Adolf Glaser
Schlitzwang
Adolf Glaser

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Die Kaiserpfalz zu Goslar nach ihrer Restauration.

Dritter Abschnitt.

Gerrita und Editha.

Wenn auch das heutige Goslar im Harz erst nach der Zeit, in welcher unsre Erzählung spielt, von Menschen, die in der Gegend Bergwerke anlegten, gegründet wurde, so lassen sich doch gerade dort so viele Spuren heidnischen Lebens nachweisen, daß die Annahme nicht allzu gewagt ist, es habe daselbst schon früher eine Niederlassung bestanden, die ähnlich wie Heinrode unter der Herrschaft eines Edelings, Namens Krodo, sich befand und nach dem Namen desselben benannt war.

Wunderbar ist der Drang, den der Mensch zu seiner Heimat hat. Alles, was Schlitzwang aus der Krodenburg im Harzgebirge erlebte, weckte immerfort die Erinnerung an sein liebes Heinrode. Wohl waren die Gebräuche und Sitten hier fast ganz dieselben wie dort, und es mag wohl überall so gewesen sein, wo Sachsen wohnten und mit wenig Ausnahmen auch da, wo ihre nächsten Stammesverwandten ihre Heimplätze hatten, aber die Natur erschien doch etwas anders.

Der Wald war wilder und unwirtbarer und die größere Nähe des Blocksberges bewirkte mancherlei eigenartige Verhältnisse. Daran, oder daß man im 40 Winter vor Schnee keine Wege finden konnte, oder wenn in andern Zeiten an den ausgerodeten und bewohnten Stellen der Boden durch die Nässe so aufgeweicht war, daß die Menschen kein Fortkommen fanden und die Häuser oft zusammenstürzten, war Schlitzwang von Jugend an gewöhnt. Scharenweise kamen auch hier die Raben in die Nähe der menschlichen Wohnungen herangeflogen und erfüllten die Luft mit ihrem Gekrächze. Aber es gab in der Nähe seines neuen Wohnortes in den Wäldern weit mehr gefährlicheres Getier und die Männer, welche, wie überall, fast den ganzen Winter hindurch faul auf ihren Bärenhäuten lagerten, wurden oft genug durch Jammergeschrei und wüsten Lärm veranlaßt, mit Äxten und Spießen auszuziehen zur Bekämpfung der Raubtiere und Unholde der Wildnis, von Wölfen und Bären und des mächtigen Auerochsen. Deswegen blieb beim Zusammenstoß mit den letzteren auch dort die Stärke des Armes und die Unerschrockenheit des Herzens die wertvollste Eigenschaft; denn es waren weder der braune Bär noch der Ur leichthin zu verachtende Gegner, und die Jagd auf beide erforderte Gewandtheit und Erfahrung. Wo aber der Mensch fortwährend mit der Natur zu kämpfen hat, um dem Boden seine Nahrung abzuringen und sich gegen reißende Tiere zu verteidigen, da erscheint er für die sanften Regungen des Mitgefühls nicht sehr empfänglich, und ohne dieses ließ sich an Verbreitung des Christentums nicht denken; es war daher nicht sehr wahrscheinlich, daß in jenen Gegenden das Samenkorn eines höheren geistigen Lebens, wie es die Lehre des Heils verspricht, fruchtbaren Boden finden würde.

Schlitzwang fand anfänglich gar keine Gelegenheit, sich als Anhänger der neuen Lehre zu bekennen, denn dem Heinroder Reitknechte war von Frau Ilse in dieser Beziehung Stillschweigen auferlegt worden, und somit hatte niemand von der Krodenburger Dienerschaft eine Ahnung davon. Die Herrschaft zeigte sich aber, wie überall, verschlossen gegen ihre Untergebenen und vielleicht wußte sie im Anfang selbst nicht, daß der Fremde die Taufe empfangen hatte.

Dieser hatte durch die Diener schon mancherlei über das Leben und Verhalten der Herrschaft vernommen und die Familienmitglieder auch mehrmals zu Pferde und zu Fuß gesehen. Einige noch schöne Tage hatte man eifrig zur Jagd benutzt; der Auszug in den Wald, wenn der Herr samt Troß aufbrachen, ging nicht in der Stille vor sich, noch weniger die Heimkehr mit den erlegten Bären oder etlichen Wölfen oder was sonst noch erbeutet worden war.

Bärenjagd in alter Zeit.

Herr Krodo, ein großer, bärbeißig aussehender Mann, war Witwer, seine Gattin vor mehreren Wintern gestorben, daher führte eine unverheiratete Schwester von ihm das Regiment im Hause. Der Herr hatte drei Söhne und drei Töchter gehabt; die älteste der letzteren war Frau Ilse von Heinrode. Die jüngste Tochter lebte noch im Hause des Vaters. Der älteste Sohn war eben jener ungestüme Junker, von dessen Gefühlslosigkeit die Narbe von Schlitzwangs Gesicht herrührte. 43 Seit kurzem verheiratet, wohnte er auf der Hartisburg; die übrigen Kinder waren in jungen Jahren gestorben. Starke Sterblichkeit herrschte damals überhaupt in den niedersächsischen Landschaften. Bei den ärmeren Leuten kam die Hälfte der Kinder schon in frühen Jahren um, und auf den Höfen büßten später durch tolles Jagen, Reiten und andres gefährliches Treiben eine nicht geringe Anzahl ihr Leben ein. Wenn man ausreichende Mittel zur Hand gehabt hätte, Krankheiten und Verletzungen zu heilen, wäre gewiß noch geholfen worden. So aber erreichten nicht viel ein hohes Alter, am meisten noch die Weiber, die im Hause blieben und nicht viel Gefahren zu bestehen hatten.

Es war Schlitzwang schon von Dienern gesagt worden, daß er schwerlich mit dem Herrn viel in Berührung käme, weil dieser nicht viel von Schreibern halte; des Herrn Schwester, Jungfrau Gerrita jedoch liebe die Künste, auf welche sich der Ankömmling verstand, die freilich mehr für Weiber als für Männer geschaffen seien.

Wirklich erschien auch nach einiger Zeit eine Dienerin bei Schlitzwang, um ihn zu Jungfrau Gerrita in die Kemnate zu entbieten. Dem Gebrauche gemäß wurde ihm dazu ein vollständig neues Gewand gereicht, und bald stand er vor seiner neuen Herrin, deren Gesicht ihn sofort an Frau Ilse von Heinrode erinnerte, wenngleich es viel älter aussah.

Sie sagte ihm, die Frau von der Heinburg habe ihr zu wissen gethan, daß er der Schrift kundig sei und da jetzt die schlechten Tage im Anzug seien, so rechne sie darauf, durch ihn mancherlei Kurzweil und Zerstreuung zu finden. Sie hub dann sofort eine lange Klagerede an über die Unwissenheit und Roheit der Menschen ringsum. Sie selbst habe in jüngeren Jahren ihren und des Herrn Krodo Vater einmal mit auf eine weite Fahrt in das gepriesene Land der Franken begleiten dürfen. Vater und Bruder hatten sie einen ganzen Winter lang bei einer befreundeten Grafenfamilie zurückgelassen und sie auch wieder abgeholt. Es habe langer Zeit bedurft, bevor sie sich wieder an die Sitten und Gebräuche der Heimat gewöhnen konnte, habe sie doch damals ganz andre Kleider getragen, eine andre Haartracht und manche fremdartige Gewohnheiten, ja selbst andre Ausdrücke mitgebracht, was sie allerdings nach und nach wieder habe ablegen müssen. Dagegen rühre ihre Vorliebe für das Ausländische von dort her; dabei that sie sich nicht wenig darauf zu gute, daß sie auch etwas von der römischen Sprache und Schrift verstehe.

Dieses und noch manch andres bildete den Inhalt der längeren Unterhaltung zwischen der Jungfrau Gerrita und Schlitzwang. Dasselbe bereitete letzterem indes nicht viel Freude, obgleich es ihm Stoff genug zum Nachdenken gab. Zwanzig Jahre war er in Heinrode alt geworden. Er hatte als Kind dort gespielt, sich als Knabe umhergetummelt und als heranwachsender Bube oft unter den Roheiten seiner Altersgenossen gelitten. Wenn er zuweilen über die Färbung der Luft beim 44 Sonnenuntergang oder über die Beleuchtung durch den Mond in Entzücken geraten war, so hatten sie ihn ausgehöhnt, denn solche längst gewohnte Dinge bewegten ihre Gemüter nicht so leicht. Seine Mutter hatte ihn gehegt und gepflegt und er hatte ihr bei der Arbeit geholfen. Auch in Heinrode lagen die Männer während des Winters fast den ganzen Tag über auf der Bärenhaut wie in Krodendorf; ebenso kamen sie meist nur zu dem Zwecke irgendwo zusammen, um sich durch allerlei Getränke etwas aufzuregen und schließlich zu berauschen. Natürlich fehlte es auch nicht an Zank und Streit, welche nicht selten in Schlägereien und Roheiten ausarteten, so daß nicht selten die Wehrleute von der Herrenburg Ruhe stiften mußten. Mitunter folgten schwere Strafen der Ruhestörung auf dem Fuße, oder es wurden solche wegen eines Verbrechens am Gute oder am Leben eines andern verhängt. Dieses und was auf der Burg vorging, lieferte den Stoff der Unterhaltung und wurde eine Zeitlang vielfach, aber nicht immer unbefangen besprochen. Wenn Gäste kamen oder Sendboten von Ehresburg, um den Herrn zu entbieten oder eine Anzahl Pferde oder Kühe als Abgabe einzufordern – auch solche Vorgänge hatte Schlitzwang erlebt, dazu noch einige mehr oder weniger andauernde Viehseuchen und Krankheiten unter den Menschen. Aber nichts hatte in ihm einen besonders tiefen Eindruck zurückgelassen. Selbst die Unbill des erlittenen Schlags mit der Reitgerte und die Begegnung mit der Gauklerin hatten ihn nur vorübergehend berührt.

Da mit einem Male brachte die Ankunft des Vaters Anselmus im Dorfe eine Wandlung im Innern des Jünglings hervor und erweckte denselben gleichsam zu neuem Leben. Er fühlte sich wie neu geboren, und als der fromme Bruder ihm die Lehre des Heils und der Erlösung zugleich mit der Kunst des Lesens und Schreibens beigebracht hatte, so erschien ihm beides fast wie zusammengehörig. Die reine, hehre Persönlichkeit seines Lehrers galt ihm als Inbegriff geistiger und sittlicher Vollkommenheit. Der Tod erhob Anselmus in seinen Augen zum Heiligen, und es war seinem Schüler oft, als müsse er ihm nun von jedem Gedanken Rechenschaft ablegen.

Schon das Gespräch mit Frau Ilse hatte ihn verwirrt und mehr noch that dies die Unterredung mit Jungfrau Gerrita. Er hatte geglaubt, daß nur die Unwissenheit und Roheit die Menschen verhindere, den Segen der christlichen Lehre zu erkennen, aber er fand nun, daß er sich getäuscht hatte. Frau Ilse sah in der Kenntnis der Schrift und der Verbreitung des Evangeliums nichts weiter als eine gefährliche Neuerung, und Gerrita betrachtete sie wie ein vornehmes Spielzeug. Er fing daher an, zu begreifen, warum die Männer und Herren in Sachsen der neuen Lehre mit Geringschätzung und Hohn begegneten, da nach ihrer Ansicht das weibische Spielzeug der ungebändigten Kraft ihrer Sitten Gefahr bringen konnte.

45 Gerrita wußte von der christlichen Lehre fast mehr als Schlitzwang selbst, und sie erzählte ihm, daß man sich im Frankenlande alle Mühe gegeben habe, sie zu bekehren. Später erfuhr er auch, daß der Sohn des Grafen, auf dessen Burg sie damals zum Besuch weilte, sich mit ihr habe vermählen wollen, wenn sie Christin geworden wäre, aber ihr Vater brach schroff alle näheren Beziehungen der Freundschaft mit jenem Geschlechte ab und hielt die Tochter seitdem unter strengster Aufsicht, um ihr die Gedanken an Bekehrung und Heirat zu vertreiben. Da im Lande der Sachsen die Familien der Edelinge streng darauf hielten, daß ihre Söhne und Töchter sich nur ebenbürtig vermählten, so waren die unvermählten, älteren Frauen nicht selten, aber Gerrita unterschied sich vorteilhaft von andern ihresgleichen durch die im Frankenlande gesammelten Kenntnisse und Erfahrungen, auf welche sie nicht wenig stolz war.

Auch Gerrita fand die christliche Lehre von der Erlösung ganz unbegreiflich. Wenn die Menschheit einer Erlösung bedurfte, meinte sie, so mußten dem Gotte der Juden doch andre Mittel zu Gebote stehen, als seinen Sohn an das Kreuz schlagen zu lassen. Eine solche Lehre, sagte sie, vernichte das Ansehen der Götter, denn diese seien bei allen Völkern nur auf Erden erschienen, um mit den Angesehensten unter den Menschen in Verbindung zu treten und ihre Nachkommen würden überall als die Ahnherren der herrschenden Geschlechter betrachtet.

Sie ließ sich Schlitzwangs Evangelienbuch zeigen und erbot sich, dasselbe aufzubewahren, solange der junge Christ auf dem Hofe ihres Bruders weilen würde. Es erschien ihr geradezu als wunderbares Werk; denn obgleich sie die römische Schrift kannte, war ihr doch bisher niemals ein ganzes Buch vorgekommen, dessen Inhalt aus sächsischen Runen zusammengesetzt war. Sie selbst hatte sich viel darauf eingebildet, daß sie Runen malen konnte, aber so viele Blätter voll von Schriftzeichen der sächsischen Sprache hatte sie nie beisammen gesehen. Sie sagte Schlitzwang, so oft er wolle, könne er es bei ihr abfordern, aber sie wünsche selbst darin zu forschen und namentlich auch der jüngsten Tochter des Herrn Krodo dasselbe zu zeigen.

Sehr ungern ging Schlitzwang auf ihr Verlangen ein. Daher verließ er Gerrita etwas verstimmt; denn ohne sein kostbares Buch fehlte ihm etwas; es kam ihm vor, als sei durch die heidnische Berührung den darin enthaltenen erhabenen Lehren eine Beeinträchtigung widerfahren. Aber als er sich wieder in seiner Kammer allein befand, kam er doch zu der Überzeugung, daß er im Verkehr mit Gerrita vieles lernen könne und dieser Gedanke versöhnte ihn mit der Aussicht, daß sein Schatz und er selbst nur dazu dienen sollten, um der alleinstehenden alten Jungfrau an trüben Tagen die Zeit zu verkürzen.

Diese Stimmung schlug jedoch völlig um, als er einige Tage darauf wieder zu Gerrita entboten wurde. Es war ein naßkalter Wintertag und Herr Krodo 46 hatte sich nach dem Mahle mit seinen Günstlingen auf die Bärenfelle gelagert, die natürlich im Mushause der Burg von besonderer Größe und den seltensten Farbenschattierungen waren. In der Kemnate erwartete Jungfrau Gerrita den Schreiber, aber diesmal nicht allein; denn an ihrer Seite saß Krodos Tochter, ein Mädchen von so wunderbarer Schönheit, wie Schlitzwang ein ähnliches nie gesehen hatte. Auch sie erinnerte in ihren Zügen an die Herrin seiner Heimat, ihre Augen waren jedoch leuchtender, ihre Lippen frischer und die ganze Erscheinung prangte in der Blüte der Jugend. Auch sie trug die lang herabhängenden goldblonden Haare durch einen Reif von Bronze zusammengehalten und er kannte sie, diese Haare, die an die Sonnenstrahlen gemahnten. Das einfache Gewand war am Saume überall mit bunten Fäden durchzogen und an Hals und Arm trug sie zierlich gearbeiteten Bronzeschmuck. Der Jüngling fühlte, wie bei ihrem Anblick die Narbe in seinem Gesichte brannte. Ob auch sie seiner sich erinnerte? Keine Miene verriet es.

Schlitzwang in der Kemnate bei Gerrita und Editha.

Gerrita hatte sich einen vollständigen Plan gemacht, wie sie von der Anwesenheit des Schreibers für sich und ihre Nichte Editha Vorteil ziehen wollte. Herr Krodo pflegte mit den bevorzugten Dienern im Winter nach dem Mahle zusammen zu bleiben und sich bis zur Schlafenszeit mit ihnen zu unterhalten. Daß diese Gelage den Frauen nicht zusagen konnten, war leicht zu begreifen und überdies brachte es die Sitte mit sich, daß die Frauen von allen Zusammenkünften der Männer in Krieg und Frieden ausgeschlossen waren. Während also Herr Krodo und seine Mannen auf den Bärenfellen lagen, die Trinkhörner im Kreise umhergingen und die ungeheuerlichsten Geschichten von Jagdabenteuern erzählt wurden, pflegten die beiden Frauen mit einigen Dienerinnen zusammen zu sitzen und an den endlosen Winterabenden sich die Zeit damit zu vertreiben, daß sie am Webstuhle saßen, oder große Decken flochten, Teppiche stickten und ihre Kleider mit bunten Rändern verzierten.

Zuweilen brachte ein Trupp Spielleute, die von alt und jung angestaunt wurden, etwas Abwechselung. An Holz war in der Gegend kein Mangel und selbst in der ärmsten Hütte loderte den ganzen Tag die helle Flamme des Herdes; kein Wunder, daß in allen Räumen der Herrenburg dies gleichfalls der Fall war. Galt es doch damals fast für ein Verdienst, recht viel Holz zu vertilgen, und immer mehr Bäume auszuroden. Im Dorfe gab es auch Leute, welche sich darauf verlegt hatten, die rohen Bäume mit Messern zu bearbeiten und mancherlei Verzierungen und Schnitzwerk daran anzubringen und diese künstlich gearbeiteten Balken beim Bau der Häuser zu verwenden. Überhaupt hatten die Leute im Dorfe jeder nach seiner Art auch im Winter ihre Arbeit in Tierfellen, in Holz, in Eisen oder Bronze, und die Gewandmacher verarbeiteten die Stoffe, welche die Weiber aus den Fäden hergestellt hatten, die andre von der Spindel zogen. 49 Nur die Mannen der Burg thaten nichts weiter als Pläne auszuhecken und die spärlichen Nachrichten, die ihnen dann und wann von den Welthändeln zukamen, zu besprechen, wenn sie die Trinkhörner leerten. Erschien ja einmal ein umherziehender Wanderer, der sich aufs Erzählen verstand, so lauschten sie seinen Geschichten und Schnurren und belachten die letzteren unbändig. Wenn jedoch die Rede auf unglaubliche Heldenthaten kam, oder wenn von jenem Traumlande berichtet wurde, in welchem die Helden den ganzen Tag zechten oder sich gegenseitig zerhieben, worauf in der Nacht die Wunden wieder heilten, so daß am andern Tage das Schwertspiel von neuem beginnen konnte, so gerieten alle in mächtige Erregung und zollten mit Ausrufen und durch Waffengeklirr dröhnend ihren Beifall.

Während also die Männer im Mushause tranken und prahlten, sollte Schlitzwang den Frauen das Evangelium vorlesen und außerdem mit Jungfrau Gerrita über alle möglichen Dinge Gespräche führen. Auf diese Weise hofften die Frauen die sonst so eintönige Winterzeit auf angenehmere Weise zu verbringen. Der Schreiber bemerkte denn auch bald, daß die Frauen ihm wohl gewogen waren; und da in den nächsten Tagen wieder helles und schönes Wetter eintrat, so durfte er mehrmals an Ausflügen teilnehmen, die nach der Harzburg unternommen wurden.

Die Harzburg oder Hartisburg wurde als ein Wunder angesehen, da sie auf einem ziemlich hohen Berge gelegen war, wo hinauf man alle Nahrungsmittel und selbst das Trinkwasser mit vieler Mühe schaffen mußte. Ursprünglich mochte wohl nur ein Haus zu kurzem Aufenthalt während der Jagdzeit von einem Vorfahren Krodos dort errichtet worden sein, aber nach und nach war eine förmliche Burg daraus geworden. Da sich alljährlich um die Zeit der ersten Blattknospen eine Menge fahrenden Volks aus weiter Umgegend auf dem Blocksberge, dem höchsten Gipfel des Harzgebirges, zu versammeln pflegte, so kamen gerade in dieser Gegend vielerlei Frevel vor, die der Herr des Gebietes durch strenge Strafen ahnden mußte. Nun war es im ganzen Lande der Sachsen gebräuchlich, daß in dem Dorfe, in welchem die Herrschaft ihren Sitz hatte, ein Bildnis aufgerichtet wurde, welches aus Holz geschnitzt und mit mehr oder weniger Kunstfertigkeit dem berühmten Bilde bei Ehresburg nachgebildet war. Um die Erscheinung dieses Bildes von der hochgelegenen Harzburg auch im Thale sichtbar und recht eindrucksvoll zu machen, war es von ganz besonderer Größe und ragte über alle Bäume hinaus, den Harzwanderern eine Warnung und dem Geschlechte Krodos zum besondern Stolze. So war das Bild, obgleich es nichts weiter als ein Symbol der Gerichtsbarkeit war, dem unwissenden und lasterhaften Volke als zürnende Gottheit bekannt, das allen Schrecken und Furcht einflößte. Übrigens fand Schlitzwang wenig Freude an diesen Besuchen auf der Harzburg.

50 Der jüngere Krodo, welcher dort wohnte, war mit einer friesischen Herrentochter Namens Radegunde vermählt, eine hartherzige und stolze Frau, deren Sinnesart durchaus zu der ihres Gemahls paßte. Wie die Herrschaft so die Diener; auch der Troß der Diener und Frauen der Burg war von rauhem und hochfahrendem Wesen. Man beachtete den Schreiber gar nicht, und es blieb ihm Zeit genug, die herrlichen Ausblicke von der Höhe in das Thal und auf der andern Seite den Blick auf den emporragenden Blocksberg zu genießen. Hatte er doch von diesem höchsten Gipfel des mächtigen Harzgebirges schon in seiner Jugend manches vernommen und oft gewünscht, einmal einem jener Feste beiwohnen zu können, wie sie dort in jedem jungen Jahre gefeiert wurden. Zufällig stand er jetzt einen Augenblick neben Jungfrau Gerrita und äußerte dasselbe Verlangen; diese aber bedeutete ihn mit einem hochmütigen Blicke, daß diese Feste ein Greuel für die edelgebornen Bewohner der Gegend seien. Diese Worte erinnerten ihn wiederum daran, daß er aus dem niederen, unfreien Volke stammte und es nur seiner Kunst verdankte, wenn er unter den vornehmen Leuten geduldet wurde. Jene dreimal im Jahre wiederkehrende dreitägige Festzeit, welche dem Volke im Frühling beim Hervortreten der neuen Blätter, zur Haferernte und während der kürzesten Tage bewilligt wurden, und in welchen die armen Hörigen und Knechte sich auch einmal nach ihrer Art frei und ungebunden fühlen durften, waren für die Edelinge Tage des Abscheues, und jene Orte, wo sich das Volk, allerdings oft genug zu wüster Ausgelassenheit, zusammenfand, galten bei ihnen als verrufene Stätten.

Bald zog nun der Winter in seiner vollen Stärke ein. Fast regelmäßig jeden Tag las Schlitzwang den Frauen etwas aus dem Evangelienbuch vor, oder sie setzten Runen, Schriftzeichen und Worte zusammen, welche die Frauen mit bunten Fäden aus Leinwand nachzuahmen suchten. Die Verstimmung, welche der junge Mann am ersten Tage fühlte, war schon nach wenigen Tagen verschwunden, und bald hatte sich dies Gefühl in das Gegenteil umgewandelt, denn er konnte kaum den Augenblick erwarten, bis er in die Kemnate entboten wurde, ja an den Tagen, wo dies nicht geschah, beschlich ihn Trübsinn und er wußte nicht recht, wie er die Zeit hinbringen sollte.

Schlitzwang erkannte gar bald, daß nur die Anwesenheit der Herrentochter ihm diese Zusammenkünfte so lieb und wert machte, so daß er fast keine andern Gedanken mehr fassen konnte. Immer ging er nur darauf aus, neue Unterhaltungen zu ersinnen, um das liebliche Gesicht der mildgesinnten Editha freundlich auf sich gerichtet zu sehen. Zwar empfand er großen Kummer darüber, daß auch Editha gleich den edlen Frauen seiner Heimat – von den Männern gar nicht zu reden – an dem Leben und den Lehren des Heilandes kein Wohlgefallen finden wollte. Viel lieber hörte sie, wenn Gerrita aus ihrer Erinnerung die 51 Geschichten vom alten Hildebrand und seinem Sohne Hadubrand oder vom hörnen Siegfried, oder vom Streite der Frauen Kriemhilde und Brunhilde und dem blutigen Rachekampf am Königshofe der Etzelburg wiederholte. Da leuchteten die Augen der starkgemuteten Frauen und die schöne Editha klatschte in die Hände und pries die Helden, die mit ihren Schwertern so tapfer dreinschlugen und ihre Feinde vernichtet hatten. Bei solchen Gesprächen war dem armen Schreiber, als würde ihm das Herz in der Brust zerdrückt und die Kehle zugeschnürt. Er sah dann oft in Gedanken das Bild des toten Anselmus vor sich, der den Kranken und Armen durch die Kraft des Evangeliums Trost und Labung gebracht hatte. Wohl waren auch Gerrita und Editha stets bereit, für die Unglücklichen zu sorgen und den Kranken und Bresthaften Nahrung oder Heiltränke zu senden; aber dies geschah doch ohne jene wahre tief empfundene Menschenliebe, welche aus der Lehre des Evangeliums quillt.

Es verging der Winter, und das Herz des Schreibers zehrte von einem Tage zum andern an den Blicken, welche die liebliche Editha ihm schenkte. Das Fest der kurzen Tage wurde hier ebenso wie im Dorfe Heinrode mit Jubel und Lust gefeiert. Fast mitten in der Nacht erhob sich ein lautes Jauchzen und Rufen; die Feuer wurden angezündet, die Tannenbäume aufgestellt und Tannenzweige auf den Herdfeuern verbrannt, so daß ein würziger Duft sich verbreitete. Dann kamen überall die jungen Leute, die sich in Tierfelle gehüllt und von grauem Moose Bärte angeheftet hatten, in die Häuser und bedrohten die Kinder, die in ihrer Angst laut aufschrieen und sich an ihre Mütter festklammerten. Um sie wieder zu beruhigen, schenkte man ihnen dann allerlei aus Holz geschnitztes Spielzeug. Unter jung und alt herrschte laute Freude über die bevorstehende Festzeit, während welcher alle Arbeit ruhte und die größten Tollheiten verübt wurden.

Die Leute in der Burg hielten sich in diesen Tagen ziemlich still zu Hause, obgleich auch hier eine Art von Feier veranstaltet wurde. Herr Krodo brachte die Abende mit seinen Waffengefährten beim Würfelspiel auf den Bärenhäuten zu, und den Frauen blieb Zeit genug, ihre Lieblingsunterhaltung zu pflegen.

Auch später führte man dasselbe Leben weiter fort, und obgleich an hellen Wintertagen zuweilen eine Jagd veranstaltet wurde, so blieb man doch im ganzen fast nur auf das Haus beschränkt, und es konnte gar nichts Traulicheres geben als die Abende am Herdfeuer in der Kemnate, wo die Frauen ihre zierlichen Arbeiten vor sich hatten und der Schreiber ihnen vorlas, oder mit Jungfrau Gerrita über diesen und jenen Gegenstand sich erging.

Als dann allgemach die Tage wieder länger wurden und alle Welt sich auf den kommenden Frühling freute, geriet der junge Mann in einen seltsamen Zwiespalt; denn so tief auch in ihm die Sehnsucht nach den besseren Tagen des Sommers wurzelte und so ausgelassen er immer am schönsten Feste des Jahres, 52 dem der jungen Blätter, gewesen war, diesmal wußte er nicht recht, ob er nicht lieber eine längere Dauer des Winters herbeiwünschen solle; denn er sah mit dem Herannahen der guten Tage die schönen Stunden des traulichen Beisammenseins in der Kemnate der Krodenburg schwinden. Übrigens beschäftigte ihn in dieser Zeit doch auch sehr ernsthaft der Gedanke, daß er die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen dürfe, um die große Lenzfeier auf dem Brocken oder Blocksberge in der Nähe zu sehen. Mochten die Edelinge und ihre Frauen darüber denken wie sie wollten, er war fest entschlossen, die Freiheit jener Tage zu benutzen, um das wunderbare Treiben auf der einsamen Höhe kennen zu lernen.

Vorher traten Umstände ein, welche ihm eine andre Merkwürdigkeit, deren Bekanntschaft er sich lange Jahre gewünscht hatte, vor Augen führen sollten. Eines Tages erschien ein Bote auf der Herrenburg, welcher den Herrn Krodo zu einer großen Versammlung nach Paderborn dringend entbot und dabei verkündete, daß die Sache keinen Aufschub leide und in der kürzesten Zeit abgethan werden solle. Da galt kein Zaudern, und nun mit einem Male entsann sich der Herr der Anwesenheit des Schreibers und wollte für sich auch einen Vorteil davon haben. Denn einen schreibkundigen Menschen mit zu solchem Versammlungstage zu bringen, gab ein besondres Ansehen und war eigentlich nur bei den ganz großen Herren Gebrauch.

Es wurde also der Wille des alten Herrn dem Schreiber kundgethan; er erhielt ein neues Gewand und die Weisung, am bestimmten Tage bereit zu sein. 53


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