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Die Begegnung

Es war eine kleine Station, an welcher der junge Mann den Zug bestieg. Mit gesenktem Blick schritt er durch den Gang des Wagens, und auch als er sich mir gegenüber ans Fenster setzte, sah er nicht auf. Die Haut seiner Lider war körnig und gelb, sie zitterten, und seine Hände bebten; wohl darum ballte er sie und steckte die Fäuste in die Hosentaschen. Nach einiger Zeit kam die Rechte wieder zum Vorschein und hielt eine Zigarette, welche die Hand wohl aus einem verborgenen Paket gefischt hatte. Die Linke half beim Anzünden. Nach einigen tiefen Zügen streifte der junge Mann die Glut am Aschenbecher ab und verwahrte den Stummel in der Westentasche. Auffallend war während dieser Zeit sein angstvoller Blick, der alle Bänke, alle Ecken absuchte – endlich betrachtete er mich, und wahrscheinlich drückte mein Gesicht Verwunderung aus, denn der Mann versuchte, seinen Mund zu einem Lächeln zu verziehen; dies misslang, und er stotterte: »Wissen Sie ... dort ...« (er wies mit dem Daumen über die Schulter) » ... dort war das Rauchen verboten.« – »Wo denn?« fragte ich. Nun fühlte er sich zu einer Erklärung verpflichtet, und er gab sie in jenem singenden Tonfall, den man Kindern gegenüber braucht, wenn sie eine einfache Sache nicht verstehen und an diesem Mangel unschuldig sind. »In der Strafanstalt nämlich.« Dann schwieg er und schien auf die Wirkung seiner Worte zu warten.

Ich blickte ihn weiter ruhig an, da entspannte sich sein Gesicht, und er nickte mir fast freundlich zu. Das Zittern liess nach, er streckte seine langen Beine neben den meinen aus und fragte: »Fahren Sie weit?« Ich nickte, nannte ihm mein Ziel, und dies schien ihn zu freuen. »Dann fahren wir ja ein grosses Stück zusammen!« Er überlegte. »Wissen Sie«, sagte er stockend, »mir ist nämlich dort ein Erlebnis zugestossen« (er gebrauchte diese sonderbare Wendung), »ich bin jemandem begegnet, und diese Begegnung möchte ich gerne erzählen.« Er fuhr wieder zusammen, weil der Zugführer seine Fahrkarte sehen wollte, beruhigte sich aber, sobald die Uniform verschwunden war. »Wenn es Sie erleichtern kann«, sagte ich höflich und ärgerte mich über den konventionellen Ton, den ich gebraucht hatte. Aber er hatte den Blick wieder zu Boden gesenkt. Zerstreut suchte er den Stummel aus der Westentasche, zündete ihn an und tat ein paar tiefe Lungenzüge. Dann begann er zu sprechen, leise zuerst, lauter dann, begeistert schier, um am Ende wieder so leise zu werden wie zu Anbeginn.

»Ein Jahr hab' ich dort gemacht. Nicht gerichtlich, administrativ nennt man das. Für liederlichen Lebenswandel. Heut' hat der Direktor noch mit mir gesprochen, sehr freundlich, dann hab' ich fünfundzwanzig Franken bekommen und einen Anzug. Dieser Direktor ist schon alt, und wir hatten ihn gern, weil er uns freundlich gesinnt war. Er kannte uns alle beim Namen. Und mit den Wärtern war er strenger als mit uns. Die Stirn und der Schädel bildeten bei ihm eine glattpolierte Fläche; der untere Teil des Gesichtes war mit Bartstoppeln bedeckt, aus dem nur die Nase hervorragte, weiss und ein wenig knollig an der Spitze. Wir arbeiteten das ganze Jahr auf den Feldern, das war manchmal schwer, besonders im Winter, aber man gewöhnt sich an alles.

Am Sonntag spielte ich in der Kirche die Harmoniumbegleitung zu den Chorälen, und damit fing das Ganze eigentlich an. Vier Pfarrer waren es, die abwechselnd predigten. Ein wenig muss ich sie Ihnen wohl schildern. Der eine war ein noch junger Pfarrer aus dem Waadtland. Er trug einen Spitzbart, hatte ein rötliches Gesicht und gesunde Zähne. Begeistert predigte er, betete auch rührend, und die kleine Kapelle war stets überfüllt, wenn er sich ansagte. Es kamen auch solche, die kein Französisch verstanden. Aber das Abendmahl hat er nie gegeben, und meine Geschichte hängt mit dem Abendmahl zusammen. Der zweite, der auch französisch predigte, kam aus der benachbarten Stadt. Er trug viel graue Haare um die Lippen, und ein Gehrock beschattete seine Knie. Er sprach durchaus korrekt, bestieg nie die Kanzel, sondern lehnte sich an das Harmonium. Wenn er kam, war das Wetter immer schlecht, und im Winter schien die Zentralheizung bei seinen Ansprachen auszugehen. Das war vielleicht nur ein Eindruck. Auch den Kapuzinerpater muss ich noch erwähnen, der alle vier Wochen eine stille Messe zelebrierte. Ich spielte dann immer alte französische Liebeslieder: ›Plaisir d'amour ne dure qu'un instant‹ – oder ›Eho, ého, ého, les moutons sont aux plaines‹. Dieser Pater war sehr freundlich, und ich war ihm dankbar, weil er mein Spiel lobte.

Und endlich war da noch der deutsche Pfarrer, bei dem mir eben dieses Erlebnis zustiess. Er kam aus dem nahen Dorf und roch unter dem weissen Schnurrbart nach Wein, wenn er mir die Nummern der Choräle gab, die ich zu spielen hatte. Ich hatte einen Lieblingschoral, den ich ihm stets aufdrängte. Das Lied war lebhaft (die Melodie von Haydn) und handelte von einem Weizenkorn, das sterben muss, bevor es wieder zum Lichte kann. Bei dieser Melodie schien sich die Starrheit der Gesichter zu lösen, ich sah es deutlich, wenn ich von den Noten aufblickte. Aber ich tat dies nicht gerne, denn ich sah dann auch die Inschrift an der Wand gegenüber: ›Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.‹ Was hätte der Galiläer wohl dazu gesagt, wenn er seine Worte auf einer Gefängniswand gesehen hätte?

Während der Predigt dieses alten Pfarrers musste ich oft das Lachen verbeissen. Er predigte zwar hinter meinem Rücken, von der Kanzel, so dass ich ihn nicht sehen konnte, aber er hatte eine Art, das Wort ›Geist‹ auszusprechen (er sagte ›Geischt‹), die komisch wirkte. Meistens gab er das Abendmahl. Dann stand ein weissgedeckter Tisch neben dem Harmonium, darauf zwei zinnerne Becher und eine Platte mit langen Streifen Weissbrot. Der Pfarrer teilte das Brot, die beiden Becher wurden vom Direktor und dessen Sohn gehalten. Beide sahen genau hin, dass niemand einen zu tiefen Schluck aus den Bechern nahm. Die Sträflinge drückten sich scheu am Tisch vorbei. Wie war es wohl damals, als der Herr am Osterfest den Wein verteilte und das Brot brach?

Knapp vor Weihnachten wurde ich beim Rauchen erwischt. Der Sommer war gnädig vorbeigegangen, und die Ernte auf den weiten Feldern hatte mich wahrhaft glücklich gemacht. Aber dann kam der Winter mit seinen grauen Regenwochen und den düsteren Sonntagen in der Zelle. Die Bücher waren ausgelesen, und eine süssliche Stimmung aus Velhagen und Klasing-Romanen zersetzte die Luft. Das Mittagessen lag schwer im Magen. Man ass ja nur aus Langeweile, und der gefüllte Körper begann erwartungsvolle Angst zu produzieren und bedrückende Traurigkeit.

Wieviel nutzlos vergeudete Sehnsucht bringt solch ein Nachmittag hervor. Die tiefstehende Sonne nimmt das Eisengitter im Fenster und wirft es als schwarzes Kreuz auf die Wand, dem Bette gegenüber. Draussen trippelt ein Kind vorbei und singt Vokale, nur Vokale; diese ›A‹ und ›O‹ machen die kalte Luft schneidend.

Kennen Sie die Sehnsucht, die einen manchmal ergreift, wenn man zufällig in einer grossen Stadt niemand kennt und zur Zerstreuung ins Kino geht? Sie sind allein, niemand kümmert sich um Sie. Sie sehen die berühmte Filmdiva auf der Leinwand ihre Faxen machen. Da beginnen Sie von diesem Weib zu träumen, das vielleicht herzlich unbedeutend ist; aber alles ist um sie: Luxus, Reichtum, Leidenschaft. Sie malen sich aus, dass Sie von dieser Frau geliebt werden; und diese Liebe gibt Ihnen jenes Selbstvertrauen zurück, das Ihnen die Einsamkeit, das Unbeachtetsein in der grossen Menschenmenge, geraubt hat. Nun, sehen Sie, eine ähnliche Sehnsucht plagte mich. Nicht von einer berühmten Frau geliebt zu werden, o nein, ich sehnte mich nach dem ›Meister‹, nach dem unverstandenen Meister, der sicher irgendwo auf dieser Welt leben musste; und diesem zu dienen, konnte meinem Leben erst den richtigen Sinn geben. Ich malte mir aus, dass nur ich den Meister richtig verstehen würde, dass ich mein Leben für ihn hingeben würde; nie wäre ich so feig wie die Jünger des Galiläers: Eher würde ich mich auspeitschen, mich kreuzigen lassen... keine grobe Hand sollte den Meister berühren. Wirklich, ich sehnte mich nach diesem Zustand des Dienens, nach diesem Opfer meiner selbst.

An jenem Sonntagnachmittag klapperten die Riegel der Zellentüre wie gewöhnlich um halb sechs. Die Blechgefässe mit dem Kakao, den Pellkartoffeln und dem Stückchen Käse standen auf einem grossen Holzbrett. Den Käse tauschte ich gegen Tabak um. Um acht Uhr ging das Licht aus, wie gewöhnlich; dann drehte ich mir noch eine Zigarette – als Papier benutzte ich wie alle andern ein Blatt des Neuen Testaments, weil dies Papier dünn war und beim Verbrennen nicht allzu unangenehm. Aber ich hatte nicht lange genug gewartet. Ein Schlüssel klapperte im Schloss, die Nase eines Wärters schnupperte herein. Kein Wort wurde gesprochen. Die Türe flog wieder zu. Ein paar Minuten nur vergingen, dann war der Wärter in der Zelle, der Sohn des Direktors begleitete ihn. Meine Zelle wurde ausgeräumt: Die Bücher aus der Bibliothek verschwanden, ein paar Hefte ›Verbreitung guter Schriften‹, zerfetzte, durchgeschmuggelte Kriminalromane. Dann knallte die Zellentüre wieder zu. Vorher hatte der Sohn noch höhnisch gesagt: ›Zwei Tage Arrest, verschärft.‹ Das hiess: zwei Tage eingesperrt bleiben, ohne jemanden zu sehen, Einzelhaft also, mit einer dünnen Suppe am Mittag und einem Achtel Brot dazu, sonst nichts. Im Grunde ja nichts Furchtbares.

Plötzlich schien mir die Arbeit im Freien, in der Kälte, die Arbeit, die mir oft verleidet gewesen war, ausserordentlich begehrenswert. Nur nicht allein sein, allein, den ganzen Tag. Ich fühlte mich wieder ganz klein wie damals: Der Vater hatte mir Prügel versprochen, aber er schob die Exekution zwei Tage auf, um auch die Angst wirken zu lassen. Gegen diese Angst, die aus der Vergangenheit aufstieg, war ich machtlos. Schlug ich Lärm, so wurde ich in den Dunkelarrest geführt. Ach, Sie wissen eben nicht, was es heisst, der Macht ausgeliefert zu sein. Unter mir im Dunkelarrest lärmte ein Verrückter. Ich legte mich aufs Bett und versuchte einige Methoden der Ablenkung. Das laute Sprechen von Versen: Es war so nutzlos wie das Heruntersagen des Rosenkranzes in verschiedenen Sprachen – Deutsch, Lateinisch, Französisch.

Dann war ich plötzlich gar nicht mehr in meiner Zelle. Ich schlich mit dem baltischen Baron, einem kahlen Männchen (Hochstapelei) durch die Gänge, befreite die Gefangenen. Der Direktor wurde überfallen, seine Frau, dann die Dienstmädchen. Sie mussten uns entschädigen für die vielen leeren Nächte. Die Telephonleitungen wurden durchschnitten. Wir organisieren. Ein Sträflingsrat wird gebildet; der baltische Baron und ich, wir kommandieren. Nur wir tragen Waffen, die Revolver der Wärter.

Ein Festmahl. Schweine werden geschlachtet. Der Direktor hat viel Wein im Keller.

Infanterie rückt an. Eine Kompagnie nur. Wir überfallen sie. Der Baron hat in der Weissen Armee gekämpft. Er weiss Überfälle ohne Waffen zu organisieren. Wir siegen, ziehen weiter, auf die Hauptstadt zu, besetzen die Kasernen, plündern, der Sträflingsrat hat die Herrschaft.

Nein, glauben Sie mir, ich habe nicht geschlafen, während ich all dies sah. Ich war wach, ganz wach. Meine Füsse waren kalt, meine Arme gefühllos: Jetzt erst merkte ich, dass ich die Hände unter dem Kopf gefaltet hatte. Nun warf ich sie auf die Bettdecke. Langsam füllten sie sich wieder mit jenem Blut, das sich alles in meinem Kopfe gesammelt zu haben schien.

Wie soll ich Ihnen deutlich machen, was es heisst, ›in Verzweiflung zu versinken‹? Stets ist die Verzweiflung grundlos, obwohl wir meinen, sie klar begründen zu können. Aber diese Gründe wirken einfach nicht, wenn unser Ich sich verkriecht und sich taub stellt. Ich gab mich auf. Um solche Wachträume zu haben, musste ich schlecht sein, rettungslos verloren, so dachte ich damals. Ich wünschte den Tod, der eine graue, sanfte Frau war, die mich rief, als wäre sie meine Mutter. Habe ich Ihnen gesagt, dass meine Mutter gestorben ist, als ich vier Jahre alt war?

Ich schlief dann ein, das heisst, ich tauchte unter. Es war heller Tag, als ich erwachte. Die Sonne stand schon im Süden. Da kam auch der Wärter und brachte mir eine dünne Suppe. Ich durfte meinen Kübel leeren, Wasser holen. Dann fiel die Türe wieder zu. Ich ass. Das eiserne Fensterkreuz war sehr verlockend. Ich probierte die Festigkeit meiner Hosenträger. Sie waren breit und gaben nur wenig nach. Es würde nicht weh tun. Wissen Sie, ich bin sehr feig und habe grosse Angst vor körperlichen Schmerzen. Stimmen klangen im Gang. Dann weiss ich von nichts mehr.

Verstehen Sie, ich erinnere mich auch heute noch nicht, wie ich es gemacht habe. Manchmal scheint es mir, als sei es gut, wenn manche Erlebnisse ganz ausgelöscht werden. Der Griffel versagt wohl hie und da, der unsere Erinnerungen einzugraben hat. Denn was würde aus uns, wenn vor unseren Augen stets der Film der Vergangenheit abrollen würde? Wir verstehen nicht mehr zu beten. Statt ›Erlöse uns von dem Bösen‹ sollte es heissen ›Erlöse uns von der Vergangenheit‹. Nicht wahr? Aber vielleicht meinte der Zimmermannssohn von Nazareth das gleiche. Ein lautes Poltern weckte mich auf. Ich lag im Krankenzimmer, und aus dem Bett, das mir schräg gegenüberstand, dröhnten dumpfe Schläge. Ich richtete mich auf, um zu sehen, was das Poltern zu bedeuten hatte. Das Bett war auf allen Seiten mit Brettern umgeben. Und der baltische Baron schlug seine Glieder mit aller Kraft gegen das Holz. Dann lag er wieder ruhig. Mund und Augen waren fest geschlossen, und auf dem fast nackten Körper waren die Muskeln derart angespannt, dass ich Angst bekam, die Haut könne jeden Augenblick Risse bekommen. Immer mehr spannten sich die Muskeln, der Krampf wuchs, in der Stille hörte ich die Zähne des Besessenen knirschen. Da hob sich sein Körper plötzlich, bildete einen schönen flachgewölbten Bogen und ruhte nur noch auf Hinterkopf und Fersen. Dann zerbrach der Bogen. Der Kopf wurde hin und her geschleudert, prallte ab von den Holzwänden, die Ellbogen dröhnten gegen die Bretter, die Fäuste hämmerten gegen das summende Holz. Und trotz des Lärms hörte ich den Atem durch den schmalen Spalt der Lippen pfeifen.

In der Türe stand der Direktor mit dem Wärter. Beide sahen dem Kranken eine Zeitlang zu. Der Krampf löste sich, der Baron blieb ruhig liegen, nur der Mund prustete noch leise. ›Gehen Sie‹, sagte der Direktor zum Krankenwärter; der schloss die Türe hinter sich.

›Wissen Sie, was Sie getan haben?‹ fragte mich der alte Mann. Ich schüttelte den Kopf. Dann erblickte ich den Kalender.

Dezember 22 Mittwoch

stand dort. ›Aber ich bin doch am Montag...‹ weiter kam ich nicht.

›Sie wissen es also nicht?‹ fragte der Direktor noch einmal. Ich schüttelte den Kopf und schluckte den Speichel. Das tat weh. ›Angina und Fieber‹, dachte ich, ›nun ja, ich bin krank, und Kranke bestraft man nicht.‹

Der Direktor nahm einen Spiegel von der Wand und hielt ihn mir vor. Dabei tupfte sein kalter Zeigefinger auf meinen Hals. Ich sah zwei rote Striemen, rechts und links, die schräg nach oben liefen.

›Ja, ja, mit den Hosenträgern‹, sagte der Direktor. ›So etwas sollten Sie nicht machen.‹ Er schüttelte den Kopf. Ich erwartete eine Predigt. Aber er schwieg. Langsam rollte sein gesenkter Kopf über die gestärkte Hemdbrust, und ich hörte das Knistern der Barthaare auf der glatten Fläche. Er legte den Spiegel auf die rote Tischdecke und ging im Zimmer auf und ab.

›Ich will schauen, dass ich Sie im Hause irgendwo beschäftigen kann. Wollen Sie die Bibliothek in Ordnung bringen? Gut. Am Sonntag können Sie wie gewohnt Harmonium spielen ... Warum haben Sie das gemacht?‹

›Die Zelle, Herr Direktor, in der Zelle ... ganz allein ... und dann die Angst ... ich konnte nicht mehr ...‹

›Natürlich.‹ Er nickte. ›Das, was die Ärzte Haftpsychose nennen. Aber was heisst das? Es haben so viele Leute vor Ihnen in dieser Zelle gewohnt. Die Zelle muss ja ganz voll sein ...‹ Er stockte. ›Nun, Sie bleiben jetzt eine Zeitlang im Krankenzimmer. Schlafen Sie sich aus. Wie alt sind Sie eigentlich? Neunundzwanzig?‹ Er öffnete seinen Mund, und starke gelbe Zähne wurden sichtbar. ›Immerhin also‹, der Direktor war ein wenig verlegen, ›Sie werden ja nicht immer hier bleiben. Und draussen gibt es auch noch Ziele. Man muss sie nur suchen. Und nicht nur so ... herumtorkeln.‹

Er ging hinaus. Ich fühlte grosse Zuneigung zu ihm, als ich seinen gebeugten Rücken sah. Hatte ich mich nicht nach einem Meister gesehnt? Der Gedanke ging mir wieder durch den Kopf. Aber dieser alte Mann? Nein, der war nicht der erwartete Meister, von dem ich träumte. Mitleid ist manchmal wohltuend, aber der Meister zeigt kein Mitleid, der Meister zeigt den Weg.

Der Krankenwärter, auch ein Sträfling, der wegen Betrug zu sieben Jahren verurteilt worden war, erzählte mir, was geschehen war. Der Missionar, der jeden Montag die Sträflinge besuchte, war auf seinem Rundgang zufällig in meine Zelle gekommen. Er hatte mich leblos am Fensterkreuz hängen gefunden, hatte Hilfe herbeigerufen. Eine Stunde lang war künstliche Atmung gemacht worden. Die zerschnittenen Hosenträger hatte der Missionar eingesteckt, denn er war abergläubisch.

Am Heiligen Abend lag ich noch im Bett. Ich war sehr schwach und hatte andauernd Kopfschmerzen. Aus der Kapelle drang gedämpftes Singen und der Geruch von angebranntem Tannenreisig.

Am Weihnachtstag sollte ich wieder Harmonium spielen. Um acht Uhr ging ich in die Kapelle, um noch ein wenig zu üben. Es war kalt. Der Dampf zischte eintönig in den Heizungsröhren. Gegen neun Uhr kam eines der Dienstmädchen des Direktors und deckte den Tisch für das Abendmahl. Sie brachte zwei Becher, eine grosse Kanne mit Wein, stellte alles auf den Tisch und wandte sich wieder zur Tür. Erst dort nickte sie mir ängstlich zu. Vielleicht sah ich sehr schlecht aus. Ich spielte dann das Lied vom Weizenkorn: War ich auch nicht gestorben, und sollte ich nun nicht auch zum Lichte emporwachsen? Mein Kopf war leer und finster. Die Töne des Harmoniums quäkten unangenehm, meine Beine waren zu schwach, um die Blasbälge kräftig zu treten. Auf dem Tisch stand eine Kanne voll Wein. Der Geruch drang bis zu mir. Ich stand auf und trank aus der Kanne, nicht viel, niemand sollte es merken. Ob das wohl Gotteslästerung war, dachte ich noch. Dann war nur noch Freude und Kraft in mir. Der Wein war gut und wirkte stark. Meine Gelenke wurden geschmeidig, das Harmonium bekam Klang, und ich griff nicht mehr daneben. Auch mein Hals verlor die Steifheit. Ich übte: ›Tochter Zion freue dich!‹ Das Lied wollte ich als Einleitung spielen und während des Abendmahls ein leichtgesetztes ›Ave verum‹ von Mozart.

Die Predigt war auf zehn Uhr angesetzt. Einige Minuten vorher wurden meine Kameraden hereingeführt. Sie schwatzten laut im Gang. Sobald sie eingetreten waren, verstummten sie. Ich begann zu spielen und wandte mich auch nicht um, als der Direktor mit seiner Frau und seinem Sohne eintrat. Es war noch jemand bei ihnen. ›Irgendein Besuch‹, dachte ich.

Ich spielte weiter, begleitet von Hüsteln, Schneuzen, Bankrücken. Die Familie des Direktors hatte hinter meinem Rücken auf einer Bank neben der Kanzel Platz genommen. Dann trat der Pfarrer ein, der alte mit dem weissen Schnurrbart, der so gern jasste und Wein trank. Es war eine unbekannte Freudigkeit in mir. Ich fand den Pfarrer gar nicht mehr komisch. Da fühlte ich einen Blick auf meinem Rücken, einen Blick, der mich zu rufen schien, und ich wandte mich um.

Der Direktor, seine Frau und sein Sohn sassen an dem einen Ende der Bank. Am anderen Ende sass eine einsame Gestalt. Einsam schien sie zu sein, obwohl sie mitten unter uns war. Ein ganz gewöhnlicher Mensch, dachte ich. Er war ziemlich jung, glattrasiert, mit nach hinten gekämmtem Haar, das die Ohren frei liess, aber den Nacken verdeckte und den Kragen des grauen Rockes berührte. Graue Pumphosen (Knickerbocker nennt man sie, glaub' ich), graue Wadenstrümpfe, graue Wildlederschuhe mit Gummisohlen. Ich nahm das alles mit einem Blick auf, denn ich fühlte, für mehr als einen Blick blieb mir keine Zeit: Ich musste die Augen suchen. Suchen? Sie waren auf mich gerichtet. Die Augen grüssten mich, der Fremde nickte, nicht mitleidig, nein so, als wolle er sagen: ›Ich weiss, ich weiss.‹ Natürlich musste er wissen.

Während der alte Pfarrer oben auf der Kanzel das Weihnachtsevangelium las, musste ich immer wieder zu diesem fremden Mann hinüberschielen. Er hatte das Kinn auf die Brust gelegt (sein Hemd stand vorne offen, er trug keine Krawatte), die Hände um das linke Knie gefaltet. Der Fuss pendelte leicht auf und ab. Während des Gebetes blieb er in derselben Haltung sitzen. Ich spielte sehr schlecht und war froh, dass es bekannte Lieder waren. Die lauten Stimmen übertönten meine falsche Begleitung.

Gewöhnlich blieb ich während der Predigt auf dem Stuhl sitzen. Heute stand ich auf und setzte mich auf einen freien Platz in der ersten Bank, um den Fremden sehen zu können. Er blickte nur einmal auf, und ich erkannte sein Gesicht kaum wieder. Es war verzerrt, so, als müsse er einen unerträglichen Schmerz erleiden.

Die Predigt war zu Ende. Ich spielte das Schlusslied:

›Wenn alle untreu werden ...‹

Dann stand der Oberaufseher vor den Bänken und sagte laut: ›Die Sträflinge, die am heiligen Abendmahl teilnehmen wollen, mögen sitzen bleiben. Die anderen sollen aufstehen und ruhig hinausgehen.‹ Ich hörte noch das Knarren der Kanzeltreppe unter den schweren Schritten des Pfarrers. ›Halt!‹ rief plötzlich eine Stimme. Der Fremde stand aufrecht vor der Bank. Die bleichen entblössten Hände schimmerten neben seinem Kopf. Doch er liess die Arme herabfallen und ging wieder an seinen Platz zurück. Die Kapelle leerte sich. Etwa zwanzig Mann blieben in den Bänken sitzen. Der Pfarrer las die Liturgie. Die Frau des Direktors nahm ein Stück Brot aus der Hand des Pfarrers, ergriff den Kelch und trank. Der Direktor hob den einen Kelch auf, sein Sohn den anderen. Beide stellten sich an der Schmalseite des Tisches auf. Ihre Gesichter waren ausdruckslos.

Die ersten Sträflinge schlurften scheu heran. Der Fremde hatte sein Gesicht in seine Hände gelegt. Ich sah, dass er zitterte. Vielleicht war es die Kälte.

Leise begann ich das ›Ave verum‹ zu spielen, zog die Töne in die Länge, denn nach jeder Note, die ich abgelesen hatte, wandte ich mich um. ›Er kann das alles doch nicht dulden!‹ dachte ich. Die Freude von vorher hatte sich in Angst verwandelt. Aber es war eine Angst, die ich noch nicht kannte. ›Halt!‹ sagte da wieder eine Stimme hinter mir. Mit weitausholenden Schritten trat der Fremde an den Tisch.

›Gehen Sie‹, sagte er zum Pfarrer. ›Sie auch.‹ Er winkte dem Direktor. Auch der Sohn stellte seinen Becher ab. Die drei gingen nach der hintersten Bank, setzten sich dort und blieben starr. Der Fremde winkte mir, und ich trat zu ihm. Dann stützte er die beiden weissen Hände auf das Tischtuch und blickte mit weitgeöffneten Augen in den Raum. Er schien jeden einzelnen zuerst forschend zu betrachten. Sein Kopf bewegte sich kaum merklich. Er begann in einem sonderbar fremdländischen Deutsch zu predigen. Die Sätze waren durchaus richtig, aber die Betonung der einzelnen Silben war ungewohnt, und die Vokale sprach er wie ein Engländer.

›Ich sagte nicht, dass Ihr Knechte seid, denn ein Knecht weiss nicht, was sein Herr tut. Ihr aber wisst, was ich von Euch will. Euch habe ich gesagt, dass Ihr Freunde seid. Kommt, einer soll dem andern den Becher reichen. Wir wollen trinken. Ist nicht der Wein mein Blut? Und das gebiete ich Euch, dass Ihr Euch untereinander liebet.‹

Die Männer starrten ihn an. ›Kommt!‹ sagte er ungeduldig. Da verliessen sie die Bänke und sammelten sich im Kreise um den Tisch. Er aber überragte sie alle. Denn er stand aufgerichtet unter ihnen, die sich vor ihm beugten. Ich hatte meinen Kopf an die Schulter des Fremden gelegt, und er duldete es schweigend. Ich dachte an das Märchen vom Demantberg: Er ist eine Meile hoch, eine Meile breit, eine Meile lang. Und alle hundert Jahre wetzt ein Vöglein seinen Schnabel am Berg. Und wenn der ganze Berg abgewetzt ist, ist die erste Sekunde der Ewigkeit vorbei... Da kam die Trauer über mich und die gleiche Verzweiflung wie in jener Nacht. Dann sah ich den baltischen Baron, der mit seinem Kopf gegen das Holz schlug. Aber vor mir war eine hohe Mauer aus grauem Stein. Gegen die stiess ich mit dem Kopf, und sie wich nicht... Da sah ich wieder die Kapelle, der Fremde liess den Becher herumgehen, füllte ihn wieder, wenn er geleert war.

In der hintersten Bank stand der Direktor auf und kam näher. Bevor er dazwischentrat, musste ich meine Antwort haben. Ich packte des Fremden Ellbogen und fragte laut: ›Herr, was soll aber ich?‹ Wer hatte diese Worte schon früher einmal gesprochen?

Er wandte mir das Gesicht zu. Die Stirnhaut hatte tiefe, waagrechte Falten, und auch um den Mund waren Falten ... Das Antlitz schien uralt und traurig. Dann wurde es wieder glatt und jung, und mit einem Lächeln sprach der Mund:

›So ich will, dass du bleibest, bis ich komme, was geht's dich an?‹

Ich wollte schreien: ›Nicht zu viel, verlang nicht zu viel!‹ und schloss wieder die Augen. Es war still in der Kapelle. Selbst der Direktor schien stehengeblieben zu sein. Aber unter meinen Lidern sah ich nicht den rötlichen Schimmer, den das Tageslicht gibt, wenn es durch die blutgefüllte Haut dringt, sondern einen blendend weissen Schein, der schmerzte.

›Jetzt ist's genug‹, sagte die Stimme des Direktors. Ich schrak auf. Der Fremde hob die Achseln, stellte den Kelch, den er in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch und ging mit lautlosen Schritten zur Tür hinaus. Ein Wärter führte die Zurückgebliebenen ab.

Der Direktor sprach mit dem alten Pfarrer. ›Der Sohn eines englischen Kollegen‹, hörte ich, ›sehr religiös. Aber...‹ Dabei klopfte er mit einem Fingerknöchel auf seine Stirn, ›ein wenig überspannt‹.

Ich habe den Rest meiner Strafe abverdient. Es war nicht schwer. Aber ich suche immer noch eine Erklärung. War der Fremde wirklich verrückt, oder hat er gesehen, was in mir ist? Etwas Unvergängliches? Ich habe eine Stelle bei einem Gärtner angenommen. Früher war ich, was man ›eine gescheiterte Existenz‹ nennt. Aber was soll ich tun? Ich kann doch nicht nach England fahren und den Fremden fragen, ob er nur seinen Spass mit mir getrieben hat. Vielleicht ist er auch schon längst irgendwo interniert. Aber wer kann beweisen, dass nicht ein anderer aus diesem modern gekleideten Jüngling gesprochen hat? Dass ein anderer in mir war, dem diese Worte galten? Ich will warten. ›Was geht's dich an?‹ hat er gesagt, ich bin doch damals durch den Tod gegangen. Meinen Sie, das sei bedeutungslos?«

Der junge Mann zog seine langen Beine an sich, suchte mit ungeschickten Fingern nach seinen Zigaretten. Er fand sie endlich in der oberen Westentasche. Während er eine anzündete, zitterten seine Hände. Sein Blick wurde wieder furchtsam, wie bei seinem Eintreten.

Und dann stieg er aus, ohne Gruss.


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