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Die Hexe von Endor

1.

Am 31. März 1925 zog Adrian Despine, zweiter Kassier an der Banque Fédérale in Genf, in ein möbliertes Zimmer im dritten Stock des Hauses Nr. 23 der Rue du Marché. Amélie Nisiow, die Zimmervermieterin, hatte ihm drei Tage vorher erzählt, sie sei Witwe und lebe von ihren Renten. Ihr Mann habe sie vor zehn Jahren verlassen und sei verschollen, ihr achtzehnjähriger Sohn studiere in Paris an den Arts et Métiers und wollte sich zum Kunsttöpfer ausbilden. Despine war an jenem Tag ein sonderbarer Geruch aufgefallen, der die ganze Wohnung erfüllt hatte. Der Geruch war nicht unangenehm: Kampfer und frisches Nussöl liessen sich deutlich erkennen, dazu der ein wenig giftige Duft einer blühenden Pflanze. Despine hielt den Ausspruch der Wirtin: »Ich leide an Beklemmungen« für eine Erklärung.

Am Abend des 31. März war Despine bis um elf Uhr nachts mit dem Einordnen seiner Sachen beschäftigt. Sein Zimmer ging auf einen kleinen Hof. Vor dem Fenster lief eine Holzveranda von der Treppe zur Eingangstür der Wohnung. Nach und nach gingen die Abendgeräusche zur Ruhe. An der gegenüberliegenden Hauswand wehte Wäsche im Mondlicht. Um 11 Uhr 15, Despine lag im Bett und starrte auf das schwere Rechteck des Fensters, läutete die Flurglocke unangenehm hell. Und doch hatte Despine keine Schritte auf der Holzveranda gehört. Die schwammigen Schritte der Wirtin liessen den Fussboden erzittern, leises Flüstern raschelte, dann waren die zurückkehrenden Schritte schleichend, aber es war auch diesmal der Tritt nur eines Menschen; es schnappte gedämpft. Despine schlief ein. Später gab er bei einem Verhör an, er sei einmal in der Nacht erwacht: Ganz deutlich hätte er von St. Pierre die Melodie des »Allons danser sous les ormeaux« gehört, darauf die zwei dunklen Stundenschläge.

In der Wohnung summte ein Lied auf. Das Summen kam näher, dröhnte laut, so laut, dass er meinte, das Holz der Türfüllung mitklingen zu hören; es war eine Melodie, leicht zu behalten: zwei Töne tief, drei eine Quart höher, wie das Hornzeichen einer Feuerwehr; dann drei Töne eine Oktave höher als die ersten. Despine lauschte; Erinnerungen an den Gesangsunterricht in der Schule halfen ihm; er zählte mechanisch: zweimal die Einheit, rechnete er, dreimal die Vierheit, zweimal die Achtheit; zwei und zwölf und sechzehn ist dreissig. Die Rechnung stimmte, das Summen hörte auf. Dreissig, dachte Despine. Drei Nullen hüpften vorüber. Dreissigtausend, dreissigtausend...

Es war nicht ein Erwachen aus dem Schlaf. Das erste war, dass die Haut des Körpers wieder fühlte: warmes Wasser; die Hand strich an der Blechkante, der gewölbten Blechkante einer Badewanne entlang. Dann hörten die Ohren wieder eine seltsam hallende Stimme: »Der ›Bund‹, der ›Bund‹, verlangen Sie die letzte Ausgabe des ›Bund‹!« Endlich sahen die Augen wieder. Sie waren schon lange offen, so starr aber, dass sie schmerzten. Und die feuchte Hand strich über die Augen, die Stirne war auch feucht. Die Hand strich weiter über den kahlen Kopf; da kam der erste Gedanke: »Wo sind meine Haare?« Nun klappten die Lider hoch, und der Kopf drehte sich von links nach rechts; die Augen sahen drei Badewannen nebeneinander. In der einen stand ein bärtiger Mensch; der Mensch schrie: »Der ›Bund‹, der ›Bund‹, neueste Ausgabe, kaufen Sie mich!« und schlenkerte freundschaftlich die Hand im Gelenk. In der zweiten Wanne lag ein Skelett, ganz dünne Haut war noch über die Knochen gespannt. Der Mund hatte keine Lippen. Er stotterte leise: »Zehntausend Pferde, zehntausend Rinder, dreissigtausend Schafe.«

Dreissigtausend, dachte Despine. Zweimal die Prim, dreimal die Quart, zweimal die Oktav, macht dreissig, und drei Nullen. Dreissigtausend. Das Zimmer, das er gemietet. Der Geruch nach dem Kampfer, dem Nussöl und der blühenden giftigen Pflanze. Bilsenkraut, Tollkirsche? Er beschnupperte seinen Arm.

Das einzige Fenster des Badraums hatte Milchglasscheiben, davor war ein einfaches Eisengitter. Die Stäbe warfen Schatten auf den Boden, der aus Holzlatten bestand. »Die Zwischenräume lassen das Wasser ablaufen«, dachte Despine mechanisch. Da sagte eine Stimme aus einer Ecke hinter ihm: »Geht es besser?« Er wandte den Kopf mit einem Ruck, spürte ein Reissen im Hinterkopf, so schmerzlich, dass ihm die Augen tränten. Als sie wieder klar waren, sahen sie einen Mann in weisser Uniform, mit einer grossen roten Kautschukschürze. Der Schnurrbart des Mannes war von derselben stumpfen Röte wie die Schürze. Der Mann stand auf und war gross und hager. Mit demselben Zögern auf allen Lippen- und Gaumenlauten, mit schwer rollendem Zungen-r fuhr der Mann fort: »Sehr aufgeregt, letzte Nacht, hat der Nachtwächter gemeldet. Sehr aufgeregt die beiden letzten Nächte. Jetzt geht es besser, nicht wahr?« Despine wollte aufstehen. »Nur liegenbleiben«, der Mann trat näher, drückte Despine in die Wanne zurück. Es war eine schwere Hand, mit roten Härchen bis an die Nägel, schimmernden roten Härchen. Bei der Berührung dieser Hand erkannte Despine, dass er nackt war, und er schämte sich. Er sah die Haut seines Körpers, die weiss war, die Haut an den Fingerspitzen faltig wie bei den Waschweibern. Der »Bund« rief seine Abendausgabe aus. »Wieviel Uhr ist es?« fragte Despine.

»Das wird Ihnen der Doktor sagen.« Der Mann mit dem roten Schnurrbart streifte die weissen Ärmel über die Ellbogen zurück und hob Despine aus der Wanne, trug ihn in einen grossen Saal und legte ihn sorgfältig auf ein Bett. Hier hatten die Fenster keine Gitter, aber auf den zwölf, nein? dreizehn Betten lagen rotgegitterte Plumeaus. Der Boden war braunglänzendes Parkett, über das Filzpantoffeln, sechs Paar, lautlos glitschten. Despine konnte die dazugehörenden Körper nicht unterscheiden, denn ein dichtbelaubter Ast vor dem Fenster, seinem Bette gegenüber, gab die weisse Sonnenscheibe frei, und er musste die Augen schliessen. Er fühlte noch, dass man ihm ein Hemd aus grobem Stoff anzog, eine sanfte Decke wurde über ihn ausgebreitet.

Das Zimmer war rötlich, als er die Augen wieder aufschlug. Ein runder, glattgeschorener Kopf war kaum eine Spanne weit von seinem Gesicht entfernt, und braune Augen betrachteten ihn wissenschaftlich und teilnahmslos. Dann stieg der Kopf in die Höhe und stand still. Der Mund sprach gemessen die Worte:

»Wie heissen Sie?«

»Despine. Und Sie?«

»Ich bin der Doktor Metral.«

Despine versuchte im Bett eine Verbeugung, die misslang. Die folgenden Fragen nach Alter und Stand beantwortete er klar. Die Frage nach dem Datum war schwieriger, nach einigem Zögern: »1. oder 2. April 1925.«

»Nein«, sagte Metral streng. Despine wurde schüchtern, die Augen zwinkerten. Auch konnte er den Ort, an dem er sich befand, nicht nennen.

»Spital?« fragte er zögernd.

»Tun Sie nicht so naiv«, verwies ihn Metral. Was er in den letzten Tagen gemacht habe?

»Nichts«, sagte Despine erleichtert, »das heisst, meine Arbeit«, und lächelte, Einladung zum Mitlächeln, die der Doktor ablehnte. Er solle sich aufsetzen, verlangte Metral. Das gelang mit einiger Mühe. Die nackten Beine baumelten über dem Bettrand. Metral schlug mit einem kleinen Kautschukhammer auf die weiche Stelle unter der Kniescheibe. Das erstemal blieb das Bein unbeweglich, das zweitemal (Metral schlug energisch) schnellte es sehr träge ein wenig vor. Metral zog eine Stecknadel aus dem Ärmel seines langen weissen Kittels, fuhr mit der Spitze kreuz und quer über den nackten Oberschenkel des Sitzenden, über den nackten Bauch; es zeigten sich schwache rote Linien, eine Zickzackzeichnung. Die Linien verdickten sich, blieben.

»Patellar gehemmt, Dermographie«, diktierte der Doktor einem Unsichtbaren. Dann pochte er Rücken und Brust ab, presste das kalte Ohr auf die Herzgegend (Despine klapperte ein wenig mit den Zähnen; »das Bad«, entschuldigte er sich). Mitleidlos diktierte Metral weiter: Lungen o.B., Herz o.B.

»Schauen Sie meinen Zeigefinger an«, sagte er streng. Der Zeigefinger kam bis zur Nasenspitze Despines, entfernte sich, kam wieder näher. Metral brummte Unverständliches. Der Zeigefinger fuhr von rechts nach links, hinauf, hinunter, Despines schmerzende Augen folgten verzweifelt. Eine Hand legte sich auf das rechte Auge, liess das Auge wieder frei.

»Pupillarreflex verlangsamt.« Ein Seufzer beendete die Untersuchung.

»Niemals geschlechtskrank gewesen?« fragte Metral strenger, überhörte das indignierte »nein«. »Alle sagen sie nein, und dann ist der Wassermann doch positiv!« Wieder ein Seufzer.

»Machen Sie ein Fragezeichen. Blut und Liquid abzapfen.«

»Natürlich trinken Sie«, er starrte Despine wieder an. »Strecken Sie die Hände aus... Tremor«, bestätigte er sich selbst befriedigt. »Schnaps, Wein, Bier? Nicht wahr? Und wo ist das Geld?« fragte er und stemmte die Fäuste in die Seiten. »Wieviel war es?«

»Dreissigtausend«, sagte Despine.

»Aha«, Metral nickte, »man fängt sie doch alle«, sprach er befriedigt zum Unsichtbaren hinter seinem Rücken. »Das wissen Sie also doch noch, und der Rest war wohl Theater, wie?«

»Aber nein«, Despine wehrte sich, liess sich zurückfallen und zog die Decke bis ans Kinn. »Das war doch nur ein Traum. Zweimal die Prim, dreimal die Quart, zweimal die Oktav, das macht dreissig und drei Nullen, das sind dreissigtausend, und das kann doch nur Geld bedeuten, denn ich bin Kassier, wie ich Ihnen doch sagte.«

»Verstellen Sie sich nicht«, sagte Metral väterlich, »es fehlen in Ihrer Kasse dreissigtausend Franken, die Sie im Beisein von Zeugen am 2. April um 2 Uhr 30 Ihrer Schalterkasse entnommen haben, worauf Sie sich unter dem Vorwand, sich zu Ihrem Direktor zu begeben, entfernt haben. Wo sind diese dreissigtausend Franken?«

Nun stand auch der unsichtbare Diktataufnehmer neben dem Fragenden. Es war eine kleine Gestalt. Als Despine seine Blicke hilfesuchend durchs Zimmer schickte, blieben sie schliesslich auf dieser unscheinbaren Gestalt kleben, wanderten zum Gesicht, das bleich war; in den weissen Ohrläppchen schimmerten goldene Reissnägel, und Despine erkannte, dass er eine Frau sah.

»Sie müssen ihn nicht mehr quälen«, sagte die Frau.

»Fräulein Vigunieff, lassen Sie mich in Frieden.«

»Ich werde ihn morgen fragen«, sagte Fräulein Vigunieff, klemmte Papiere unter ihren Arm und schraubte die Füllfeder zu.

»Gut.« Metral zog die Lippen zwischen die Zähne. Er schnalzte mit den Fingern, worauf der rote Schnurrbart herbeigeschlichen kam. »Geben Sie ihm Chloral diese Nacht. Ich werde es aufschreiben.« Er ging zur Tür. Das kleine Fräulein Vigunieff zog ein rot und braun gestreiftes Taschentuch aus der Tasche ihrer Arztbluse und wischte die grossen Schweisstropfen von Despines Stirne.

2.

Frau Nisiow machte dem Untersuchungsrichter Vibert in einem schwarzseidenen Kleid einen Besuch. Sie nannte es Besuch, obwohl es eine Vorladung war. Herrn Viberts Gesicht bestand aus einem riesigen blonden Bart, mit einem Streifen Haut darüber; Mund, Nase und Augen hatten sich nur mühsam den Platz darein geteilt, doch für die Stirne war nichts übriggeblieben.

»Amélie Nisiow, geborene Petroff, 3. März 1860, Petersburg, verwitwet, Rentnerin, Rue du Marché 23. Stimmt?« Die Worte wurden durch die Barthaare filtriert, so dass sie sauber zu dem Schreiber hinüberrollten, der sie nur nachzuschreiben brauchte.

Frau Nisiow ächzte ein Nicken. Sie wollte Einzelheiten über ihr Leben erzählen, aber ein: »Unnötig, wir wissen alles« unterbrach sie hart. Die Augen des Herrn Vibert gingen im schmalen Hautstreifen auf und verdrängten die Haut nach allen Seiten. Dann flutete die Haut wieder zurück, und die Augen gingen unter, verschwanden wieder, wie Sterne dreizehnter Grösse.

»Erzählen Sie, was am Abend des 2. und am Morgen des 3. April vorgefallen ist.«

»Er ist gekommen heim um 11 Uhr. War noch sehr unruhig in seinem Zimmer. Ich kann nicht gut schlafen, und er hat mich gestört. Am andern Morgen ist er nicht aufgestanden. Ich habe gedacht: komischer Angestellter, er hat sich verschlafen am Vortag schon, er verschläft sich wieder. Habe geklopft an seine Türe.« Frau Nisiow schlug dreimal mit der prallen rechten Faust auf die Fettpolster der linken Handfläche. »Er hat nicht geantwortet. Da habe ich die Türe aufgemacht. Herr Despine ist gelegen nackt auf dem Bett, ganz nackt, ich habe mich geschämt. (›Na, na‹, sagte Herr Vibert, ohne die Augen aufgehen zu lassen.) Ich habe ihn gerüttelt, er ist nicht aufgewacht. Die Augen waren halb zu. Man hat nur gesehen das Weisse. Da habe ich Frau Courvoisier, welche wohnt auf dem gleichen Stock, zum Doktor und zur Polizei geschickt. Und der Doktor und die Polizei...«

»Weiss ich«, sagte Herr Vibert. »Es fehlen dreissigtausend Franken. Wo ist diese Summe hingekommen?« Da Frau Nisiow schwieg, wiederholte er leise und filtriert: »Wo sind diese hingekommen?«

»Also, ich habe seine Sachen nicht durchsucht«, wehrte sich Frau Nisiow. Dass ihr Gesicht rot war, braucht wohl nicht erwähnt zu werden, aber sie schwitzte krachend in ihrem Mieder.

»Wer war, oder besser, was ist die Hexe von Endor?« fragte Herr Vibert, und die Augen gingen wieder auf am bleichen Hautfirmament.

»Was wissen Sie von diesem Buch?« fragte Frau Nisiow sehr leise. Der Untersuchungsrichter zog eine Schublade auf und hielt einen dünnen Pergamentband in die Höhe, auf dem schwarze russische Buchstaben gemalt waren.

Frau Nisiows Mieder krachte stärker. »Es ist mein Buch«, sagte sie, »wo haben Sie es gefunden?«

»Im Bett von Adrian Despine.« Die Augen gingen wieder unter.

»Er hat es gestohlen, wie er hat gestohlen das Geld.«

»Ja, aber er weiss nichts von dem Geld, sagt er. Ich habe ihn noch nicht verhört. Ich wollte zuerst Ihre Ansicht wissen. Sie haben keine Ansicht?«

»Er hat gestohlen das Geld.«

»Aber wo hat er es hingebracht?«

»Vielleicht«, sagte Frau Nisiow, zog einen geöffneten Brief aus dem Mieder (auf dem Kuvert war ein roter Zettel, »Express«, deutlich sichtbar) und reichte ihn über den Tisch. Dem Untersuchungsrichter sass plötzlich ein Hornkneifer rittlings auf dem Vorsprung, der die Nase vorstellen sollte. Die Augen gingen wieder auf. Herr Vibert las:

»Deine Wirtin gefällt mir nicht, mein Lieber. Nimm Dich vor ihr in acht. Ich werde am 2. April, abends 8 Uhr, auf der Place du Molard auf Dich warten. Wir können bei mir Tee trinken, denn mein Mann ist verreist. Leb wohl inzwischen
N.«

»Akten«, sagte Vibert und warf dem Schreiber den Brief mit abgezirkelter Bewegung hin. »Zuerst dem vereidigten Graphologen zeigen. Einiges...« Vibert kämmte seinen Bart, stockte. »Notieren Sie: elegante Frau, Dilettantin in Malerei, leichtes Schielen auf dem linken Auge, kurze Finger, unglückliche Kindheit, Geldheirat, verschwenderisch – erlauben Sie«, er nahm den Brief wieder an sich, »zwei Geburten. Wird nicht schwer zu finden sein.«

»Despine ist also am 2. April, 11 Uhr nachts, nach Hause gekommen?« fragte Herr Vibert.

»Ganz sicher, um 11 Uhr.« Frau Nisiow stotterte ein wenig.

»Warum ist Despine am 2. April erst um 2 Uhr nachmittags ins Geschäft?« – Frau Nisiows Mund wurde breit: »Habe Ihnen schon gesagt, er hat sich verschlafen.« »Verschlafen?« Die ersten zwei Silben tief, die letzte hoch gesprochen, dann war die Rede wieder eintönig. »Warum sollte er sich in der ersten Nacht bei Ihnen verschlafen haben? Ihre Technik ist mangelhaft, Frau Nisiow. Ihr letzter Mieter hiess doch Arthur Abramoff? Und ist noch immer verrückt? Oder? War da nicht auch ein verschwundenes Portefeuille? Ja, ja, die Hexe von Endor.« Als Herr Vibert geendet hatte, war der Hautstreifen zwischen dem blonden Haupthaar und dem rechteckigen Bart ein unbeschriebenes Stück elfenbeingelbes Pergament.

Die Witwe Nisiow zog sich zurück.

3.

Dr. Metral: Blau.

Despine: Rot.

Dr. Metral: Baum.

Despine: Ast.

Dr. Metral: Adler.

Despine (kurzes Zögern): Schlange.

Dr. Metral: Mutter.

Despine (zögert fünf Sekunden): Hexe.

Dr. Metral: Geld.

Despine (ohne Zögern): Dreissigtausend.

Metral: Geliebte.

Despine (zögert acht Sekunden): Frau (zögert nochmals, als ob er noch etwas zu sagen hätte, Dr. Metral wartet, den Finger an der Stoppuhr, endlich sagt Despine nach neun Sekunden) Tanz.

Es ist das Ende des Assoziationsexperimentes.

»Wir machen das Ganze noch einmal«, sagte Dr. Metral. Die Stoppuhr knipst wieder, Dr. Metral spricht das Reizwort. Eintönig und folgsam, wie man es von ihm verlangt, sagt Despine das erste Wort, das ihm in den Sinn kommt. Manchmal muss er warten, bis ihm etwas einfällt; es scheint ihm gefährlich zu warten, während er das Ticken der Stoppuhr hört. Er bemüht sich, das Wort, das ihm einfällt, ohne Betonung auszusprechen; es gelingt ihm manchmal, zuweilen jedoch wird es ein Aufschrei oder eine weinerliche Klage.

»Was sehen Sie da?« fragt Dr. Metral und gibt Despine ein Blatt in die Hand. Darauf hat die Tinte sonderbare ungewollte Formen gezeichnet, eine Klecksographie. Und Metral hat noch sechs derartige Blätter vor sich. Vor dem Blatt, das er in der Hand hält, erschrickt Despine, er stottert »Ein... Hexenritt«, die Augen verdrehen sich, er wird steif, hölzern, fällt dann hintenüber auf den Diwan.

Metral telephoniert auf die Abteilung. Der rote Schnurrbart schleicht nach einigen Minuten ins Zimmer, nimmt die hölzerne Puppe auf seine Arme und schleicht wieder lautlos zur Türe hinaus.

»Wenn er aufwacht, zur Vorsicht ins Bad. Ich komme noch einmal, später, auf die Abteilung.«

Dann geht Dr. Metral zu Fräulein Vigunieff. Sie sitzt in ihrem Zimmer am Fenster und liest in einem abgegriffenen Schmöker: Fantômas, 14. Band, Der Gehenkte von London. In der Ecke spielt das Grammophon ganz leise: Aases Tod. Dr. Metral stellt das Grammophon ab, nimmt den Schmöker aus Fräulein Vigunieffs Händen und gruppiert seine magern Glieder auf einen Lehnstuhl am Tisch. »Was soll ich mit diesem Despine machen?« fragt er. »Ich habe das Assoziationsexperiment gemacht. Komplexempfindlichkeit bei Mutter, Adler. Wie ich den Rorschach mit ihm versuchen will, sieht er einen Hexenritt und fällt um. Vielleicht eine verspätete Reaktion auf Mutter. Mutter hat Hexe ausgelöst; Geliebte: Frau und plötzlich Tanz.«

»Irgendein Trauma«, sagt Fräulein Vigunieff traumhaft und sehnt sich nach Fantômas.

»Trauma, Trauma! Das ist alt, uralt, abgetan, unbrauchbar. Ich brauche ein Gutachten. Und ein Untersuchungsrichter braucht kein Trauma, sondern Verblödung, Tobsucht, Paralyse oder Alkoholdelir. Auch mit Hypnose kann man ihn schliesslich hinter dem Ofen hervorlocken. Aber Trauma. Überhaupt dieser Despine. Rekapitulieren wir: Ein zweiunddreissigjähriger Mann, solid, kleine Liebschaft mit einer verheirateten Frau, die zwei Kinder hat, sehen Sie den niedlichen Mutterkomplex? Ist seit zehn Jahren in der gleichen Bank beschäftigt und bleibt plötzlich an einem Morgen ohne Entschuldigung aus. Er kommt erst am Nachmittag, versieht seinen Dienst sehr zerstreut und scheint auf etwas zu warten. Sowie das Telephon auf dem Pult des ersten Kassiers läutet, stürzt er drauf zu und reisst den Hörer ans Ohr. Die Umstehenden hören ihn sagen: ›Jawohl, Herr Direktor, dreissigtausend in Hunderternoten, sofort.‹ Er geht zu dem ihm zugeteilten Geldschrank und nimmt sechs Päckchen, zu je fünfzig Hundertfrankenscheinen, steckt sie in seine Aktenmappe und stolpert zur Tür. Der Direktor weiss nichts, beschliesst, bis zum nächsten Morgen zu warten, glaubt, Despine sei einer Mystifikation zum Opfer gefallen. Am nächsten Morgen ist Despine bei uns. Nackt, mit Schmutz bedeckt auf seinem Bett gefunden. Haben Sie seine Wirtin, diese Frau Nisiow, schon gesehen?«

Fräulein Vigunieff schüttelt den Kopf.

»Erinnern Sie sich an Abramoff auf D III, der alle drei Wochen ins Dauerbad muss?« fährt Dr. Metral fort. »Der hat auch bei dieser Nisiow gewohnt. Hier hat er ja in der ersten Zeit auch von einer Hexe halluziniert. Jetzt lallt er nur noch. Kein Wunder bei der Paralyse. Aber ein auslösendes Moment muss doch auch hier vorhanden gewesen sein.«

»Was ist das für eine Frau, diese Nisiow?« fragt Fräulein Vigunieff und blättert wieder zerstreut in Fantômas.

»Gross, rot und fett, sehr fett«, sagt Dr. Metral und knetet in der Luft unsichtbaren Teig. »Grüne schläfrige Augen, ein vierfaches Kinn, eine Brust, auf der man bequem Tee für vier Personen servieren kann. Eine Landsmännin von Ihnen, glaub' ich. Und sonst? Zweifellos eine Hysterika. Hat eine Zeitlang bei dem Medium Helene verkehrt, das Kreuzigungen mit den Zehen malt. Unter Despines Körper hat man ein russisches Buch gefunden, der Titel soll übersetzt heissen: Die Hexe von Endor...«

»Die Hexe von Endor –« Fräulein Vigunieff ist plötzlich interessiert. »Das kenne ich. Der vereidigte Übersetzer hat wohl nichts verstanden. Haben Sie die Übersetzung gelesen? Ja? Erinnern Sie sich: Wer das Blut des weissen Ritters vermählt mit dem Schweiss des Tieres, das geduldig drischt, und gibt dazu den Duft des Baumes, höher schlägt das Herz alsdann, wenn dein Leib umgeben ist von Pflanze, Tier und brennender Luft. Der Herr des Fliegens und der summenden Welt ist um dich, bei dir und in dir. König bist du dem andern im Blau des aufgehenden Mondes.«

»Ja, ich erinnere mich«, sagte Metral sachlich, und wundert sich über die Begeisterung des Fräulein Vigunieff.

»Wissen Sie, welche Wirkung Skopolamin in grossen Dosen hat?« fragt Fräulein Vigunieff ironisch.

»Hoffentlich.« Dr. Metral ist gereizt.

»Und Kampferöl kennen Sie auch? Auch Rindsschmalz?«

»Machen Sie sich nicht lustig über mich.«

»Nun, der weisse Ritter klingt doch schöner als Hyoscyamus niger. Wissen Sie was? Überlassen Sie mir den Herrn Despine. Es wird vielleicht drei Monate dauern. Aber dann kann ich Ihnen wohl einen interessanten Beitrag zur Wirkung der Rauschgifte auf den Mutterkomplex liefern.«

Fräulein Vigunieff zieht das Grammophon auf, lässt »Mary Lou, I love you« von Negern singen und vertieft sich in das sonderbare Abenteuer Fantômas, der einen Kautschukschlauch verschluckt, bevor er gehängt wird, was dem Detektiv Juve erlaubt, ihn von den Toten zu erwecken, um ihm furchtbare Geheimnisse zu entreissen.

4.

»Haben Sie diesen Brief geschrieben, Madame?« fragte der Untersuchungsrichter Vibert die elegante Dame, die vor ihm sass. Sie schielte auf dem linken Auge, hatte kurze Nägel an den breiten Fingern, und es entströmte ihr ein leichter Terpentingeruch, den Herr Vibert als Beweis seiner graphologischen Fähigkeiten befriedigt feststellte.

»Wir werden Sie nicht belästigen, Madame«, Herr Vibert filtrierte sorgfältig seine Worte. »Wir wollen nur eine Bestätigung. Haben Sie Despine um 8 Uhr getroffen?«

»Herr Despine ist ein Freund meines Mannes und auch ein Schulfreund von mir«, sagte die Dame ärgerlich, »ich habe eine Stunde auf ihn gewartet, aber er ist nicht gekommen.«

»Das wäre alles, Madame. Tiefe Trauer ergreift mich, dass ich Sie habe belästigen müssen. Ich bin deshalb Ihr untertänigster Diener«, sagte Herr Vibert und geleitete die Dame zur Türe hinaus. »Wenn ich nur wüsste, ob sie eine unglückliche Kindheit gehabt hat«, fragte sich Herr Vibert und läutete, um die Witwe Nisiow hereinführen zu lassen.

Die Witwe Nisiow (es war ihre fünfte Vernehmung) hatte schon beim zweiten Male das schwarze Seidenkleid verschmäht und trug sich mausgrau, in einem schlampigen Wollkleid. Und auch das Mieder hatte sie daheim gelassen. Daher sickerte sie über den Stuhl, wenn sie sass. Es war ein erstarrtes Sickern.

»Wir haben jetzt erfahren«, sagte Herr Vibert mit untergegangenen Augen, »dass Adrian Despine am 2. April, um 8 Uhr abends, die bewusste Dame nicht getroffen hat. Ausserdem hat sich bei mir ein Chauffeur gemeldet, der am 2. April um 3 Uhr nachmittags vor dem Hause Nr. 21 gehalten und einen Betrunkenen ins Nebenhaus hat torkeln sehen. Der Betrunkene ist ihm aufgefallen, weil er gegen die Hausmauer getaumelt ist und dabei eine Aktentasche hat fallen lassen. Der Chauffeur hat den Mann angerufen und ihm die Tasche wiedergegeben. Dabei hat er bemerkt, dass der Taumelnde gar nicht nach Schnaps oder Wein roch. Er hatte starre, glänzende Augen, mit kleinen Pupillen. Dicke Schweisstropfen rollten die Wangen herab, aber der Mann schien das gar nicht zu fühlen. Die Beschreibung, die der Chauffeur von diesem Manne gab, passt genau auf Adrian Despine.« Herr Vibert hielt inne. Frau Nisiow hatte die Lider über die Augen gesenkt und murmelte Unverständliches.

Das Fenster im Rücken des Herrn Vibert stand weit offen. Plötzlich schlug sich Herr Vibert klatschend auf die Wange; auf dem Schreibtisch krabbelte hilflos eine halberschlagene Bremse, Frau Nisiow murmelte ungestört weiter.

»Eine Bremse im April, sonderbar«, wunderte sich Herr Vibert; im Fenster hinter ihm entstand ein Summen, das anschwoll. Schwarze Striche zogen sich durchs Fenster. Herr Vibert fuchtelte um sich, auch der Schreiber wedelte mit den Aktenblättern. Das Zimmer füllte sich mit Fliegen, Mücken, Wespen, Bienen, fliegenden Ameisen, Libellen. Sie krochen auf dem Schreibtisch herum, fielen klatschend auf den Boden. Das dumpfe Gebrumm grosser Hummeln war deutlich zu unterscheiden vom hellen Weinen der Mücken und dem leisen Orgelton der Bremsen und Bienen. Unwillkürlich musste Herr Vibert an den Satz denken, den laut Protokoll des Dr. Metral Adrian Despine so oft wiederholt hatte: »Erst zweimal die Prim, dann dreimal die Quart und zweimal die Oktav.«

Um Frau Nisiow war ein leerer Raum. Herr Vibert wehrte sich verzweifelt gegen das Ungeziefer, das sich in seinem Bart verfangen hatte. Der Hautstreifen darüber schwoll rot an, und von der Stirne liefen Blutstropfen und färbten die blonden Haare an manchen Stellen. Das Händefuchteln war nutzlos. Die Handrücken waren schwarz, dicht bedeckt mit surrenden Leibern. Der Schreiber hatte die Arme verschränkt auf den Tisch gelegt und den Kopf darauf, auch seine weissen Haare waren unsichtbar unter einer surrenden schwarzen Perücke.

Frau Nisiow stand auf, ging zur Tür. Ein eintöniges Summen kam von ihren Lippen. Das Summen im Zimmer wurde stärker. Sie wechselte die Melodie, pfiff mit gespitzten Lippen Quint und Septim, den ganzen Dominantseptakkord, hinauf und hinunter. Das Ungeziefer sammelte sich zu einer Wolke, als habe es ein Signal gehört, und folgte Frau Nisiow zur Türe hinaus, durch die Gänge des Justizpalastes, in denen die erschrockenen Schutzleute Spalier bildeten, um die schlampige alte Frau mit ihrer sonderbaren Leibgarde passieren zu lassen. Die Wolke folgte ihr auch, als sie durch den besonnten Hof schritt, auf die Gasse hinaus und die steile Rue Verdaine hinab. Das Pfeifen hatte sie eingestellt, dennoch folgte ihr der Schwarm, folgte ihr auch in das Haus, die Holztreppe hinauf und in ihre Wohnung.

»Verstehen Sie das?« Herr Vibert wandte seinem Schreiber einen verschwollenen Hautstreifen zu. Vergebens versuchten die Augen aufzugehen. »Insektenschwärme im April? Gibt es das? Nein, bitte, kein Zitat«, wehrte er ab, als sein Schreiber den Mund öffnen wollte.

Ein kleines, kupferhaariges Männlein, glatt rasiert, trat ins Zimmer und kam, schwingend den gewölbten Hinterteil, auf den Untersuchungsrichter zu. Er legte ein mit braunem Packpapier umhülltes Paket auf den Schreibtisch und flüsterte Herrn Vibert etwas ins Ohr, während die Umhüllung von den Gegenständen fiel. Herr Vibert nickte und diktierte dann laut:

»Die Haussuchung bei der Witwe Nisiow, Rue du Marché 23, am 10. April, 15 Uhr, von dem Kommissar Vachelin und den Polizisten Sandoz und Corbaz vorgenommen, hat ergeben:

Das Beklopfen der Wand hinter dem ungemachten Bett vorerwähnter Witwe einen Hohlraum, verbergend ein Wandkästchen, das unter der Leitung von Kommissar Vachelin mit einem, zu diesem Behufe mitgeführten Stemmeisen gesprengt wurde. Der Inhalt bestand aus: 1 Glasflasche, enthaltend zirka 200 Gramm Schwefeläther; 1 Steinguttopf mit einer nach Kampfer riechenden Salbe; 1 roter Zierkürbis, enthaltend fein zerriebene Blätter einer unbekannten Pflanze; 1 Pravazspritze, Marke Record; 1 Schachtel mit 3 Ampullen mit einer 2prozentigen Morphiumlösung; 1 schmutziger Lederbeutel, enthaltend eine Münze mit griechischer Aufschrift auf der einen Seite, auf der andern die Abbildung einer nackten männlichen Gestalt, mit vier ausgebreiteten Fliegenlöffeln, die in der rechten Hand eine sogenannte Pansflöte hält, in der linken ein Insektenei.

Haben Sie das, Grandjean? Sie verstehen wohl auch nichts? Nein, nein, bitte keine Zitate.«

Dann ging Herr Vibert an den blechernen Wasserbehälter, drehte den kleinen Hahn auf und liess das Wasser in ärmlichem Strahl in das emaillierte Waschbecken stottern. Er kühlte sein Gesicht mit dem Handtuch, das, laut ungeschriebener Vorschrift nur für die Hände bestimmt war.

»Was wollen Sie hier, Sandoz?« flüsterte da der Kommissar Vachelin, als sich ein breiter, hoher Waadtländer auf schweren Nagelschuhen zur Tür hereinschob und eckig salutierte. Er wischte den braunen Schnurrbart beiseite und sagte:

»Sie hat sich aufgehängt, und die dreckigen Viecher fressen sie auf.«

»Wir wollen hingehen«, sagte Herr Vibert ganz ruhig, »diesen Anblick darf ich mir nicht entgehen lassen.«

In der Wohnung fanden sie an der Innenseite des krachenden Mieders (es hing über dem Bettende) wohlverteilt dreihundert Hundertfrankenscheine. In der Küche fand der Polizist Corbaz in einer mit Mehl gefüllten Schublade ein rotes Portefeuille, das drei Tausendfrankenscheine enthielt, Visitenkarten aus Büttenpapier, mit dem Namen: Mr. Douglas Tennyson, Connecticut, und einen Pass, lautend auf Arthur Abramoff, maître d'hôtel.

5.

In seinem Gutachten über den Fall Despine spendet Dr. Louis Metral dem Fräulein Vigunieff ein verdientes Lob über die Resultate der von ihr gehandhabten Behandlungsweise und gibt den Bericht dieser talentvollen Anfängerin wieder:

»Ich versuchte bei Despine die sogenannte analytische Behandlung und liess ihn frei assoziieren, das heisst jeden Einfall wiedergeben. Bei vollkommener Ehrlichkeit seinerseits könne ich ihm vollkommene Genesung versprechen. Nach der Aufdeckung des ganzen Sachverhalts liess ich mir von ihm die Erlaubnis geben, den Sachverhalt dem Herrn Untersuchungsrichter mitteilen zu dürfen. Despine war von seiner Mutter abhängig. Sie erzog ihn nach dem Tode seines Vaters und blieb bei ihm bis zu ihrem Tod, der 1915 erfolgte. Despine fühlte sich die folgenden Jahre sehr einsam, es war, wie er sagte, eine grosse Leere in ihm. Er nahm das Zimmer bei der Witwe Nisiow in einem unbewussten Zwang, weil diese seiner Mutter glich. Die kluge Frau merkte sofort den Einfluss, den sie auf diesen Mann gewinnen konnte. Am Abend des 31. März zog Despine bei ihr ein. Sie fand erst spät Gelegenheit, sich ihrem neuen Mieter zu nähern. Nach 11 Uhr empfing sie den Besuch ihres Sohnes aus Paris, der ihr seine Geldnöte klagte. Sie entschloss sich, ihren Mieter zu wecken und ihn um ein Darlehen zu bitten. Um ihn nicht zu erschrecken, summte sie eine Melodie vor sich hin und klopfte an seinem Zimmer, bat ihn dann auf einen Augenblick in ihr Wohnzimmer. Despine kam. Um das Darlehen angegangen, weigerte er sich: Er habe kein Geld. Die Witwe liess das Thema fallen. Despine sprach von seiner Mutter, wie sehr er sie vermisse und wie sehr er sich nach ihr sehne.

Ich möchte hier einen Traum wiedergeben, den mir der Patient erzählte und der es mir erst ermöglichte, das ganze Erlebnis aus der Verdrängung ans Licht zu ziehen. Er träumte, er stehe auf einer Bergwiese im Mondschein. Um einen aufgestellten Stein tanzten nackte Frauen im Kreise. Eine von ihnen dreht sich plötzlich um und winkt ihm, der abseits steht. Er fürchtet sich, die Gebärde befiehlt ihm, Verbotenes zu tun, er weiss nicht was, aber es ist verboten. Er weigert sich, hat Angst, das Gebotene auszuführen, Angst, es zu unterlassen. Diese Angst lässt ihn erwachen.

Nach diesem Traum bedurfte es zweier Tage schwerer Arbeit, um den Zusammenhang mit dem eben Erlebten zu finden. Dann erzählte Despine, schon das Summen vor seiner Zimmertür habe ihm wie ein Befehl geklungen. Von der Mutter habe er die Noten gelernt. Damals seien ihm die Intervalle wie Zahlen vorgekommen, er habe mit ihnen gerechnet, sie addiert, wenn sie aufsteigend, subtrahiert, wenn sie absteigend gewesen seien. Diese Erinnerung an Dreissigtausend sei ihm hartnäckig geblieben. Ich erklärte ihm, das sei eine Deckerinnerung, die das Unterbewusste brauche, um sich unangenehme Erlebnisse fernzuhalten. Über einen kleinen Diebstahl, den er als Knabe begangen hatte, kamen wir endlich zum Kern der uns beschäftigenden Angelegenheit.

Frau Nisiow (Despine assoziiert auf ihren Namen stets den der Giftmischerin Voisin, und sonderbarerweise ist Nisiow die Umkehrung dieses Namens, mit ein wenig geänderter Orthographie) schlägt ihm vor, seine Mutter sehen zu lassen; sie verfüge über geheime Kräfte und könne ihn an den Ort führen, wo die Seele seiner Mutter, an den Körper gebunden, jede Nacht tanze. Despine glaubte dies. Frau Nisiow redet von dunklen Gewalten, über die sie Herrin sei, murmelt Worte dazu, das Zimmer ist erfüllt mit Fliegengesumm. Es sei hier nur bemerkt, dass das Mittelalter den Teufel als Fliegengott kannte. Die Beschwörung sollte am nächsten Tag vor sich gehen. Despine ist ein wenig betäubt. Es ist spät. Am nächsten Morgen verschläft er sich. Am Abend des ersten April, um zehn Uhr schon, beginnt die Beschwörung. Der Sohn ist abgereist. Despine wird mit einer Salbe eingerieben, die wohl Belladonna oder sonst ein Alkaloid enthalten haben mag, wird langsam berauscht, hat die typischen Flugträume, in denen er mit der dicken Nisiow durch die Luft fährt, die Bergwiese sieht und den Befehl seiner Mutter empfängt. Er hat dies Erlebnis während meiner Behandlung in dem vorher erwähnten Traum reproduziert. Vor dem Erwachen bekommt er von der besorgten Witwe noch eine starke Morphium-Kampfer-Einspritzung. Die Witwe erklärt ihm, er müsse dreissigtausend Franken stehlen und ihr bringen, damit sie durch ihre Künste seine Mutter aus dem höllischen Tanz befreien könne. Despine ist noch nicht ganz mürbe, er wehrt sich. Die Witwe bringt ihn zu Bett, legt ihm ein mit Äther getränktes Tuch auf die Nase. Am nächsten Morgen schläft Despine bis um zwölf Uhr. Er erwacht mit schwerem Kopf, bekommt irgendeinen betäubenden Blätteraufguss und wird nach der Bank geschickt. »Ich werde dich rufen, damit du deine Pflicht nicht vergissest«, ruft ihm die Nisiow nach. Er wartet auf den Ruf. Soll man Telepathie annehmen, dass er den Ruf durch das Telephon erwartet? Ich glaube nicht. Auch dass er einem nicht vorhandenen Direktor antwortet, ist wohl leicht durch Suggestion zu erklären. Er bringt der Witwe das Geld. Sie hat Angst, verraten zu werden, überzeugt den Halbbetäubten, nochmals auf die Bergwiese zu fliegen. Sie benutzt den Rausch zu hypnotischer Beeinflussung und befiehlt ihm, alles zu vergessen. Als der Betäubte gegen Morgen in eine Art Starrkrampf verfällt, wird die Witwe ängstlich, lässt einen Arzt und die Polizei rufen und atmet auf, als sie erfährt, dass Despine im Irrenhaus interniert worden ist.

Es ist mir unmöglich, auf alle noch vorhandenen Unklarheiten einzugehen. Ich möchte nur bemerken, dass ich das Buch ›Die Hexe von Endor‹ aus Russland kenne, wo es von Kurpfuschern und abergläubischen Leuten benützt wird, um durch Rezepte, die es enthält, mit dem Teufel in Verkehr treten zu können. Es ist mir natürlich unmöglich, die Macht dieser Frau auf Fliegen und andere Insekten erklären zu können. Aber ich kann über den Gesundheitszustand des Adrian Despine nur Gutes berichten und seine baldige Entlassung aus der Anstalt befürworten.

Sign.: Vera Vigunieff.
Eingesehen: Adrian Despine.«


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