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Schlitzwang trug das Gewand eines Klosterschülers und hatte sich so gut als möglich zu dem Gang in die königliche Burg vorbereitet. Aber das Herz pochte ihm doch nicht wenig, als er bedachte, daß er nun bald dem gewaltigsten Manne seiner Zeit entgegentreten sollte. Es währte nicht lange, so kehrte der Geheimschreiber zurück, aber er sagte, daß Schlitzwang noch eine kurze Weile verziehen müsse, bis der König das Zeichen zum Eintritt geben werde. Inzwischen belehrte er den Sachsen auf das freundlichste, wie man sich vor dem Könige zu benehmen und wie ihm zu antworten habe. In der kurzen Zeit dieses Gespräches fühlte sich Schlitzwang mächtig zu Eginhard hingezogen. Beide waren fast in gleichem Alter; die edle Erscheinung, der wohlklingende Laut der Stimme und die Sicherheit des ganzen Benehmens in Eginhards Wesen übten einen mächtigen Zauber auf Schlitzwang aus, und da er gar bald bemerkte, daß dieser schlichte Mann eine seltene gründliche wissenschaftliche Bildung besaß, so begriff er leicht, wie Eginhard in jungen Jahren schon zu einer so wichtigen Stellung hatte gelangen können.
Sie waren noch im besten Gespräche, als ein hellklingender Ton, wie der Schlag auf eine Metallscheibe, den Gast jäh durchzuckte – es war das Zeichen zum Eintritt. Eginhard schlug den doppelten Vorhang, der die Thüröffnung in der Mauer verdeckte, zurück und hieß den Sachsen eintreten.
102 Im ersten Augenblicke war es diesem, als ob sich alles um ihn im Kreise drehe; dann befand er sich dem Könige gegenüber in einem schmucklosen, nur durch Waffen, Hirschgeweihe und Schilde verzierten Gemache, welches bei aller Einfachheit einen eigentümlichen Eindruck machte. Der König saß an einem Tische und machte auf einer kleinen Elfenbeintafel Schreibversuche. Es kam Schlitzwang zu statten, daß er in seiner Heimat an mächtige und heldenhafte Männererscheinungen gewöhnt war, und daß ihn die strengen Züge im Gesichte des Königs immer noch milde berührten, im Vergleiche zu den stolzen und drohenden Blicken, denen er früher so oft ausgesetzt gewesen war.
Der König hieß ihn näher treten und forderte ihn auf, ihm in kurzen Worten seine Lebensschicksale zu schildern. Schlitzwang that dies in schmuckloser Weise und erweckte offenbar des Königs Wohlgefallen. Er nickte mit dem Haupte, indem er sagte, daß sein Schreiber Eginhard ihm den Brief des Abtes von Fulda vorgelesen habe und daß ihm der Plan einer Bearbeitung des Evangeliums im Sinne des sächsischen Begriffsvermögens sehr zugesagt habe. »Ich selbst«, so fügte er am Schlusse hinzu, »habe in früherer Zeit die Schreibekunst zwar als eine nützliche, unentbehrliche, aber eines rechten Mannes doch unwürdige Beschäftigung betrachtet; ich bin jedoch andern Sinnes geworden und fange noch jetzt in meinem Alter selbst damit an, die Schriftzeichen zu erlernen. Es wird mir schwer, den Kopf mit diesen kleinen Schriftzeichen vollzupfropfen und die Hände, die nur das Schwert und die Geißel geführt haben, wollen sich nicht recht bequemen, zierliche Schnörkel und Häkchen hervorzubringen. Zur Fertigkeit werde ich wohl nie darin gelangen, dazu gehört eine jugendlichere Natur und beweglichere Finger. Aber ich verstehe die Bedeutung dieser neuen Errungenschaften und ahne die große Macht, welche das geschriebene Wort sich erobern wird.«
»Erhabener Herr«, sagte Schlitzwang, »weshalb wollt Ihr Euch selbst abmühen, da doch andre Eures Winkes gewärtig sind, welche die Kunst des Schreibens gründlich erlernt haben.«
»Wohl magst du recht haben«, entgegnete der König, »wenn du meinst, daß von meiner Seite die Mühe eitel sei, aber meine Söhne sollen sich der Schrift befleißigen, denn es ist etwas Wunderbares um diese Kunst und leicht begreiflich, daß das Volk eine Zauberkraft in ihr fürchtet. Die Waffe von Eisen verwundet und tötet in der Nähe, aber mit der Schrift kann Heil und Unheil in die Ferne getragen werden. Noch sind die Meister des Wortes und der Schrift dem Schwerte unterthan und die Lehre des Heils dient meinen Zwecken. Wir wollen trachten, daß dies so bleibe, auf daß nicht einmal ein ferntreffendes Wort des Herrschers Macht bedrohe. Ist doch die Verbreitung des Evangeliums mein stärkster Bundesgenosse und ich heiße daher jedes derartige Unternehmen, wie das, welches du planst, willkommen. Ich werde anordnen, daß du an meinem Hofe verbleibst. Du magst dich zu Eginhard halten und wirst durch ihn meine Wünsche erfahren.«
103 Nach diesen Worten erhob sich der König. Die Höhe seiner Gestalt überraschte den Sachsen im ersten Augenblicke doch. Er trug ein einfaches Gewand und nur der Gürtel war kostbar genug, um die hohe Würde des Trägers zu verraten. Er nahm aus einer Truhe eine dem Jüngling bekannte Pergamentrolle und reichte sie ihm lächelnd hin.
»Der Abt Burghard«, sagte er, »hat meinem obersten Rate Alkuin durch den Bruder Wiligis, ohne daß du es wußtest, deinen Entwurf zugestellt und Alkuin hat ihn bereits geprüft. Was du bedarfst, wird dir hier alles zugestellt werden und du wirst also vorläufig nicht wieder nach Fulda zurückkehren. Wiligis wird sich von dir verabschieden, bevor er zurückkehrt. Du kannst nun gehen.«
Damit war Schlitzwang entlassen und zog sich unter vielen tiefen Bücklingen zurück. Im Vorgemach wies ihn Eginhard an, sich nun von Wiligis zu verabschieden und wieder in die Burg zurückzukehren, wo ihm ein Schlafraum angewiesen werden solle. Beim Abschiede drückte ihm Eginhard herzlich die Hand, und Schlitzwang fand in der so rasch gemachten wertvollen Bekanntschaft einen großen Trost für die Trennung von den Brüdern in Fulda. Er sagte ihm dies und setzte hinzu, daß nur ein Umstand ihn bei dem Gedanken an die Trennung von Fulda tief betrübe: dies sei die Bücherei, an der sein ganzes Herz hänge. Aber Eginhard tröstete ihn und gab ihm die Versicherung, daß hier in Worms und an den andern Aufenthaltsorten des Königs ganz andre und viel reichere Bücherschätze zu finden seien. Dies beruhigte den Sachsen. Er nahm also von Bruder Wiligis herzlichen Abschied, trug ihm tausend Danksagungen und freundliche Grüße an den Abt und die Brüder in Fulda auf und begab sich hierauf wieder in die Königsburg, wo man ihn auf das beste unterbrachte.
Nun begann für Schlitzwang wiederum ein ganz neues Leben, und jetzt erst glaubte er die höchste Stufe geistiger Ausbildung, welche in jener Zeit möglich war, erklimmen zu können. Den König bekam er selten und nur aus der Entfernung zu sehen, denn derselbe war meist von Worms abwesend, teils in Geschäften, bei Versammlungen oder Wehrübungen, teils zur Jagd oder zum Besuche befreundeter Herren.
Gar innig schloß sich der junge Sachse an Eginhard an. Schon am ersten Sonntage besuchte er mit ihm die Domkirche. Beide hatten ihren Platz so genommen, daß sie die Loge im Auge behielten, wo sich die Familie des Königs befand. Unter den Frauen daselbst zeigte sich auch das liebliche, jugendliche Gesicht, welches Schlitzwang am ersten Tage in Eginhards Arbeitszimmer gesehen hatte. Nach einer Weile bemerkte er denn auch, daß sein Nebenmann zuweilen einen freundlichen Blick mit dem jungen Frauenbild verstohlen wechselte. Während des Gottesdienstes war der Sachse jedoch viel zu sehr von der Heiligkeit des Ortes und der Handlung ergriffen, um auf etwas weiteres zu achten. Die Stiftskirche zu Worms war nicht nur als Bauwerk hervorragend, sondern auch durch die 104 vielen Kostbarkeiten an Bildern und Reliquien. An den großen Kirchenfesten zu Ostern und Pfingsten strömten viele Hunderte von Menschen aus der Umgegend herbei, um diese Kirchenschätze anzustaunen und zugleich mancherlei Einkäufe zu machen, so daß die Handelsleute gute Tage hatten. Aber nicht nur das Auge, auch das Ohr wurde in der Kirche ergötzt und zur Beförderung der Andacht durch die Klänge der Orgel, die der König hatte bauen lassen, angeregt. So oft die herrlichen Gesänge der heiligen Kirchenväter Ambrosius und Gregorius erschallten, sah man die ganze Versammlung der Christen mächtig ergriffen. Als nun die Feierlichkeit zu Ende war, fragte Schlitzwang, wer die Frauen in der Loge des Königs gewesen seien. Da nannte Eginhard die Namen der Königin und der Töchter des Königs aus seinen verschiedenen Ehebündnissen; denn Karl war mehrmals vermählt gewesen und hatte sich bereits zweimal aus politischen Gründen von seinen Frauen getrennt.
»Das junge Mädchen«, sagte Eginhard zum Schluß, »welches du kürzlich bei mir gesehen hast, ist gleichfalls eine Tochter des Königs und heißt Emma. Sie ist anders geartet wie ihre Freundinnen. Während diese an Jagden und andern Lustbarkeiten Gefallen finden, neigt sich ihr Gemüt den edleren Übungen des Geistes zu, und trotz ihrer großen Jugend ist sie in Sprachen bewandert und nimmt an allen Fortschritten der Künste regen Anteil.«
Unwillkürlich wanderten Schlitzwangs Gedanken bei diesen Worten nach den dichten Waldungen des Harzgebirges und vor seiner Phantasie erschien das Bild der goldhaarigen Editha, die vielleicht nicht so lieblich und zierlich wie die kindliche Königstochter war, aber in ihrem verschlossenen Stolze das Herz des jungen Sachsen mächtiger anzog.
Nach und nach stellte sich doch ein großer Unterschied im Wesen des Eginhard und des Schlitzwang heraus; indes diese Erkenntnis verminderte ihre gegenseitige Freundschaft nicht. Des Sachsen Trachten war mehr auf ein stilles, beschauliches Leben gerichtet; die Natur des Franken schien mehr auf ein bewegtes, öffentliches Treiben angelegt; während Schlitzwang Tag und Nacht sitzen konnte, um alte Pergamente zu durchforschen und über den Inhalt des Evangeliums nachzugrübeln, beschäftigte sich Eginhards Phantasie mit den Entwürfen zu großartigen Bauwerken oder anmutigen Gartenanlagen. Er war ein Künstler von reicher, überquellender Schaffenskraft, und wie der Sachse der Wahrheit mit aller Energie nachspürte, so war Eginhards Seele der Schönheit geweiht. Wenn er dem Freunde erzählte, was er alles auf seinen Reisen mit dem Könige in Italien und namentlich in Rom gesehen, so leuchtete sein Blick, und seine ganze Seele erhob sich zu ungewöhnlichem Aufschwung. Er schwärmte für die Werke der Malerei und Bildnerkunst; vor allem, meinte er, müßte den Deutschen der Sinn für edle Kunstgebilde durch schöne Bauwerke beigebracht werden, um so mehr, da man im nördlichen Klima geschlossene Räume schaffen müsse, welche 105 der Aufstellung von Kunstwerken und öffentlichen Heiligtümern würdig seien. Durch Eginhard erfuhr Schlitzwang denn auch, daß in der christlichen Kirche bereits ein mächtiger Streit wegen Zulassung der Bilder in den Gotteshäusern ausgebrochen war. Wer wie Eginhard von Jugend an die Schriftsprache kannte, vermochte weniger zu beurteilen, wie sehr das unwissende Volk geneigt ist, Bilder und Zeichen für die Sache selbst zu nehmen. Die jungen Männer sprachen viel über diese Dinge. Eginhard verteidigte die Bilder und der König und der Papst waren derselben Ansicht; gerade das einfache sächsische Gemüt konnte jedoch begreifen, wie bei dem phantasiereichen Volke des byzantinischen Reiches der Bilderdienst derart ausgeartet war, daß ein Einhalt dringend geboten erschien. Auch in der Kirche zu Worms gab es gemalte und geschnitzte Bilder nebst kostbaren Reliquien, die der Papst dem Könige verehrt hatte, und Schlitzwang mußte unwillkürlich daran denken, was wohl die sächsischen Herren für Gesichter machen würden, wenn sie bei der Ehresburg, am Orte ihres Heiligtums, statt der Lanzen, Schwerter und Schmuckgegenstände, Knochen und Gewandstücke von Märtyrern und Heiligen ausgestellt fänden.
Als Schlitzwang in Worms anlangte, war der König erst kurze Zeit vorher daselbst eingetroffen. König Desiderius, den er besiegt hatte, war vorläufig in einem Kloster bei Heilbronn am Flusse Neckar untergebracht worden; man sagte indes, der König werde ihn dort nicht lassen, sondern daß er ihn nach Corvey im südlichen Frankenlande bringen wolle. Jedenfalls schien König Karl vorläufig eine Frist der Ruhe und des Friedens durchleben zu wollen, denn es wurden Werkleute berufen, um die Burg zu Worms zu erweitern und die alten Räume neu auszuschmücken. Auch ließ der König seine Lieblingsgenossen und mehrere seiner Großen zu sich entbieten, um mit ihnen manche der drängenden Reichsangelegenheiten zu besprechen und zum Abschluß zu bringen. Bald herrschte ein lebhaftes heiteres Treiben in der Königspfalz. Täglich gab es Festlichkeiten, Gelage und Jagdzüge, bei welchen die Frauen und jungen Herren in prachtvollen seidenen, mit den Federn ausländischer Vögel, fremdem Pelzwerk, Gold und edlen Steinen verzierten Gewändern prunkten.
Eigentlich liebte der König diese übertriebene Pracht nicht und er duldete sie nur den Frauen seines Hauses zuliebe, die doch selten einmal sich den geselligen Freuden überlassen konnten, da seine fortwährenden Heerzüge nach fremden Ländern sie davon abhielten. War es einmal recht schlechtes Wetter, so daß der Regen jeden Aufenthalt im Freien unmöglich machte, dann ähnelte das Leben einigermaßen demjenigen in der Krodenburg. König Karl blieb alsdann mit seinen Genossen, dem Erzbischof Turpin, dem Grafen Richard Ohnefurcht, Herrn Milon von Angelland und dem Grafen Garin im großen Bankettsaale, wo sie schmausten und manches Kommende berieten oder von den Welthändeln plauderderten. Unterdessen versammelten sich die Frauen im großen Gemach der 106 Kemnate, um sich durch Lautenspiel und mancherlei Erzählungen zu ergötzen. Die jüngeren Leute, welche nach dem Wunsche der Damen dort ebenfalls oft verweilten, verstanden sich wohl auf lustige Lieder und ausgelassene Geschichten, aber sie trieben es mitunter zu arg, so daß die Damen nicht aus dem Lachen kamen und Königin Hildegard sowie deren Schwägerin, Frau Bertha von Angelland, Einhalt gebieten mußten. Da wurde denn zuweilen nach Eginhard geschickt, damit er herbeikomme, um etwas mehr Ernst und Ehrbarkeit in das Gespräch zu bringen.
Als Schlitzwang kurze Zeit am Hofe war, hatte Eginhard bereits so viel Gefallen an ihm gefunden, daß er von der Königin Hildegard die Erlaubnis erbat, den Sachsen einmal bei den Frauen einführen zu dürfen, und da er der Gewährung gewiß war, ging er mit jenem zum Gewandmeister, damit derselbe ihm ein schönes, höfisches Gewand bereit halte.
Eines Morgens zeigte der Himmel graue Wolken und versprach schlimmes Wetter für den Tag. König Karl, der müßige Ruhe nicht liebte, hatte sich für diesen Tag eine besondere Zerstreuung ausgedacht. Es wurde eine große Jagd angesagt und der Marschall befahl im Namen des Königs, daß jeder sein bestes Gewand anziehen solle. Da gab es viele kostbare Kleidung zu sehen. Als sich die Gesellschaft im Burghofe versammelte, um die Pferde zu besteigen, fiel namentlich der schlanke Herr Lambert auf, der mit Herrn Gui von Provence um die größte Pracht und Zierlichkeit in der Kleidung wetteifern zu wollen schien. An ihren Gewändern war Seide und Samt nicht gespart und Federn fremdländischer Vögel zierten nicht nur die Mützen, sondern auch die Röcke, die von Gürteln zusammengehalten wurden, welche wieder mit Goldfäden durchzogen waren und an denen mancher Edelstein blitzte. Besorgt blickten die Herren und Damen nach dem umwölkten Himmel und dachten nicht anders, als daß der König die Jagd wieder abbestellen werde. Er erschien endlich und sein Gesicht sah ganz besonders fröhlich aus. Eginhard meinte, daß der König irgend eine besondere Absicht habe. Rasch ging der Zug ins Freie und einem ziemlich entfernten Teile des Waldes zu, die Knechte und Hunde hinterdrein, wie es sonst nur beim hellsten Sonnenschein geschah.
Der König hatte seinem Liebling Eginhard irgend eine Arbeit übertragen und es ihm auf diese Weise unmöglich gemacht, sich der Jagd anzuschließen, was sonst häufig geschah. Es war wohl zu bemerken, daß Eginhard mit wehmütigen Blicken zusah, wie der junge kräftige Roland seiner schönen Base Emma beim Aufsteigen zu Pferde behilflich war und dann an ihrer Seite in den vordersten Reihen des Zuges ritt. Aber es war Schlitzwang nicht entgangen, daß die liebliche Königstochter, die in ihrem langen grünen Kleide mit dem Netze von Goldfäden im dunkelbraunen Haare ganz reizend aussah, dem zurückbleibenden Eginhard zum Abschiede einen Blick zuwarf und einen lächelnden Gruß bot, die wohl geeignet waren. ihn für seine Entbehrung zu trösten.
108 Die beiden jungen Männer gingen in die Burg zurück und setzten sich an die Arbeit; aber es währte nicht lange, so wurden sie durch heftige Donnerschläge und zuckende Blitze gestört, und als sie ins Freie hinausblickten, sahen sie, daß der Regen in Strömen herniedergoß. Sie stellten sich an die offenen Fensterluken und sahen dem Unwetter zu; aber bald bot sich noch ein andres klägliches und dabei doch komisches Schauspiel, denn die prachtvoll aufgeputzte Jagdgesellschaft kam ganz durchnäßt und in erbarmungswürdigem Zustande wieder im Burghofe an. Der König hatte den prunkenden Mantel schon beim Auszuge abgelegt. Der Sitte gemäß durfte niemand dem Könige vorausreiten, und nun beeilte sich dieser gar nicht, nach Hause zu kommen, wohl aber lachte er, daß man es weithin hören konnte, und der schlimme Ganelon sowie Graf Richard stimmten von ganzem Herzen mit ein.
Im Hofe angekommen, hielt der König und harrte der Zurückgebliebenen, die bald alle beisammen waren. Dann erteilte er mit lauter Stimme den Befehl, daß den Damen gestattet sein solle, sich sofort umzukleiden, während die Herren nur an den Feuern in der Halle sich trocknen und dann in ihren Jagdkleidern bei der Tafel erscheinen sollten. Dies geschah, und man kann sich denken, was erfolgte. Alle diejenigen Herren, welche gleich dem König im einfachen Jagdanzuge ausgeritten waren, konnten nach kurzer Zeit sich ruhig vor aller Welt sehen lassen, da die Nässe getrocknet und nichts an ihnen verändert war; diejenigen hingegen, welche in kostbare Stoffe mit reichen Verzierungen gekleidet waren, sahen geradezu jammervoll aus und wurden von allen andern verspottet und ausgelacht.
Wie es häufig geschah, war Eginhard zur Tafel gezogen worden. Nach derselben kam er eilig zu Schlitzwang und gab ihm kund, daß die Königin Hildegard den Wunsch ausgesprochen habe, der Sachse möge mit zur Unterhaltung in die Kemnate kommen, damit die armen Herren Gui und Lambert dort nicht gar zu sehr verspottet würden. Schlitzwang zog so schnell als möglich das neue, höfische Gewand an, und beide gingen in das Frauengemach, wo sie die Gesellschaft in der ausgelassensten Stimmung antrafen. Königin Hildegard mochte aber doch befürchten, daß die heiteren Scherze schließlich zu Ernst und Zwist führen könnten, denn sie forderte die Gäste auf, durch ernste und würdige Gespräche den Übermut der Jugend etwas zu zügeln. Es konnte in der That kaum einen drolligeren Anblick geben, als ihn die zierlichen Herren in Samt und Seide, deren Gewänder eingeschrumpft und überall zu knapp und zu kurz geworden waren, boten. Zahllose Risse ließen die Unterkleider und hier und da sogar die Haut durchblicken, und die prachtvollen Federn hingen zerbrochen und ohne Glanz überall herab.
Das Erscheinen eines Fremden und der Wunsch der Königin, dem sich Frau Bertha von Angelland sofort anschloß, ließ die jungen Leute endlich zu einer 109 etwas ruhigeren Stimmung kommen. Es wurde beraten, ob Fräulein Richenza aus Angelland auf der Laute spielen, oder ob Herr Gui ein Lied singen, oder ob man Rätsel raten oder alte und neue Geschichten erzählen solle. Zuletzt entschied die Königin, daß der junge Sachse etwas aus seiner Heimat berichten und mitteilen solle, zu welchen Göttern seine Stammesgenossen beteten, da darüber die seltsamsten Vorstellungen vorherrschten.
Bescheidentlich begann Schlitzwang mancherlei über das Leben und die Gebräuche in Sachsen zu erzählen, und die Zuhörer waren sehr erstaunt und fast unzufrieden, daß dies alles so gar einfach und gar nicht ohne Märchenwunder und Zauberspuk oder grausige Vorkommnisse klang. Man war einmal im Frankenlande gewohnt, daß bei jedem solchen Anlaß in der Regel ganz unglaubliche Dinge aufgetischt wurden. Daß man in Sachsen nur den Wechsel der Jahreszeiten festlich beging, daß dort die freundlich waltende Naturkraft im Gewande des tiefblauen Himmels als Höchstes galt und Stürme, Wolken, Schnee und Eis wie feindliche Gewalten erschienen, daß man im Donner eine drohende Stimme vernahm und im Blitz ein Zeichen der zürnenden Natur, war ihnen nicht genug. Das alles sollte hübsch in menschliche Gestalt gebracht und mit schön klingenden Namen belegt werden. Wenn Schlitzwang ihnen sagte, daß die Sachsen ewig in der Furcht lebten, es könne einmal ein immer dauernder Winter anbrechen, der alles Leben vernichte und die Welt in unheimliche Dämmerung hülle, so schüttelten sie die Köpfe und sprachen von kindischem Aberglauben. Herr Roland, der in der That das schönste Bild jugendlicher Manneskraft darbot, hatte andächtig zugehört und fragte nun, weshalb der junge Sachse ihnen nicht von dem schrecklichen Götzen erzählen wolle, dessen Heiligtum nun zerstört sei, dessen Abbild aber man auf den meisten sächsischen Herrensitzen finde, und ob es wahr sei, daß man ihm zu Ehren Menschen verstümmele und töte. Schlitzwang erwiderte hierauf, daß dieser vermeintliche Gott nichts weiter sei, als das Symbol der irdischen Gerechtigkeit, und daß man ihm bei der rauhen und strengen Rechtspflege seiner Heimat wohl zuweilen einzelne Glieder von Verurteilten oder das Leben von Verbrechern opfere, niemals aber unschuldige Menschen ihm zu Ehren schlachte.
Das Gespräch hatte auf diese Weise eine ernste Richtung genommen und Frau Bertha, des jungen Roland Mutter, schlug vor, diesen Gegenstand fallen zu lassen und lieber etwas Heiteres und Anmutigeres vorzutragen. Alle waren damit einverstanden, und es wurde nun bestimmt, daß die anwesenden jungen Männer der Reihe nach erzählen sollten.
Die jungen Ritter, der Neffe des Königs, der übermütige Roland, der bei aller Tapferkeit etwas leichten Sinn hatte, an der Spitze, machten sich die Sache sehr bequem und erzählten allerlei Schnurren, bei denen häufig bis an die Grenze des Erlaubten und wohl noch etwas darüber hinaus gegangen ward. Die Frauen 110 nahmen es nicht so genau und lachten entweder hell auf oder kicherten untereinander, während Eginhard verdrießlich dreinschaute.
Bald kam die Reihe an diesen selbst und er sagte:
»Eigentlich sollte der Ort, wo wir uns befinden, die Veranlassung zum Vortrage des Liedes von der Zerstörung der alten Burg zu Worms durch König Etzel geben, aber ich fürchte die edlen Frauen und Herren damit zu belästigen, da jeder fahrende Sänger dieses Lied kennt und ihr alle hier es gewiß oft gehört habt.«
»Nicht doch«, entgegnete die Königin, »wir wissen, daß du die Kunst des Vortrags so gut wie der beste Sänger verstehst und außerdem steht es dir frei, die Geschichte auszuschmücken, wie es dir gefällt.«
»Wohl denn, so beginne ich«, sagte Eginhard, und mit großem Geschick verschmolz er nun mehrere der bekanntesten Sagen vom Rhein und der Umgegend miteinander, so daß er die Geschichte des jungen Recken, der einen Drachen erschlug und durch das Bad im Blute dieses Ungetüms unverwundbar wurde, mit der Erzählung von der Brautfahrt des schönen Königssohnes der Niederlande vereinigte. Eginhard verschmähte dabei die gewohnte Form des Liedes und trug die Mär in schlichten Worten vor, um desto leichter die ursprüngliche Erzählung ausschmücken zu können. Er kam nun zur Königin Brunhilde, welche auf einer Insel im nördlichen Meere lebte.
»Ob es wohl solche Frauen geben mag?« warf hier die liebliche Emma ein.
»Warum nicht?« entgegnete ihr Vetter Roland. »Möchtest du nicht auch einmal zum Kampfe ziehen? Ich erkläre mich im voraus für besiegt.«
Eginhard war der einzige, der zu diesem Scherze nicht lachte. »Wohl«, sagte er, »mag es in einzelnen Fällen vorkommen, daß Frauen zu Heldinnen werden, aber daß es ein ganzes Volk von Amazonen geben solle, wie die Griechen und Römer glaubten, ist gewiß ebensowenig wahr, als wenn das Volk in hiesiger Gegend an Riesen glaubt, die in ganzen Scharen in den Gebirgen hausen sollen, oder an Zwerge und Wassergeister, die im Innern der Berge oder in den Flüssen Gold und Edelsteine hüten. Solche Sagen entstehen durch mißverstandene Belehrungen, wenn Menschen von höherer Kultur mit ungesitteten Völkern in Berührung kommen. Da heißt es: in euren Bergen, in euren Flüssen ruhen Schätze an Gold und edlem Gestein, und dann glaubt das ungebildete Volk, daß diese Stoffe dort unten bereits verarbeitet lägen und von Geistern gehütet würden. So ist es auch mit dem Rheingold.«
In diesem Augenblicke wurde der Erzähler durch einen Lärm unterbrochen, der vom Hofe aus hereindrang und alle Anwesenden erschreckte. Der Wächter der Burg hatte auf seinem Horn das Zeichen gegeben, daß irgend etwas Unerwartetes nahe, und wirklich sprengte ein Reiter in den Hof, der an sich und seinem Pferde alle Spuren eines langen, eiligen Rittes zeigte und sofort zum König begehrte.
111 Dies Ereignis benahm allen die Lust zur Fortsetzung der traulichen Unterhaltung. Die Herren verabschiedeten sich und stürmten hinaus. Eginhard und Schlitzwang folgten ihnen bald nach.
Es durchfuhr den jungen Sachsen gleich einem Blitze, als nun mit einem Male wie ein Lauffeuer die Kunde sich verbreitete, daß seine Landsleute den Frieden gebrochen, die Kirchen zerstört, die Priester getötet oder verjagt hätten und in hellen Haufen unter Herzog Wittekinds Anführung gegen die Grenze heranrückten.
Bald befand sich die ganze Burg in Aufruhr. Die Frauen zogen sich besorgt in ihre Gemächer zurück und erwarteten weitere Nachrichten; der König aber erteilte sofort die wichtigsten Befehle, und obgleich jede Miene seines Gesichtes den Zorn verkündete, der in ihm aufgelodert war, so behielt er doch die größte äußere Ruhe und schien sich ganz in seinem Elemente zu befinden. Noch an demselben Abend ritten nach allen Seiten Boten aus, um die Grafen und Hegemannen des ganzen Frankenlandes zur Heerfolge aufzubieten. Während der Nacht noch wurden die Rüstkammern ausgeräumt und die Waffen in stand gesetzt. Der König war überall und konnte den Augenblick kaum erwarten, bis er an der Spitze eines Heeres ausrücken werde.
In den nächsten Tagen wurde es bunt und lebendig in und um Worms. Von allen Seiten kamen die Hegemannen mit ihren bewaffneten Mannschaften. Da gab es die verschiedensten Arten von Ausrüstungen: Lanzenträger, Bogenschützen, Männer mit Keulen und mit Äxten, Fußvolk und Reiterei, Eginhard nannte Schlitzwang die Namen der Herren und Führer, welche mit ihren Leuten angezogen kamen. Es hielt ihm schwer, des jungen Sachsen Wißbegier vollständig zu befriedigen; denn dieser fragte nach allem, was ihm fremd war. Bei dieser Gelegenheit bemerkte er gar manchen Unterschied in der Bewaffnung der Wehrmänner; die langen Messer seiner sächsischen Landsleute gewahrte er nirgends. Während die Schilde in seiner Heimat aus Holz oder Baumrinde geformt und mit Runen bemalt waren, glänzten sie hier bei den Herren von Metall und waren mit Reliquien versehen oder mit kostbaren Steinen geschmückt.
Die Namen der Herren machten auf den Sachsen wenig Eindruck, aber um so größer war seine Überraschung, als er plötzlich den Grafen Gottfried von Eschburg nennen hörte, der an der Spitze seiner Mannschaft heranzog und dann allein in den Burghof einritt, während seine Leute gleich den andern in der Umgegend Zelte aufschlugen und sich lagerten.
Beim Anhören dieses Namens trat sofort das Bild des totwunden Anselmus vor Schlitzwangs Seele, wie jener ihm sein Geheimnis anvertraut und die von ihm so heiß Geliebte als die Tochter des Grafen Eschburg bezeichnet hatte.
Schlitzwang betrachtete sich den Grafen genau; er sah wie ein alter, verwitterter Kriegsheld aus, mit grauem Bart und Haar, und saß etwas vornüber 112 gebeugt mit mißmutigen Gesichtszügen auf seinem Pferde. Nachdem er abgestiegen und in die Burg gegangen war, fragte Eginhard, woher der Anteil rühre, den der Sachse offenbar an dem Grafen zu nehmen schien.
Dieser entgegnete, ob der Frager niemals von einer Tochter des Grafen und ihrem seltsamen Schicksale vernommen habe. Eginhard besann sich und sagte dann:
»Soviel ich weiß, ist der Graf kinderlos, aber ich erinnere mich dunkel, davon gehört zu haben, daß ihm vor vielen Jahren eine einzige Tochter von einem Priester entführt worden sei.«
»Das ist nicht wahr!« entgegnete Schlitzwang etwas rasch.
Eginhard sah ihn verwundert an. »Nicht?« entgegnete er; »nun, ich kann mich verhört haben. Als die Geschichte vorfiel, war ich fast noch ein Knabe. Aber was kümmert sie dich und mich?«
»Sie kümmert mich sehr viel«, erwiderte jener, »und ich möchte wohl wissen, was aus der Tochter des Grafen geworden ist.«
»Dazu kann Rat werden«, versetzte Eginhard; »ich werde bei einem der vornehmeren Begleiter des Grafen darüber Erkundigungen einziehen.«
Schlitzwang bat Eginhard eindringlich, dies recht bald zu thun, und noch an demselben Tage brachte letzterer den Bescheid, daß die Tochter des Grafen allerdings mit ihrem Geliebten geflüchtet und dann verschwunden sei und daß der Graf sich seitdem gräme und härme und keine frohe Stunde mehr verbracht habe.
Dem jungen Sachsen wurde ganz wirr im Kopfe. Hier mußte ein Irrtum vorliegen und er beeilte sich, den Berichterstatter aus der Gefolgschaft des Grafen aufzusuchen und ihm zu sagen, daß er gern mit seinem Herrn reden möchte, weil er im Besitz einer Kunde sei, welche mit dem Schicksal der Tochter des Grafen im Zusammenhang stehe.
Der Aufbruch des Heeres konnte jeden Augenblick stattfinden, die Zeit drängte mithin und so bewirkte der Gefolgsmann die sofortige Zusammenkunft mit dem Grafen. Der alte Herr hörte mit großer Spannung zu, was ihm von dem Ende des Bruders Anselmus erzählt wurde, aber je weiter Schlitzwang kam, um so mehr verbreitete sich der Zug bitterer Enttäuschung auf dem verwitterten Gesichte. Der Graf saß auf einem Stuhle an der Seite eines Tisches. Als die traurige Erzählung beendet war, bedeckte er eine Weile das Gesicht mit beiden Händen, und es klang wie ein dumpfes Stöhnen oder Röcheln an das Ohr des Jünglings.
»Du hast recht zu thun geglaubt, daß du mir dies mitgeteilt hast«, sagte der Graf dann zu ihm, »aber du konntest nicht wissen, daß du meinen Gram nur noch vermehren würdest. Zwei oder drei Tage, nachdem ich Anselmus mit Schimpf und Schande vertrieben hatte, verschwand meine Tochter, und ich wähnte nicht anders, als daß es ihr gelungen sei, sich mit dem Verführer zu vereinigen. Zehn Jahre sind seitdem vergangen und ich lebte immer in der Hoffnung, daß 113 sie wiederkehren und meine Verzeihung erflehen werde. Sie war mein einziges Kind und die ganze Hoffnung meines Alters, denn in ihr sollte mein Stamm forterben. Hundertmal habe ich es bereut, daß ich sie damals so hart anließ, und in der Erwartung ihrer Wiederkehr bin ich früh alt und grau geworden, so daß mir nun keine Hoffnung mehr auf Nachkommenschaft bleibt. Es ist das Härteste, was einen alten Mann treffen kann, daß er der Letzte seines Geschlechts ist und sein Andenken nicht fortleben soll. Ich kann dir nicht danken, daß du mir die letzte Hoffnung genommen hast, aber ich kann dir auch nicht darob zürnen, denn du konntest nicht wissen, wie der Sachverhalt lag. Wo mag meine Tochter hingekommen sein? Hat die Verzweiflung sie in die Wildnis getrieben? Vielleicht ist sie in Not und Elend verdorben und gestorben. O, ich geschlagener Mann, dessen Kraft völlig gebrochen ist!«
Wieder verbarg er das Gesicht in den Händen, und Schlitzwang hörte eine Weile nur ächzende Jammerlaute. Dann sprang der Graf auf, schüttelte das graue Haar, griff an das Schwert und sagte barsch:
»Wir ziehen in den Krieg, und da ist alles eins. Wollte Gott, daß ich nicht wieder heimzukehren brauchte, denn in meinem Falle ist der Tod in der Schlacht das beste Los. Gehab dich wohl, Schreiberlein, mein Schwert soll deinen Landsleuten zeigen, daß man wohl in der Seele todwund und dabei doch ein tapferer Kämpfer sein kann.«
Schlitzwang entfernte sich, tiefbetrübt über des Alten Herzeleid, aber auch selbst von der Frage nach dem Schicksal der jungen Gräfin erfüllt. Als er wieder bei Eginhard anlangte, hatte ihn dieser bereits mit Ungeduld erwartet, denn der König verlangte, den Sachsen zu sprechen.
Dieser beeilte sich, dem Befehle Folge zu leisten und war überrascht, welche Veränderung in der kurzen Zeit mit dem hohen Herrn vorgegangen war. Karl ließ den jungen Mann sofort vor sich und die Diener, welche gerade beschäftigt waren, Schwerter und andre Ausrüstungsgegenstände zu ordnen und zu reinigen, mußten sich bei seinem Eintritt entfernen. War der König zu jeder Zeit eine majestätische Männererscheinung, so erschien er in diesem Augenblicke wie ein wahrer Kriegsgott, so flammte sein Auge und schien sein ganzes Wesen von Kampfeslust durchdrungen. Er stand noch in den besten Mannesjahren, und wenn man nicht gewußt hätte, daß er seine geliebte Himiltrude schon als Jüngling gegen den Willen seines Vaters heimlich zum Weibe genommen hatte, so würde man nicht begriffen haben, daß er schon der Vater einer zur Jungfrau erblühenden Tochter sein konnte. Lebhaft trat er auf Schlitzwang zu und sagte:
»Ich gedenke dich mit in den Krieg zu nehmen, denn du kannst mir gute Dienste leisten durch deine Kenntnis der Gegend und der Sitten deiner Heimat. Wir verlassen nun Worms. Eginhard wird die Königin und meine Töchter nebst den andern Frauen des Hofes nach Aachen begleiten und dann ins Sachsenland 114 nachkommen, du aber kannst mir Vorteil bringen, wenn wir die Rebellen in ihren Schluchten und Wäldern aufspüren und verfolgen müssen.«
Diese Worte des Königs versetzten den jungen Mann in nicht geringen Schrecken. Er faßte sich jedoch rasch und sagte mit möglichster Bescheidenheit:
»Gestattet mir, erhabener Herr König, daß ich die Bitte ausspreche, auf meine Hilfe in dieser Hinsicht verzichten zu wollen. Mein ganzes Herz hängt an meiner Heimat, und ich sehne mich danach, wieder unter meinen Stammesgenossen leben zu können. Wie sollte ich da im stande sein, Eurer Majestät in der erwähnten Weise Dienste zu leisten?«
Eine Zorneswolke überflog das ausdrucksvolle Gesicht des Königs und rasch sagte er: »Haben sie dich nicht ausgestoßen und verfolgt, deines Glaubens wegen? Was kannst du noch mit einem Volke gemein haben, das die heiligsten Überzeugungen deiner Seele bekämpft? Alle Kirchen und christlichen Niederlassungen, die ich gestiftet, haben sie mit blinder Wut zerstört, und während wir hier reden, ist vielleicht schon das Kloster zu Fulda, wo du eine zweite Heimat gefunden, nach Vandalenart von ihnen vernichtet. Vor einer Stunde ist mir die Nachricht zugekommen, daß die frommen Brüder, deine Genossen und Wohlthäter, nach Mainz geflüchtet sind und nichts mitgenommen haben als den Sarg, der die Gebeine des heiligen Bonifacius birgt. Kannst du angesichts solcher Greuel noch Anhänglichkeit und Liebe für diese Barbaren empfinden?«
115 Schlitzwang zögerte eine kleine Weile, dann entgegnete er unerschrocken.
»Erlaubt mir, erhabener Herr, Euch zu bekennen, daß mein Herz geblutet hat, als ich erfuhr, wie schwer meine Stammesgenossen von dem Unglück des letzten Krieges betroffen wurden. Sind sie gleich unwissende Heiden, so hängen sie doch mit der zähen Kraft ihres im Kampfe mit so manchen feindlichen Gewalten gestählten Gemütes an ihren altehrwürdigen Sitten und Einrichtungen. Noch ist die Rache bei ihnen heilig, und als ich erfuhr, daß man ihr Heiligtum in Paderborn gebrochen und zerstört habe, wußte ich, daß man durch solche Handlungen ihren Trotz nur reize und über kurz oder lang die Rache sie zur Vergeltung treiben werde.«
»Nun denn«, entgegnete der König, »ich werde den Trotz des wilden Volkes beugen, und deine Weigerung überzeugt mich noch mehr, daß man in Güte gegen euch nichts ausrichtet. Da lebt ihr in euren Wäldern und Dörfern wie halbe Wilde und wähnt, daß die fortschreitende Menschheit lieber einen Umweg machen werde, um euch beiseite lassen zu können. Verblendetes Volk! Was will ich denn? Nicht nur die Segnungen des christlichen Evangeliums, sondern auch die Früchte der Gesittung und höheren Entwickelung auf allen Lebensgebieten will ich euch bringen; die Hilfsquellen, welche die Natur eurem Lande geschenkt hat, sollen reicher fließen und den Wohlstand heben. Während durch Kirchen und Schulen das geistige Leben geweckt und genährt wird, sollen die Verkehrswege eröffnet, Straßen durch die Wälder gebaut und die Flüsse schiffbar gemacht werden. Aber darin gipfelt ja euer einseitiger Trotz, daß ihr für euch allein bleiben, euch dem natürlichen Gange der Dinge, dessen Werkzeug ich bin, widersetzen und in roher Widerstandskraft in den alten Zuständen beharren wollt.«
Der König hatte diese Worte in edler Erregung gesprochen und mit Bewunderung hatte Schlitzwang ihm zugehört.
»Ich staune, o mein Gebieter, über Euren weltumfassenden Geist«, erwiderte dieser, »aber ich bitte Euch, erhabener König, das Auge einmal von den großen, die ganze Menschheit beglückenden Plänen abzulenken und mir in meiner Nichtigkeit einen gnädigen Blick zu gönnen. Wenn Euer Wort mir befehlen würde, ganz allein und nur mit meinem felsenfesten Glauben ausgerüstet, das Evangelium zu den Sachsen, den Friesen oder Wenden zu tragen, so würde ich freudig gehorchen und dem sichern Tode mutig entgegen gehen. Aber mit den Waffen in der Hand gegen meine Stammesgenossen ziehen oder Verrat an ihnen üben, kann ich nie und nimmermehr. Ist es im Ratschlusse des Herrn entschieden, daß der heidnische Trotz mit Waffengewalt gebrochen werden soll, so wird er Euch gewiß den Sieg verleihen, und wenn ich dann mit allen Kräften meiner Seele dazu beitragen kann, den Samen des Evangeliums und der milden Lehre des Heils weiter zu verbreiten, so steht mein Blut und Leben und jede Kraft meiner Seele dafür zu Gebote. Seid gnädig, erhabener König, und verlangt nichts von 116 mir, was ich nicht leisten kann, ohne meine Hände mit dem Blute meiner Brüder zu beflecken.«
Der König wendete sich beim Anhören dieser Worte von ihm ab und stellte sich eine Weile an die offene Fensterluke. Er war in Nachdenken versunken und das Auge des jungen Sachsen hing in ängstlicher Erwartung an seiner Gestalt. Plötzlich wendete sich der König um, trat vor jenen hin und sagte in milder Regung:
»Ich bin mit dir zufrieden.«
Von Dankbarkeit und Verehrung ergriffen, wollte sich Schlitzwang vor ihm auf ein Knie niederlassen, aber der König hielt ihn davon ab und sagte:
»Laß es gut sein. Ich verstehe dich, und ich werde dich rufen, sobald du mir in deinem Sinne nützlich sein kannst. Hier darfst du nicht bleiben. Ich werde dich in das Kloster nach Heilbronn senden, wo mein Todfeind, der Langobardenkönig, sich befindet. Dort magst du weilen, bis der Krieg auf die eine oder die andre Weise entschieden ist. Achte darauf, daß Desiderius nichts gegen mich unternimmt. Du hast im Kloster Zeit und Ruhe genug, um dein Gedicht von dem kriegerischen Heilande weiterzuführen. Sei mir treu, wie du es dir selbst bist. Entferne dich nun.«
Damit war Schlitzwang entlassen. Sein Herz war tief bewegt, und so sehr er auch darunter litt, daß seine Heimat abermals der Schauplatz eines blutigen Krieges werden sollte, mußte er doch dem starken Geiste des Königs hohe Bewunderung zollen.
Am folgenden Tage war der König zum Aufbruche bereit. Es war ein stattlicher Anblick, als er, von den Großen seines Reichs umgeben, Worms verließ. Auch der Erzbischof Turpin folgte ihm in prächtiger Rüstung zu Pferde, während Herr Alkuin unbewaffnet mit in den Krieg zog, um dem König beratend zur Seite zu stehen. Am tollkühnsten sah Herr Ganelon drein; unter der jüngeren Ritterschaft ragte der herrliche Roland leuchtend in seiner Schönheit hervor. Stundenlang dauerte der Abzug der Truppen, die in ihren verschiedenen Abteilungen zu Roß und zu Fuß eilig der Grenze entgegenrückten. Noch bevor alle Truppen Worms verlassen hatten, wurden auch die Pferde für die Frauen und ihre Gefolge vorgeführt, denen Eginhard das Geleite gab. Auch einige Wagen mit Habseligkeiten folgten ihnen und viele Karren und beladene Pferde zogen hinter dem Troß der bewaffneten Mannschaft her. Herzlich hatte sich Eginhard von Schlitzwang verabschiedet und dieser konnte ihm nachfühlen, wie glücklich ihn sein Amt als Schutz und Begleiter der Frauen machte. Ach! Wie oft hatte der Sachse in diesen letzten Tagen mit schmerzlichem Sehnen an die schöne Editha gedacht, die des vertriebenen Knechtes sich wohl kaum oder nur im Zorne erinnerte. 117