Adolf Glaser
Schlitzwang
Adolf Glaser

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Neunter Abschnitt.

Wiedersehen und Versöhnung.

So zogen Mutter und Sohn und der Sachse ihres Weges dahin, ganz erfüllt von der Besprechung ihrer eignen Angelegenheiten und den oft drolligen, oft auch höchst überraschenden Bemerkungen Gottfrieds. Je näher sie ihrem Ziele kamen, um so mehr fiel es ihnen auf, daß viele Menschen auf der Landstraße nach Worms zogen, offenbar, weil dort eine besondere Veranlassung sie anlockte. Da es nicht ausschließlich Handelsleute waren, lag die Vermutung nahe, daß irgend ein öffentliches Ereignis, vielleicht eine Festlichkeit, das Ziel bildete, und in diesem Glauben ließ sich Schlitzwang mit einem reitenden Fremden in ein Gespräch ein und fragte ihn, was es in Worms gebe.

Mit wichtiger Miene entgegnete dieser, daß heute ein Gottesurteil daselbst stattfinde und daß die Leute von weit und breit dazu herbeigeströmt kämen.

»Ein Gottesurteil?« fragte der Sachse verwundert, »um was handelt es sich dabei?«

136 »Um einen Mord«, entgegnete jener, »den der überführte Thäter hartnäckig leugnet. Er soll die Probe des glühenden Eisens machen, und wenn er sie glücklich übersteht, hat Gott selbst für ihn Zeugnis abgelegt.«

»Aber er wird sie nicht überstehen«, versetzte Schlitzwang schaudernd.

»Schwerlich«, entgegnete der andre, »denn meines Erachtens übersteht sie keiner; aber was ich da sage, ist ein Frevel, und ich wollte auch eigentlich anführen, daß nur ein Wunder Menschen befähigen kann, solche Proben zu bestehen.«

Waldtraut und der Knabe hatten aufmerksam zugehört.

»Geschehen denn solche Wunder?« fragte nun Waldtraut.

»Man sagt es«, entgegnete der Fremde spöttisch, »aber jeder will es von andern gehört haben, selbst erlebt hat es keiner. Ist am Ende auch gleichgültig. Was kommt es darauf an, ob einmal einer unter Tausenden sich die Hände verbrennt und dann noch obendrein gehängt wird, wenn der Glaube an das Urteil nur im Volke bestehen bleibt und die Furcht davor die Menschen von Verbrechen abhält.«

»Entsetzlicher Gedanke!« sagte Schlitzwang mit innerem Abscheu, und setzte dann hinzu: »Der Mann leugnet also die That?«

»Wozu wäre sonst das Gottesurteil nötig?« entgegnete der andre. »Wäre er ein Freier oder Edler, so käme er vielleicht zum Schwur und könnte sich durch einen Eid reinigen, so aber, da er ein hebräischer Kammerknecht ist, wird er gehängt, denn der liebe Gott wird ihn schwerlich durch ein Wunder retten.«

Ein plötzlicher Gedanke bewirkte, daß es Schlitzwang zu schwindeln begann.

»Ein Jude, sagt Ihr?« stieß er hervor; »und wann und wo ist die That verübt?«

Der Fremde musterte alle drei Reisende mit erstaunten Blicken. »Ihr müßt weit herkommen«, sagte er dann, »da Ihr gar nichts von der Sache wißt. Am Tage, nachdem der König in den Krieg zog, ist ein Mann, der mit königlicher Botschaft von Worms nach Heilbronn gesandt war, auf rätselhafte Weise verschwunden und es kann kein Zweifel obwalten, daß er ermordet wurde, denn man hat beschriebene Blätter, die er bei sich geführt, im Walde verstreut gefunden. Nun ist aber nachgewiesen, daß der Jude in seiner Begleitung die Reise ebenfalls gemacht hat, und da viele aus dem Volke und besonders einige von der Geistlichkeit einen Groll hegen, daß der König die Juden schützt, so fanden sich Beweise genug, um die Sache bis zum Gottesurteil zu treiben.«

»Und Ihr denkt rechtzeitig dazu in Worms einzutreffen?« fragte der Sachse in atemloser Angst.

»Wenn wir nicht lange plaudern und eifrig unsern Weg fortsetzen, werden wir gerade zur rechten Zeit eintreffen«, erwiderte der Fremde, indem er sein Pferd antrieb.

137 Schlitzwang schwieg und trieb von nun an sein Pferd so stark an, daß der Fremde ihn wiederholt damit neckte, er müsse wohl auf das Schauspiel sehr gespannt sein, und endlich sogar mit einer mißmutigen Bemerkung zurückblieb. Der Sachse eilte nur immer mehr vorwärts, was den kleinen Gottfried zu lautem Jubel brachte, während seine Mutter wohl eine Ahnung dessen haben mußte, was in ihrem Begleiter vorging.

Endlich sahen sie Worms in der Entfernung liegen. Sie kamen an der Richtstätte vorbei, wo der Galgen stand, und Schlitzwang sah an den dort getroffenen Vorbereitungen, daß man den Ausfall des Gottesurteils gar nicht bezweifelte.

Mehr infolge der Aufregung als der Anstrengung stand ihm der Schweiß auf der Stirn, und zuweilen entstieg ein keuchender Laut seiner beklemmten Brust. Endlich langten sie an der Stelle an, wo die Exekution stattfinden sollte. Eine dichtgedrängte Menge hatte sich dort eingefunden, und da sehr viele darunter auch zu Pferde waren, konnte es nicht auffallen, als die Fremden sich näherten. In der Mitte des Platzes war eine Tribüne errichtet, auf welcher das Kohlenbecken mit den glühend gemachten Eisen stand. Zur Seite erblickte man eine Anzahl Menschen, darunter auch einige Frauen, die mit angstvollen Blicken, zitternd und bebend auf die Vorbereitungen hinblickten. Offenbar waren dies die Verwandten und Glaubensgenossen des Angeklagten. Der Richter stand auf der Tribüne und hatte eben die Formel vorgelesen, welche in solchen Fällen üblich war. Schlitzwang hörte noch, wie er die Erklärung abgab, daß des Königs Majestät dem Verklagten den Reinigungseid bewilligen werde, sofern dieser die Taufe annehmen und sich zum Christentum bekehren wolle, aber er sah auch, wie der Jude, den er trotz der Blässe seines Gesichtes sofort wieder erkannte, eine lebhaft abwehrende Bewegung machte und die erste Stufe betrat, um sich dem Kohlenbecken zu nähern, bei welchem bereits ein Richtknecht auf ihn wartete.

Vollstreckung des Gottesurteils

In diesem Augenblicke war dem Sachsen, als drehe sich alles um ihn her im Kreise. Er wußte selbst nicht, wie er vom Pferde herunterkam und sich, alles zur Seite stoßend, durch die Menge drängte. Auch die Wehrmänner, die mit ihren Spießen den Platz absperrten, schob er kräftig zur Seite und stürzte nun gerade auf die Richtstätte zu, indem er laut rief:

»Haltet ein! Der Mann ist unschuldig! Ich bin es, den er ermordet haben soll, aber ich lebe, und der ganze Verdacht beruht nur auf einem Irrtum!«

Sein Erscheinen bewirkte selbstverständlich die unglaublichste Verwirrung und Aufregung. Wenn auch die wenigsten unter den Zuschauern seine Worte verstanden hatten, so genügten dieselben doch, um die Urteilsvollziehung aufzuhalten und den Richter zu weiterer Untersuchung zu veranlassen. Der Jude hatte ihn mit weit offenen Augen angestarrt, und als er sich endlich seiner Züge 138 erinnerte, brach er abwechselnd in lautes Weinen und Schluchzen und in Lob und Preis seines Gottes Jehovah aus. Der Sachse erklärte sofort, daß der Geheimschreiber Eginhard oder der oberste Rat Alkuin oder auch des Königs Majestät selbst ihn wieder erkennen und seine Angaben bestätigen würden.

Man führte den Angeklagten wieder in Gewahrsam und meldete dem Könige den Vorfall, worauf dieser den Schreiber sogleich zu sehen begehrte. Das Volk verlief sich unter den verschiedensten Ausrufungen. Manche grollten darüber, daß ihnen das seltene Schauspiel entgangen war, andre priesen Gott, und unter diesen letzteren waren namentlich die jüdischen Kammerknechte, welche das Weib und die Kinder des Angeklagten umringten, am eifrigsten und lautesten.

Schlitzwang fand kaum Zeit, Frau Waldtraut und den Knaben, der sich inzwischen tapfer auf dem Pferde gehalten hatte, einem bekannten Hofdiener anzuvertrauen; dann mußte er, so wie er war, in der alten Kutte des Klausners, vor dem höchsten Machthaber der Christenheit erscheinen.

Es bedurfte nur weniger Worte von seiner Seite, um die Sache aufzuklären und die sofortige Freilassung des Juden zu bewirken. Dem Könige schien dieser Verlauf sehr erwünscht, denn er beschützte die Juden, weil er von ihrer Klugheit und ihrem Handelseifer manchen Nutzen zu ziehen verstand, auch ihre ärztlichen Kenntnisse und Gelehrsamkeit schätzte. Er hörte daher in besonders günstiger Stimmung die Erzählung des Sachsen von dem Überfall durch die Räuber und Schlitzwangs Aufenthalt bei Medardus an. Er war so gnädig gesinnt, daß er jenem sogar mitteilte, auf welche Weise er sofort sein Verschwinden erfahren habe.

Der Langobardenkönig Desiderius hatte sich nämlich mit seinem Schwiegersohne, dem Herzoge Tassilo von Bayern, welcher die von König Karl verstoßene Bertalda zum Weibe genommen, in verräterische Beziehungen eingelassen, was dem Könige natürlich sofort hinterbracht ward. Verwundert darüber, daß der Name des Sachsen in dieser Angelegenheit überhaupt nicht genannt wurde, zog er Erkundigungen über ihn ein, und so kam es an den Tag, daß der Schreiber gar nicht in jenem Kloster angelangt war. Man stellte weitere Forschungen an, und aus diesen entwickelte sich eine Untersuchung, welche schließlich durch die Aussage des Wirtes und der Landsleute jenes Neckardorfes zur Verhaftung des Juden führte, welchen das Wiedererscheinen des Vermißten nun vom Tode gerettet hatte.

Des Königs Wohlwollen für Schlitzwang steigerte sich durch diesen Vorfall in hohem Grade, und er beschloß, den jungen Mann an seine Person zu fesseln. Auch Frau Waldtrauts Schicksal wandte der König lebhafte Teilnahme zu, und da er selbst die unwiderstehliche Macht der Liebe frühzeitig kennen gelernt hatte, so erklärte er sofort, daß er das Seinige thun werde, um die Aussöhnung und Wiedervereinigung zwischen dem Grafen Eschburg und seiner Tochter zu befördern.

139 Damit war der Schreiber vorläufig entlassen. Mit freudiger Botschaft konnte er nun zu Frau Waldtraut zurückkehren; dieselbe ward auf Befehl des Königs ihrem Range gemäß aufgenommen und mit allem Nötigen versehen, so daß sie von jetzt an als Gräfin Eschburg mit ihrem Knaben am Hofe verweilte.

Schlitzwang erfuhr, daß sein wohlgesinnter Freund Eginhard schon wieder mit einer Botschaft von Paderborn aus, wo der König sich eine Burg erbaut und zuletzt Hof gehalten hatte, zur Königin nach Aachen gesandt worden war, und er freute sich für jenen über diese Nachricht, obschon er die Neigung, welche Eginhard zu der schönen Königstochter empfand, für hoffnungslos hielt. Die liebliche Emma war das älteste Kind des Königs; sie hatte einen Bruder Namens Pipin und noch zwei jüngere Schwestern. Alle diese Kinder stammten aus einer frühzeitigen heimlichen Ehe mit der schönen Himiltrude.

Nach seines Vaters Tode hatte sich das Wesen des ehrgeizigen Karl, der nun die Königskrone trug, gar bald verändert und seine politischen Pläne drängten alles andre in seinem Herzen zurück. So hatte er von der Ungültigkeitserklärung seiner Ehe mit Himiltrude Gebrauch gemacht und Bertalda, des Königs Desiderius Tochter, zum Weibe genommen, um sich eine mächtige Bundesgenossenschaft zu sichern. Nach einem Jahre aber, als die politischen Verhältnisse wieder andre geworden und Bertalda ihm keinen rechtmäßigen Nachfolger in Aussicht stellte, schickte er sie zu ihrem Vater zurück und reichte Hildegard, des Herzogs von Schwaben Tochter, seine Hand, welche ihm kürzlich, während seines Aufenthalts in Sachsen, einen Sohn, den Erben seines Thrones geschenkt hatte. Der feindliche Langobardenkönig war besiegt und entthront und ein Teil seines Landes dem Papste als Schenkung überwiesen, wofür dieser mit Karl ein Schutz- und Trutzbündnis schloß. Die Kinder der Himiltrude blieben am Hofe des Vaters.

Bei der raschen Art des Königs wurden gleich in den nächsten Tagen entscheidende Bestimmungen in bezug auf Waldtraut und ihren Sohn getroffen. Graf Eschburg war in Paderborn zurückgeblieben; dorthin sollte der Schreiber Frau Waldtraut mit ihrem Gottfried bringen und dem Grafen ein Pergament übergeben, in welchem der König die Bestätigung aussprach, daß der Sohn der Gräfin Hedwig von Eschburg als Erbe aller Ehren und Rechte seines Großvaters anerkannt werde, wenn dies des Grafen Wille und Meinung sei. Von Paderborn aus sollte Schlitzwang dann noch das neugegründete Kloster Corvey an der Weser aufsuchen, um zu sehen, wie weit der Bau vorgeschritten. Dann erwartete der König den Schreiber in Aachen, wo Karl auf kurze Zeit zu verweilen gedachte, um sich zu einem neuen großen Kriegszuge nach Spanien zu rüsten, auf welchem der Sachse ihn begleiten sollte.

Der König nahm von der Gräfin Hedwig und ihrem Sohne vor ihrer Abreise Abschied und zeigte sich bei dieser Gelegenheit über das kräftige, blühende 140 Aussehen des Knaben und dessen kluge Antworten sehr erfreut. Dann machten sie sich mit einem kleinen bewaffneten Gefolge nach Paderborn auf den Weg. Die Erwartung des Wiedersehens zwischen Hedwig und ihrem Vater beschäftigte alle drei derart, daß nur davon und von den vorhergegangenen Ereignissen gesprochen wurde. Wie oft hatte Schlitzwang nun schon der aufmerksam lauschenden Frau seine Erlebnisse mit Anselmus bis zu dessen Tode erzählt! Mit welcher Genauigkeit ließ sie sich die Orte beschreiben, wo er zuletzt geweilt und gewirkt hatte! Offenbar hatte sie nach der Versöhnung mit ihrem Vater kein brennenderes Verlangen, als die Stätte zu besuchen, wo Anselmus begraben war. Und noch einen Wunsch hatte sie wiederholt ausgesprochen. Schlitzwang möge ihr behilflich sein, das einzige Vermächtnis, welches Gottfrieds Vater hinterlassen hatte, das Evangelienbuch in sächsischer Sprache, in ihren und damit in des Knaben Besitz zu bringen. Es war dies ein peinliches Anliegen und die Besprechung desselben rief stets viele schmerzliche Erinnerungen in Schlitzwangs Herzen wach. Hedwig bemerkte dies, und es wurde ihr nicht schwer, aus allem, was sie schon vernommen hatte, sich den richtigen Zusammenhang zu entnehmen. Sie suchte den Sachsen über die Hoffnungslosigkeit, die er in solchen Gesprächen an den Tag legte, zu trösten, und wenn er die unübersteigliche Kluft erwähnte, welche die Tochter des sächsischen Edelings von dem niederen Sohne des Volkes scheide, pflegte sie wohl zu sagen, daß in einer Zeit, in welcher die Hand des mächtigen Herrschers Karl ganze Reiche zertrümmere und Könige von ihren Thronen stoße, kein Hemmnis unüberwindlich sei, namentlich für einen Mann, der die Gunst des Königs im vollen Maße besitze.

»Wird diese Gunst«, so fragte der Sachse traurig, »den Stolz der schönen Herrentochter überwinden können?«

»Das nicht«, entgegnete sie auf diesen Zweifel, »aber es gibt eine Macht, die noch stärker ist als die Gunst des Königs und die stets siegreich über Stolz und Vorurteile triumphiert. Auf diese Macht baue ich meinen Plan und auf sie mußt du deine Hoffnung setzen; es ist die Macht der Liebe.«


Als Schlitzwang nach kurzer Zeit in Aachen ankam, fand er dort alles in voller Bewegung und mit der Ausrüstung zu dem neuen Kriegszuge beschäftigt. Diesmal ging es in weite Ferne; denn der König war von dem Statthalter von Saragossa gegen den Kalifen Abdur-Rahman, der mit seinen Mauren den ersteren vertrieben hatte, zu Hilfe gerufen worden, und Karls kühner Geist erinnerte sich sofort, daß er das Werk seines Großvaters, der die Mauren auf das Haupt geschlagen und Europa vor ihnen beschützt hatte, fortführen müsse. Jene Tage, in welchen Karl Martell die Araber nach Spanien zurückgedrängt hatte, als sie 141 das Frankenland zu überschwemmen drohten, lebten in der Phantasie der jüngeren Helden als glänzende, ruhmvolle Zeit.

Auch der junge Sachse wurde von der gehobenen Stimmung ergriffen und hingerissen, als er sah, mit welchem Eifer man in Aachen rüstete.

Für den König mochten die Kriege mit den Sachsen von gleicher, vielleicht von größerer Wichtigkeit sein, aber für die jüngeren Helden und Heerführer, den tapferen Roland an der Spitze, war der Feldzug gegen die Mauren von viel größerem Reiz. Da galt es nicht nur gegen Männer zu kämpfen, und es handelte sich nicht darum, einem verhältnismäßig rohen Volke in unwirtbare Wildnisse und Sümpfe zu folgen, sondern die lachende Natur des Südens lockte mit unwiderstehlicher Gewalt, und in dem liederreichen Lande der Provence und den süß duftenden Gärten Spaniens, wo man im Mondenlichte dem zauberhaften Rauschen der Springbrunnen lauschte, hofften die Sieger auf Abenteuer und geheimnisvolle Begegnungen mit glutäugigen Spanierinnen und den geschmeidigen braunen Frauen der Mauren. Die Helden jener Zeit, deren ganzes Dichten und Trachten nach dem Kriegsruhm stand, galt ein Zug in das rauhe Sachsenland oder gegen ein andres nordisches Volk für eine schwere Arbeit, die man aus Pflichtgefühl nach Kräften ausführt, jedoch der Zug gegen die Mauren war eine Lust, ein von Poesie und Ruhmesglanz verklärtes Unternehmen; selbst im Tode umglänzte ihn das Lied und die Sage mit unvergänglichem Schimmer. Wenn gegen Sachsen gerüstet wurde, sorgte jeder für ein einfach derbes Kriegskleid; man dachte nur daran, wie man den Feind schrecken und am längsten im Felde ausdauern könne; nun aber, da es nach dem Süden gehen sollte, wurden die zierlichsten und geschmackvollsten Gewänder und Ausrüstungsstücke angeschafft, und was jeder an Kostbarkeiten und seltenen Kleinodien besaß, das prangte als Schmuck am Schilde oder als Helmzier.

Der König empfing den Schreiber mit gewohnter Freundlichkeit. Einem so hochgebildeten Volke wie den Mauren gegenüber wollte er nicht als der nordische Barbar erscheinen, und es war ihm deshalb darum zu thun, eine Anzahl gelehrter Männer in seinem Gefolge zu haben. Alkuin blieb diesmal in Aachen zurück, da die inneren Angelegenheiten des Reiches seine Aufsicht nötig machten, aber außer Eginhard und Schlitzwang war noch der gelehrte und poesiebegabte Angilbert zur Gefolgschaft ausersehen.

Trotz seiner vielfachen und weitgehenden Geschäfte hatte der König der Gräfin Hedwig doch so viel Teilnahme bewahrt, daß er sich einen ausführlichen Bericht über das erste Zusammentreffen zwischen Vater und Tochter erstatten ließ.

»Der Graf«, so erzählte der Schreiber, »befand sich in der notdürftig hergerichteten Burg zu Paderborn. Als wir anlangten, saß er im Pallas mit einigen Genossen zusammen, welche ein Zechgelage veranstaltet hatten. Man hatte mir gesagt, daß er seinen Verdruß und die niedergedrückte Stimmung, die ihn 142 immer mehr zu beherrschen drohte, auf diese Weise zu verscheuchen suche. Ich hatte den Grafen bitten lassen, mir zu gestatten, ihm alsbald einige für ihn hochwichtige Mitteilungen machen zu dürfen. Als ich zu ihm ins Gemach trat, den Knaben Gottfried an der linken Hand und Euer Schreiben, erhabener Herr, in der rechten, empfing er mich mit so unfreundlichen Blicken, daß mir der Mut fast entsank. Kaum hatte er jedoch den Knaben genau angesehen, der ja das Ebenbild seiner Mutter ist und den Grafen wohl auch an seine verstorbene Gattin gemahnen mochte, da veränderte der Ausdruck seines Gesichtes sich gänzlich, und an die Stelle des Mißmutes trat der Wunsch nach Aufklärung. Ich ging näher auf ihn zu und sagte ihm, daß ich ein königliches Schreiben für ihn mitgebracht hätte und bereit sei, ihm mit seiner Genehmigung dasselbe zur Kenntnis zu bringen. Er gab mir solche und forderte mich auf, ihm das Pergament vorzulesen und ich that dies langsam und deutlich. Der Graf lauschte und strich sich mehrmals mit der Hand über die Stirn.

Dann griff er nach seinem Schwerte und stieß damit heftig gegen den Boden, als wolle er sich davon überzeugen, daß er wirklich wache. Nachdem er die Wirklichkeit dessen, was er sah und hörte, erkannt, blickte er wieder nach dem Kinde, aber hierbei wurde der Ausdruck seines Gesichtes immer milder und zärtlicher, und als ich geendet hatte, reichte er dem Knaben die Hand hin, in welche dieser mit kindlicher Zutraulichkeit einschlug. Darauf zog ihn der Graf sachte zu sich hin, strich ihm mit der Hand mehrmals über die krausen Locken und fragte ihn mit seltsam gedämpfter Stimme nach seinem Namen. Unerschrocken erwiderte der Knabe, daß er Gottfried heiße, und sah dabei dem alten Manne freundlich lächelnd in das verwitterte Gesicht.

»Gottfried! Gottfried!« wiederholte dieser; »weißt du denn, nach wem du diesen Namen erhalten hast?«

»Freilich weiß ich es, nach meinem Großvater, der auch Gottfried heißt.«

Versöhnung von Vater und Tochter durch den Enkel

Da konnte sich der Alte nicht mehr länger bezwingen. Vorsichtig, als wäre es ein zerbrechliches Kleinod, preßte er das Kind seiner Tochter an die Brust, und ich sah, wie zwei schwere Thränen über die runzeligen Wangen rollten. Auch mir stieg das Wasser in die Augen. Es verging eine Pause, während welcher der alte Mann seine Rührung bekämpfte, dann sagte er:

»Und deine Mutter? Ist sie tot?«

Da stürzte Frau Hedwig in das Gemach herein, denn sie hatte alles belauscht und konnte sich nicht länger zurückhalten. Sie sank vor dem Greise auf die Kniee. Noch einmal regte sich der Groll in dem alten Recken, er stieß sie mit der Hand zurück und wendete das Gesicht von ihr ab. Aber der derbe Held hatte in diesem Augenblicke den Knaben vergessen, der nun schmeichelnd seine Hand ergriff und ihm bittend die Wange streichelte.

144 Nun war sein Widerstand gebrochen und scheltend und jubelnd wendete er sich bald zur Tochter, bald zu dem Enkelsohne und ließ sich liebkosen und schmeichelnd herzen, was ihm so lange Jahre nicht geschehen war und ihn nun mit zehnfacher Lust erfüllte. Ich ließ sie allein und erst zum Abschiede sah ich sie des andern Tages wieder. Aber da war eine große Veränderung mit dem Alten vor sich gegangen und er schien zwanzig Jahre jünger geworden zu sein. Den Knaben ließ er nicht wieder los, sondern sah ihn bald selig vergnügt, bald laut lachend an, und Frau Hedwig stand dabei und sah freudig bewegt auf die beiden hin.«

Der König hatte mit inniger Rührung diese Mitteilung vernommen, und nachdem er noch durch einige Fragen sich das Bild dieser schönen Versöhnung hatte vervollständigen lassen, erkundigte er sich nach dem Fortgang des Baues in Corvey, wo er die Absicht hatte, neben dem Kloster eine gelehrte Schule zu errichten, und dann fragte er um Schlitzwangs Meinung über den Fortschritt in der Ausbreitung der christlichen Lehre unter dem Volke der Sachsen.

Leider konnte dieser ihm keine erfreuliche Auskunft geben, denn er brachte es nicht über sich, dem mächtigen Herrn zu schmeicheln, und in Wahrheit hatte er überall nur ingrimmigen Trotz und verhaltene Wut gefunden. Er sah die Zornesader auf der Stirn des Königs schwellen und bemerkte, wie derselbe die Faust ballte, als gelte es den Widerstand des trotzigen Sachsenvolkes zu zermalmen.

»Wir werden sehen«, sagte er dann, »ob sie sich fügen oder in ihrem Trotze verharren werden; noch sind meine Mittel nicht erschöpft, und daß ich die Macht habe, sie zu zwingen, weiß ich.«

Bescheiden wagte der Schreiber zu erwidern: »Vielleicht würde die Milde besser, wenn auch später zum Ziele führen, denn der eiserne Trotz des Sachsenvolkes bäumt sich der Gewalt gegenüber nur um so verderblicher auf.«

»Ich werde ihn brechen, diesen Trotz!« versetzte der König, »denn er muß gebrochen werden, wenn nicht alles, was ich erstrebe, aufs Spiel gesetzt werden soll. Was Zeit, was Weile! Du sprichst, wie du es verstehst, Schreiberlein. Weißt du denn, um was es sich handelt? Regt sich nicht jetzt wieder in Spanien der kaum bezwungene Kampfesmut der Mauren? Mein Großvater hat seinen Hammer bei Tours weidlich geschwungen und die Welt damals vor der Herrschaft des Halbmondes beschützt, aber noch ist der Kampf nicht völlig entschieden. Unter dem Banner des Kreuzes allein stehen wir nicht sicher, wenn wir nicht im Rücken die nordischen Mächte als Verbündete mit uns vereinigen. Weißt du, was zu Bagdad geschmiedet und zu Cordova weiter verarbeitet wird? Die märchenhafte Zauberpracht, die sich um den Namen Haruns al Raschid schlingt, die sinnbestrickende Macht des Orients ist eine Gefahr, die an der eisernen Beharrlichkeit des germanischen Trotzes ihre Kraft verlieren muß. Darum muß ich 145 den deutschen Norden haben, und ich werde ihn haben, so wahr meine Sache von Gott gesegnet ist.«

Der König hatte in mächtiger Erregung gesprochen, und mit stummer Bewunderung hatte Schlitzwang ihm zugehört. Nach einer Pause schien Karl sich beruhigt zu haben, und er fuhr in sanfterem Tone fort:

»Will ich sie denn schädigen, diese hartnäckigen Trotzköpfe? Sie sollen aufwachen aus tausendjähriger Versunkenheit und teilnehmen an dem Leben, den Kämpfen und Errungenschaften unsrer Zeit. Abgeschlossen von allem Verkehr sitzen eure Edelinge auf ihren Höfen, und der Bauer lebt in dumpfer Geistesarmut seine Tage dahin. Vergeblich haben Handelsleute versucht, von den Häfen des Nordmeeres her mit dem Innern des Landes in Verbindung zu treten und die Quellen seiner natürlichen Schätze zu erschließen. So will ich es denn versuchen, mit Gewalt die Pforten zu öffnen und die ungehobenen Reichtümer ihrer Berge, Wälder und Flüsse zu verwerten. Die trotzigen Herzen und das eisenfeste Mark eurer Männer sollen mir mit zum Bollwerk dienen gegen die Macht des Islams, und ich werde nicht danach fragen, ob sie die Freiheit, die auch der Wolf und der Bär in der Wildnis haben, höher schätzen als die Fortschritte der Kultur.

»Aber glaube nicht, daß ich nur durch rohe Gewalt eine Umwandlung der Herzen zu bewirken hoffe. Gott hat mir den sicheren Blick gegeben, daß ich erkenne, wer zur Ausführung meiner Pläne tauglich ist und wessen Kräfte ich mir nutzbar machen kann. Dein Gesicht trügt mich nicht, aber du weißt noch zu wenig von den großen Welthändeln und den Zielen und Zwecken, denen die Menschheit entgegensteuert. Die zähe Widerstandskraft und besonnene Bildungsfähigkeit des germanischen Nordens ist der Felsen, auf dem sich ein Reich des Friedens und Wohlstandes gründen läßt; aber bis es dahin kommt, müssen noch harte Kämpfe durchgefochten und schwere Lehrjahre überstanden werden. Ich nehme dich jetzt mit nach dem schönen, glanzumstrahlten Süden, wo die Phantasie ihr Zepter schwingt und die Kunst im Dienste der Üppigkeit steht. Es steht dir frei, an unsern Kämpfen teilzunehmen oder nicht, aber du sollst lernen, sollst Erfahrungen sammeln und Einsicht gewinnen, damit dein Rat mir alsdann von Nutzen sei. Halte dich zu Eginhard, er wird meine Befehle in bezug auf dich erhalten. Gehab dich wohl!«

Damit war der Schreiber wieder entlassen und er ging wunderbar bewegt und abermals von den widerstreitendsten Gefühlen ergriffen fort.

Welch ein machtvoller Geist wohnte in diesem erhabenen Menschen, der unverkennbar ein großes Werkzeug in der Hand der Vorsehung war!

Auch Eginhard sah mit freudiger Spannung dem Zuge nach Spanien entgegen. Die Paläste und Moscheen der maurischen Bevölkerung sollten ihm reichen Stoff zu architektonischen Studien bieten. Er schwärmte von den Gärten am 146 Guadalquivir, von der Moschee zu Cordova mit ihren prachtvollen Hallen, und seine Phantasie schwelgte bereits in Plänen und Entwürfen, die er dort zu sammeln gedachte. Nur ein Umstand war geeignet, seine Freude zu trüben. Er teilte dem jungen Sachsen nämlich mit, wie unglücklich und unzufrieden sich die Frauen des königlichen Hauses wegen dieser ewigen Kriegszüge fühlten. Während der Abwesenheit des Königs waren sie genötigt, in klösterlicher Abgeschiedenheit zu leben, kam er dann zurück, so verlegte er den Hof nach irgend einer der Pfalzen in Aachen, Worms, Regensburg oder nach einem andern Orte, und kaum hatte man sich dort etwas eingewöhnt, so trat eine neue Störung ein und das trauliche Zusammenleben hatte wieder ein Ende. Wohl mochte diese Einrichtung ihre politischen Gründe haben, denn der König residierte auf diese Weise in den verschiedensten Teilen seines Reiches. Das Herz der Frauen hängt aber an der Häuslichkeit, und wenn sie diese nicht finden, so stellt sich Mißmut und Unzufriedenheit ein. Der Gegensatz zwischen dem frommen Stillleben während der Abwesenheit des Königs und dem geräuschvollen Treiben, wenn der Hof irgendwo eine kurze Pause des Friedens mit ihm verlebte, wirkte nicht günstig. Manche liebten die Ruhe und wünschten seine Abwesenheit, oder sie liebten seine Person und das Hoftreiben während seiner Gegenwart, dann freilich mußten sie ihm zu Gefallen an den Jagdzügen und Festlichkeiten Geschmack finden. Eginhard kannte die Gesinnungsweise des Königs sehr genau und war der Meinung, daß dieser sich schwerlich dazu verstehen werde, seine Töchter zu verheiraten, zumal wenn er in den Schwiegersöhnen Nebenbuhler seiner Herrschaft zu sehen habe, außerdem aber auch, weil er sich von keinem Gliede seiner Familie gern trennen würde.

»Nun«, entgegnete Schlitzwang scherzend, »das sind ja ganz günstige Umstände für gewisse Leute, deren Nebenbuhlerschaft der König nicht zu fürchten hat und die ihm die Tochter nicht entführen, sondern als Schwiegersohn den Familienkreis nur um ein Glied vermehren würden.«

»Du kennst den König noch immer nicht ganz«, entgegnete Eginhard; »er ist eine Natur, die in allen großen und weltumfassenden Dingen mit seltener Sicherheit das Rechte trifft, aber für Fragen des Herzens und des Familienglücks hat er den Maßstab verloren, seitdem er der Menschheit ihre Wege vorschreibt.« 147


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