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Es ist schwer zu glauben, welche thörichte Meinungen sich nach längerem Verweilen der christlichen Brüder unter den Leuten verbreiteten und wie wenige im stande waren, auch nur die einfachsten Grundlagen des Glaubens zu erfassen. In der ganzen Gegend gab es keinen einzigen außer Schlitzwang, der eine Ahnung davon hatte, wie die Unsterblichkeit der Seele zu verstehen sei. Die meisten glaubten, daß die toten Körper wieder lebendig würden, und da die christlichen Brüder auch darauf hielten, daß man die Toten nicht verbrenne, sondern vergrabe, so waren die Gläubigen überzeugt, daß die Leichen nach einiger Zeit aus den Gräbern steigen und weiter leben würden.
Natürlich konnte das Erscheinen der christlichen Priester auch auf der Herrenburg nicht unbemerkt bleiben, aber in der ersten Zeit vermochte niemand zu erraten, wie man dort darüber dachte. Es gab Anzeichen genug dafür, daß die Fremdlinge sorglich beobachtet wurden, aber offenbar war Herr Heino noch nicht 16 mit sich einig, wie er sich ihnen gegenüber stellen solle. Wohl war es seit Menschengedenken hergebracht, daß die Frauen von der Heinroder Burg zuweilen sich um die Kranken bekümmerten und den verarmten Leuten im Dorfe Nahrungsmittel oder Kleider schenkten, und daher konnte es nicht ausbleiben, daß auch gerade die Aufmerksamkeit der Frauen auf die neuen Ankömmlinge gerichtet wurde. Wahrscheinlich aber hatten sie vom Herrn den Befehl erhalten, sich ganz fern zu halten, denn wer die Gesinnung der Männer vom sächsischen Stamme kannte, wußte sofort, daß die christlichen Brüder ihnen widerwärtig und verächtlich erscheinen mußten, da sie in ihren Augen die Geschäfte verrichteten, welche den alten Weibern oblagen.
Der Besuch aus Krodendorf war inzwischen mehrmals wiederholt worden und Schlitzwang hatte das heranwachsende goldhaarige Herrentöchterlein aus der Entfernung zuweilen durch den Wald reiten sehen. Inzwischen hatte der junge Sachse einen wahrhaft unwiderstehlichen Drang zur Erlernung der Schrift in sich verspürt und er sah in dem guten Bruder Anselmus nicht nur einen Boten des Heils, sondern auch die Quelle des Wissens.
Schlitzwang war der erste gewesen, welcher die Taufe empfangen hatte. Bald war der Jüngling im stande, selbst im Evangelium zu lesen, und nun erschlossen sich ihm die wunderbarsten Empfindungen. Wie nichtig dünkte ihm dann das ganze Erdenleben, es erschien ihm jetzt nur als Vorbereitung für das Jenseits wertvoll.
Bei der Lehre von der Buße hatte Bruder Anselmus ihm eine Eröffnung gemacht, die ihn im höchsten Grade überraschte und heimlich betrübte. Sie betraf seine Sendung in diese Gegend. Er erzählte, daß er in einem fernen, schönen und reichgesegneten Lande gelebt und sich dort als Priester einer schweren Sünde schuldig gemacht habe. Darauf habe er sich dem Spruche seiner Vorgesetzten unterworfen und sei zur Buße nach Rom gepilgert, um dem obersten Bischof und Stellvertreter Gottes seine Schuld zu bekennen. Dies sei bei schweren Vergehen der vorgeschriebene Gebrauch. Der Bischof von Rom habe ihn dann mit sechs andern auserwählt, um zur Buße und Sühnung ihrer Schuld – denn auch die andern waren Sünder, die nach Rom gepilgert kamen – in den Urwäldern Germaniens, wo die christliche Lehre noch keine Stätte gefunden, fünf Jahre lang zu weilen und das Heidentum eifrig und unermüdlich zu bekämpfen. Kehrten sie nach den fünf Jahren zurück, so sollte ihre Schuld gesühnt sein, und waren ihre Bemühungen glücklich gewesen, so durften sie wählen, ob sie am Orte ihrer erfolgreichen Aussaat weiter wirken oder an andern Orten aufs neue beginnen wollten. Wurden sie das Opfer ihres Berufes, so hatten sie sich die Krone der Märtyrer und Heiligen bei Gott erworben.
Diese Eröffnung hatte den jungen Sachsen wunderbar ergriffen und betrübt, denn er hatte keinen rechten Begriff davon, welcher Art das Vergehen sein konnte, 17 wofür Bruder Anselmus zu büßen hatte. Da dieser sich nicht weiter darüber ausließ, so nahm er sich vor, gar nicht über den Anlaß zum Erscheinen der Brüder in dieser Gegend weiter nachzudenken, sondern sich nur ihrer Anwesenheit zu freuen. Überdies gab es Ursache genug zu andern Fragen, und der fromme Anselmus ermüdete nicht, ihn über die Länder, die er gesehen, deren Bewohner und ihre Sitten zu unterrichten. Er erzählte von seiner Heimat, in welcher in früherer Zeit die Römer geherrscht hatten, und wo allenthalben, vornehmlich in Bauwerken, Spuren ihres thätigen Schaffens sichtbar geblieben waren. Da gab es riesige Wasserleitungen, Bäder und sonstige öffentliche Gebäude, die freilich teilweise zerstört waren oder jetzt, weil unbenutzt, zerfielen. Dagegen hatte die christliche Zeit in großen Bethäusern und Palästen neue Wunder geschaffen, von denen sich Schlitzwang vergeblich ein Bild zu machen suchte. Waren doch für ihn die Gebäude der Heinburg das Merkwürdigste, was er kannte. Die Waffen und Felle im Palas, dem Gemache des Herrn, die Geflechte und Webereien in den Räumen der Kemnate, dann die Wohnungen der Dienstleute, die Ställe für die Pferde und der Anger, auf dem diese umherliefen, alles dies war für ihn der höchste Begriff von Pracht und Reichtum. Alles, was die Erzählungen des Bruders Anselmus in ihm bewirkten, war die brennende Begierde, jene fremden Herrlichkeiten selbst zu sehen und seine Kenntnisse durch eigne Anschauung zu erweitern.
Hatten die Männer des Dorfes sich dem Einfluß der christlichen Brüder bisher wenig geneigt gezeigt, so nahmen sie nach und nach mehr teil an den Versammlungen, die nun schon regelmäßig an festgesetzten Tagen stattfanden. Daran mochte wohl derjenige Teil ihrer Lehre schuld sein, welcher sich darauf bezog, daß die Menschen alle vor Gott gleich seien. Von allen ihren Reden hatten diese Worte den größten Eindruck gemacht. Die Leute am Orte wußten nicht anders, als daß sie alle mit Leib und Leben ihrem Herrn unterthan seien. An die Herrschaft Heinrode grenzten andre Herrschaftsgebiete, und wenn die Herren untereinander irgend einen Streit hatten, so mußten sie sich dem Schiedsspruche des Herzogs unterwerfen, der von Zeit zu Zeit in Ehresburg seine Gerichtstage hielt. Auch mußte Herr Heino alljährlich eine Anzahl Wehrmänner stellen, und im Falle eines großen Streites sollte er selbst an der Spitze einer größeren Zahl bewaffneter Männer sich dem Herzoge unterordnen. Das aber hatte seit Menschengedenken sich nicht ereignet. Wohl aber kam es fortwährend vor, daß Herr Heino Recht zu sprechen hatte über Streitigkeiten, die bei seinen Unterthanen ausbrachen, und handelte es sich um schwere Vergehen, so durfte er die schwersten Strafen verhängen und dem Verbrecher das Leben absprechen. Alle kannten die Bedeutung der hohen Bildsäule von Holz, welche die Macht des Gesetzes darstellte. Jedermann sichtbar stand dieselbe im Hofe der Heinburg.
Selbstverständlich gab es unter den Heinroder Unterthanen eine ganze Anzahl, welche glaubten, daß ihnen bei irgend welcher Gelegenheit Unrecht geschehen sei. 18 Diese nun faßten die Worte von der Gleichheit der Menschen sofort in dem Sinne auf, als ob die neue Lehre ihnen das Recht geben würde, den Herrn zur Rechenschaft zu ziehen. Andre gingen nicht so weit; aber da sie öfter von dem Übermute der Dienstleute in der Burg und der Günstlinge der Herrschaft zu leiden hatten, so legten sie sich die Lehre von der Gleichheit nach ihrer Weise aus und schalten über die Bevorzugung, welche den Wehrmännern und Herrschaftsdienern zu teil wurde. Es wurde viel unter der Linde des Dorfes bei den abendlichen Zusammenkünften hin und her gesprochen und viele, welche das Treiben der christlichen Brüder bisher lächerlich gefunden hatten, merkten nun auf und nahmen sich vor, Näheres bei ihnen zu erfragen. So kam es, daß sie nun auch einen Teil der Männer zu ihren Anhängern zählten und daß nach und nach bereits eine ganze Anzahl sich zur Taufe herbeiließ, in der Hoffnung, als Mitglieder des Bundes auch die erwarteten Vorteile zu genießen.
Viele erfuhren allerdings eine bittere Täuschung. Sie hatten gehofft, daß ihre gekränkte Eigenliebe Nahrung finden werde, und nun wurde ihnen vorgehalten, die Lehre von der Gleichheit der Menschen sei nicht auf gleichgünstige Lebensstellung nach der Höhe zu, sondern hernieder zu gleicher Niedrigkeit zurückzuführen. Nicht der Stolz, sondern die Demut galt als Tugend und nur der unsichtbare Gott sollte der Richter aller Handlungen sein. Manche fielen wieder ab; aber es blieb doch eine kleine Gemeinde, welche Trost und Hoffnung aus der neuen Lehre zog.
Obgleich Schlitzwang meist immer in der Ansiedelung der Brüder verweilte, sah er doch oft genug seine Mutter, um zu erfahren, daß sich ein drohendes Gewitter über den Häuptern der Priester zusammenzog. Die Dienstleute hatten es dem Herrn Heino hinterbracht, daß die Unzufriedenen im Dorfe sich der neuen Lehre zuwendeten und Schlitzwangs Mutter war zugegen gewesen, als die Weiber einiger Dienstleute davon sprachen, daß Frau Ilse, des Herrn Gemahlin, ihn zu begütigen gesucht habe, weil er zornig geäußert, die sieben fremden Männer aus seinem Gebiete verjagen zu wollen. Zwar habe er schließlich ihr scheinbar nachgegeben; aber die alte Frau wollte aus den Reden entnommen haben, daß wohl irgend etwas gegen die Fremdlinge ins Werk gesetzt werde.
In seiner Herzensangst teilte Schlitzwang dem Bruder Anselmus mit, was er erfahren hatte und bat und beschwor ihn, auf seiner Hut zu sein, um der drohenden Gefahr zu entgehen. Aber seine Worte bewirkten gerade das Gegenteil. Hoch aufgerichtet mit leuchtenden Augen entgegnete Anselmus, daß er jeden Augenblick bereit sei, mit seinem Blute Zeugnis von seiner Glaubensfreudigkeit abzulegen. Er geriet in eine förmliche Erregung, faltete die Hände über der Brust, richtete seinen Blick begeistert zum Himmel und sprach: »Dein Wille geschehe, mein Herr und Gott! Wenn du mich ausersehen hast, zur Ehre deines Namens mein Blut zu vergießen, so danke ich dir für so viele Gnade.«
19 Schlitzwangs Verehrung für den frommen Mann stieg nur noch höher, als er bemerkte, daß dieser sein Leben für nichts achtete, wenn er es im Dienste der heiligen Sache, der er diente, dahingeben sollte. Der junge Sachse begann zu ahnen, daß es noch einen andern und höheren Mut gebe als den der Kriegsmänner, die mit den Waffen in der Hand den Feind bekämpften. Er gelobte sich, den Bruder Anselmus keinen Augenblick mehr zu verlassen und bei keiner Gefahr von seiner Seite zu weichen. Ach! er wußte nicht, wie bald das Schicksal des Bruders sich erfüllen sollte!
Als sie am andern Tage wieder in das Dorf gingen, wo Anselmus nach seiner Gewohnheit die Kranken besuchen wollte, erwarteten ihn in der Nähe des ersten Hauses einige bewaffnete Wehrmänner, welche ihm ankündigten, daß Herr Heino seinen Aufenthalt im Dorfe nicht länger dulde. Er möge sofort umkehren und auch seinen Genossen sagen, daß sie gut daran thun würden, so schnell als möglich die Gegend zu verlassen. Anselmus erwiderte hierauf, daß ihm und seinen Brüdern der Aufenthalt von der Herrin des Bodens, auf welchem sie ihr Haus gebaut, gestattet sei und daß er seine Krankenbesuche im Auftrage eines höheren Herrn ausführe, welchem er mehr zu gehorchen habe als dem Herrn Heino.
Hierzu muß nun bemerkt werden, daß das Haus, welches die christlichen Brüder sich erbaut hatten, allerdings auf einem Boden stand, der nicht so eigentlich dem Herrn Heino, sondern vielmehr dessen Schwester Witta gehörte, die unvermählt geblieben war, und zu deren Versorgung ihr der Vater das Lehnsrecht über einen Hof in der Nähe von Heinrode erblich hinterlassen hatte. Diesen Hof nannte man die Wittenburg. Es gehörte ein großes Stück Land und Wald dazu, auf welchem ein kleines Dorf, das Wittendorf, gelegen war. Witta hatte den christlichen Brüdern gestattet, sich auf ihrem Boden anzusiedeln. Dies verdroß die Männer des Herrn Heino; aber am meisten verdroß sie das Wort des Bruders Anselmus, daß ihn ein höherer Herr als Heino gesandt habe und daß er niemand anders gehorchen werde.
Roh und schlagfertig, wie sie waren, drangen sie sofort auf den wehrlosen Mann ein und setzten ihm, der nichts zu seiner Verteidigung thun konnte, mit Hieben so zu, daß er blutend zu Boden sank. Im Niederstürzen verklärte sich sein Blick und seine Augen richteten sich auf das Kreuz, das er im Gürtel trug und an die Brust drückte.
Höhnend hatten sich die mörderischen Gesellen entfernt; wußten sie doch, daß ihre schändliche That ungestraft bleiben würde.
Der entsetzliche Vorfall war so rasch geschehen, daß Schlitzwang die Gefahr kaum recht begriffen hatte, als sein geliebter Freund und Lehrer bereits blutend und ächzend zu seinen Füßen lag. Wie erstarrt hatte er neben ihm gestanden, als die rohen Waffenknechte ihn anhielten; und da sie auf ihn eindrangen, hatte er nur die Arme zur Abwehr auszustrecken vermocht.
20 Ein Hieb mit der Lanze hatte auch ihn verletzt; aber er fühlte es nicht und achtete nicht darauf, als er jetzt laut jammernd und wie sinnlos vor Kummer und Schmerz an der Seite des tödlich verletzten Mannes niederkniete.
Die Kunde von solchen Ereignissen verbreitet sich immer mit außerordentlicher Raschheit, und so eilten denn nicht nur die alten Leute, Frauen und Kinder aus den Häusern herbei, sondern auch von den Feldern und aus den Viehställen kamen alle gelaufen. Arbeitsgeräte und Geschirre wurden zur Seite gestellt, jeder wollte mit eignen Augen sehen, was sich Entsetzliches ereignet hatte.
Endlich erbarmten sich einige Männer und trugen den bewußtlos gewordenen Anselmus in das Häuschen von Schlitzwangs Mutter, wo sie ihn niederlegten und seine Wunden untersuchten. Die Weiber erhoben wie gewöhnlich ein großes Jammern; aber sie bemühten sich doch auch, nach Kräften beizustehen und brachten blutstillende Kräuter und Fetzen alter Leinwand für den Verwundeten.
Niemals vergaß der junge Sachse den Anblick, wie Anselmus bleich und blutend auf dem Lager ausgestreckt lag. Er hatte die tödliche Wunde am Kopfe erhalten; in ihrer blinden Wut hatten seine Feinde auf den Niederstürzenden erbarmungslos noch von oben herunter losgeschlagen. Die Weiber wuschen das Blut des Schwergetroffenen ab; noch immer preßten seine Hände das Kreuz gegen die Brust. Die Blässe seines Angesichts ließ nun erst recht deutlich erkennen, wie edel seine Züge waren, und das Herz seines jungen Freundes blutete bei diesem ergreifenden Anblick.
Schlitzwangs Mutter nötigte diesen, auch an sich zu denken. Da für jetzt die Ruhe für den armen Anselmus das Nötigste war, so wendete sich der Jüngling eine kleine Weile von ihm ab. Die Mutter verband die ungefährliche Wunde, die ihr Sohn am Arme erhalten hatte, während Schlitzwangs Fürsorge und Gedanken nur den Angelegenheiten des edlen Freundes zugewendet blieben. Sofort sandte er einen wohlgesinnten Boten nach der christlichen Niederlassung, um die Brüder von dem Schicksal ihres Genossen zu benachrichtigen.
Hierauf setzte er sich zu dem Kranken an die Seite seines Lagers nieder und flehte zu Gott um seine Genesung. Die Mutter hatte sich für kurze Zeit entfernt, als der bewußtlose Anselmus sich plötzlich regte, mit schmerzlichem Stöhnen nach seinem Kopfe griff, darauf die Augen öffnete und sich verwundert umsah. Er erblickte seinen jungen Freund und schien sich nach und nach auf alles zu besinnen, was mit ihm geschehen war. Eine Weile bewegten sich seine Lippen leise und Schlitzwang wußte, daß er ein Dankgebet zu Gott schickte, der seinen heißen Wunsch erhört und ihn zum Blutzeugen der christlichen Lehre hatte werden lassen.
Dann wendete er sich zu jenem, bat ihn, aufmerksam zuzuhören und entdeckte ihm nun mit leiser und oft unterbrochener Stimme das Geheimnis seines Lebens, jener Schuld, nach dem ihn der Jüngling niemals hatte fragen wollen.
21 Eine unglückliche Neigung zu einem Weibe – darin bestand die Schuld, um deretwillen er nach Rom gepilgert und dann in das Land der Sachsen gekommen war. Nicht die Gesetze der Kirche oder seiner Heimat hatten ihn verurteilt, sondern sein eignes Herz; denn das Weib, welches er geliebt hatte, stand hoch über ihm; niemals konnte an eine Vereinigung mit ihr gedacht werden. Hedwig war die Tochter des Grafen Gottfried von Eschburg, dessen Stammsitz am fernen Neckarflusse lag, wohin der Weg durch das Frankenland führte. Der Vater seiner Geliebten war ein hochstehender Herr, der den kecken Priester ergreifen und mißhandeln ließ und nun die Tochter im strengsten Gewahrsam hielt. Nur um sie vor härterer Heimsuchung zu bewahren, zog Anselmus nach Rom; doch die Geliebte hatte ihm mit Leib und Seele angehört und er konnte sie nicht vergessen, weder in der Wildnis der sächsischen Lande, noch auf dem ersehnten Todeslager. Wenn jemals, so schloß er seine Mitteilung, Schlitzwang in jene Gegend gelangen sollte, so möge er sich nach der Gräfin Hedwig erkundigen und ihr den Todesgruß und Segen ihres Gatten überbringen.
Tief erschüttert versprach der Jüngling die Erfüllung des Wunsches des Sterbenden, indem er hinzusetzte, daß seines Bleibens in der Heimat doch nicht sein werde, wenn der Tod ihn des Lehrers berauben würde.
Und ach! der junge Mann bemerkte gar wohl, wie nahe dieser Fall war; denn immer abgebrochener und leiser verhallten die Worte des Sterbenden, immer bleicher und verklärter erschienen seine Züge. Als er sein Bekenntnis abgelegt hatte, verfiel er in lang anhaltende Betäubung, die nur durch schmerzliches Stöhnen zuweilen unterbrochen wurde.
Inzwischen war der Bote nach der Niederlassung gelangt und hatte dort die Kunde des schrecklichen Vorfalls ausgerichtet. Zwei der Brüder, welche gerade anwesend waren, machten sich sofort auf, um ihren Genossen entweder in das eigne Haus zu bringen, oder ihm im Dorfe die nötige Pflege angedeihen zu lassen, oder – und dies war leider das Wahrscheinlichste – ihn durch ihr Gebet und die Spendung der Heilsmittel auf dem letzten irdischen Gange zu unterstützen.
Die alte Mutter trat mit den beiden Priestern in die Stube, und Schlitzwang erhob sich, um jene zu begrüßen. Sie näherten sich dem Kranken, der erst nach einiger Zeit wieder zur Besinnung kam und seine Genossen erkannte. Und nun wurde der ärmliche Raum des niederen Hauses zur Stätte eines heiligen und erhebenden Vorganges. Der Abschiedsaugenblick nahte heran; nur noch wenige Minuten vermochte der Leidende zu leben. Mit Inbrunst betete er und empfing das geweihte Brot des Herrn. Als er hierauf die Augen schloß und zu schlafen schien, wollte Schlitzwangs Mutter den Sohn überreden, ebenfalls ein wenig zu ruhen; denn sie sah ja, wie sehr ihn alle diese Erlebnisse erschöpft hatten; vielleicht fürchtete sie auch, daß seine Wunde ihm ein Fieber zuziehen könnte.
22 Er weigerte sich jedoch hartnäckig; als aber auch die beiden Brüder in ihn drangen, heftete er einen Blick auf die stillen Züge seines geliebten Lehrers und entschloß sich dann, eine Weile auf die Lagerstatt an der andern Seite der Stube, wo er so manches Jahr in dumpfer Unwissenheit sich dem Schlafe überlassen hatte, sich niederzustrecken, fest überzeugt, daß kein Schlaf über ihn kommen werde. Der äußersten Abspannung nachgebend, schloß er zuweilen die Augen, aber er öffnete sie immer rasch wieder und erblickte dann beim Scheine einer spärlichen Kienfackel das klägliche und doch erhebende Bild des sterbenden Märtyrers.
Die Gedanken des jungen Sachsen entfernten sich indes anfangs keinen Augenblick vom Lager des Anselmus. Das Bekenntnis desselben beschäftigte seine jugendliche Phantasie. Also ein Weib hatte den Verehrungswürdigen in Nöten gebracht, und gerade dieses Weibes gedachte er in seiner Todesstunde! Der Jüngling empfand eine Art von Eifersucht. Zwar hatte er in den letzten Wochen und Monaten innerlich so viel Neues erlebt, daß seine Begriffe vollständig umgewandelt waren, aber bezüglich der Verhältnisse zwischen Mann und Weib waren in ihm neue Gedanken und Anschauungen nicht aufgetaucht. Und so merkwürdig ist die menschliche Natur geartet, daß gerade jetzt, in diesem erschütternden Augenblicke, als derjenige Mensch, den er als den Erwecker seiner Seele aus den Banden der Unwissenheit und Roheit verehrte, sich mit gottergebenem Sinn zum Scheiden vorbereitete, in einem Augenblicke, wo seine Seele tiefbetrübt der Zukunft entgegensah, eine Erinnerung in ihm auflebte, welche längere Zeit durch heilige und reine Eindrücke verdrängt worden war. Noch immer regte sich in ihm der Geist des Heidentums; gerade jetzt, als vor seinen Augen ein ergreifender Vorgang abspielte, umschwebten ihn finstere Gestalten der Versuchung.
Seine Seele gedachte jenes Tages, da sich eine Truppe wandernder Gaukler und Wahrsagerinnen im Dorfe eingefunden hatte. Man erzählte, diese Menschen seien den jetzigen Herren des Landes aus ihrer Heimat im fernen Asien gefolgt. Dort leben nämlich die Menschen, wie heute noch in Indien, streng in bestimmte Klassen oder Kasten gesondert, und wohl kann einer durch Schuld oder Umstände sich aus einer höheren Kaste in die geringere verirren, niemals aber aus dieser in jene sich erheben. Als nun ein Teil des Volkes sich durch Übervölkerung oder aus irgend einem andern Grunde zur Auswanderung entschloß, kamen mit den Kriegern, die eine Kaste für sich bildeten, auch viele aus der untersten und verachtetsten Kaste, die sich mit Gaukeleien und andern müßigem Zeitvertreib ihr Auskommen erwarben und nichts auf der Welt zu gering achteten, um Vorteil daraus zu ziehen. Galten sie doch in ihrer eignen Heimat für ehrlos und unrein, und niemand von den Höhergestellten in ihrem Volke würde mit ihnen gegessen oder sonst mit ihnen verkehrt haben. Aber sie ergötzten die Vornehmen durch ihre Künste und Gaukelspiele, und so mochte es gekommen sein, daß man sie nicht nur mitziehen ließ, sondern sie sogar zum Anschluß aufforderte.
25 Denn diese asiatischen Kriegerhorden wähnten nicht leben zu können ohne solche Wahrsager und Gaukler, die bei ihnen zwar verachtet als Menschen, aber ihres Gewerbes wegen doch gern gesehen wurden. Als sich nun der wandernde Völkerzug auflöste und verteilte und die einzelnen angeseheneren Heerführer sich den Bewohnern des betretenen Landes als Herren aufzwangen, wie es der Urahne des Herrn Heino gethan, da galt es, schwer und anhaltend zu arbeiten; denn die Wälder mußten ausgerodet, es mußten Häuser und Ställe erbaut werden und die Bepflanzung der Äcker sowie die Pflege des Viehes erforderten Fleiß und Ausdauer. Das aber gefiel den zügellosen Gesellen, die sich angeschlossen hatten, und ihren leichtsinnigen Weibern durchaus nicht. Und so trennten sie sich denn von den besseren Stammesgenossen, bildeten selbst eigne kleine Heerlager und zogen in den Nachbarländern umher, sei es um den Heimweg zu finden oder, so gut es gehen wollte, durch Gaukeleien, Betrug und Diebstahl das Leben zu fristen. So mochten die Gauklerbanden entstanden sein, die von Zeit zu Zeit in den Dörfern auftauchten, das gemeine Volk durch ihre Künste ergötzten und auf den Burgen von deren Herren erbaten, was des Lebens Notdurft erheischte.
So hatte sich eines Tages ein Trupp solcher Gaukler in der Nähe des Dorfes, am Ufer des kleinen Flusses, wo sie gewöhnlich rasteten, niedergelassen. Männer und Weiber schweiften in der Umgegend umher, suchten im Walde Holz, Beeren und Früchte, oder ließen sich in den umliegenden Dörfern und auf den Herrenhöfen Nahrungsmittel schenken. Schlitzwang war in den Wald gegangen, um etwas Reisig zu sammeln, da begegnete ihm ein junges Gauklerweib und blickte ihn mit ihren schwarzen blitzenden Augen so vielsagend an, daß es ihm ganz seltsam zu Mute ward. Das war ungefähr ein Jahr her. Ihm sproßte damals gerade der erste Flaum auf der Oberlippe, der inzwischen sich zu einem kleinen Bärtchen entwickelt hatte. Wie bereits erwähnt, wurde er von den Burschen und Dirnen der Umgegend wegen seines schmächtigen, ja schwächlichen Wesens nicht selten verächtlich über die Achsel angesehen. Dabei verstand er sich auch nicht auf die Kunst, den Mangel fühlbarer Körperkraft durch prahlerische Kraftworte zu ersetzen. – Als er nun so stand und die fremde Dirne überrascht, ja fast erschrocken anblickte, rief sie ihm zu:
»Reiche mir deine Hand. Soll ich dir wahrsagen?«
Sie trat dabei dicht an ihn heran und sah ihn mit einem Lächeln an, das man ebenso gut für Hohn wie für Mitleid halten konnte. Ob er ihr seine Hand darreichte oder ob sie dieselbe ergriff, wußte er nicht mehr. Sie schaute eine Weile auf die innere Fläche derselben und rief dann mit unverkennbarem Erstaunen:
»Solche Hand ist selten unter deinesgleichen. Wie kommst du zu diesen Zeichen und Linien? Das ist nicht die Hand eines niedrigen Mannes oder eines Bauern, du bist zu etwas anderm bestimmt.«
26 Als er verlegen vor sich hinsah und fühlte, daß er rot wurde, schien sie dreister zu werden; denn sie hielt die Hand fest und indem sie mit ihrer andern Hand das wirre Haar ihm aus dem Gesichte strich, fuhr sie fort:
»Es ist nicht nur die Hand, auch dein Gesicht gehört nicht in solch ein abgelegenes Dorf. Wie kommen diese Augen, wie kommt dieser Mund hierher? Armer Junge! Zwischen den ungeschlachten Burschen und rohen jungen Leuten dieser Gegenden wirst du stets eine schlechte Rolle spielen, und wenn diese rotbackigen und starkknochigen Dirnen hier auch Gefallen an dir fänden, so dürfen sie es nicht einmal merken lassen, denn sie würden ausgelacht. Aber mir gefällst du, ich finde dich schön, und wenn ich dir ebenso gut gefiele, solltest du nicht vergeblich um meine Gunst bitten.«
Als er noch immer stumm, obgleich mit hochklopfendem Herzen vor ihr stehen blieb, ließ sie plötzlich seine Hand los, faßte ihn an beiden Seiten des Kopfes, drückte ihre Lippen auf die seinigen und sagte rasch mit seltsamem Lachen:
»Du bist wirklich noch zu dumm, um mich zu verstehen und ich muß fort. Aber morgen triffst du mich zu derselben Zeit an dieser Stelle. Ich werde da sein.«
Darauf drückte sie noch einmal ihre Lippen auf seinen Mund, sah ihn mit ihren blitzenden Augen so fest an, daß er glaubte, es müßten Funken daraus sprühen. Als er wieder zu voller Besinnung gelangt war und um sich blickte, sah er die braune Versucherin nach dem Walde eilen und im Dickicht desselben verschwinden.
Wie ein Träumender stand er noch eine Weile da. Er ärgerte sich, daß er stumm wie ein Klotz vor ihr gestanden hatte. Mit dem zusammengelesenen Reisig auf den Schultern begab er sich schließlich nach Hause; aber alles, was er an diesem Tage that, geschah wie im Traume. Fortwährend verfolgte ihn das Bild des jungen Weibes mit den glänzenden schwarzen Augen, den blauschwarzen Haaren, den blitzenden Zähnen und der dunklen Gesichtsfarbe.
Als der Abend heranbrach, ließ es ihm keine Ruhe. Was er eigentlich wollte, wußte er selbst nicht; aber es zog ihn mit unwiderstehlicher Gewalt zu der Stelle am Ufer des Flusses, wo die Gauklerbande lagerte. Es war eine warme Sommernacht; der Mond schien hell, und er sah schon von ferne das große Feuer, welches den Lagerplatz anzeigte.
Mit Herzklopfen schlich er näher und erkannte bereits einzelne Gestalten, die sich um das Feuer bewegten, als seine Aufmerksamkeit plötzlich davon ab und auf den Fluß gelenkt wurde. Von dorther drang ein lautes Lachen und Jubeln, dazwischen Kichern und Aufschreien. Er näherte sich und vernahm nun auch ein Plätschern, so daß er mit zurückgehaltenem Atem noch näher an das Ufer schlich.
Unter den braunen Gestalten, die vom Monde beleuchtet im Wasser sich tummelten, befand sich auch das junge Weib, deren Begegnung ihn heute so seltsam aufgeregt hatte.
27 Das gesamte Volksleben, die Sitten und der Zeitvertreib vor tausend Jahren, die Gebräuche und Vergnügungen, zumal während der Sonnenwendfeier, waren freilich bei weitem ungeschminkter und naiver noch als in den folgenden Jahrhunderten. Alt und jung setzten sich leicht über vertrauliche Scherze und übliche Vorkommnisse hinweg, welche heute Kopfschütteln oder Erröten hervorrufen. Das jedoch, was Schlitzwang in jener Mondnacht schaute, überstieg jeden bis dahin gewohnt gewordenen Grad von jugendfroher Ausgelassenheit. Ebenso beschämt wie betroffen, schlich er sich fort und lief spornstreichs nach Hause; aber seine Beunruhigung dauerte noch eine ganze Weile fort, und ein erquickender Schlaf stellte sich auch in den nächstfolgenden Tagen nicht ein.
Die Entrüstung des jungen Mannes war so groß, daß er am folgenden Tage um keinen Preis dem verlockenden Weibe zu Gefallen sich an dem bezeichneten Platze im Walde einfinden mochte. Allerdings regte sich nochmals wieder sein heißes Blut; aber als er sich einige Tage später nach den Gauklern umsah, waren sie fortgezogen und es ließ sich keine Spur mehr von ihnen entdecken.
Dieses wüste Erlebnis drängte sich nun seiner schwachen Seele auf und trotz der tiefen Bekümmernis, in welche ihn das Leiden und der bevorstehende Tod des Bruders Anselmus versetzten, konnte er sich der verworrenen auf ihn einstürmenden Gedanken nicht so rasch erwehren. Dann aber nahm er seine Zuflucht zu inbrünstigem Gebete, und es gelang ihm wirklich, die Gedanken von jenem Erlebnisse ab und auf die Lehren des Seelenarztes zu richten, der in den letzten Zügen lag. Schließlich übermannte ihn eine große Ermattung, sei es infolge der furchtbaren Erlebnisse, oder des Blutverlustes, der ihn etwas geschwächt haben mochte. Ehe es sich dagegen ankämpfen ließ, war er fest eingeschlafen; er erwachte nicht früher, als bis die Sonne durch die Fensterluken hereinbrach.
Sein erster Blick fiel auf das Schmerzenslager des armen Anselmus. Mit einem lauten Aufschrei fuhr Schlitzwang empor; denn der verklärte Ausdruck des von Frieden überstrahlten Gesichtes verkündete deutlich das Geschehene: Anselmus war verschieden, ohne daß sein letzter Blick auf dem Schüler geruht hatte. Mit geschlossenen Augen und auf der Brust gefaltenen Händen lag er da – der Jüngling hatte das Gefühl, als sei mit ihm die ganze Welt gestorben. Die beiden christlichen Brüder knieten betend an dem Todeslager. Sie erzählten, daß Anselmus wenige Augenblicke vor seinem Tode noch einmal vollkommen zur Besinnung gelangt sei. Er hatte die Brüder zum Ausharren ermahnt und mancherlei angeordnet. Für Schlitzwang hatte er zum Andenken das Evangelienbuch bestimmt, das er selbst geschrieben und das jener oft bewundert hatte.
Dieser neue Beweis von Zuneigung erschütterte den jungen Sachsen derart, daß er in lautes Schluchzen und Weinen ausbrach. Er erfuhr nun auch, daß er in einen tiefen totenähnlichen Schlaf verfallen war, und daß der Sterbende gebeten hatte, ihn nicht gewaltsam aufzurütteln.
28 Was jener ihm zu sagen gehabt, hatte sein junger Freund vernommen – während die beiden Brüder im Gebete bei ihm wachten, war seine Seele sanft hinübergegangen in das Reich des ewigen Friedens.
Schlitzwang aber konnte sich nicht darüber trösten, daß er den Augenblick seines Scheidens versäumt hatte und er blieb der Überzeugung, daß der böse Feind, der sich so gern der verführerischen Weibergestalt zu seinen Zwecken bedient, gerade in jener Stunde seine Sinne verwirrt habe, um ihm den Anblick des sterbenden Heiligen zu entziehen.
Im Laufe des Tages fertigten die Brüder aus jungen Baumstämmen eine Tragbahre, und als es finster geworden war, setzten sie sich in Bewegung, um den Toten nach ihrer Niederlassung zu tragen. Es folgten nur wenige Leute, denn die Furcht hielt viele zurück. Schlitzwang konnte nur an der Seite seiner Mutter und von ihr gestützt hinterher wanken, denn er war ernstlich erkrankt und manchmal kam ihm der Gedanke, daß auch seines Lebens Ende nahe sei. Bei dem christlichen Hause angekommen, wurde die Leiche in dem geheiligten Raume, wo sie ihren Gottesdienst hielten, niedergesetzt, um die Nacht dort zu verbleiben. Alle hielten daselbst im Gebete aus und verließen die Leiche nicht; nur etliche der Anhänger verbrachten die Nacht in einem abgesonderten Raume, um am folgenden Morgen bei dem Begraben der Leiche zugegen zu sein.
Als die Sonne sich in ihrer vollen Pracht erhoben hatte und die Natur im schimmernden Glanze eines schönen Herbstmorgens prangte, schaufelte man im Garten das Grab aus und senkte unter Gebeten und Gesängen die sterbliche Hülle eines edlen Geistes hinab. An den Gräsern und Blumen hing der Tau, als ob es Thränen der Trauer wären. Als die Grube wieder geschlossen war, brachen alle in laute Wehklagen aus; denn sie waren noch zu sehr von heidnischen Begriffen erfüllt, um die christliche Weise der Bestattung richtig würdigen zu können. Bald bildete die Erde auf dem Grabe einen kleinen Hügel, der mit einem schlichten Holzkreuz, welches einer der Brüder inzwischen gezimmert hatte, bezeichnet wurde.
Nun wartete auf Schlitzwang noch ein herzbrechender und doch tröstlicher Augenblick, als ihm das Vermächtnis des teuren Toten, das kostbare Evangelienbuch, übergeben wurde. Gern hätte der Jüngling sich erboten, sofort an die Stelle des Verstorbenen zu treten, und wenn er auch kein geweihter Priester war, so würde er doch mit allem Eifer zur Verbreitung der Heilslehre mitgewirkt und alles aufgeboten haben, um soviel als möglich in die Fußstapfen seines Vorbildes zu treten. Aber vorläufig war daran nicht zu denken, denn sein Aussehen war geradezu jammervoll. Seine Mutter wollte ihn nicht in dem Hause zurücklassen, und auch die Brüder redeten ihm eindringlich zu, mit ihr nach dem Dorfe zurückzukehren, bis sein Gemüt sich beruhigt und seine Gesundheit sich wieder gekräftigt habe.
29 Der Heimweg würde dem jungen Mann schwerer geworden sein, wenn er nicht seinen kostbaren Schatz, das Evangelium des Bruders Anselmus, bei sich gehabt hätte. Diese beschriebenen Pergamentblätter waren für ihn von unschätzbarem Werte, und er mußte an sich halten, damit seine Gefährten dies nicht bemerkten, weil sie sonst geglaubt hätten, in dem Buche stecke irgend ein geheimnisvoller Zauber, vermöge dessen man sich Reichtum oder Lebensgenuß verschaffen könne. Er hielt das Buch fest an sein Herz gedrückt, und obgleich er seine Kräfte immer mehr schwinden fühlte, je näher sie dem Dorfe kamen, so achtete er nicht darauf und dachte nur an das Glück eines solchen Besitzes. Zuletzt mußte die Mutter ihn mühsam fortschleppen, denn seine Füße trugen ihn kaum mehr; ein heftiger Fieberfrost machte seine Glieder erbeben und seine Zähne klappern. So erreichten sie das Haus. Kaum vermochte der Kranke die Schwelle zu überschreiten und sich nach seinem Lager hinzuschleppen. Das teure Vermächtnis fest an die Brust gedrückt, stürzte er dort nieder und verlor im selben Augenblicke vollständig das Bewußtsein.
Als er wieder zur Besinnung kam, dauerte es lange, lange Zeit, bevor er sich einen Teil dieser letzten Erlebnisse wieder in das Gedächtnis zurückrufen konnte. Jede Bewegung, die er versuchte, machte ihm Schmerz; die Augen thaten ihm weh, wenn er sie auf irgend etwas heftete; tiefe Seufzer entrangen sich seiner Brust, und dieses Zeichen des wiederkehrenden Bewußtseins rief seine Mutter sofort an sein Lager. Sie sah, daß er sie erkannte und freute sich dessen. Er lechzte nach einem Trunke und sie reichte ihm denselben.
Jetzt erst bemerkte er, daß er sich an einem ihm fremden Orte befand. Er konnte vor Schwäche nur leise sprechen; leise mit schwacher Stimme fragte er seine Mutter, was mit ihm geschehen sei und wo sie sich befänden. Hierauf teilte sie ihm mit, daß er mehrere Tage im starken Fieber gelegen, wirre Reden geführt und allerlei gefährliche Dinge habe vollbringen wollen. Deswegen wäre er auf Anordnung der Herrin, der Frau Ilse, die sie darum gebeten, in die Burg geschafft und hier in einem Leutezimmer niedergelegt worden, damit die Mutter ihn besser verpflegen könne.
Noch hatte sie nicht völlig ausgesprochen, als ihn plötzlich eine namenlose Angst überfiel und er sich nach allen Seiten umsah und umhertastete. Sein kostbarer Schatz, das Evangelienbuch, befand sich nicht an seiner Seite und er konnte es nicht entdecken. Hastig erkundigte er sich nach seinem Verbleiben. Doch seine Mutter beruhigte ihn alsbald mit der Versicherung, daß sein Schatz in guter Sicherheit sei, da Frau Ilse selbst es in Verwahrung genommen habe.
Diese Mitteilung verscheuchte zwar nicht seine Besorgnis völlig, denn die Leute im Dorfe wußten im Grunde nur wenig von der Gemütsart und Denkweise der Familie ihres Herrn. Schlitzwangs Mutter hatte zwar stets behauptet, daß die Gemahlin des Herrn Heino eine milde Frau sei. Doch nur selten hatte der 30 Jüngling sie aus der Nähe gesehen, und wenn das ja einmal der Fall war, so fehlte ihm doch der Mut, sie genauer zu betrachten; denn der Abstand zwischen der herrschaftlichen Familie zu den niederen Bewohnern des Dorfes war doch zu groß. Vielleicht waren auch hierin noch die Nachwehen der Gewohnheiten aus der früheren asiatischen Heimat zu erkennen. Aller Verkehr wurde durch die Dienstleute vom Herrenhofe vermittelt, und diese bildeten sich nicht wenig darauf ein, daß sie den Vorzug hatten, mit den Herrschaften persönlich verkehren zu dürfen. Auch die Wohlthätigkeitsspenden wurden auf diesem Wege vermittelt.
Zuweilen kamen Gäste auf die Heinburg, und dann ging es dort hoch her. Fast nur bei solchen Gelegenheiten sah man Frau Ilse, wenn sie zu Pferde mit den andern zur Jagd auszog, denn das war von jeher die größte Lust für die Herrschaft und ihre Gäste. Dann hielten sie wohl auch vor dem Hause des Schmieds und besahen Waffen oder Geräte und was dieser sonst zu fertigen verstand.
Nach alledem wäre es dem jungen Sachsen lieber gewesen, wenn er sein kostbares Evangelienbuch hätte sofort wieder erhalten können; seine Mutter erklärte jedoch, daß dies nicht wohl anginge und bat ihn, sich vorläufig keine Sorge zu machen, da sein Eigentum jedenfalls in den Händen der wohlgesinnten Frau gut bewahrt sei.
Ob das Herz einer Mutter sich jemals verleugnen kann? Gewiß nur dann, wenn es ganz entartet ist; denn selbst das ärmste und roheste Weib nimmt sich seines Kindes an und sucht ihm in der Not Schutz und Trost zu bieten. So hielt es Schlitzwangs Mütterlein, das durch Arbeit, Not und mancherlei Kummer frühzeitig gealtert war, auch für ratsam, dem Sohne mit aller möglichen Schonung nach und nach beizubringen, was während seiner schweren Krankheit vorgefallen war und weshalb Frau Ilse sich seiner so liebreich angenommen hatte. Sicher war es wohlgethan, daß die treue Seele dem Sohne tropfenweise die aufregenden schrecklichen Nachrichten beibrachte, denn sein armer Kopf wäre kaum im stande gewesen, alle diese niederschmetternden Vorgänge zu ertragen. Und doch mußten sie ihm mitgeteilt werden, denn für ihn hing alles davon ab, daß er sie erfuhr.
Der Mord des Bruders Anselmus war nur der Anfang zu weiteren Schritten gewesen, welche unter der stillschweigenden Billigung des Herrn Heino gegen die christlichen Brüder unternommen wurden. Wahrscheinlich fürchtete man, daß gerade das Beispiel dieses heldenmütigen Bekenners der neuen Lehre der christlichen Sache nützen und das Ansehen des Herrn und seiner Wehrmänner schädigen könne. Außerdem ließ sich nach dem stattgehabten Morde die Sache nicht mehr mit Stillschweigen übergehen und der Herr mußte entweder den christlichen Einwanderern oder seinen Wehrmännern recht geben. Natürlich that er das letztere. Er sandte eine Abteilung bewaffneter Leute nach dem christlichen Brüderhause und ließ den sechs Priestern verkündigen, daß er sie mit Gewalt über die Grenze seiner Herrschaft, zu welcher auch das Besitztum seiner Schwester gehöre, bringen lassen werde, wenn sie sich weigerten, seinem Gebote zu willfahren.
31 Blut sollte dabei nicht vergossen werden. Was blieb den frommen Brüdern übrig? Gegen eine solche Maßregel gab es keinen Widerstand, und das Schicksal des Bruders Anselmus bewies, daß ihre Feinde bis zum äußersten entschlossen waren. Man ließ ihnen ihre geheiligten Geräte, Habseligkeiten und Bücher und geleitete sie bis zur Grenze unter Androhung schwerer körperlicher Strafen, wenn sie den Versuch der Rückkehr wagen sollten. Das Haus wurde dann zerstört, und Herr Heino glaubte, daß damit alles vorüber sei.
Aber er hatte sich geirrt. Der Aufenthalt der christlichen Priester war doch auf einige Bewohner des Dorfes und der Umgegend nicht ohne Wirkung geblieben, und das Schicksal derselben gab nicht nur Veranlassung zu lebhaften mündlichen Streitigkeiten, sondern auch zu heftigem Zank und endlich zu Thätlichkeiten. Wie gewöhnlich fanden die Wehrmänner den größten Anhang und so ließ sich denn voraussehen, daß eines Tages die christlichen Brüder schweren Mißhandlungen ausgesetzt sein und, wenn sie sich widersetzten, daraus Mord und Todschlag entstehen würden.
32 Schlitzwangs Mutter geriet in die größte Angst. Ihr Sohn lag gerade in dem heftigsten Fieber. Da übertrug sie seine Pflege für kurze Zeit einem alten Weibe ihrer Sippschaft und machte sich auf den Weg nach der Heinburg, wo sie durch Vermittelung einer angesehenen Dienstfrau ihr Leid und ihre Sorgen der Herrin kundthun ließ. Diese erbarmte sich der Herzensangst der armen Frau und sandte in der späten Dämmerung zwei Diener mit Matten und Fellen, um den Kranken auf den Hof zu tragen. Als er hier anlangte, ließ sich Frau Ilse herab, selber nach ihm zu sehen, und da er noch immer das Evangelienbuch krampfhaft an sich gedrückt hielt, so wagte sie es, mit ihrer milden Hand seine fieberheißen Finger davon loszulösen und das Buch selbst in Verwahr zu nehmen.
An demselben Abend aber gerieten in später Stunde die Anhänger und Verräter der Christenlehre in Zank und Streit, und während der großen Schlägerei erging es den wenigen, die sich von den Priestern hatten taufen lassen, übel genug. Sie wurden furchtbar zugerichtet.
Schlitzwang hörte diesen Bericht von seiner Mutter mit weniger Erregung, als sie geglaubt hatte. Anfangs wohl erschütterte ihn das Schicksal der Genossen des Vaters Anselmus, die er alle kannte und deren Gesichtszüge ihm gerade jetzt lebhaft vor Augen traten. Beim Schlusse der Erzählung aber überkam ihn das Gefühl, daß es besser gewesen wäre, wenn die wilden, unbarmherzigen Menschen ihn im Hause der Mutter bewußtlos noch angetroffen und in ihrer blinden Wut gleichfalls totgeschlagen hätten.
Zu ermattet, um viel reden zu können, verschloß er seine Gedanken in sein Inneres; doch stand bei ihm fest, daß seine Heimat ihm zur Fremde geworden und daß er lieber bei den wilden Tieren im Walde hausen, als länger an einem Orte bleiben wollte, wo so grauenhafte Erinnerungen ihn umgaben.
Diese Gedanken beschäftigten ihn fortwährend. Wie bereits erwähnt, war der Verkehr mit andern Orten des Landes so beschränkt, daß ein ganzes Menschenalter vergehen konnte, bevor einmal jemand aus sehr entfernten Gegenden zurückkam, und was durchreisende Händler oder das fahrende Volk erzählten, war meist mit Lug und Trug durchwebt.
Die Sachsen lebten seit langer Zeit in tiefem Frieden mit ihren Nachbarn, und nur ganz alte Leute erinnerten sich, daß Männer aus dem Dorfe zum Kriege gegen die Sorben und Wenden mit ausgezogen seien, von denen die wenigsten wieder zurückkehrten. Die Welt war für Schlitzwang überall gleich fremd; wohin sollte er die Schritte richten? Ging die Sehnsucht der Mehrzahl seiner Heimatsgenossen dahin, den Ort zu schauen, wo das große Heiligtum des gesamten Stammes, die Irmensäule, stand, so zogen ihn seine jüngsten Erlebnisse, das, was ihm lieb und teuer geworden, weiter hinweg, nach dem fernen Rhein – nach Italien – nach Rom.
33 Seine Mutter merkte wohl, was in ihm vorging; denn wie unwissend sie auch war, was ihr einziges Kind betraf, dafür besaß sie ein starkes Ahnungsvermögen. Wenn er sich in dem Gemache umsah, suchte sie seine Gedanken auf die Gegenstände ringsum zu lenken. Was sich in den besten Häusern des Dorfes im Gebrauch befand, wurde hier weit übertroffen. Die Geräte und Gefäße hatten andre Formen und waren bunt verziert, was auch bei den Matten und Decken der Fall war. Kein Mensch im Dorfe würde gewagt haben, dies der Herrschaft nachzumachen. Die Mutter erzählte auch von den aufgehängten alten Waffen im Palas und Mushause und meinte, daß es gar nichts Herrlicheres in der Welt geben könne. Die Gedanken des Jünglings schweiften von diesen Dingen ab, aber es tröstete ihn doch, wenn er sah, wie die Mutter mit allen Fäden ihres Gemütes an der Heimat hing. Wohl wußte er, daß sie ihn nie vergessen würde, aber sie konnte ihn leichter entbehren. Anselmus hatte ihm von Ländern erzählt, wo die Überfülle der Früchte, der Fische und Zuchttiere die Menschen reichlich nährte; aber auch in den sächsischen Gegenden konnte man sein Dasein fristen und da die Mutter es nicht besser wußte, war sie zufrieden, wenn sie Holz genug, Eicheln, Buchnüsse und Waldbeeren aller Art sammeln konnte und von den Frauen des Herrenhofes zuweilen ein Gewand zum Geschenk erhielt. Und daß diese sie im hilflosen Alter nicht umkommen lassen würden, wußte der Sohn gewiß.
Somit war er fest entschlossen, sofort nach seiner Genesung die Heimat zu verlassen. Vielleicht glückte es ihm, die flüchtigen Priester aufzufinden und dann konnte er sich diesen anschließen. Vielleicht gelang es auch, die Richtung nach Ehresburg oder Paderborn einzuhalten, denn nach dort mußte es Reitwege geben. Aber bevor er noch mit seinen Gedanken im reinen war, brachte seine Mutter selbst die Entscheidung. Frau Ilse hatte sie zu sich kommen lassen und ihr vorgestellt, daß es besser sei, wenn ihr Sohn die Gegend für einige Zeit verließe, und da sie gerade beabsichtigte, einen reitenden Boten nach der Krodenburg am Harze, wo ihr Vater lebte, abzusenden, so sollte Schlitzwang mit diesem reiten und dort einstweilen bleiben, oder frei weiterziehen, wenn sein Herz es begehrte.
Schlitzwang erklärte sich damit einverstanden, und da die guten Tränke und kräftigen Süpplein aus der Herrenküche ihn wunderbar rasch stärkten, so war er bald bereit, die Reise anzutreten. Je mehr sich seine Gesundheit besserte, um so eifriger zog seine Mutter Erkundigungen ein, was Herr Heino von der Teilnahme der Frau Ilse für ihn, den jungen Christen, dächte. Man erfuhr, daß derselbe zwar die Vertreibung der christlichen Brüder selbst befohlen, ja selbst den Mord des Anselmus gebilligt habe, aber in bezug auf Schlitzwang habe er die Bitte der Herrin gewährt und ihr ganz freie Hand gelassen, ihn auf irgend welche Weise unschädlich zu machen. Somit war er eigentlich das Eigentum der Frau Ilse geworden und er stellte sich denn auch ganz unter ihren Willen.
34 Der Tag kam heran, an welchem Schlitzwang abreisen sollte. Herr Heino war frühzeitig zur Jagd ausgeritten, und die drei Kinder der Frau Ilse, zwei Knaben und ein Mädchen, befanden sich in den Räumen der Herrin. Diese begehrte ihn jetzt zu sehen und ließ ihm befehlen, bevor er abreiste, vor ihr zu erscheinen. Er verfügte sich alsbald nach der Kemnate, wo eine Dienerin die Matte von einer Thüröffnung zurückschob, damit er in das Gemach der Herrin eintreten könne.
Der junge Mann blieb wie gebannt einen Augenblick an der Schwelle stehen. In dem freundlich eingerichteten Raume, dicht bei einer großen Fensteröffnung, die den Blick in den Garten gewährte, saß Frau Ilse und hielt das Evangelienbuch auf ihrem Schoße, während ihr ältester Sohn mit dem Zeigefinger auf eines der geschriebenen Worte deutete, welches sie ihm dann vorsprach. Die beiden kleineren Kinder kauerten zu beiden Seiten und sahen bald auf die Mutter, bald auf den Bruder, bald auf das Buch.
Ob der böse Feind sich nun einmal vorgesetzt hatte, bei jeder erhebenden und ergreifenden Einwirkung auf Schlitzwangs Seele sich einzumischen? Wie dieser Frau Ilse von ihren Kindern umgeben vor sich sah, mußte er wieder an die Gauklerin und an die Worte denken, die sie damals zu ihm gesprochen hatte. Offenbar gab es Wesen mit Gesichtern, die ganz etwas andres ausdrückten als was man täglich im Dorfe erblickte. Und hier waren es nicht nur die edlen Züge, es war die ganze Gestalt und die Haltung der Herrin, was den jungen Mann mit seltsamem Zauber berührte und alsbald für Frau Ilse einnahm.
Sie bemerkte jetzt den ihr Nahenden, und indem sie ihre klaren Augen auf ihn richtete, sagte sie:
»Du willst dein Buch von mir in Empfang nehmen? Hier ist es.«
Hatte ihn der erste Anblick der Herrin aus solcher Nähe wundersam berührt, so verscheuchte der Blick ihrer Augen und der Ton ihrer Stimme diesen Eindruck wieder. Sie war wieder die hochstehende, gebietende Frau geworden, welche sich herabließ, mit einem Menschenkinde zu reden, dessen Stellung gar nicht mit der ihrigen verglichen werden konnte. Dennoch konnte er eine freudige Überraschung nicht zügeln und sagte zu ihr:
»Dir ist die Kunst der Schrift bekannt? Wie ist das möglich, Herrin?«
Sie antwortete hierauf gar nicht, sondern fuhr zu reden da fort, wo sie aufgehört hatte: »Es ist ein kostbares Vermächtnis«, sagte sie, »das dir der Christ hinterlassen hat. Ein Evangelienbuch in unsrer Sprache. Vielleicht das erste und einzige, das es gibt.«
»In unsrer Sprache?« fragte der Jüngling erstaunt und verwirrt, denn daran hatte er noch gar nicht gedacht.
»Allerdings«, entgegnete sie, »der Mann muß viele Zeit und Mühe darauf verwendet haben, bis ihm unsre Sprache so geläufig war; denn die fränkische 35 Sprechweise weicht doch sehr davon ab und die Evangelienbücher sind meist in römischer Sprache geschrieben.«
Schlitzwang war ganz verblüfft über das, was er hörte und starrte verwundert in das Gesicht der Herrin, die ihm nun erst recht wie ein höheres Wesen erschien.
Die Frauen in den Dörfern trugen das Haar von allen Seiten des Kopfes emporgestrichen und zu einem Knoten oben auf dem Scheitel zusammengeballt; Frau Ilse dagegen ließ es lang herabhängen; es floß in dichten, weichen Wellen weit über ihre Schultern und wurde durch einen Ring von glänzender Bronze zusammen und vom Gesichte zurückgehalten. Dieser Ring von Bronze hatte auf der Stirn eine emporstehende Verzierung, die dem Gesichte einen stolzen Ausdruck verlieh. Die Gewänder der Herrin waren von weit feinerem Stoffe als andre Frauen sie trugen und dazu mit bunten Streifen am Halse, an den Ärmeln und am Rocksaume geschmückt, die kein niederes Weib zu tragen gewagt hätte.
Endlich faßte Schlitzwang Mut und verstieg sich zu der Frage:
»Du kennst also den Inhalt des Buches und mithin auch die Lehre des Heils und der Erlösung? O sage mir, Herrin, was denkst du davon?«
»Was ich davon denke? Daß der Gott der Christen seinen Sohn in Elend leben und den Tod des Verbrechers hat sterben lassen. Es steht manches schöne Wort in dem Buche; aber was soll es uns bedeuten, die wir keine Götter brauchen und zufrieden in unserm Lande leben?«
Diese Worte versetzten den Jüngling aufs neue in das höchste Erstaunen. Wie der Blitz durchfuhr seine Seele der Gedanke an das Wagnis einer Reise der christlichen Priester nach dem sächsischen Lande, als sie, getrieben von dem unwiderstehlichen Drange, die Lehre des Heils dorthin zu bringen, vor der Wanderung durch Wälder und über reißende Flüsse nicht zurückbebten und den gefährlichen Aufenthalt unter unwissenden und gewaltthätigen Menschen nicht scheuten! Und das alles sollten sie aus falscher Einbildung unternommen haben? Der in ihm selbst erwachte Wissensdrang, das heiße Verlangen nach Erkenntnis Gottes sollte nur ein Hirngespinst sein? Wie in Verzweiflung fragte er die ruhige stolze Frau:
»Und die wunderbare Kunst der Schrift, die du selbst zu kennen scheinst, ist sie nicht ein unschätzbares Gut und sind nicht jene Männer schon deshalb unsre Wohlthäter, weil sie uns diese köstliche Gabe bringen?«
Ein milder Zug belebte das Gesicht der Herrin, als sie darauf erwiderte:
»Ich will diese Frage nicht erwidern, aber mein Herr ist andrer Meinung und ich gehorche ihm. Er liebt es nicht, daß man sich seinem Willen widersetzt und er hat vielleicht recht, wenn er die Schrift für ein Spielzeug hält, das in 36 unrechten Händen zum Verderben wird. Ich habe es beklagt, daß der, welcher dieses Buch niederschrieb, sein Leben verlor; denn ich kann nicht leugnen, daß ich Teilnahme für diejenigen Menschen empfinde, welche es verstehen, ihren Gedanken durch Wort und Schrift Ausdruck zu leihen, aber ich kann auf der andern Seite meinem Herrn nicht unrecht geben, wenn er seiner Überzeugung folgt und Menschen von unserm Lande fern zu halten sucht, welche Unruhe in die Herzen bringen. Wer rief sie zu uns und was suchen sie hier? Leben wir nicht seit undenklichen Zeiten zufrieden in unsern Heimstätten? Sollen wir nicht diese Eindringlinge als Feinde betrachten, wenn sie uns in unserm Frieden stören und thörichte Wünsche und Hoffnungen unter den Leuten erwecken? Wenn sie die Kraft unsrer Männer untergraben, wer soll uns schützen? Unser rauhes Land fordert Mannesmut und Widerstandsfähigkeit, denn unsre Selbständigkeit ist das Höchste, was wir besitzen.«
So ungefähr sprach Frau Ilse und der Jüngling hörte ihr zu. Unfähig, alle ihre Worte sofort zu begreifen und sich ein Urteil über das Gesagte zu bilden, fühlte er doch, daß ihm Stoff zu langem Nachdenken gegeben worden war. Noch schwirrten ihm ihre Worte durch den Kopf, als sie ihm mit beiden Händen das Buch überreichte und dabei sagte:
»Ich sende dich auf den Hof meines Vaters Krodo zu meiner Muhme und thue dies mit gutem Bedacht. Wenn du klug bist, wirst du dort deine Kenntnisse erweitern und verwerten können. Hier würden sie dich verderben. Vielleicht siehst du selbst noch einmal ein, daß deine Gedanken und Hoffnungen thöricht waren. Du bist ein Schwächling und willst die Kraft durch Wissen ersetzen; vielleicht gibt es Länder, wo das Wissen mehr gilt als die Kraft. Ich möchte freilich nicht dort leben. Und nun nimm von deiner Mutter Abschied und sorge dich nicht um sie. Der Knecht, mit dem du reiten wirst, weiß, wohin er dich zu bringen und was er dort zu sagen hat. Wenn du fort bist, wird das Treiben der tollkühnen Priester bald vergessen sein und alles bleibt wie zuvor.«
Sie winkte mit der Hand, der junge Mann machte eine tiefe Verbeugung, wie dies die Sitte gebot, wenn man der Herrschaft Gruß und Ehrerbietung zu erweisen hatte; hierauf verließ er das Gemach, verwirrt in den Gedanken, aber doch selig darüber, daß er das Vermächtnis seines Lehrers Anselmus wieder an die Brust drücken konnte.
Der Abschied vom Sohne ward der Mutter nicht allzuschwer, denn sie glaubte ihn bald wiederzusehen, zumal sie nicht begreifen konnte, wie es möglich sei, an einem andern Orte zu leben. – Mit verächtlichem Blicke sah der reitende Knecht zu, wie Schlitzwang ungeschickt zu Pferde stieg, und bald trabten beide zusammen durch den Wald. Nun erst überkam den Jüngling mit einem Male das bittere Weh des Abschieds von der Heimat. Die Menschen dort hatten ihm vieles Leid 37 zugefügt; außer der Mutter freute sich niemand über seinen Anblick, aber trotzdem mußte er sich öfters umsehen, um das Dorf noch einmal zu erblicken und als dies endlich nicht mehr möglich war, suchte er vergeblich seinen Kummer vor dem Gefährten zu verbergen. Obgleich er wußte, daß dieser ihn verachten und verhöhnen würde, konnte er doch die Thränen nicht zurückhalten, welche unaufhörlich über seine Wangen liefen.
Eine Weile vermochte es der Begleiter, seinen Unmut zu unterdrücken, dann aber polterte er los und sagte:
»Da sieht man, was bei der neuen Lehre herausspringt; die ist einzig und allein nur für Weiber und Hasenfüße geeignet. Wenn unsre Herrin dich mir nicht auf die Seele gebunden hätte, ich risse hier gleich einen Baum aus und schlüge dir damit alle Knochen im Leibe entzwei. Es gibt doch nichts Schändlicheres auf der Welt als einen Kerl, der von außen wie ein Mann aussieht und doch nur ein altes Weib ist. In meinem Leben ist mir keine Thräne aus dem Auge gekommen – es ist eine wahre Schande für mich, daß ich neben einem solchen Jammerkerl herreiten muß. Aber nimm dich in acht, daß du meinen Zorn nicht zu sehr reizest, sonst vergesse ich meine gelobte Treue und schaffe dich mit einem einzigen Schlage aus der Welt. Hier im Walde gäbe das einen prächtigen Fraß für die hungrigen Wölfe, die mehr wert sind als du.«
Diese kräftigen Trostesworte verfehlten ihre Wirkung nicht; denn Schlitzwang war selbst Sachse und lange genug Heide gewesen, um sich seiner Weichherzigkeit zu schämen. Nach kurzer Zeit hatte er sie bezwungen und suchte den unwirschen Begleiter zu versöhnen, indem er sagte:
»Laß gut sein, Gesell, es soll nicht wieder geschehen.«
Darauf suchte er eine heitere Miene anzunehmen, und indem er mancherlei Bemerkungen über mächtige Bäume, die am Rande des Weges standen, über Tiere, die vor ihnen flohen und dergleichen mehr machte, reizte er den Begleiter zu verschiedenen Äußerungen, die endlich zu einem lebhafteren Zwiegespräche gediehen, bei welchem der derbe Reitknecht zwar immer noch zeitweilig seinen Abscheu durchblicken ließ, aber doch nach und nach zuthulicher wurde. Indes Schlitzwang kannte Natur und Denkweise der Männer seines Stammes und wußte den derben Schlagetod nach und nach kirre zu machen.
Der Ritt durch den Wald übte auf ihn selbst eine außerordentlich erfrischende Wirkung aus. Die Kinder des Dorfes waren von jung auf gewöhnt, mit Pferden umzugehen, sie nach der Arbeit in die Schwemme zu reiten und mit ihnen umherzutummeln. Aber solch ein frischer Ritt durch den Wald, immer weiter vorwärts, war doch etwas andres, und er fühlte nach und nach, wie ihm das Herz weit wurde bei dem würzigen Waldesdufte, dem Zwitschern der Vögel und den mannigfachen Naturlauten, die von allen Seiten auf die beiden Reisenden eindrangen. 38 Man machte mehrmals Rast, und da der Gefährte die Gegend kannte, so wußte dieser auch die Stellen zu wählen, wo frische Quellen hervorsprudelten und die Pferde sich gleichfalls an saftigem Grase gütlich thun konnten, während die Reiter die Vorräte verzehrten, welche die Schaffnerin von der Heinburg dem Knechte mitgegeben hatte. Dieser war schon weit in der Gegend umhergeritten, denn er besorgte sämtliche Botschaften für Herrn Heino und Frau Ilse, und so konnte er auch auf manche Orte in der Gegend hinweisen, welche Interesse darboten und seinem Begleiter unbekannt geblieben waren. Die nächste Umgebung der Herrschaft Heinrode war bis zu den Ufern der Elbe hin und auf der andern Seite bis zum Fuße des Harzgebirges ebener Boden und daher sehr gut zu Niederlassungen geeignet. Es durchzogen wohl noch ausgedehnte Wälder und zwischendurch große Moor- und Sumpfflächen die Landschaft, aber nur selten zwangen gefährliche Stellen die Reisenden, Halt zu machen. Indes fehlte es Schlitzwangs Begleiter nicht an Gelegenheit, mancherlei von kühnen Ritten durch unheimliche pfadlose Wildnisse zu erzählen. Jetzt aber wurde das Fortkommen auf den Pfaden schwieriger, die Bäume wurden mächtiger, je näher sie dem Gebirge kamen, das sich immer deutlicher als mächtiger Kamm in der duftigen Ferne erhob. Sie waren den ganzen Tag geritten und nur hier und da wenigen Waldarbeitern oder armen Leuten begegnet. Nun, gegen Abend bemerkten sie, daß sie sich einer wirtbaren, bewohnten Gegend näherten. Noch vor Nacht langten sie in Krodendorf an, wo sie auf der Herrenburg von den Dienern gut empfangen und untergebracht wurden. Schlitzwangs Führer und Begleiter wurde sofort bei dem Herrn vorgelassen, ihn selbst aber schien niemand weiter sehen zu wollen. Da er sein Evangelienbuch nicht von sich ließ, so sahen ihn die Dienstleute und Frauen des Hofes mit scheuer Verwunderung an, denn sie hätten lieber eine Lanze oder ein Schwert als ein Buch in den Händen eines jungen Mannes gesehen. Ihn kümmerte solches aber wenig. Am folgenden Tage wurde ihm ein kleiner Raum in einem der Dienerhäuser zur Wohnung angewiesen und zu seinem größten Erstaunen fand er daselbst alles vor, was zum Schreiben nötig war, sowohl Tafel und Griffel wie auch Pergamentblätter und Farbe.
Am andern Tage kehrte der Reitknecht mit den Pferden nach Heinrode zurück; Schlitzwang dagegen blieb unter der Dienerschaft des Herrn Krodo zurück. 39