dir ganz recht geschehen ... und glaub nur nicht, dass ich dir nachtrauern werde, du ... du ... Schmarotzer ...

Die Männer, die richtigen Männer, die mitten im Leben stehen, die haben die Achseln über dich gezuckt. Und du bist ihnen aus dem Weg gegangen. Natürlich, du hast Furcht vor ihnen gehabt. Feig warst du. Nur mit Tieren, mit Kindern und alten Frauen, da fühltest du dich wohl. Weisst du noch, damals vor sechs Jahren? Ich hatte einen Hund. Der war sehr treu, er lief mir überall nach – aber kaum warst du im Haus, so wollte er nur bei dir sein. Hast du ihn verhext? Mit deinen Händen? Du hast so merkwürdige Hände, immer heiss und trocken. Ich habe deine Hände sehr lieb gehabt. Jetzt sind sie kalt, jetzt werden sie niemanden mehr streicheln, nie mehr den Hals eines Pferdes tätscheln – weisst du noch, das Pferd von unserem Milchfuhrmann, es kannte dich, es drehte immer den Kopf, wenn du vorbeigingst ... Und dann nahmst du die Hände aus den Taschen, zogst es an der Mähne und sprachst zu ihm, viel besser als zu einem Menschen. Mit Menschen hast du nie gut reden können – ausser mit mir. Und eigentlich hast du manchmal ganz klug geredet. Du hast sogar etwas verstanden von Musik, ja, ich muss es zugeben, das Violinkonzert von Mozart, ich hätte es nie so gespielt, wenn du es mir nicht erklärt hättest; du hast mir damals den Schlüssel gegeben: »Ein Totentanz«, hast du gesagt, »du musst es wie einen fröhlichen Totentanz spielen. Der Tod ist fröhlich, weisst du das nicht?« Ich hab' mir dann Mühe gegeben, und dann haben die Kritiker etwas von ganz persönlicher Interpretation geschrieben. Diese Schafsköpfe.

Ja, so hab' ich die Kritiker damals genannt. Und was hast du geantwortet? Du hast gesagt: »Ach, es sind auch nur arme Hunde. Warum sich über die Leute ärgern?« Für dich waren alle Leute arme Hunde. Ein bequemes Mittel, sich erhaben zu fühlen. Denn auf was hättest du dir etwas einbilden können? Auf nichts. Eine Null warst du ... Eine Null? ...

Doch nicht so ganz. Du hast allerlei gewusst. Weisst du noch, im Anfang hab' ich dich immer das wandelnde Konversationslexikon genannt. Die Bücher haben dich verdorben. Was hast du vom Leben gekannt? Du bist doch jedem Kampf aus dem Weg gegangen. Jedem Streit. Wir haben uns – ja wirklich –, wir haben uns nie gestritten. Bis heute abend, und da hast du den Streit vom Zaun gebrochen, du bist gemein geworden, bis ich die kleine Pistole genommen habe – sie ist losgegangen, und dann bist du aufs Bett gefallen. Und wie ich mich über dich gebeugt hab', hast du mir die Waffe ganz sanft aus der Hand genommen, hast gelächelt – und das Lächeln ist auf deinem Gesicht geblieben. War das alles vorbereitet? War das dein Hochzeitsgeschenk? Dein Tod? Damit ich Ruhe habe? Antworte doch! Schweig nicht so verstockt. Ich will dir die Augen zudrücken ...

Du hast brave Füsse gehabt. Ich habe immer gesagt, dass deine Füsse so brav aussehen. Richtige Kinderfüsse, im Ausdruck meine ich. Denn auch nackte Füsse können einen Ausdruck haben. Und einen lieben Rücken hast du gehabt. Ich hab' ihn gern gestreichelt. Es war warm bei dir, und ich habe immer so viel gefroren. Du warst ein guter Ofen ... Nun muss ich fast lachen, und eigentlich ist es doch traurig, dass du da so starr liegst, und deine Füsse sind streng und gerade aufgerichtet, gar nicht mehr wie früher ... Wach doch auf. Wir wollen ... ja, was wollen wir? Von neuem anfangen? Sechs Jahre sind eine lange Zeit im Leben einer Frau ... Und ich will Kinder haben, ich will einen Mann haben, ein Heim ... Kannst du mir das geben? Nein. Ich soll immer nur helfen. Und wenn du dann Geld hast, gehst du dich betrinken. Nein, wir wollen Schluss machen, ich hab' genug Geduld gehabt mit dir. Verstehst du? ... Ach, es hat ja keinen Sinn mehr.

Geduld? Hab' ich wirklich soviel Geduld mit dir gehabt? War ich nicht auch manchmal unausstehlich? Du hast mir nie etwas davon gesagt, du warst überhaupt meistens still. Zu still. Du hättest mehr reden sollen, mehr unter die Menschen sollen. Du hattest gute Anlagen. Aber immer hast du behauptet, das interessiere dich nicht. Was hat dich eigentlich interessiert?

Doch, das glaub' ich dir schon, dass du mich lieb gehabt hast. Du hast mir soviel komische Namen gegeben. Ich erinnere mich nicht an alle. Tiernamen waren es meistens. Nun, das ist eine alltägliche Sache, dass Verliebte sich »Täubchen« oder so ähnlich nennen. Warum hast du mich »Wolkenreh« getauft? Das hat doch keinen Sinn. Es klang schön, wenn du es sagtest, aber es war doch eine Kinderei. Wir waren immer kindisch zusammen. Haben wir manchmal auch ernst gesprochen? Ich glaube. Aber das hab' ich vergessen. Das Wolkenreh ... Seh' ich wirklich aus wie ein Reh? Ich bin doch eine robuste Frau, die weiss, was sie will, ich will hinauf kommen, nicht ewig unten vegetieren. Und darum heirate ich auch den Herrn Direktor, einen Mann, hörst du? Klärli nennt mich der Herr Direktor, und er wird mich immer Klärli nennen, später vielleicht »Mama« oder »Mutter«, wenn wir Kinder haben. Aber es wird ihm niemals einfallen, mich Wolkenreh zu nennen ...

Er wird freundlich zu mir sein, der Herr Direktor, gelassen leidenschaftlich, ein Mann im besten Alter, aber ich werde mich hüten müssen, vor ihm zu weinen ... Er hat mir schon mitgeteilt, dass er hysterische Weiber hasst. Ich werde mir das hinter die Ohren schreiben. Vor dir hab' ich weinen dürfen, dann hast du mir die Haare gestreichelt und womöglich Morgenstern zitiert:

»Ich bin so dumm, du bist so dumm
Wir wollen sterben gehen, kumm ...«

Du bist sterben gegangen. Und auch das Wolkenreh ist nun tot. Weisst du, wenn ich recht zufrieden war und wir nebeneinander gelegen sind (und draussen hat's geregnet, auf das Glasdach von unserem kleinen Atelier hat der Regen getrommelt), dann hab' ich gesungen, ganz leise, für dich. »Ja, kann das Wolkenreh denn auch singen?« hast du gefragt. Und dann hab' ich weiter gesungen. So wie ein kleines Kind, wenn es ganz zufrieden ist. Es war eine merkwürdige Zeit. Erinnerst du dich, dass unsere Schrift fast gleich geworden war? Es hatte keiner die des andern nachgemacht. Die beiden Schriften waren aufeinander zugekommen, wie wir selbst, damals. Und auch getanzt haben wir zusammen, ganz allein, im Atelier, die Gasflamme hat gebrannt. Dort steht ja auch mein altes Grammo. Hast du die Hawaiian-Platten immer noch so gern? Ich fand sie schrecklich süss, aber du mochtest sie, und es liess sich gut dazu tanzen. Du hast nie gewollt, dass ich die Küche mache. Immer hast du selber gekocht und abgewaschen. »Du ruinierst dir nur die Finger«, hast du gesagt. Du hast gut gekocht. Risotto besonders. Weisst du noch? Und den Boden hast du auch gefegt. Du warst eigentlich ein guter Kerl ... Du liegst so still. Nur deine Haare sind verstrubbelt, wie immer. Komm, ich will sie dir kämmen. Damit du nicht so unordentlich aussiehst, wenn sie dich morgen finden. Was werden sie mit dir machen? Sezieren werden sie dich und dann eingraben. Es wird wohl niemand zu deinem Begräbnis kommen. Und deine braven Füsse ...

Wir wollen an anderes denken. Weisst du noch, der Sommer am See? Siehst du, damals hast du mich angelogen. Du hast gesagt, du könnest glänzend schwimmen, und dann hast du nicht einmal Wasser treten können. So einer warst du. Und ich bin doch so gern geschwommen, das Wasser war lau, du bist am Ufer gehockt und hast ein Feuer angezündet, um die Mücken zu vertreiben. Und hast mit unserem Hund gespielt. Und ich war eifersüchtig auf den Hund und hab' ihn weggeschenkt ... Du bist am Ufer gesessen und hast gehustet, wenn der Rauch dir in die Nase gefahren ist. Aber dazu hast du doch ununterbrochen Zigaretten geraucht. Und immer diese starken französischen. Beinahe hättest du mich angesteckt mit diesem Laster. Weisst du noch, eine Zeitlang habe ich viel geraucht, du hast es mir beigebracht. Und dann hab' ich es mir abgewöhnt.

Damals, das letzte Jahr am Konservatorium. Ich hatte kein Geld. Da bist du hingegangen und hast auf einem Bau geschafft, als Handlanger. Wir waren sehr sparsam. Und dann hab' ich die Erbschaft gemacht. Ich muss sagen, du hast mir eigentlich immer geholfen, wenn es nötig war. Und schliesslich, ist Geld denn eine so wichtige Sache? Ich weiss, es ist dir damals nicht leicht geworden, wieder so einfache Handarbeit zu verrichten, aber du hast es doch getan, eigentlich für mich.

Komisch siehst du aus, wie du da liegst, mit deinem eingefrorenen Lächeln. Du hast auch im Schlaf manchmal so gelächelt. Ja. Dann hab' ich mich immer geärgert. Denn ich hab' gedacht, du lachst mich aus. Du warst doch ein komischer Kerl. Weisst du noch, damals, als ich den Rappel hatte und mich in diesen Idioten, diesen Arzt, verliebt hatte und es dir erzählte? Da hast du auch gelächelt. Und das hat mich so wütend gemacht, dass ich hingegangen bin und dich mit ihm betrogen habe. Und habe dir auch das erzählt. Du hast nicht einmal geweint damals, aber ich hab' geheult, weil ich immer denken musste, dass ich etwas Schönes zerstört hatte. Denn der Mensch, der Arzt, war ja ganz unmöglich, ungeschickt, eingebildet. Ich hab' ihn nicht mehr sehen können, nachher. Du hast mich dann trösten müssen, und weisst du, was du gesagt hast? »Das scheint mein Schicksal zu sein«, hast du gesagt, »zuerst probieren die Frauen mich zu betrügen, wie man so sagt, und dann muss ich auch noch trösten.« Und dann hast du gesagt, dass gar nichts kaputt sei, im Gegenteil, wir würden jetzt noch näher beieinander sein. Und das war richtig. Dann kam diese schöne, reife Zeit; wie lang hat sie gedauert? Ein Jahr? Ich hatte Erfolg. Du hast nie in ein Konzert kommen wollen. Aber daheim hast du mich immer korrigiert. Und du verstandest, weiss Gott, etwas von der Sache. Solche Menschen wie du, was tun die eigentlich auf dieser Welt? Schau, du musst mir verzeihen. Ich hab' so viel Bürgerliches noch in mir. Ich hätte dich gern geheiratet. Aber du hast nie gewollt. Es war dir zu kompliziert. Zu bürgerlich.

Ja, das Jahr. Es war schon merkwürdig. Wir hatten nicht nur fast die gleiche Schrift, wir sprachen die gleiche Sprache. Eine stumme Sprache. Komisch, wir verstanden uns, nur mit den Augen. Weisst du noch, wie uns einmal der Impresario besucht hat, damals in Paris, ich sollte irgendwo auftreten, und er die Flucht ergriff, weil es ihm unheimlich wurde? Wir sprachen beide nichts, und er hatte wohl den Eindruck, dass er Gespenstern gegenüber sässe. Und es war doch nur ein Wolkenreh und ein Brüderlein.

Ich habe dich damals immer Brüderlein genannt. Wohl wegen dem Lied:

Brüderlein fein, musst nicht böse sein ...

Sag mir doch, du hast doch alles erklären können, warum werd' ich so sentimental? Sind Erinnerungen denn immer sentimental? Oder verwechsle ich da wieder etwas? Ich bin doch nicht gefühlvoll, oder »voll Gefühl«, wie du immer sagtest. Ich seh' nur Bilder, und auf all diesen Bildern bewegst du dich, Brüderlein. Ich darf ja heute abend noch weinen, das letzte Mal, bei dir. Und morgen werd' ich eine grosse Dame, werde repräsentieren, am Arme meines Gemahls (du hättest gegrinst, wenn du das Wort gehört hättest, er wird nie lachen, wenn er sagen wird: Meine Gemahlin, siehst du, es kommt doch nur auf den Standpunkt an ...), wenn ich am Arme meines Gemahls die Gratulationen entgegennehmen werde.

Brüderlein, er hat kein Grammophon, der Herr Direktor, er hat nur ein Radio. Wenn sie nur keine Hawaiian-Platten übertragen, sonst garantiere ich für nichts ... Ich werde sagen, ich hab' den Schnupfen ... Wenn ich nämlich heulen muss. Und Morgenstern werd' ich nie mehr lesen.

Du hast's hinter dir, kleiner Junge, mein kleiner Junge. Weisst du, ich hab' dich oft so genannt, wenn du Angst gehabt hast. Du hast so oft Angst gehabt. Musst' ich dich da nicht schützen? Wie eine Mutter ihr Kind? Vielleicht werd' ich jetzt wirkliche kleine Kinder haben, nagelneue Kinder, wie du immer gesagt hast. Und hast immer so Angst gehabt, dass ich von dir ein Kind kriege. Dummer kleiner Junge.

Jetzt ist die halbe Stunde vorbei. Ich hab' gar nicht geweint. Du liegst so still. Du hast dich gedrückt. Auf eine originelle Manier, muss ich sagen. Indem du mich zur Mörderin gemacht hast. Mörderin? Ich hab' gar kein Schuldgefühl. Was wäre aus dir geworden ohne mich? Denn das hast du ja wohl begriffen, dass ich dir nicht mehr ausgeholfen hätte, als Frau Direktor. Und du hättest mich nicht erpresst. Dazu warst du doch zu anständig. Was wäre aus dir geworden? Sie hätten dich irgendwo versorgt. Jetzt hast du's besser.

Hör, Brüderlein, du musst wirklich nicht mehr böse sein. Du hast nur zweimal vor mir geweint, das erstemal, weisst du noch? weil du glücklich warst. Und dann vor einer Woche, als ich dir sagte, ich würde heiraten. Du hast nicht schön ausgesehen, wie du geweint hast. Wie ein kleiner Junge. Aber ich hab' dich nicht trösten können. Begreif doch, dass ich hab' hart bleiben müssen. Ich musste heraus aus dem Schmutz, du hättest mich immer tiefer gezogen, in deine Faulheit, deine Bequemlichkeit, deine Gleichgültigkeit. Ich will leben, verstehst du?

Nein, du bist nicht böse, du lächelst ja. Du verstehst eben alles. Bist ein guter Kerl. Verzeih, dass ich dich Schmarotzer genannt habe. Das bist du ja eigentlich nicht. Und Seelenkrüppel hab' ich dich auch einmal genannt. Verzeih auch das böse Wort. Du warst es doch gar nicht. Du warst ein guter Kerl, ich hab' viel von dir gelernt. Bist du zufrieden? Was ich gelernt hab'? Vielleicht, mich selbst nicht mehr so wichtig zu nehmen. Meine Geige ... Nun ja, die Frau Direktor wird manchmal, wenn sie Gäste hat, eins aufspielen. Und man wird diskret klatschen, flüstern: »Schad um das blendende Talent ...« Brüderlein, gelt, du verzeihst mir?

Ich hör' dich sagen: »Wolkenreh, es war ein Dienst auf Gegenseitigkeit. Du hast mir die Mühe genommen, mich umzubringen, ich hab' dir einen Ballast abgenommen. Wir sehen uns wieder, Wolkenreh. Glaub mir's.«

Du warst nie gläubig. Aber du hast doch manchmal von einer andern Welt gesprochen. Es wird anders dort sein, Brüderlein, als hier, hoffen wir es, weniger gemein ... Nun werd' ich dir niemals mehr in die Ohren blasen, und du wurdest immer so böse, wenn ich's tat. Lebwohl, das Wolkenreh geht.

Lebwohl, Brüderlein, mein kleiner Junge, mein Kind ...


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