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Der Schlossherr aus England

Der Mann trug einen dunklen Mantel, der auf dem Rücken Falten warf. Die Absätze seiner Schuhe waren schiefgetreten, die Hosen unten ausgefranst und bis zur halben Höhe der Waden mit Kot bespritzt. Das Wetter war auch danach. Die Bäume glichen Besen, die man zu lange eingeweicht hat.

Der Mann hatte einen unsichern Schritt; er hinkte leicht. Den Kopf hatte er nach vorn sinken lassen, er ging auch sonst gebeugt: Vielleicht war der Mantel schwer, der Mantel, der sich mit Feuchtigkeit vollgesogen hatte.

Seit etwa fünf Minuten folgte Schwester Klara dem Mann. Sie hatte eine Besorgung gemacht, nun wollte sie wieder ins Gemeindespital zurück, wo sie Oberschwester war. Das Dorf war lang, das Spital lag am andern Ende. Sie hätte den Mann leicht überholen können, aber sie war neugierig. So folgte sie ihm, um ihn zu beobachten.

Der Mann schlurfte weiter über die verlassene Dorfstrasse. Vor der Wirtschaft zum »Klösterli« blieb er einen Augenblick stehen, grübelte in den Hosentaschen, dann schüttelte er den Kopf und knöpfte seinen alten Mantel wieder zu. Er presste die Hand aufs Herz und ging weiter, mit schiefem Oberkörper.

Dem Gemeindespital gegenüber stand eine Bank. Der Mann ging auf sie zu, liess sich niederfallen und blieb regungslos sitzen. Sein Kopf war tief herabgesunken, der Schirm seiner grauen, verwaschenen Mütze verbarg das Gesicht. Schwester Klara ging zögernd an der Bank vorbei, öffnete die Gattertüre, ging aufs Spital zu, kehrte wieder um, als sie ein leises Stöhnen hörte.

»Fehlt Ihnen etwas?« fragte sie, als sie neben dem Mann stand.

»Herz, das Herz!« flüsterte der Mann und hob ein wenig den Kopf. Seine Lippen zitterten.

Schwester Klara griff nach seinem Handgelenk; ganz mechanisch, weil sie die Bewegung gut einige tausend Male in ihrem Leben gemacht hatte, legten sich Zeige- und Mittelfinger auf die Pulsader. Der Schlag war unregelmässig, manchmal stockte er – der Pulsschlag ähnelte entschieden dem Gang des Mannes. Und dann hustete der Mann. Es klang erbarmungswürdig, ganz tief aus der Brust heraus.

»Kommen Sie mit«, sagte Schwester Klara energisch. Sie half dem Mann von der Bank aufstehen, hiess ihn den Arm um ihre Schultern legen, und sie selbst umspannte mit dem ihren seinen mageren Oberkörper. Der Mann liess sich gut führen.

Drinnen war es warm, aber angenehm trocken. Der Mann hustete stärker.

»Wir haben Platz«, sagte die Schwester, »ich kann Sie als Notfall vorläufig aufnehmen. Natürlich müssen wir den Entscheid des Doktors abwarten. Aber der Doktor Niederhäuser ist kein ungäbiger Mann.«

Eine Tür. Ein weissgekachelter Raum. Eine Wanne und eine Bank an der Wand.

»So, sitzen Sie da ab. Ich rüste Ihnen ein Bad. Und dann will ich Ihnen oben ein Bett überziehen. Es ist ein Zweierzimmer leer. Sie werden ganz allein sein.«

Das Wasser rauschte. Der Raum füllte sich mit Dampf. Zusammengesunken sass der Mann auf der Bank. Er hatte erst drei Worte gesprochen: »Herz, das Herz«, hatte er gesagt. Aber nachher hatte er geschwiegen.

»Wie heissen Sie eigentlich?« fragte Schwester Klara. Sie beugte sich über die Wanne und rührte das Wasser mit dem Thermometer, der mit Holz umkleidet war.

»Louis Armstrong«, sagte der Mann. Er hatte die Mütze neben sich gelegt. Eine spitze Nase sprang vor. Seine Eckzähne trugen goldene Kappen.

»Engländer?«

»Auslandschweizer.«

Das Haar des Mannes war grau gesprenkelt. Über den Ohren, im Nacken, stand es in kleinen Wirbeln auf. Es war lange nicht geschnitten worden. Auch unrasiert war der Mann.

Er sprach hochdeutsch mit einem leichten Akzent. Vielleicht war es diese Tatsache, die Schwester Klara für ihn einnahm. Wenn man tagein, tagaus Bauern zu pflegen hat und Bauernfrauen, manchmal Knechte, im besten Fall einen Ladenjüngling oder eine Ladentochter, dann ist ein Fremder immerhin eine interessante Neuigkeit. Ein Fremder mit einem englischen Namen und einem fremden Akzent.

»Ich werde«, sagte der Fremde mühsam, »ich werde mich erkenntlich zeigen können. Es ist mir passiert ein Unglück, aber ich habe Freunde, einflussreiche Freunde. Und glauben Sie mir, ich habe gehabt Schlösser in Schottland und ein Haus in London, aber alles verloren ...«

»Sagen Sie, haben Sie Fieber?« fragte Schwester Klara. »Sie hoffen doch nicht, dass ich Ihnen glauben werde? So dumm bin ich nicht!« Sie stand vor dem Mann, die Fäuste in den Seiten, ihr Gesicht war sehr rot, auf den Wangen traten einige geplatzte Äderchen deutlich hervor.

»Ich verlange nicht, Sie sollen mir glauben, obwohl ich beweisen kann, was ich sage zu Ihnen ...« Der Mann sprach gut, und die ungewohnten Umstellungen waren eigentlich ein Reiz mehr. Schwester Klara wurde noch röter.

»Wir können dies alles später besprechen, jetzt baden Sie, ich hab' das Wasser extra nicht zu heiss gemacht, wegen Ihrem Herz. Dann will ich Ihnen noch einen Rasierapparat bringen, und nachher steck' ich Sie ins Bett, bis der Arzt kommt.«

»Ich werde schon auslösen können mein Gepäck«, sagte der Fremde. »Es liegt in Bern. Ich wollte gehen einen Freund besuchen, der wohnt in Thun, er hätte mir geholfen.«

»Zu Fuss, von Bern bis Thun? Haben Sie nicht schreiben können?«

»Sie haben mich ... wie sagen Sie? ... hinausgeworfen aus Hotel in Bern, weil ich nicht hab' zahlen können. Ich danke sehr, Sister, für Ihre Humanität.« (Er sprach Hjumäniteed aus.)

»Ja, ja, ziehen Sie jetzt Ihren Mantel aus ...«

Sie prüfte den Anzug. Der Rock ging noch an. Das Hemd auch. Es war cremefarben, ein wenig schmutzig, aber immerhin Rohseide. Die Schmetterlingsschleife war grau mit roten Tupfen.

Es war früh Abend geworden, denn man war erst Anfang Jänner. Im Zimmer war ein gelber Schein, weil die Stehlampe auf dem Nachttisch einen orangenen Schirm trug. Im Bett lag der Mann. Er war sauber rasiert und las, oder tat wenigstens so. Denn von Zeit zu Zeit liess er das Buch auf das Deckbett fallen und gähnte so hemmungslos, dass ihm das Wasser in die Augen trat. Dann war der Titel des Buches zu sehen: »Der Gott suchende Mensch.« Auf dem Nachttisch stand noch eine Kanne mit Tee und eine Tasse. Hin und wieder trank der Mann.

Schritte im Gang. Der Mann griff nach dem Buch und las aufmerksam. Dann ging die Türe auf, und Schwester Klara trat ein. Sie trug eine weisse Ärmelschürze, auf ihrem dunklen Haar sass eine gestärkte Haube.

»Gefällt Ihnen das Buch?« fragte sie und legte eine Injektionsspritze auf den Tisch.

»Kraft, ja, es gibt Kraft«, sagte der Mann ernst. Ein unterdrücktes Gähnen liess die Muskeln seiner Wangen hervortreten, so stark pressten sich die Kiefer zusammen.

»Ja«, sagte Schwester Klara, »Kraft brauchen wir. Ich auch. Wissen Sie, wieviel ich im Monat bekomme? Fünfzig Franken. Dabei zahlt die Gemeinde für den Posten hier zweihundert Franken mit freier Kost und Logis. Aber hundertfünfzig Franken gehen ans Mutterhaus. Damit ich ein ruhiges Alter habe, wenn ich arbeitsunfähig geworden bin. Aber bis dann hab' ich noch Zeit...«

Sie hatte während des Sprechens einen Wattebausch mit Alkohol getränkt und den Oberarm des Mannes abgerieben. Dann drang die Nadel unter die Haut. Der Patient stöhnte leise.

»Das tut doch nicht weh ...« Zuerst war die Stimme der Schwester hart gewesen, bei den letzten beiden Worten wurde sie weich. Der Mann hatte die Hand, die die Spritze hielt, ergriffen und hatte sie geküsst.

Das war etwas ganz Ungewohntes für Schwester Klara. Niemand hatte ihr bis jetzt die Hand geküsst. Sie war verlegen, gerührt, und um dies zu verbergen, begann sie sich mit den Leintüchern, mit den Kissen zu schaffen zu machen.

»Sie sind gut, Sister«, sagte der Mann. »Niemand ist gut gewesen mit mir in der letzten Zeit. Und früher? Ich war einmal in einem Sanatorium an der Côte d'Azur, in Cannes. Aber niemand war so gut zu mir wie Sie. Immer haben sie gewartet auf grosse Pourboires – wie sagt man – Trinkgelder. Jetzt ich kann keine Trinkgelder geben. Wer zahlt hier für mich?«

»Ich denk', die Heimatgemeinde«, sagte die Schwester und versuchte, die Auskunft so trocken als möglich zu geben. Es gelang nicht ganz. »Die Heimatgemeinde Frutigen, denn in Ihren Papieren steht doch, dass Sie in Frutigen beheimatet sind.«

»Oh, ich war nie dort. Ich bin aufgewachsen in der Fremde. Werden Sie schreiben gleich an die Gemeinde? Ich möchte lieber zahlen selber. Mein Freund, der ist in Thun, der wird schon schicken mir Geld, wenn ich bin gesund. Sie können warten so lange?«

»Nicht gern«, sagte Schwester Klara. »Aber wenn's sein muss ...«

»Ich wäre Ihnen dankbar, sehr dankbar. Wirklich. Was hat gesagt der Doktor?«

»Eine beginnende Pleuritis, und auch Ihrem Herz geht's nicht besonders. Haben Sie viel geraucht?«

»O ja, früher. Hundert Zigaretten im Tag, wie ich war in England. Viel zu tun hatte ich, und da ...«

»Na, einen Monat wird's schon gehen, bis Sie wieder gesund sind. Wollen Sie nicht Ihrem Freund schreiben?«

»Ja, ich werde schreiben... Danke, Sister.«

Wieder ergriff der Mann Schwester Klaras Hand, aber die Frau zog sie schnell zurück. Es wäre ihr nicht unangenehm gewesen, wenn der Mann ihr wieder die Hand geküsst hätte, und doch wehrte sich etwas in ihr.

Von den Papieren des Mannes hatte Schwester Klara nur den Heimatschein gesehen, ein altes, vergilbtes Blatt, ziemlich schmutzig, das erklärte, Ludwig Armstrong sei als Sohn des Peter Armbruster, genannt Armstrong, am 5. Juli 1880 in London geboren. Der Kranke besass noch eine Brieftasche, die ziemlich vollgepfropft schien, aber die behielt er immer unter seinem Kissen. Schwester Klara bekam den Inhalt nie zu sehen. Einmal nur, an einem sanften Februartage, entnahm der Mann der Brieftasche ein paar Photographien. Ein englisches Landhaus im Hintergrund, im Vordergrund eine Koppel Jagdhunde und ein Mann, dessen Gesichtszüge nicht deutlich zu erkennen waren. »Das bin ich«, sagte der Mann und wies auf die Gestalt im Vordergrund. »Und das sind Betty und Maisy, meine beiden Hunde. Das ist mein Schloss in Devonshire.« Schwester Klara wusste, dass Devonshire eine Grafschaft oder etwas Ähnliches in England war. Der Mann hatte also doch ein Schloss besessen – obwohl er nicht recht zu erkennen war auf dem Bild, konnte er es doch vielleicht sein. Es war eine Ähnlichkeit vorhanden. Schwester Klara redete es sich ein.

Der Handkuss war übrigens ein bleibender Ritus geworden. Schwester Klara hatte die Bewegung gelernt, mit der elegante Damen diese Huldigung entgegennehmen. Er tat es gerne, obwohl Schwester Klaras Hand rot war und oft nach Desinfektionsmitteln roch.

In den Nächten aber überfielen die Schwester sonderbare Gedanken. Sie war über dreissig, und bis jetzt war ihr Leben ruhig verlaufen. Einzig mit ihren Eltern hatte sie sich gezankt, weil diese sie hatten verheiraten wollen, damals, als sie einen Abscheu vor Männern gehabt hatte. Darum war sie in eine Pflegerinnenschule eingetreten. Mit achtzehn Jahren. Zuerst hatte sie schwere Arbeit gehabt. Fegen, Putzen. Sie verlor den Mut nicht. Dann war sie von einer älteren Schwester bearbeitet worden. Eine Art religiöser Schwärmerei war das Resultat: der leidenden Menschheit helfen, Bibel lesen, Kirchenlieder singen... Die ältere Schwester hatte sie protegiert. Sie war als Aushilfe in den Operationssaal gekommen. Dort begann die Stufenleiter von neuem: Putzen der Bestecke, Sterilisieren. Aber man sah manches. Man lernte. Die leidende Menschheit trat etwas in den Hintergrund, auch die religiöse Schwärmerei. Man interessierte sich für den »Fall«, manchmal konnte man mit einem Assistenten diskutieren. Bis der Tag kam, an dem man zum ersten Male bei einer Operation assistieren konnte. Man durfte den grossen Chef bedienen, ihm behilflich sein, sich anschnauzen lassen. Und dann, fast ein Festtag: die erste Narkose. Daneben etwa einmal ein Konzert, ein grosser Geiger, den man hörte. Am Sonntag Kirche. Zweimal in der Woche Bibelstunden. Aushilfe in den Krankensälen. Am Abend mit lauter Stimme den Kranken Kapitel aus der Bibel vorlesen, während ein paar Abgebrühte ihre Witze dazu machten – und man wurde rot. Die Assistenzärzte sahen einen kaum, der Chef war unnahbar, die Mitschwestern passten auf, aber sie fanden nichts. Und dann war man des sanften Gezänkes, der spitzigen Bemerkungen überdrüssig geworden, und als eine Oberschwester in ein Gemeindespital verlangt worden war, hatte man sich gemeldet. Man kannte eigentlich nur die Schattenseite des Lebens – sie war traurig. Kranke Körper, unzufriedene Patienten – immer hatten sie etwas zu reklamieren... Dankbarkeit?

Der Mann, den man aufgelesen hatte, gerade vor der Türe des Spitals, der schien dankbar zu sein. Er war höflich, von einer seltsam fremden Höflichkeit, die wirklich etwas Ungewohntes war. Er war zart, nie sprach er ein rohes Wort aus – und er küsste einem die Hand... Ein Vagant? Vielleicht. Ein Hochstapler? Auch möglich. Aber immerhin ...

Der Freund des Mannes hatte zweihundert Franken geschickt. Schwester Klara hatte den Brief, den der Mann geschrieben hatte, eigenhändig auf die Post getragen. Adressiert war er an: »Herrn Eugen Frutiger, Grand Hotel Palace, Thun«. Die Antwort war schon nach zwei Tagen gekommen, ein eingeschriebener Brief – und Geld war auch darin gewesen. Das Kuvert trug den Aufdruck des Hotels.

Die Thujahecken, die den Garten des Spitals umgaben, waren braun, die Rosenstöcke noch in Tannenreiser eingepackt. Einzig ein Haselbaum trug gelbe Kätzchen, und diese stäubten, wenn Vögel sich auf die dünnen Zweige setzten und dann wieder fortflogen. Die Sonne war warm und machte müde. Schwester Klara strickte an einem schwarzen Wollstrumpf. Neben ihr sass der Mann, blinzelte und lächelte manchmal. Er schien sich über irgend etwas zu freuen.

»Warum lachen Sie?« fragte Schwester Klara.

»Ich lache nicht«, sagte der Mann leise, »ich freue mich nur. Es ist schön, wenn die Sonnenstrahlen machen Regenbogenfarben um die Wimpern...«

»Sie reden wie ein kleines Kind, manchmal...« Und Schwester Klaras Stimme klang wirklich wie die Stimme einer Mutter, wenn sie sich über eine spassige Antwort ihres Sprösslings freut.

»Meine Mutter«, sagte der Mann, »ich habe nie gekannt meine Mutter. Ihre Eltern, sie leben noch?«

»Nein, die sind vor drei Jahren gestorben. Und ich hab' noch mit der Oberin vom Mutterhaus fast Krach bekommen, weil die gewollt hat, ich soll die Erbschaft hergeben. Aber was soll ich anfangen, wenn mir einmal der Dienst verleiden würde? Soll ich dann in ein Altersheim einziehen? Hier hab' ich's ja ruhig. Die Schwester, die mir hilft, ist ein guter Kerl. Aber wenn Sie wüssten, wie es anderswo ist... Vielleicht bin ich ja schuld. Man hat mir immer gesagt, ich hab' einen schwierigen Charakter.«

»O nein, Sie haben sehr guten Charakter. Ausgezeichneten. Und viel haben Ihnen die Eltern hinterlassen?«

»Brauchen Sie etwas?« fragte Schwester Klara spöttisch. »Ich kann Ihnen schon etwas leihen, denn ich bin ja sicher, dass ich es nie mehr zurückbekommen werde. Trotz Ihren Schlössern in England. Die sind doch in England, die Schlösser, oder auf dem Mond?«

Der Mann schwieg. Sein Gesicht war starr. Schwester Klara beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Dieses starre Schweigen überfiel ihn manchmal. Schwester Klara hätte gern gewusst, was der Mann in diesen Augenblicken dachte. »Ich will Sie nicht beleidigen. Sie brauchen Geld, und Ihr Freund will Ihnen wohl nicht mehr helfen? Für einen Monat haben Sie ja Ihr Kostgeld hier bezahlt. Und die letzten Tage haben Sie mir ja geholfen ... Sie scheinen etwas zu verstehen von Abrechnungen und solchen Sachen. Den Jahresabschluss für das Spital haben Sie mir ganz ordentlich gemacht. Sie haben eine schöne Schrift. Was wollen Sie jetzt eigentlich anfangen?«

»Oh, ich habe gedacht zu übernehmen ein Sanatorium«, sagte der Mann sehr ruhig. »Kleineres Sanatorium für leichtere Gemütskranke, so sagt man doch, und ich möchte suchen eine geeignete Kraft, eine wie Sie, Sister, als Aufsicht, als Oberschwester ... Sie verstehen. Aber Sie müssten austreten aus – wie soll ich sagen – aus Ihrem Verband, Ihrem Orden ...«

»Ein Sanatorium? Ein Schloss? Mit Ihrem Mantel und Ihren zerrissenen Schuhen?«

»Was hat zu tun meine Kleidung mit einem Projekt?« fragte der Mann. »Sie sagen, Sie haben Geld, ich habe Erfahrung ... Aber wenn Sie spotten ... Lassen wir es sein, Sister. Ich will noch fertig machen eine Abrechnung.«

Der Mann stand auf. Er trug einen alten Schlafrock, der ihm bis zu den Knöcheln reichte, eine braune Kordel hielt ihn um die Hüften zusammen. Sein Haar war während dieses Monats fast weiss geworden. Er ging ins Haus. Schwester Klara blieb sitzen, strickte weiter an ihrem Strumpf. Die Sonne war noch immer ermüdend warm, und auf dem Haselbaum sass ein kleiner Fink, der sang. Der gelbe Staub der Kätzchen flimmerte im Licht.

Am nächsten Morgen war der Mann verschwunden, und mit ihm sein alter Mantel, seine zerlöcherten Schuhe und seine verwaschene Schirmmütze. Schwester Klara hatte erwartet, dass auch Geld fehlen würde. Aber da war alles in Ordnung.

Was Schwester Klara in den nächsten Tagen am meisten fehlte, war merkwürdigerweise der Handkuss. Sie hatte sich an diese respektvolle Liebkosung gewöhnt. Und da der Handkuss zu dem Mann Armstrong gehörte, begann ihr auch der Mann Armstrong zu fehlen. Sie hatte die Achseln gezuckt, als sie am Morgen das Zimmer leer gefunden hatte: »Ein Vagant, der wieder Sehnsucht nach den Landstrassen bekommen hat...« Aber die Verachtung, die in diesen Worten steckte, war nicht ganz echt. Erstens sah der Mann trotz seines schäbigen Mantels und seiner Mütze nicht ganz nach einem Vaganten aus. Er sprach gut, er war nicht grob, er erzählte keine unanständigen Witze (»Was man in den Krankensälen sonst zu hören bekommt! Du lieber Gott! Nur gut, dass man an Schmutz gewöhnt ist!« murmelte die Schwester), es war etwas um den Mann gewesen – und erst jetzt in der Erinnerung wurde diese zitternde Atmosphäre, die ihn umgeben hatte, deutlicher: Atmosphäre von Abenteuer, Geheimnis, von dem, was man sich unter Welt vorstellt, wenn man sie nie gesehen hat. Die Art, wie der Mann den Löffel hielt, die Gabel. Dass er, als er aufstehen konnte, gebeten hatte, sich jeden Morgen im Badzimmer waschen zu dürfen (und er wusch jeden Morgen den ganzen Körper!), dass er sich von dem Geld, das nach der Bezahlung der Spitalrechnung übriggeblieben war, eine gute Seife, Kölnischwasser gekauft hatte, einen Rasierapparat – und sich jeden Morgen rasierte ... Sie hatte ihn zuerst ausgelacht. Dann bewundert, im stillen. Jetzt ging sie manchmal in das verlassene Zimmer und schnupperte in der Luft. Es roch noch schwach nach der Seife und dem Kölnischwasser. Wohin hatte er die Toilettengegenstände gepackt? Er hatte ja keinen Koffer! War er weiter gewalzt, nach Thun, zu seinem Freunde? ...

Am dritten Tage hielt sie die Ungewissheit nicht mehr aus und telephonierte nach Thun ans Grand Hotel Palace und verlangte Herrn Frutiger zu sprechen.

»Frutiger? Wir haben keinen Herrn Frutiger als Gast.« »Herr Eugen Frutiger. Vor drei Wochen war er noch bei Ihnen.«

»Ach, Sie meinen den Maître d'Hôtel. Ich will ihn rufen.« Schwester Klara lächelte, während sie wartete. Der reiche Freund im Palace Hotel war Kellner. Und dann zuckte sie die Achseln, und der Mann Armstrong wurde ihr eigentlich noch sympathischer. Sie dachte, dass es unangenehm sein musste, in einem triefenden Mantel von der Landstrasse aufgelesen zu werden, man machte eine trostlose Figur, man musste Eindruck schinden – was war da weiter dabei? Nur hätte er nicht mit den englischen Schlössern kommen sollen... Da meldete sich eine ängstliche Stimme am Apparat, und Schwester Klara konnte sich nach der Stimme den Mann vorstellen: korrekt, devot und die ständige Furcht in den Knochen, in dieser Krisenzeit durch eine Komplikation die Stelle zu verlieren. Es geschah wohl nicht oft, dass ein Kellner ans Telephon gerufen wurde, von auswärts noch.

»Ja, ja hier Frutiger Eugen...« Wie musste der Mann verlegen sein, dass er den Vornamen nachstellte, wie ein Bauernknecht!

»Guten Tag, Herr Frutiger. Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie mir sagen können, wo sich Ihr Freund Armstrong augenblicklich aufhält...«

»Armstrong? Tut mir leid. Kenne ich nicht.«

»Hier spricht die Oberschwester vom Gemeindespital. Sie haben doch dem Herrn Armstrong«, Schwester Klara betonte das »Herr«, »hierher zweihundert Franken geschickt, und da sagen Sie, Sie kennen ihn nicht?«

»Ach, so, ja, Verzeihung, pardon, ich hatte den Namen nicht verstanden. Ja, Armstrong, ganz recht. Aber ich weiss nichts. Hat er etwas... etwas... wieder etwas...?«

»Beruhigen Sie sich, er hat nichts angestellt. Aber er hat uns etwas plötzlich verlassen, und er war noch nicht ganz geheilt, und darum hätte ich ihm gern geschrieben, und er hat einiges bei uns vergessen, was ich ihm nachschicken sollte...«

Jetzt war es Schwester Klaras Stimme, die nicht mehr ganz sicher klang. Der Maître d'Hôtel schien es zu merken, seine Stimme wurde fester.

»Leider weiss ich nichts von ihm. Auch seine Adresse nicht. Aber ich möchte Sie gerne... gerne... warnen, er ist ein guter Mensch, aber gefährlich für... Sie entschuldigen... für Frauen...«

»Danke«, sagte Schwester Klara trocken, »ich bin mündig. Also Sie wissen nichts? Dann entschuldigen Sie die Störung, guten Tag.«

Gefährlich für Frauen? Der Mann mit dem durchweichten Mantel und der grauen Schmetterlingsschleife mit den roten Tupfen?... Zwar gab es da noch den späten Februarnachmittag mit der Sonne, die warm und ermüdend schien, und dem gelben Staub des Haselbaums. Er hatte doch kein Geld gewollt... Was trieb er jetzt?... Die fremde Welt, aus der der Mann gekommen, war doch merkwürdig anziehend. Er hatte so gar nichts aus dieser Welt erzählt! Und die Schlösser in England! Er hatte einen Freund, der Kellner war...

Übrigens, diese Idee mit dem Sanatorium, die war gar nicht so dumm. Wenn man sich den Mann Armstrong vorstellte als Empfangschef etwa... Gut angezogen, würde er vertrauenerweckend aussehen mit seinem weissen Haar, in der letzten Zeit hatte er seine Nägel gepflegt, er hatte schöne Hände... Schwester Klara betrachtete ihre Hand, die rot war, wie gepolstert. Aber hatte sie der Mann nicht geküsst? Und manchmal war der Kuss respektvoll zärtlich – zärtlich, ja. Man hatte wenig Erfahrung in Zärtlichkeiten...

Wachtmeister Studer von der Kantonspolizei hatte einen kleinen Spitzbart und den Ansatz zu einem Kropf. Sonst war sein Gesicht sanft gerötet und durchaus vertrauenerweckend. Als Schwester Klara vor ihm stand, fühlte sie Vertrauen zu dem kleinen dicken Mann und sagte zielbewusst: »Ich möchte Auskunft über einen gewissen Louis Armstrong.«

»Haha«, sagte der Wachtmeister, er sprach die beiden Laute, er lachte sie nicht, »sind Sie ihm auf den Leim gegangen, Schwester? Aber sitzen Sie ab. Ich will Sie nicht beleidigen. Erzählen Sie ...«

»Sie sollen erzählen, nicht ich«, sagte Schwester Klara. »Ja, der Armbruster«, sagte Studer. »Zechprellerei, Heiratsschwindel, Hochstapelei, Betrug, Unterschlagung, aber vor allem, als Spezialität ist er Heiratsschwindler.«

»Heiratsschwindler?« fragte die Schwester zurück. Und dann, sie wusste selbst nicht, wie die Behauptung über ihre Lippen kam, die im Gegensatz stand zu ihrem Denken, zu ihrem Leben – wollte sie dem Wachtmeister imponieren, oder hatte auch auf sie der auflockernde Einfluss des Mannes Armstrong gewirkt? –, kurz, Schwester Klara sagte trocken und überzeugt: »Nun, dann wird er wahrscheinlich die Frauen gut behandeln – mit seiner Erfahrung!«

Wachtmeister Studer schwieg. Die runzligen Oberlider verbargen seine Augen fast vollständig. Dann lachte er: »Auch ein Standpunkt. Übrigens, er ist kein übler Kerl. Ich verdanke ihm eine nette Reise. Einmal habe ich ihn von Calais abholen müssen, er erzählt gut, ich hab' mich nicht gelangweilt mit ihm. In England war er während des ganzen Weltkrieges. Er hat sicher auch dort geschwindelt, wenigstens hab' ich von einer reichen Witwe gehört, der er ... Aber dann hat er, glaub' ich, noch Spionage getrieben, darum hat man ihn in Ruhe gelassen ... Kurz, was ich Ihnen habe erzählen wollen, es zeichnet ihn gut: In Basel sagt er mir, er wolle noch seine Schwester besuchen. In der Steinenvorstadt hat sie gewohnt. Ich bin mitgegangen. Die Schwester war verheiratet, der Mann im Büro. Ich hab' natürlich nicht gesagt, wer ich bin. Die beiden Geschwister reden zusammen, eine Viertelstunde lang, es wird langweilig, der Armbruster verabschiedet sich. Da kommt im letzten Moment der Sohn der Schwester ins Zimmer, ein kleiner Bub, sechsjährig etwa. Mein Armbruster legt dem Bübli die Hand auf den Kopf und sagt mit tönender Stimme: ›Ja, Albertli, für dich hat der Onkel gesorgt. Dein Vermögen liegt auf der Bank, du wirst keine Not leiden ...‹ Und dabei hatte ich das Portemonnaie des Armbruster im Sack. Zwei Schilling und drei französische Franken.«

»Und was hat er seither gemacht?«

»Auslandreisen und Rundfahrten durch die Schweiz. Reiche Witwen, Schauspielerinnen, Lehrerinnen – immer Niveau. Nie Dienstmädchen. Aber was er jetzt tut? Wo er ist? Ich weiss es nicht ...«

Schwester Klara bedankte sich für die Auskunft und ging. Die Art, wie Entscheidungen im Innern eines Menschen gefällt werden, wird für uns, die nicht in ihn hineinblicken können, stets rätselhaft bleiben. Die sogenannte Psychologie ist ein recht nettes Gesellschaftsspiel – es gibt sogar Leute, die eine Wissenschaft in ihr sehen wollen, wir wollen ihnen die Freude lassen. Tatsache ist wohl, dass es im Leben vieler Menschen sogenannte Krisen gibt, in denen sie so merkwürdig handeln, dass die Aussenstehenden jene Menschen für verrückt halten. Und doch ist die Sache, wenn man sie mit der notwendigen Ehrfurcht behandelt, gerade so natürlich oder gerade so geheimnisvoll wie die Tatsache, dass ein Apfelbaum, den man verdorrt glaubte, plötzlich zu blühen beginnt.

Schwester Klaras Krise dauerte drei Tage. In diesen drei Tagen lief sie herum, niemand sah ihr etwas an, sie zankte sich mit dem Spitalarzt, war freundlich mit der kleinen Schwester, die ihr half. Sie schrieb einen Brief, den sie einschreiben liess (dies am zweiten Tag), und der Brief war an den Berner Notar adressiert, der das Vermögen ihrer verstorbenen Eltern verwaltete. Dies war der Auftakt zum grossen Entschluss, der am dritten Tag folgte. An diesem Tage nahm sie frei, fuhr ins Mutterhaus, hatte dort eine erregte Auseinandersetzung mit der Oberin, fuhr von dort in ein Kleidergeschäft, liess sich einkleiden, hernach in ein Hutgeschäft, dann in einen Wäscheladen ... Ihre Schwesterntracht, die Schuhe mit den niederen Absätzen wurden verpackt und an das Gemeindespital geschickt. Hernach (das Konfektionskleid sass nicht ganz richtig, aber Schwester Klara sah gar nicht übel aus) fuhr sie nach Thun und verlangte im Palace Hotel den Kellner Frutiger zu sprechen. Es war elf Uhr morgens.

Er solle keine dummen Sprüche machen, eröffnete Klara dem Mann, der wirklich so aussah, wie sie ihn sich nach seiner Stimme vorgestellt hatte. Wo der Herr Armstrong sei? Der Kellner Frutiger in seinem Frack war verlegen, schwieg. Klara machte einen Umweg. Wie er ihn denn kennengelernt habe? Und wie er dazu gekommen sei, ihm Geld zu schicken?

Eine merkwürdige Geschichte. Frutiger war während des Krieges in London krank geworden. Keine Stelle, kein Geld. Da hatte ihn der Mann Armstrong aufgenommen, gepflegt, und als der Kellner gesund geworden war, ihm noch eine Stelle verschafft und Geld gegeben.

»Ich hab' ihm doch auch helfen müssen«, sagte der Maître d'Hôtel und wand sich verlegen, weil der Chef de réception hinten in der Halle aufgetaucht war und das Paar mit missbilligenden Blicken musterte. »Er war doch ein guter Kamerad.«

»Und wo ist er jetzt?«

»Ich hab' ihm eine Stelle verschafft, in Mürren, als Plongeur ...«

»Plongeur? Was ist das?«

»Casserolier, wenn Sie lieber wollen.«

»Mürren? Welches Hotel?« Französische Dichter behaupten, dass Frauen mit bewegter Vergangenheit die besten Hausfrauen gäben, sobald sie einmal zur Ruhe gekommen sind. Warum sollte dies nicht auch bei Männern der Fall sein. Auf alle Fälle hat sich Klara »bis anhin« nicht über ihren Mann zu beklagen. Es ist ja auch nicht gesagt, dass sich jede Liebesgeschichte nach dem Schema »Tristan und Isolde« abspielen muss. Das Sanatorium geht vorzüglich. Es ist immer ein Vorteil, wenn ein Mann Erfahrung hat, wie man reiche Leute behandelt.

Übrigens brachte Armstrong immerhin ein Kapital mit in die Ehe. Dies zeigte sich bald. An einem Abend nämlich fragte Klara: »Du, wie hast du die Schauspielerin hereingelegt?«

Und Louis Armstrong, recte Armbruster, begann zu erzählen... Erlebnisse – ein nicht zu unterschätzender Notgroschen in den flauen Zeiten, den Zeiten, da die Langeweile in der Ehe gähnt...


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