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Verhör

Sie sind ein mächtiger Mann, Herr Untersuchungsrichter. Eine Handbewegung von Ihnen, und alle Quälgeister sind verschwunden... Sie können sich ja gar nicht denken, was ich die letzten Stunden zu leiden gehabt habe. Zu sechst waren sie hinter mir her und haben mich gequält, mit Fragen gequält, die ärger waren als eine mittelalterliche Tortur mit Ausrenken und Wassertrichter. Und Durst haben sie mich leiden lassen... ganz ausgetrocknet ist mein Mund. Aber Sie brauchen nur zu erscheinen, Herr Untersuchungsrichter, und die Quälgeister sind verschwunden, wie gesagt, ein Wink Ihrer Hand genügt.

Nein, Sie müssen mich nicht für schwatzhaft halten. Es ist nur die Reaktion. Bedenken Sie doch nur einmal, wie Ihnen zumute wäre, wenn Sie vor einem Revolutionstribunal erscheinen müssten, und Ihre Inquisitoren wären die Einbrecher, Landstreicher, Saufbrüder, die Sie in Ihrem langen Leben in Behandlung gehabt haben. Glauben Sie, dass diese Leute glimpflich mit Ihnen umgehen würden? Ich glaube es nicht. Und Ihre Kommissare, Inspektoren, Geheimpolizisten (ich kenne mich wirklich nicht aus in den Rangstufen dieser Leute), nun, für mich sind diese Leute: Masse, Plebs..., Canaille, wie man früher sagte. Für diese Leute ist es eine Wonne, Menschen zu quälen, die keine fertiggenähten Krawatten tragen, Halbschuhe nach Mass anhaben und gutgebügelte Hosen. Hab' ich nicht recht...

Sie schweigen, Herr Untersuchungsrichter. Wie wohltuend ist Ihr Schweigen, nach dem Lärm, den Ihre Untergebenen vollführt haben. Zu dritt waren sie manchmal über mich gebeugt und spuckten mir ihre Fragen ins Gesicht. Zuerst habe ich versucht, Antwort zu geben, aber dann hab' ich's sein lassen. Wozu auch? Sie hörten doch nicht zu, diese Proletarier der Justiz.

Mein Mund ist ganz ausgetrocknet, und es macht mir Mühe zu sprechen; ich habe seit gestern abend nichts gegessen, nichts getrunken. Wären Sie so liebenswürdig, mir vielleicht ein Glas Wasser zu reichen?

Sehr freundlich von Ihnen, mir Wein zu bestellen und etwas zu essen. Sie werden sehen, sobald ich restauriert bin, werde ich Ihnen meinen Fall so klar darstellen können, dass es Ihnen unmöglich sein wird, mich nicht gehen zu lassen...

Ich bin Grossindustrieller, Herr Untersuchungsrichter, und ein witziger Journalist; in der kleinen Industriestadt, in der ich lebe, hat man mir einmal den Titel eines »okkulten Bürgermeisters« gegeben. Der Titel ist mir geblieben. Denn ich beschäftige mich prinzipiell nicht mit Politik, gehöre auch keiner Partei an; so kann es denn kommen, dass mein Wort gewichtig wird und den Ausschlag gibt, wenn zwei Parteien bei den Wahlen fast gleich stark sind. Ich erzähle Ihnen dies nur zur Orientierung, damit Sie sich ein Bild machen können von mir, von meiner Persönlichkeit. Und glauben Sie nicht etwa, ich wolle renommieren; aber wenn ich bedenke, was für einen Eindruck ich Ihnen machen muss mit meinem zerschlissenen Kragen, meinen zerdrückten Kleidern, so fühle ich irgendwie die Verpflichtung, mich Ihnen als der darzustellen, der ich wirklich bin.

Und mich, einen unbescholtenen Mann, der stets seine Steuern gezahlt hat (gewiss, es gibt Geschäftsnotwendigkeiten, die eine prompte Erfüllung dieser Angelegenheit nicht immer gestatten), mich, einen Wirtschaftsführer, wagt dieser glatzköpfige Kommissar, oder was er sonst ist, einen »Mörder« zu nennen. Nicht nur einmal, nein, unzählige Male hat er mir das Wort ins Gesicht geschrien, in die Ohren geflüstert. Ich ein Mörder! Ich bitte Sie, Herr Untersuchungsrichter, sehe ich aus...

Ah, da kommt der bestellte Wein. Und Sandwichs gibt es auch! Aber ich hoffe sehr, Herr Untersuchungsrichter, Sie werden mithalten. Ich bin überzeugt, Sie haben noch nicht gefrühstückt. Und dass man Sie so früh aus dem Bett geholt hat... Ich weiss, ich weiss... Pflichtbewusstsein... Ich kenne das. Wenn ich bedenke, wieviel schlaflose Nächte ich zugebracht habe, um einer Verbesserung meines Betriebes, um einer Erleichterung der Arbeit nachzustudieren... Ja, die Pflicht... Natürlich, der Kaffee ist für Sie bestimmt, Sie werden ihn brauchen, darf ich Sie bitten, mir einen kleinen Schluck zurückzulassen, ich habe nämlich Angst, dass der Wein mich sonst ganz schläfrig macht.

Darf ich Sie vielleicht noch um mein Zigarettenetui bitten, es liegt dort neben Ihnen, Ihre Trabanten haben es mir abgenommen, als ob es eine gefährliche Waffe enthielte. Haha... Was soll auch in einem Zigarettenetui anders sein als Rauchware, oder? Haben Ihre Leute vielleicht geglaubt, ich hätte Dynamit darin?

Sie haben ganz recht, Herr Untersuchungsrichter, wir wollen ernsthaft bleiben. Genug gelacht. Ich bin Ihnen noch die Geschichte meines Abenteuers schuldig. Erlauben Sie nur noch eins, wie ist Ihr werter Name? Vielleicht ist meine Frage nicht passend, die Verbrecher, die Sie sonst auszufragen pflegen, kennen Sie wahrscheinlich schon, vielleicht sind Sie in Ihrem Fach eine Berühmtheit, aber Sie müssen bedenken, ich bin in Justizsachen, besonders in Strafsachen (das Zivilprozessrecht beherrsche ich gut), ein ziemlicher Laie. Nur aus dem, was man so auf der Bahn liest, aus Kriminalromanen, Detektivgeschichten, habe ich meine kriminologische Weisheit geschöpft. Sie sehen also, es ist nicht weit her mit ihr... Also, wie bitte?... Schaffroth? Ein sonderbarer Name, erweckt die Assoziation an Schafott, finden Sie nicht auch?

Nun meine Geschichte: Ich wollte also mit dem Nachtschnellzug nach Italien. Im Flugzeug werde ich krank, das Auto konnte ich in dieser Jahreszeit nicht gebrauchen, die Strassen sind schlecht, und die Pässe sind eingeschneit. Also nahm ich lieber ein Billett zweiter Klasse. Ich bin anspruchslos. Sonst fahre ich immer dritter: Denn ich bin im Grunde meines Wesens Demokrat, wissen Sie. Nur für eine Nachtfahrt musste ich wohl zweite Klasse nehmen, sonst kommt man müde an.

Gewiss, ich hätte Schlafwagen nehmen sollen... Aber was wollen Sie, in dieser Krisenzeit, man muss sparen... Ja, das Geschäft in Italien war wichtig, es erforderte meine Anwesenheit, sonst hätte ich sicher einen Vertreter hingeschickt. Meine Frau hatte mich bis an den Bahnhof begleitet, wir haben in der Stadt noch zu Nacht gegessen.

Ja, meine Frau ist bedeutend jünger als ich. Sie sehen ja selbst, meine Schläfen sind grau, ich werde wohl etwa im gleichen Alter sein wie Sie, Herr... äh... wie war doch Ihr Name?... etwas mit Schafott... nein, nicht Schafott... nun, es fällt mir nicht ein, ist ja auch gleichgültig, also, wie Sie, Herr Untersuchungsrichter... Richtig, Herr Schaffroth...

Eine Liebesheirat. Meine Frau ist neunundzwanzig Jahre alt, aber sie sieht aus wie neunzehnjährig, ein junges Mädchen. Natürlich, sie schminkt sich, und das wird wohl auch etwas ausmachen. Wir führen die harmonischste Ehe, die Sie sich denken können, nie haben wir Streit. Und ein fünfjähriges Kind haben wir auch, einen Knaben, Lovis heisst er. Der Name hat mir gefallen. Vielleicht wird er einmal ein Künstler... obwohl die Kunst heutzutage... Was wollen Sie, ich lese gern, habe auch eine schöne Sammlung, Stiche nur, ein paar Whistler Probedrucke, ich sage Ihnen, Perlen!

Was Sie nicht sagen? Sie sammeln auch? Dann müssen Sie mir die Freude machen, mich einmal besuchen zu kommen, Sie können gut über Nacht bleiben, ich lasse Sie mit dem Wagen abholen. Keinen Protest, Herr Untersuchungsrichter, ich muss mich doch für Ihre Freundlichkeit erkenntlich zeigen; und meine Frau wird sich so freuen! Sie ist sehr gastfreundlich, wie ich auch, und welch grössere Freude haben wir denn auf der Welt, als gute Freunde bei uns zu sehen?

Meine Frau begleitete mich also auf den Bahnhof. Es regnete. Wissen Sie, so dieser richtige Novemberregen, der auch noch jetzt gegen die Scheiben klatscht. Ich finde ein leeres Coupé, suche nach dem Zugführer, drücke ihm einen Fünfliber in die Hand und verspreche ihm noch einmal so viel, wenn ich bis zum Morgen allein bleibe. Ich habe das Glück gehabt, auf einen anständigen Kerl zu fallen, der das Leben versteht, er hat das Geld verschwinden lassen, wie ein Zauberkünstler, und dann hat er salutiert, als ob ich wenigstens Chef im Generalstab wäre. Meine Frau war mit eingestiegen, wir bummeln den Gang entlang. Da fällt mir ein Herr auf, auch er sitzt in einem leeren Coupé, vom Gesicht war nichts zu sehen, das war hinter einer Zeitung verborgen. Ich sage noch zu meiner Frau: »Irene«, sage ich, »der Mann kommt mir so merkwürdig vor, ganz als ob er sich vor der Polizei verstecken wolle.« Vielleicht wollte er wirklich über die Grenze, Sie haben wohl seine Identität noch nicht festgestellt?... Vorläufig noch nicht? Nun, ich warte vertrauensvoll auf Ihre Feststellungen. Auf alle Fälle, ich habe ihn nicht gekannt, auch später nicht, als ich seine Leiche sah.

Warum ich das betone? Aber ich bitte Sie, Herr Untersuchungsrichter, ich betone gar nichts. Ihr Ohr ist durch Misstrauen geschärft. Wenn man angeklagt wird, benützt man doch jede Gelegenheit zur Verteidigung. Nicht wahr? Meine Frau steigt aus, wir nehmen zärtlich Abschied voneinander; es kommt ja selten vor, dass ich allein verreise, gewöhnlich nehme ich sie mit. Aber nun hatte unser Lovis gerade eine Mandelentzündung, und meine Frau war ängstlich, wie eben Frauen immer ängstlich sind, und wollte das Kind nicht alleine lassen. Ja, wir Ehemänner, wir müssen immer vor den Kindern zurücktreten, der mütterliche Instinkt... Aber ich schweife ab.

Der Zug fährt schon an, ich stehe am Fenster und winke meiner Frau, da wird hinter mir die Türe aufgerissen, und eine alte Frau stürzt herein. Man sah sofort, dass sie nicht in die zweite Klasse passte; und denken Sie, bevor sie eintritt, zieht sie hinter ihrem Rock zwei Buben hervor, der eine zwei-, der andere dreijährig, schätze ich. Hinter diesem Kleeblatt wird der Kondukteur sichtbar, will die Frau aus dem Coupé zerren, ich lasse es nicht zu, winke ab. Denn ich denke, die alte Dame (und wenn ich Dame sage, so ist das ein Euphemismus, es war eine bessere Arbeitersfrau, eine Poliersgattin vielleicht, die wahrscheinlich mit ihren Enkeln nach Italien fahren wollte) hat sich das Geld für die Reise zweiter Klasse mühsam zusammengekratzt. Ich winke also in meiner Gutmütigkeit dem Kondukteur ab und denke sogleich an den Herrn, den ich hinter seiner Zeitung versteckt erblickt habe. Wir zwei Männer, denke ich, werden wohl miteinander auskommen. Ich packe also meinen Koffer und verziehe mich. Denn mit Kindern eine Nachtfahrt durchzumachen, das wird mir wohl niemand zumuten wollen.

Ich begebe mich also zu dem Zeitungsherrn. Wenn ich jetzt daran denke, ich wollte, ich hätte die Nachtfahrt mit den Kindern auf mich genommen. Dann sässe ich nicht hier. Aber ich bin sicher, dies wird sich alles aufklären, und ich werde hocherhobenen Hauptes dies Untersuchungszimmer verlassen, nicht wahr, Herr Untersuchungsrichter? Der Zeitungsherr, ich weiss nicht, wie ich ihn anders nennen soll, der Zeitungsherr also bleibt hinter seinem Blatte verborgen. Wenn es Sie übrigens interessiert, es war der »Temps«, den er las. Ein praktisches, grosses Blatt, wie gemacht, um sich zu verbergen.

Der Zeitungsmann sitzt also auf dem Fensterplatz in der Fahrtrichtung, er blickt nicht auf, als ich das Coupé betrete, er blickt nicht auf, als ich über seine Füsse stolpere und mich entschuldige. Er brummt nur etwas Unverständliches. Ich verstaue meinen Koffer oben im Netz, setze mich nieder, denke noch: »Nun muss ich nach rückwärts fahren, das tut mir nie gut, ich bekomme dann Schwindelanfälle. Aber in diesem Falle schadet es wohl nichts, denn ich kann mich ja ausstrecken, das Gesicht zur Wand kehren, dann liege ich ja eigentlich in der Fahrtrichtung, und alles geht in Ordnung.« Sie sehen, wie gut ich mich noch an meine Gedanken erinnere, und da soll ich mich in einer derart wichtigen Sache, wie diese Anklage ist, täuschen? Ich, ein Geschäftsmann, der bekannt ist für sein gutes Gedächtnis –; ich habe ein ganz bestimmtes mnemotechnisches System, doch ist jetzt wohl nicht die Zeit, Ihnen dieses auseinanderzusetzen...

Ausgezeichnet dieser Wein... Verzeihen Sie, Sie haben eine Frage gestellt, ich habe nicht aufgepasst... Aber nein, Herr Untersuchungsrichter, Sie müssen von den Menschen nicht immer das Schlechteste denken, nein, durchaus nicht, ich bitte Sie nicht, die Frage zu wiederholen, um Zeit zum Nachdenken herauszuschlagen... Aber wenn man, wie ich, fast sechs Stunden lang verhört worden ist, und wie verhört!, so müssen Sie begreifen, dass das Gehirn abgespannt ist, es reagiert nicht mehr so prompt wie sonst.

Sie wollen wissen, ob der Herr Gepäck hatte? Warten Sie, hier drin ist alles eingraviert, eingeätzt muss ich fast sagen... Aber Sie wissen ja, wie es einem geht, wenn Sie meinen, einen Stich ganz genau zu kennen, und Sie sehen ihn ein zweites Mal an, so erscheint er Ihnen vollkommen neu, gewisse Details, gewisse Feinheiten treten plötzlich hervor, die Sie zuerst gar nicht bemerkt hatten... Das hat nichts mit Ihrer Frage zu tun?... Erlauben Sie, bitte. Ich muss mir eben gewisse Details wieder ins Gedächtnis zurückrufen, wie gesagt, gewisse Teile der Gravüre genauer betrachten, mit meinem geistigen Auge... erst dann kann ich Ihnen Auskunft geben. Und bedenken Sie doch, dass mich Ihre Proleten ganz durcheinander gebracht haben... Auch sie stellten diese Frage.

Soweit ich mich erinnern kann, trug er eine kleine gelbe Handtasche, gewiss, eine Tasche aus Schweinsleder, aus echtem Schweinsleder, ich habe den Geruch noch in der Nase... ganz deutlich jetzt... Jawohl, und nun besinne ich mich ganz genau, als ich dann zurückkam, als das... Unglück... nun... der Mord passiert war, in meiner Abwesenheit, da habe ich an diese Tasche gar nicht mehr gedacht. Aber mein Unterbewusstsein muss registriert haben, denn jetzt sehe ich deutlich wieder das leere Netz... Die Tasche ist nicht gefunden worden?... Das bestärkt nur meine Theorie, dass es sich um einen ganz gewöhnlichen Eisenbahnraub handelt. Vielleicht waren Wertsachen in dieser Tasche.

Danke, Herr Untersuchungsrichter, nur ein Stück Zucker... Sonst trinke ich den Kaffee am liebsten ungesüsst, aber heute mache ich schon eine Ausnahme...

Ohne Ihnen schmeicheln zu wollen, aber Ihre Bemerkung zeugt von einer erstaunlichen Kombinationsgabe... Gewiss könnte uns der Inhalt der Tasche auf eine Spur führen, gewiss könnten wir, falls wir die Tasche bei irgend jemandem finden würden, ohne weiteres auf die Schuld dieses Jemanden schliessen. Aber da liegt eben die Schwierigkeit. Denn bis jetzt ist die Tasche noch nicht aufgetaucht?... Nicht einmal andeutungsweise?... In den Aussagen der verschiedenen Zeugen vielleicht, des Zugführers zum Beispiel?

Was Sie nicht sagen!... Nein, diese Eröffnung haben mir Ihre Untergebenen nicht gemacht... Die Aussage des Zugführers belastet mich am schwersten? Er behauptet, es sei absolut unmöglich, dass jemand anders das Coupé betreten hätte?... Woher nimmt dieser Mann seine Sicherheit? Ich erinnere mich, einmal die Besprechung eines Buches gelesen zu haben, das von der Unzuverlässigkeit der Zeugenaussagen handelte; ein Professor hatte eine kleine Komödie vor seinen Studenten aufgeführt und diese Komödie dann erzählen lassen, schriftlich... Ja, ja, ich bin sicher, dass Sie das Buch gelesen haben und nicht nur eine Kritik darüber, wie ich. Aber glauben Sie nicht auch, dass gewissen Zeugen wenig zu trauen ist, besonders einem derartigen Kerl, der in seiner offiziellen Stellung sich von mir bestechen lässt und dann nicht einmal fähig ist, diese Bestechung redlich zu verdienen? Vielleicht hat er in einer Ecke des Wagens Schnaps gesoffen, hat seinen Dienst verschlafen und will sich jetzt reinwaschen, auf meine Kosten.

Nein, ich ereifere mich nicht, ich rege mich nicht auf. Aber eins will ich Ihnen offen und ehrlich sagen, die Methoden der Justiz sind unfair, die Justiz hält sich an keine Regeln. Gleichgültigkeit ist ein Schuldbeweis, Aufregung ist ein Schuldbeweis, der Angeklagte kann sich benehmen wie er will, immer ist es falsch, immer wird, wie es auch sei, sein Benehmen zu seinen Ungunsten ausgelegt. Das ist falsch, das ist grundfalsch. Sie wollen doch die Wahrheit herausfinden, nicht wahr? Aber Sie wollen ja gar nicht die Wahrheit, Sie wollen einen Schuldigen.

Das glaube ich gerne, dass fast alle Gefangenen die gleichen Worte gebrauchen. Mein Gott, uns stehen nicht so viele verklausulierte juristische Formen zu Gebote, um einfache Tatsachen möglichst kompliziert auszudrücken.

Nun schweife ich wieder ab, nach Ihrer Meinung. Aber daran sind Sie selber schuld. Ich will also weiterfahren. Ich zog meine Schuhe aus, holte die ledernen Pantoffeln hervor, die mir Irene zur letzten Weihnacht geschenkt hatte, zog einen Hausrock an und gab wohl acht, mein Portefeuille in meine Revolvertasche zu stossen. Bei dieser Gelegenheit kam mir meine kleine Welterpistole in die Hand, ich zog sie aus der Tasche (für sie und für das Portefeuille wäre die Tasche zu klein gewesen) und legte die Pistole unter das Luftkissen, das ich mir schon vorher gefüllt hatte. Während ich dies tat, warf ich noch einen Blick auf meinen Mitreisenden, er blickte noch immer nicht von seiner Zeitung auf, also hatte er meine Vorsicht wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Ich frage ihn noch höflich, ob es ihn störe, wenn ich noch eine Zigarette rauche. Sonst kann ich nämlich nicht einschlafen. Ich erriet mehr, als ich es sah, sein Kopfschütteln, dazu stiess er einen Laut aus, der wie ein nasales »äh, äh« klang. Also störte es ihn nicht. Ich rauchte meine Zigarette zu Ende.

Das wäre möglich, durchaus möglich. Durch das Türfenster wäre es ein leichtes gewesen, mich vom Gang aus zu beobachten... Auch dies ist wieder Ihrer Kombinationsgabe durchaus würdig, Herr... Herr Untersuchungsrichter. Denn dies ist ja der einzige, tatsächliche Anhaltspunkt in dieser Affäre: dass der Mord mit meiner Pistole begangen worden ist. Und dass man scheinbar meine Fingerabdrücke und nur meine Fingerabdrücke, darauf festgestellt hat. Das ist aber gar nicht merkwürdig, denn ich habe ja die Pistole aufgehoben, als ich zurückkehrte...

Sie haben gut reden, ich hätte sie liegen lassen sollen. Es war dies eine Reflexbewegung. Bücken Sie sich nicht auch, wenn Sie einen Gegenstand erblicken, der Ihnen bekannt vorkommt? Das ist so instinktiv... Daraus können Sie mir keinen Strick drehen, Herr Schafott, pardon, Herr Schaffroth.

Nun der Schluss ist bald erzählt. Ich wollte noch auf die Toilette, bevor der Zug in die nächste Station einfuhr. Ich schritt also zur Tür, ging durch den Gang, traf niemanden, das ist wahr. Ich muss etwa zehn Minuten abwesend gewesen sein, ich wusch mir noch die Hände, putzte mir die Zähne (ich bitte Sie noch einmal zu bemerken, wie genau ich mich an die unbedeutendsten Details zu erinnern weiss), und dann kehrte ich durch den leeren Gang zurück. An den Türfenstern der Coupés waren die Vorhänge schon vorgezogen, ich sah auf meine Uhr, während ich sie gewohnheitsmässig aufzog, es war genau halb neun Uhr, nach meinen Berechnungen mussten wir etwa in einer Viertelstunde in die nächste Station einlaufen. Auch bei meinem Coupé war der Vorhang zugezogen, ich wunderte mich darüber, denn ich hatte dies nicht gemacht, und dachte noch: »Hat sich mein Zeitungsmann endlich von seinem ›Temps‹ losreissen können, das ist günstig, dann kann man das Licht abblenden, und wir können beide schlafen.« Ich war müde, am Morgen war ich sehr früh aufgestanden, es hatte so viel zu erledigen gegeben.

Ich mache die Schiebetüre ganz leise auf, das Licht brannte hell, mein Kissen war umgestülpt, die kleine Pistole lag auf dem Boden, wie ich Ihnen schon erzählte.

Wo sie lag... warten Sie... sie lag vor den Füssen des Mannes, der sass mit offenem Mund in seiner Ecke, die Zeitung lag ausgebreitet auf seinen Knien, und die Zeitung hatte ein rundes Loch... Übrigens dort liegt sie ja noch, die Zeitung... und ich sah zum erstenmal das Gesicht des Zeitungsmannes. Ein gewöhnliches Gesicht, glatt rasiert, noch ziemlich jung, neben der linken Hand des Toten, die ausgebreitet, mit der Handfläche nach oben, auf dem Kissen lag, sah ich ein Paar graue Wildlederhandschuhe...

Nein, sonst habe ich nichts bemerkt...

Bestimmt nicht, Herr... Herr... Untersuchungsrichter, es lag sonst nichts herum, seine Tasche war verschwunden, das hab' ich Ihnen ja gesagt, der Rock stand weit offen, als ob jemand in aller Hast die Taschen des Mannes durchsucht hätte... Warum stellen Sie Ihre Frage zum drittenmal, soll das eine Falle sein?... Stellen Sie ruhig Fallen, wenn man ein reines Gewissen hat wie ich, dann hat man nichts zu fürchten.

Papierschnitzel?... Nein, ich habe keine Papierschnitzel gesehen... Wieso soll ich Unglück gehabt haben?... Ich verstehe Sie nicht... Das kommt mir alles so spanisch vor; darf ich Sie noch um Zündhölzer bitten... danke.

Wo... wo... haben Sie das gefunden? Das, das ist ja... der Kopf von... Nein, diese Dame kenne ich nicht. Eine Augenblickstäuschung, ich dachte zuerst, es sei Irene, die Züge haben eine gewisse Ähnlichkeit, ich kann es nicht leugnen. Und dieser Papierschnitzel, ausgerechnet mit diesem Gesicht, ist in dem Coupé gefunden worden? Was Sie nicht sagen...

Ich habe den Mann nicht gekannt, ich wiederhole es noch einmal... Das ist eine Beleidigung meiner Frau, Herr... Untersuchungsrichter, Herr Schaffroth, nein, meine Frau hatte keinen Freund, ich verbitte mir aufs strengste derartige Insinuationen. Wirklich, es kommt mir vor, als wollten auch Sie in die Fussstapfen Ihrer plebejischen Vorgänger treten, aber Sie denken wohl, Ihre Art der Tortur, die Tortur der Freundlichkeit sei die wirksamere ... Darum haben Sie mir Wein bestellt und Sandwiches... Haha, ich weiss schon, wir dünken uns zivilisierter als die Araber, aber wenn man zu diesen sogenannten wilden Völkerstämmen kommt, und man ist eingeladen und hat Brot und Salz gereicht bekommen, so ist man Gastfreund, unverletzlich... Ich habe von Ihnen auch Brot und Salz angenommen – ich bin Ihr Gastfreund, Herr, aber Sie missbrauchen die Gastfreundschaft.

Sie lachen schadenfroh... Haben Sie noch weitere Überraschungen in der Hinterhand... Decken Sie nur ruhig Ihre Karten auf, wir sind allein, und wenn ich Ihnen auch ... aber das ist Unsinn, Sie haben keinen Aktuar, der wollte wohl nicht aus dem Bett? Ich kann Ihnen ja eigentlich erzählen, was ich will, Sie auch verulken, mit einem falschen Geständnis, nur um endlich einmal schlafen zu dürfen, mir fallen schon die Augen zu, ein falsches Geständnis, wie wäre das? Und morgen widerrufen, was meinen Sie? Ein geschickter Advokat könnte mit dieser Situation viel anfangen... Schlagworte wie: psychische Tortur, langes Verhör... unerlaubt langes Verhör, mein Mandant musste zusammenbrechen... Wie glauben Sie, würde das auf das p.p. Publikum wirken? He? Die Justiz hat keine gute Presse... Fragen Sie nur weiter, ich bin sicher, ich bin unschuldig, mir kann nichts passieren.

Sie schweigen lange... Ich will Ihre Meditationen beileibe nicht unterbrechen...

Aber finden Sie nicht auch, es wäre Zeit, schlafen zu gehen?... Draussen graut es schon über den Dächern... Heizt man bei Ihnen nicht? Es friert mich... Sie schweigen noch immer... Nun, ich kann's auch.

Das Kratzen, das man in der Stille hört... ich habe es schon lange bemerkt, dachte, es seien Ratten... oder Mäuse, um aber von diesen Tieren herzurühren, ist das Geräusch zu regelmässig... Ich sollte doch dies Kratzen, dies Schaben, dies Wetzen kennen... Ein Diktaphon! Natürlich! Und ein gutwilliger Gehilfe, der die Rollen austauscht, wenn sie vollgeritzt sind?... Sie sehen, uns Verdächtigten fällt manchmal auch etwas ein, wir kombinieren auch... Sehr schlau... Jeden Tonfall meiner Stimme können Sie somit den Richtern vorführen, klug, sehr klug. Nur dass Ihnen Ihre Klugheit nichts nützen wird.

Ihr Schweigen wird langsam peinlich... Soll es eine Methode sein, mich mürbe zu machen? Wir wollen sehen...

Wildlederhandschuhe... graue Wildlederhandschuhe. Sie lagen neben dem Toten... War ein eleganter Mann, der Zeitungsmann, hatte Bildung, scheinbar, denn er las doch den »Temps«. Graue Wildlederhandschuhe...

Was es doch manchmal für Zufälle gibt. Vor einer Woche bat mich meine Frau, mit ihr zusammen in ein Handschuhgeschäft zu gehen, sie wolle ihrem Vater ein Paar Handschuhe kaufen, er habe Geburtstag, und ich hätte doch so guten Geschmack. Ich bin mitgegangen, wir haben ein Paar Wildlederhandschuhe gekauft, graue Wildlederhandschuhe... Ein Zufall. Auch die Handschuhe des Toten waren neu.

Sie schweigen noch immer. Darf ich den Papierfetzen noch einmal sehen?... Vielleicht ist sie es doch, Irene, nur habe ich nie an ihr ein so glückliches Lächeln gesehen... Aber eben, sehen Sie, die Frau, von deren Person Sie nur das Abbild des Kopfes besitzen, die Frau, sie trug auch ein Kleid auf der Photographie, und das Kleid hat mich an ein Sommerkleid Irenes erinnert.

Nicht einmal mit einem halben Geständnis sind Sie aus Ihrer Reserve zu locken... Denn wenn ich von dem Kleid spreche, muss ich doch die Photographie gesehen haben, denken Sie. Natürlich habe ich sie gesehen, sie lag neben dem Toten, ich habe sie zerrissen, ich wollte nicht..., und die Fetzen habe ich zum Fenster hinausgeworfen, ich dachte, sie seien alle vom Wind fortgetragen worden, aber der Wind hat mir einen Streich gespielt, und just den Kopf hat er mir ins Coupé geweht.

Ich beobachtete Sie schon lange, Sie warten auf etwas... Ha, ganz können Sie sich auch nicht beherrschen, Sie haben Schritte gehört draussen, jemand kommt, er bringt etwas ... Mich überraschen Sie nicht mehr, ich weiss, was er bringt, der Mann, der näherkommt ... Aber ich will Fassung bewahren ... Sie erlauben mir doch noch eine Zigarette? ... Ich habe da noch zwei oder drei von einer stärkeren Marke ... Nein danke, ich werde sie erst anzünden, wenn Ihre Überraschung kommt.

Die Schweinsledertasche ... durchweicht ... Sie können wieder abtreten, junger Mann, Sie haben Ihre Sache gut gemacht ... Der Fluss war wohl nicht tief genug, dass Sie sie so schnell haben finden können ... Wie gesagt, Sie haben Ihre Sache gut gemacht, junger Mann ... Sie können abtreten, was ich zu sagen habe, ist zu ernst, die Jugend würde nur darüber lachen ... Und schliesslich Ihnen, Herr Untersuchungsrichter, Herr Schaffroth, jetzt weiss ich Ihren Namen endgültig, werde ihn nicht mehr mit Schafott verwechseln, will ich mich doch lieber anvertrauen, nur um Ihnen Ihre Freundlichkeit zu vergelten. Machen Sie die Tasche nicht auf ... Lassen Sie mich zuerst sprechen ... Sie haben recht, ich will zuerst meine Zigarette anzünden ... oh, ich habe sie ja ganz zerkaut, in der Aufregung, wir wollen sie in den Papierkorb werfen ... Sie können eigentlich die Tasche ruhig aufmachen ... es sind Briefe darin, lesen Sie nur, in dieser Zeit werde ich mich soweit gesammelt haben ... Verstehen Sie? ... Die Zündhölzer sind nichts wert, sie brechen immer ab. So, jetzt ... Liebesbriefe, Liebesbriefe von meiner Frau ... Danke, ich nehme gern noch einen Schluck Wein, habe so einen bitteren Geschmack im Munde ...

Das einzige, das ich zu meiner Verteidigung vielleicht anführen könnte, ist folgendes: Ich habe nämlich aus Notwehr gehandelt. Aber sehen Sie, auch das kann ich nicht beweisen. Stellen Sie doch bitte das Diktaphon ab, wir brauchen es nicht mehr. Ich will morgen gern alles zu Protokoll geben ... wenn es noch nötig ist ... Danke, Herr Schaffroth.

Notwehr; vor drei Tagen hab' ich einen Brief unter meiner Korrespondenz entdeckt, er war irrtümlich dazwischen geraten, es war ein Brief meiner Frau, frankiert, adressiert. Vielleicht hatte sie diesen Brief dem Mädchen gegeben, und das Mädchen hatte ihn aus Zerstreutheit unter die angekommenen Briefe gemischt. Frauen sind manchmal unvorsichtig. Genug. Ich öffnete den Brief, er war an ein Postfach adressiert, es stand kein Name drauf. Der Inhalt? Etwa folgendermassen war er: Meine Frau bestätigte einem gewissen Claude, ich müsse in zwei Tagen nach Italien verreisen, sie gab den Zug an, alles war klar geschildert. Die Gelegenheit sei günstig, schrieb sie, und er, Claude, solle sie nutzen. Ich nahm ein neues Kuvert, schrieb selbst die neue Adresse, mit Schreibmaschine, und schickte ihn ab.

Die Gelegenheit... Der Brief war zärtlich... Es gibt Unglücksfälle, die auf der Bahn passieren können, es wird nicht viel Aufhebens davon gemacht, drei Zeilen in der Zeitung, ein Nachruf im lokalen Blatt: Der bekannte Industrielle... wahrhaftiger Patriot... unvergessliches Andenken... der Gesangverein unter der bewährten Leitung von... sang ihn ins Grab. Ich danke dafür.

Ich hab' mir nichts anmerken lassen... Das Suchen ist nutzlos, Herr Schaffroth, der Brief ist verbrannt worden, es stand eigens als Nachschrift, und ich habe die Briefe durchgesehen. Was Sie noch finden, ist unwichtig. Sie können die Briefe deuten so und so, Irene können Sie nichts damit beweisen. Es ist genug an einem. Sie kommen um Ihren Skandal, glauben Sie mir.

Es wird heiss im Zimmer, und dies Jucken in den Beinen. Wohl die Schlaflosigkeit. Ich will mich beeilen, dann werden Sie mich wohl in Ruhe lassen.

Der Clou vom ganzen ist nämlich folgendes: Der gute Claude war ein Hochstapler... Wie ich ihn erkannt habe? Trotzdem ich ihn nie gesehen habe? Trotzdem er hinter dem »Temps« verborgen war? Ich habe Ihnen gesagt, wir sind im Gang auf und ab gebummelt. Vor der Tür des Zeitungsmannes ist Irene zusammengezuckt... Ich spreche recht unzusammenhängend... Der Clou nämlich: Claude hat mir die Briefe zum Kauf angeboten, wollte gar kein Unglück, wollte mich nicht beiseite schaffen... Erpressung ist eben doch einfacher, nicht so alternierend wie ein Mord ... Aber ich habe doch den Mord gewählt? Mord? Ich habe viele Entschuldigungen. Wenn dieser Papierschnitzel nicht gewesen wäre, denn dass Sie nach der Tasche forschen würden... Sie wissen jetzt alles...

Aber eins haben Sie nicht bemerkt... Sie waren zu eifrig, Sie wollten die Briefe zu schnell lesen. Die Zigarette, jawohl die zerkaute Zigarette, jetzt kommen Sie nach.

Jawohl, in der zerkauten Zigarette hatte ich etwas versteckt... für alle Fälle... Ich hatte es schon lange... Ein verstorbener Freund, ein Arzt, hat es mir geschenkt... Ein sympathisches Präparat, wirkt stark, nur ein wenig Druck über dem Herzen, aber der vergeht... Ja, die grauen Wildlederhandschuhe... an denen hab' ich ihn erkannt, hätte ich ihn erkannt, auch wenn Irene nicht zusammengezuckt wäre... Diese Wildlederhandschuhe. Wie gut doch eine Frau lügen kann... Aber wir sind doch alle Lügner, mehr oder weniger... Und Sie, Wahrheits-Champion... Sie tun mir ein wenig leid, Tag für Tag eine Wahrheit suchen zu müssen, die doch nicht die Wahrheit ist... Denn Wahrheit hat mit Worten nichts zu tun... Glauben Sie nicht auch?... Somit empfehle ich mich, Herr Schaffroth, schad' um die Diktaphonrollen... die Justiz arbeitet immer unrationell, immer... Sie sollten sich das merken... Oh, machen Sie sich keine Mühe mehr, der Arzt kommt zu spät... Ich will schlafen, gute Nacht, Herr Untersuchungsrichter Schaffroth... oder vielmehr guten Tag, es wird so hell.


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