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Die so rasch bevorstehende Abreise des alten Herrn Krodo, dem sich einige seiner vertrautesten Wehrmänner und eine Anzahl Diener anschließen sollten, brachte den ganzen Hof in Aufregung, und so erlitt die gewohnte Lebensweise mit einem Male einen unerwarteten Abschluß.
So einfach das Leben auf den Burgen für gewöhnlich auch war, wenn es sich darum handelte, auf einem Versammlungstage oder sonst einem großen Feste zu erscheinen, wurde alles darangesetzt, um möglichst glänzend und prächtig aufzutreten. Waren nun gar Frauen mit dabei, so gab es nicht Hände genug, um alles Gewand, die Schmuckgegenstände und was sonst zur Ausstattung gehörte, eilig herbeizuschaffen. Diesmal schien die Sache allerdings so ernster und dringlicher Art, daß von einem Mitnehmen der Frauen keine Rede sein konnte, auch 54 wäre es für dieselben bei dem naßkalten Wetter und den grundlos aufgeweichten Wegen eine beschwerliche Reise gewesen. In möglichster Eile wurden nun die besten Gewänder des Herrn in stand gesetzt, Waffen gereinigt und Pferde beschlagen, zur Zahlung Tierfelle ausgewählt, und bevor noch irgend jemand unter all diesen Vorbereitungen recht zur Besinnung gekommen war, saß der Herr mit seinem Gefolge eines Morgens vor Tagesanbruch auf den Pferden und ritt durch den Nebel des frostigen Wintertages auf dem Wege nach Westfalen. Gerrita und Editha hatten von dem Herrn zärtlich Abschied genommen; für den Schreiberknecht hatten sie keinen Blick gehabt.
Die Tage dieses Rittes waren die beschwerlichsten, die Schlitzwang bis dahin erlebt hatte, denn er war des Reitens nicht sehr gewöhnt, und bei den schrecklichen Wegen in dieser Jahreszeit konnte man froh sein, wenn man mit heiler Haut an Ort und Stelle anlangte. Unterwegs trafen sie mit mehreren andern Herren und deren Begleitern zusammen; auch begegneten ihnen noch einige ausgesandte Boten, und so gewann die ganze Sache einen immer größeren Anschein von Wichtigkeit. An den Rastplätzen durfte nur kurze Nachtruhe gehalten werden und es ging früh am Morgen weiter. Die Herren tauschten ihre Vermutungen aus; man versuchte, die Boten auszuforschen, aber es war nichts weiter zu erfahren, als daß jedenfalls ein Heereszug in Aussicht stehe, daß Herr Wittekind von Engern den Versammlungstag angeordnet habe und daß dieser, wenn es zum Kriege käme, ohne Zweifel zum Herzoge ernannt werde.
So kamen sie an einem Abend am Ziele an. Es war der Ort zwischen Ehresburg und Paderborn, wo das uralte Heiligtum aller Sachsenstämme sich befand. Schon war der Sammelplatz überfüllt von Fremden aller Art. Krodo und sein Gefolge fanden jedoch bald ein Unterkommen, und Schlitzwang hatte noch am Abend Gelegenheit, Betrachtungen über die große Ausdehnung des Ortes und das Gewühl daselbst anzustellen. Von dem wunderbaren Heiligtume konnte er in der Dunkelheit nur die Umrisse erkennen, aber diese machten ihm einen gewaltigen Eindruck; denn er hatte nicht gedacht, daß Menschenhände ein so umfangreiches Gebäude herstellen könnten und überdies sah er aus der Mitte der dunklen Masse die hohe Säule emporragen, welche dem ganzen Heiligtume den Namen gegeben hatte.
Am folgenden Morgen beeilte sich der Schreiber, das Heiligtum in Augenschein zu nehmen. In der That, alles, was in jener Zeit das Volk der Sachsen an Kunstfertigkeit besaß, trat in diesem erhabenen Bauwerke dem Beschauer überwältigend vor die Augen. Hunderte der auserlesensten Baumstämme waren aus den Urwäldern des Harzes und Teutoburger Waldes hierher gebracht und kunstvoll bearbeitet worden. Das Gebäude selbst bildete ein Viereck, nach außen abgeschlossen, nach dem Hofe zu eine offene Säulenhalle. Überall war das Gebälk 55 mit Schnitzwerk verziert und außen mit großen Tafeln dicker Eichenrinde bekleidet. In der Mitte des Hofes befand sich eine Linde von so kolossaler Ausdehnung, daß sie allein eine große Sehenswürdigkeit bildete. Am Stamme dieser Linde war eine Treppe angebracht und oben zwischen den Ästen, da, wo sie aus dem Stamme hervortraten, befand sich eine kunstvoll gearbeitete Bühne, von welcher die Redner zu den versammelten Herren zu sprechen pflegten. Im Sommer schützte das dichte Blätterdach, für den Winter war eine Vorrichtung zum Schutze der Redner angebracht. So auch lagerten im Sommer und bei heller Witterung die Versammelten unter freiem Himmel im Hofe, während sie im Winter unter den Hallen ringsumher sich aufhielten. Auch der Boden dieser Hallen war mit dicht aneinander gereihten Holzbalken ausgelegt, auf welchen dann die Bärenfelle von den Dienern der Versammelten ausgebreitet wurden. Hinter der Linde, gerade in der Mitte der querlaufenden Halle erhob sich die Irmensäule, deren unterer Teil aus einem so mächtigen Eichenstamme bestand, daß man vor Erstaunen nicht begreifen konnte, wie derselbe hierher geschafft und aufgerichtet werden konnte. Oben darauf stand das Symbol der Gerichtsbarkeit, in Gestalt eines bewaffneten Mannes, dessen Rechte das Schwert hielt und zu dessen Füßen ein Kopf und eine Hand lagen, als Zeichen des Rechtes über Leib und Leben. Alles aus Holz geschnitzt, roh und abschreckend.
Der Anblick des mächtigen Denkmals der einfachen Kraft seines Stammvolkes flößte Schlitzwang ein Gefühl des Stolzes ein; aber zugleich mußte er auch daran denken, daß diese rohe Kraft das Volk mit eiserner Faust niederhielt und dem einzelnen völlig die Möglichkeit benahm, sich durch geistige Vorzüge irgend welche Geltung zu verschaffen. Wohl fragte er sich, ob es jemals dahin kommen werde, daß die göttliche Lehre des Heils diese uralten Verhältnisse umwandeln könne, und er ahnte nicht, wie nahe die Zeit war, in welcher der lebendige Hauch der allgemeinen Menschenliebe in das starre Reich des nordischen Winters seinen Weg finden werde.
Den ganzen Tag über kamen von allen Seiten die Edelinge aus sächsischen Gegenden; Herzog Wittekind von Engern traf ebenfalls mit seinem Gefolge ein. Nach den entfernteren Höfen und Burgen waren die Sendboten schon mehrere Tage früher geschickt worden, so daß die Versammlung am bestimmten Tage vollzählig wurde und die Sitzungen beginnen konnten.
Der anbrechende Morgen des Haupttages verkündete helles Wetter, wie es um diese Zeit, als Vorbote des kommenden Lenzes, zuweilen das Herz erfreut. Um die Mittagsstunde war die Versammlung festgesetzt, und vor dieser Zeit trieb man sich in den Straßen und auf dem großen Platze in der Nähe des Versammlungshauses umher. Da gab es viel Wunderbares zu sehen. Zuerst die Herren aus den verschiedenen Gegenden des Sachsenlandes mit ihren Gefolgen, 56 meistens große, kräftige, zuweilen sogar schreckhaft wilde Gestalten mit wallendem Haar und Bart. Unter allen aber ragte der Herr des Engernlandes, Herr Wittekind, hervor, dessen Besitztum bis an die fränkische Grenze reichte. Er war ein großer, kräftiger Mann, aus dessen Zügen Kühnheit und Entschlossenheit sprachen. Auch Herr Heino war anwesend, und die Mannen aus seinem Gefolge blickten hochmütig nach dem Schreiber hin, als er sie freudig begrüßen wollte. Dann sah man mancherlei Händler, und die Zahlmeister der einzelnen Herren trieben das Vieh, welches zum Tausche bestimmt war, herbei und ordneten die Felle aller Art, mit welchen sie die Lebensmittel zu bezahlen hatten. Selbstverständlich brachte Herr Wittekind stets mancherlei seltene Dinge zum Tausche mit; denn an der Grenze seines Landes wurden kostbare Schmuckgegenstände, seltene Stoffe und Geräte von den Franken eingetauscht und der Versammlungstag bot reichliche Gelegenheit zu umfangreichen Tauschgeschäften. Herr Krodo befahl dem Schreiber, von dem Diener, der eine schöne Auswahl Bären- und Wolfspelze mitgebracht hatte, einige der schönsten auswählen zu lassen und damit zu dem Zahlmeister des Herrn Wittekind zu gehen, um von diesem Gewandstoffe und Schmucksachen zu Geschenken für Gerrita und Editha auszuwählen.
Wie gern that er dies. Wie lebhaft stieg das Bild der goldhaarigen Editha vor seiner Seele auf, als er die seltenen Gewandstoffe und feinen Schmucksachen aus Bronze und Gold für sie auswählte.
Zur Zeit des Beginnes der Versammlung hatten alle ihre besten Gewänder angelegt, die Pferde standen bereit; denn dem Gebrauche gemäß durfte niemand zu Fuße bei dem Heiligtume anlangen und wäre seine Wohnung auch nur wenige Schritte davon entfernt gewesen. Es war ein stattlicher Anblick, als die Herren auf ihren schönen Rossen nacheinander anlangten, jeder von seinen Gefolgmannen begleitet. Außer Herrn Krodo hatte nur Herr Wittekind einen Schreiber mitgebracht, der auch der römischen Sprache mächtig, aber ein Heide war; das bemerkte Schlitzwang sofort und vermied es daher, sich ihm zu nähern.
Das Wetter war so schön, daß die Versammlung im Freien stattfinden konnte. Das geheiligte Haus bot aber im Innern heute noch einen besonders festlichen Anblick dar. Es war nämlich von alters her Sitte, daß nach siegreichen Feldzügen die kostbarsten und eigentümlichsten Beutestücke dem Irmen geweiht wurden. Der Hüter des Heiligtums hatte zugleich die Aufgabe, diese Schätze zu verwahren und sie bei festlichen Anlässen und großen Versammlungen zur allgemeinen Besichtigung aufzustellen. Dies geschah denn auch an diesem Tage. Da sah man an den Säulen aufgehängt die Schilder, Speere und Schwerter besiegter Könige aus dem Wendenlande und andern angrenzenden Reichen und auf großen Tischen waren erbeutete Schmuckgegenstände und Hausgeräte ausgestellt.
59 Alles dieses ward von den Herren und ihrem Gefolge unter stolzen Gefühlen betrachtet und ein jeder von ihnen erzählte, was er von der Herkunft und Erlangung der Waffen und Kleinodien wußte. Auf diese Weise wurde immer wieder das Gedächtnis an die großen Thaten der Vorfahren aufgefrischt und blieb von Geschlecht zu Geschlecht unvergessen. Schallendes Hohngelächter erweckte das silberne Tafelgeschirr, welches ein germanischer Anführer vor Jahrhunderten dem römischen Feldherrn Varus nach dem Siege im Teutoburger Walde abgenommen hatte. Die zierlichen Schüsseln und Teller mit erhabenen Figuren, und mancherlei Gefäße, deren Verwendung die einfachen Bewohner des Sachsenlandes gar nicht begreifen konnten, riefen bei den Herren tausenderlei spöttische Bemerkungen und unauslöschliches Gelächter hervor.
Dieses Silbergeschirr war die einzige Erinnerung, die in den sächsischen Ländern das Andenken an den großen Hermann wach erhielt, der einst, vor vielen hundert Jahren, die Römer durch List und Mut aus dem Lande vertrieben hatte. Es gab auch noch ein altes Lied auf seinen Tod; aber da es schon so lange her war, hatten die Worte manche Änderung erfahren und man wußte nicht recht, ob der Held dieses Totengesanges der Befreier Hermann oder der Gott Irmen war. Das Volk verwechselte so häufig die Laute, daß man nicht dafür einstehen kann, ob Hermann, den die Römer Armin nannten, und Irmen nicht am Ende ein und dasselbe bedeuten. War doch Hermann nicht nur der Befreier von der römischen Gewaltherrschaft, sondern auch der erste Herr, der den sächsischen Stämmen den Mittelpunkt der gemeinsamen Gerichtspflege gab. Es wäre immerhin möglich, daß die Bildsäule ursprünglich zu seinem Gedächtnis errichtet ward.
Durch einen dröhnenden Schlag, den Herr Wittekind mit einer Keule gegen den an der großen Linde aufgehängten Schild führte, wurde das Zeichen zum Beginn der Verhandlungen gegeben. Dann bestieg Wittekind die Bühne und verkündete in ausführlicher Rede, was ihn veranlaßt habe, diese Versammlung zu berufen. Den beiden Schreibern hatte man einen Platz dicht unter der Bühne angewiesen, damit sie alle wichtigen Teile der Rede aufzeichnen konnten.
Was Wittekind den sächsischen Edelingen mitteilte, bestand aus Folgendem:
Daß der Vater des jetzigen Frankenkönigs vor Jahren siegreich über die Grenze gegangen war und den Sachsen einen Tribut auferlegt hatte, war allen bekannt, und nicht minder wußten die Herren der sächsischen Lande, daß dieser Tribut stets mit großer Härte eingezogen wurde.
Schon seit längerer Zeit hatten die fränkischen Wehrmänner in den Grenzdörfern sich Übergriffe erlaubt; daraus entstanden fast unausgesetzte Feindseligkeiten, welche von den Sachsen mit ebensoviel Entschlossenheit als Ruhe zurückgewiesen worden waren. Nun aber war es Wittekind zu Ohren gekommen, daß der Frankenkönig ein großes Heer zusammenzog, um von Worms am Rheinstrome 60 aus über Westfalen in das Land der Sachsen einzudringen und von dort aus ihre Macht zu brechen und ihr Heiligtum zu zerstören.
Als Wittekind diese Worte sprach, erschütterte ein gewaltiger Aufschrei des Zornes und der Wut aus Hunderten von Kehlen die Luft. In der Erregung des Augenblicks schlugen viele der Herren an ihre Schilder, andre schüttelten ihre Waffen, und es gab ein Klirren und Tosen, daß man minutenlang kein einzelnes Wort verstehen konnte.
Ein neuer Schlag, den Herr Wittekind gegen den Schild an der Linde führte, dröhnte durch die Versammlung und stellte nach einigen Augenblicken die Ruhe wieder her. Er fuhr in seiner Rede fort:
»Wir sind die Herren hier im Lande und uns gebührt es, unser Recht zu verteidigen. Es gilt, ein großes Heer zusammenzurufen und dem Feinde so schnell als möglich entgegen zu ziehen. Jeder von uns muß so viel Wehrmänner, als er auftreiben kann, zum Heere stellen. Es ist keine Zeit zu verlieren, wenn wir dem Feinde noch an der Grenze begegnen wollen. Mein Gebiet grenzt an das der Franken, und mir sind die Wege am besten bekannt. Wollt ihr, daß ich euer Herzog sei und euch anführe gegen den Feind, so gebt mir das Zeichen.«
Ein ohrbetäubender Lärm durchwogte nun die Luft; denn einstimmig riefen sämtliche Anwesende durcheinander: »Ja, du sollst uns führen! Du sollst unser Herzog sein!« Und zugleich schlugen sie an die Schilde und ließen die Waffen klirren und schrieen unzählige Male Hoch und abermals Hoch!
Wiederum mußte ein dröhnender Schlag, den der neu erwählte Herzog gegen den Schild am Baume führte, die Ruhe in der Versammlung herstellen. Dann sagte er:
»Wohl, so sei es denn. Unsre Vorfahren und wir selbst haben oft genug gezeigt, daß wir auch dem stärksten Feinde gewachsen sind, und jahrtausendelang blieben wir Herren im Lande der Deutschen. Die Normannen, die Wenden und Sorben und vor allen die stolzen Römer haben unsre Macht gefühlt; aber es gilt diesmal einen harten Kampf, denn der Frankenkönig möchte es den Römern nachmachen und sein Reich über die ganze Erde ausbreiten. Wir, echte Söhne der Mutter Erde, wollen ihm zeigen, daß wir uns nicht unterjochen lassen und lieber das Leben als unsre Freiheit verlieren! Bedenkt auch, was der Feind als Ersatz für unsre Freiheit und unser Herrenrecht zu bringen gedenkt! Jene verächtliche Lehre von der Gleichheit der Menschen, welche ein Gott auf der Welt verbreitet haben soll, der selbst ein Knecht war und als solcher den schmählichen Tod des Verbrechers starb, die wollen sie uns aufnötigen, damit unsre Knechte zu Herren werden und sich uns gleichberechtigt fühlen sollen!«
Abermals unterbrach tobendes Wutgeschrei der Versammelten die Rede Wittekinds, aber es verstummte bald wieder von selbst, als der Herzog in seiner Rede fortfuhr:
61 »Unsre Urväter haben dies Land durch ihre Tapferkeit behauptet und es ist dadurch unsre Heimat geworden; die Urbewohner, welche ihre Herkunft von der Mutter Erde ableiten und Tuisko oder, wie ihn die meisten aussprechen, Teusken als ihren Stammvater betrachteten, haben sich glücklich gefühlt unter unsrer Herrschaft, denn sie hat ihnen ein menschenwürdiges Dasein verschafft. Was waren sie ohne uns? Unmündige Kinder ihrer Mutter Erde, die ihr elendes Dasein wie die Tiere in den Wäldern fristen mußten. Wir haben für ihre Sicherheit gesorgt und unter unserm Schutze leben sie zufrieden. Sagen wir ihnen also, daß die Freiheit und Unabhängigkeit der Herren nicht nur bedroht ist, sondern auch ihr Leben und das Leben ihrer Weiber und Kinder. Wenn wir unser Herrenrecht verteidigen, so müssen sie der Schutz ihres Eigentums und ihrer Angehörigen sein. Wer waffenfähig ist, muß mitziehen und den Sieg erstreiten helfen. Und nun laßt uns untereinander beraten, was jeder einzelne zu thun hat und wann und wo unsre Mannen sich zum Heereszuge versammeln werden.«
Unter lauten Zurufen und freudigen Begrüßungen verließ Herr Wittekind nun die Bühne und mischte sich unter die übrigen Anwesenden. Da begann ein eifriges Reden und Verhandeln unter den Herren selbst; es bildeten sich Gruppen, wobei diejenigen Hofbesitzer, deren Gebiete aneinander grenzten, bestimmte Verabredungen trafen. Zuweilen bestieg auch einer oder der andre die Bühne und verschaffte sich durch einen Schlag an den Schild Gehör. Da alle in den Hauptfragen einverstanden waren, so konnte die Versammlung bald nachher durch Herrn Wittekind geschlossen werden. Noch machte er den Tag bekannt, an welchem sich die einzelnen Edelinge mit ihren Mannen bei Osnabrück in Westfalen zusammenfinden sollten.
Am Nachmittage fand ein großes gemeinschaftliches Gelage zu Ehren des Gottes Irmen in seinem Heiligtume statt. Die großen Trinkhörner gingen dabei fleißig umher, und mancher Held, der sonst vor keinem Feinde zurückwich, empfand die Macht des berauschenden Getränkes. Die Fröhlichkeit und Kampfeslust stieg immer höher unter ihnen, und zuletzt stimmten sie Schlachtgesänge an, die in ihren wilden Weisen das Ohr betäubten.
Schlitzwang schlich sobald als möglich nach der Behausung, wo er sich mancherlei Aufzeichnungen machte und das süße Bild der Herrentochter daheim sich vor die Seele rief. Mehr als je empfand er hier, in der Einsamkeit der fremden Gegend, wo der wilde Lärm nur gedämpft zu ihm dringen konnte, daß eine tiefe Sehnsucht ihn zu Editha zog, und zum erstenmal wurde er sich bewußt, welche Thorheit jeder Gedanke an die Tochter des Edelings sei. Er wendete seine Gedanken auf Anselmus und sprach die Gebete, die er von diesem gelernt hatte. So gelang es ihm, sein stürmisches Blut zu beruhigen, und er entschlief, 62 während draußen die rauhen Kehlen noch immer Kriegsgesänge anstimmten und das Gewühl gar nicht zur Ruhe kommen konnte.
Am folgenden Tage wurde bei guter Zeit die Rückreise angetreten. Das schöne Frühlingswetter hatte bereits die Wege so weit verbessert, daß die Pferde rascher vorwärts kommen konnten. Zu gleicher Zeit waren mehrere andre benachbarte Edelinge, darunter auch Herr Heino, aufgebrochen, die sich nach und nach von Krodo trennten und bald rechts oder links ihre eignen Wege einschlugen.
Nach zurückgelegter Reise langte Krodo und sein Gefolge auf der Herrenburg an und das Herz des Schreibers schlug heftig, als er die Frauen aus der Kemnate herauskommen sah, um den heimkehrenden Herrn zu begrüßen.
Am folgenden Tage konnte man bemerken, welch ein gewaltiges Aufsehen die Neuigkeit machte, die der Herr mit nach Hause gebracht hatte. Bei der Eintönigkeit des Lebens in den Dörfern während der langen Friedenszeit, wo höchstens an den Grenzgebieten nach Norden oder Osten einmal ein Kampf vorgefallen war, mußte die Aussicht auf einen großen Heereszug alle Bewohner in Aufregung versetzen. Die nächsten Tage vergingen daher in großer Unruhe und unter geschäftigen Anordnungen für die Aushebung der wehrhaften Jugend. Nun konnten die vertrauten Diener des Herrn nicht mehr faul auf der Bärenhaut liegen, sie mußten umherreiten und in allen Dörfern und Einzelhöfen das Aufgebot verkündigen. Der Schmied warb eine Menge Gehilfen; Tag und Nacht wurde gearbeitet, um die alten Waffen zu reinigen und neue zu schmieden.
So schnell als möglich sollte das kleine Heer auf den Beinen sein; aber bald zeigte es sich, daß die Leute sich die Feier ihres Frühlingsfestes nicht nehmen lassen wollten und daß dasselbe gerade diesmal ganz besonders tumultuarisch zustande kommen werde. Mit den Zurüstungen zum Heereszuge verbanden zugleich die Leute die Vorkehrungen zu dem großen, auf uraltem Gebrauche ruhenden Volksfeste auf dem Brocken, der nicht nur deshalb dazu geeignet war, weil er alle andern Höhen überragte, sondern auch, weil sein Gipfel frei ist von Baumwuchs und durch seine ganze Beschaffenheit sich zur Abhaltung dieser ausgelassenen Feier eignet. Schon begannen die Menschen aus entfernteren Ortschaften heranzuziehen, denn manche konnten sich vom Herrendienste einige Tage früher losmachen.
Da kam eines Tages der Sohn des Herrn Krodo in Begleitung seiner Frau von der Harzburg herüber, um sich von seinem Vater genau erzählen zu lassen, was dieser in Paderborn erlebt habe. Sollte doch der jüngere Krodo gleichfalls mit zu Felde ziehen und einen Teil der Mannen seines Vaters befehligen. Es wurde ein Mahl im Mushause hergerichtet, und nachdem die Herrschaft dasselbe eingenommen hatte, verfügten sich die Frauen in die Kemnate, während die beiden Herren mit den bevorzugten Waffengefährten das Gespräch über den Krieg und die Heldenthaten früherer Zeiten eifrig fortsetzten.
63 Zu seiner Überraschung wurde Schlitzwang heute zum erstenmal seit der Rückkehr zu den Frauen beschieden, und er wunderte sich darüber um so mehr, da Frau Radegunda anwesend war, bei welcher nichts weniger als Teilnahme für die Kenntnis der Schrift vorauszusetzen war. Vielleicht hatte Herr Krodo erzählt, daß der Schreiber die Geschenke für seine Schwester und seine Tochter eingehandelt hätte, und die Frauen waren nun neugierig, etwas Näheres von ihm über die Gegenstände zu erfahren, welche der Geschäftsmann des Herrn von Engern mit sich geführt hatte. Aus den sächsischen Wäldern und Bergen war allerdings nicht viel zu holen, und die Gegenstände, welche bei solchen Gelegenheiten von dort zu Markte gebracht wurden, blieben immer dieselben, während die Leute aus den Grenzgebieten stets mancherlei Neues anzubieten wußten, was den Frauen aus den Edelhöfen hochwillkommen war.
Es kam zuweilen auch vor, daß herumziehende Händler das Land durchstreiften, aber es geschah dies doch selten; war es doch mit tausend Gefahren verknüpft. So mußte also der Eintausch bei außergewöhnlichen Gelegenheiten oft auf Jahre hinaus ausreichen.
Das Herz klopfte dem Schreiber ungestüm, als er zu den Frauen eintrat; denn obgleich er versucht hatte, durch Arbeit und Gebet die thörichten Gedanken zu verbannen, war es ihm doch nicht völlig gelungen. Als Jungfrau Gerrita ihn freundlich anredete, wollte es ihm scheinen, als fliege ein helles Rot über das Gesicht der schönen Editha.
»Du hast beim Eintausch der Geschenke, die mein Bruder für uns mitgebracht hat, guten Geschmack bewährt«, sagte Gerrita, »und wir haben uns recht darüber gefreut. Die Zeit scheint nun vorüber zu sein, wo wir dich zu Übungen in der Schriftsprache heranziehen könnten. Gib uns heute noch einmal eine Probe deiner Kunst und lies einige Stellen aus deinem Buche vor. Dort liegt es. Du kannst es dann auch gleich wieder an dich nehmen; denn du wirst wohl nicht zurückbleiben dürfen, wenn alle Männer in den Krieg ziehen, und dein Eigentum magst du dann wohl mit dir nehmen.«
Der junge Mann erblaßte bei diesen Worten; denn er hatte in der That noch nicht daran gedacht, daß er mit dem Evangelium im Arme und im Herzen ausziehen sollte gegen die Feinde seines Stammlandes, welche die Lehre des Heils mit der Gewalt der Waffen dorthin bringen wollten.
Er wußte nichts zu antworten, aber Frau Radegunda, die ihn von Anfang an mit ihren stolzen Augen gemessen hatte, meinte höhnisch:
»Es scheint doch wahr zu sein, daß die Gelehrsamkeit den Mut vernichtet. Steht der Mensch nicht ganz erschrocken da, weil er vom Kriege reden hört? Es ist freilich leichter, die Leute mit Worten zu besiegen als mit den Waffen in der Hand. Was ist es für ein Buch, aus dem du lesen sollst?«
64 »Es ist das Evangelium vom christlichen Heil«, entgegnete Schlitzwang einfach.
»Und wie bist du dazu gekommen?« fragte Frau Radegunda. »Solche Bücher pflegen die Priester der Christen in unsre Gebiete einzuführen. Hat es dir ein solcher zum Geschenke gemacht?«
»Das Buch ist das Vermächtnis des christlichen Bruders Anselmus, der in meinem Heimatsdorfe erschlagen wurde, als er die Lehre des Heils dort verkündigte«, erwiderte der Schreiber ruhig.
»Also auch hierzulande erreicht diese aufdringlichen Fremden dasselbe Schicksal, welches Bonifacius in Friesland, meines Vaters Gebiet, erfuhr. Ich war noch ein Kind, als der alte siebzigjährige Thor erschlagen wurde. Die unwissenden Menschen dort glaubten, daß er Schätze von Gold und Silber mit sich führe und waren nicht wenig erstaunt, als sie nur Evangelienbücher fanden. Er hatte bereits viele Anhänger gefunden und das Gift der Lehre des Heils, wie du sie nennst, war bereits weit unter den tapferen Friesen verbreitet; aber sie erschlugen mit ihm viele seiner Anhänger und hätten sie gern alle vertilgt, wenn sich die übrig gebliebenen nicht verborgen gehalten hätten. Du bist wohl selbst ein Christ?«
Als die übermütige Frau diese Frage an Schlitzwang richtete, mußte er unwillkürlich in Edithas Augen blicken, die mit Spannung auf ihn geheftet waren. Er richtete sich fest und gerade auf und sagte deutlich und laut:
»Ja, Herrin, ich bin ein Christ!«
»Nun denn«, fuhr Frau Radegunda höhnisch fort, »so magst du darauf gefaßt sein, daß es dir wie den Brüdern Bonifacius und Anselmus ergehe. Aber freilich! Euch schreckt in solchem Falle der Tod nicht, denn ihr glaubt ja, daß man wieder lebendig wird. So haben die thörichten Christen auch den Leib des alten Bonifacius mit sich genommen nach dem Frankenlande und warten nun wohl auf seine Auferstehung. Kann es etwas Lächerlicheres geben als ein solcher Glaube?«
Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, als man polternde Tritte und laute Stimmen im Vorgemache vernahm. Der Thürvorhang wurde zurückgeschoben und die beiden Krodo, Vater und Sohn, traten lärmend und lachend in den inneren Raum. Offenbar waren sie vom Getränke erregt und nicht mehr völlig Herr ihrer Sinne.
»Habe ich es nicht gesagt?« schrie der alte Herr mit lautem Lachen; »da ist das ganze Nest beisammen und wir kommen gerade zur rechten Zeit.«
Er wendete sich darauf zu Schlitzwang und sagte:
»Ich kann mich nicht mehr recht darauf besinnen, was unser Herzog alles gesagt hat. Du hast es aufgezeichnet, gehe und hole dein Geschrift!«
65 Der Schreiber machte sich sofort auf den Weg und hörte noch im Fortgehen, wie der alte Krodo zu Gerrita sagte:
»So ist der Bursche doch zu etwas gut gewesen, und ich sehe ein, daß die Schreibekunst wirklich einen Zweck hat, da sie uns das Gedächtnis ersetzt.«
Als Schlitzwang mit den Pergamentblättern zurückkam, bemerkte er sofort, daß irgend ein unliebsamer Gegenstand während seiner Abwesenheit verhandelt worden war. Anfangs fürchtete er, das Gespräch habe sich um ihn und sein Bekenntnis zum Christentum gedreht; dann aber durchfuhr ihn mit einem Male die Erinnerung an allerlei Redensarten, welche unter der Dienerschaft seit der Reise nach Paderborn zuweilen aufgetaucht waren und die wichtig genug schienen, um außer den Kriegsnachrichten noch Aufmerksamkeit zu verdienen. In den Tagen, als der alte Herr verreist war, sollte nämlich der jüngere Krodo auf der Krodenburg gewesen sein, und zwar in Begleitung des Herrn Wippo von Süpplingenburg, eines benachbarten Edelings, der schon früher um Jungfrau Editha geworben hatte.
Beim Eintritt des Schreibers verstummte das Gespräch, aber er merkte wohl, daß seine Vermutung richtig sein mußte, denn er sah es an Edithas Gesicht. Wäre die Rede von ihm gewesen, so hätte sich das Gewitter sofort entladen, dazu kannte er die Herren viel zu gut.
Der alte Herr forderte ihn nun auf, was er in Paderborn niedergeschrieben, laut vorzulesen, und er gehorchte sofort. Er konnte jedoch, schon während er las, bemerken, daß der jüngere Mann sich über ihn ärgerte und den Groll kaum unterdrücken konnte. Es war merkwürdig, welch einen Abscheu diese ganze ritterliche Sippschaft gegen jeden Menschen hegte, der etwas wußte, was über ihren Horizont ging. Kaum daß sich der junge Herr bezwang, seinen Unmut bis zum Schlusse der Vorlesung zu unterdrücken.
Über das, was Schlitzwang las, unterhielten sich die beiden Herren fortwährend laut und lebhaft, und der Schreiber war mehrmals genötigt, seine Vorlesung zu unterbrechen, bis der alte Krodo befahl, weiter fortzufahren. Als er dann zu Ende war, gab es nichts weiter zu besprechen und der junge Herr wendete seine Aufmerksamkeit auf den Schreiber.
»Du hast deine Sache gut gemacht«, sagte er in seiner rauhen Weise; »bildest dir wohl recht viel darauf ein, daß du solch ein Hans Hasefuß von Schreiberknecht bist? Für einen rechten Kerl wäre es eine Schande, sich mit solchen Künsten abzugeben. Komm einmal näher und sage mir, was du sonst noch kannst?«
Schlitzwang blieb ruhig auf seinem Platze stehen; denn so sehr er auch von Jugend auf daran gewöhnt war, sich den gebietenden Herren gegenüber als willenloses Geschöpf zu empfinden, so war es ihm doch gerade in diesem Augenblicke, unter den Augen der schönen Editha, unmöglich, dem gebieterischen Winke zu folgen und vor jenen hinzutreten, um sich von ihm verhöhnen zu lassen; denn er 66 wußte, daß Krodo dies thun würde, und deshalb schlug ihm das Herz wie ein Hammer in der Brust.
»Du könntest mir den Kerl schenken, Muhme«, fuhr der Wüterich fort, »hast mir doch oft genug erzählt, daß sie aus den fränkischen Herrenhöfen sich Spaßmacher oder Schalksnarren halten und zu solchem Schelm wäre der Schreiber gerade gut. Was meinst du, Radegunda, wäre das nicht ein Zeitvertreib für dich? Es ist im Winter langweilig genug auf der Harzburg, und wenn man so des Abends auf der Bärenhaut liegt, könnte man einen Kerl wohl brauchen, der Witze und Schnurren vorzubringen wüßte. Aber gut müßten sie sein, daß man darüber lachen könnte, sonst setzt es Prügel und Fußtritte. Nun rasch, zeige einmal, was du kannst und bringe etwas recht Lustiges zu Tage oder du sollst gleich eine Probe davon haben, daß eine starke Faust mehr vermag als deine Schreibekunst.«
Als er dies sagte, lachte sein Vater und seine Frau kicherte höhnisch dazu. Schlitzwang blickte starr zu Boden, aber ihm war, als sehe er ganz deutlich, daß die beiden andern Frauen mit schweigendem Unmut auf den Sprecher blickten.
Sein Schweigen reizte den Grimm des stolzen Herrn.
»Willst du mir trotzen?« schrie er den Schreiber an und stützte sich mit der Hand auf, als wolle er sich vom Sitz erheben. »Weshalb redest du nicht? Bist du ein Schreiber und kannst nicht einmal einen Witz machen? Hierher, oder ich hole dich nicht auf sanfte Art!«
Nun mischte sich Radegunda ein.
»Merkst du denn nicht«, sagte sie, »weshalb der Bursche so trotzig ist? Er meint, daß ihm niemand hier zu befehlen habe, da er einen andern Herrn hat. Er ist ein Christ.«
»Ein Christ!« schrie der jüngere Krodo in höchster Wut. »Du bist ein Christ? Du bist ein Christ?«
In diesem Augenblicke war es dem jungen Mann, als umschwebe ihn der Geist seines teuren Lehrers. Was hatte er zu verlieren und was zu gewinnen? Wenn er für seinen Glauben zu den Füßen Edithas sein Leben verlor und damit die Märtyrerkrone erwarb, die ihm einen Platz an Anselmus' Seite gewährte, war dies nicht ein Los, wie er es sich schöner nicht träumen konnte? Kühn aufgerichtet blickte er dem heidnischen Unholde fest in die Augen und sagte ruhig:
»Ja, ich bin ein Christ!«
Wie ein wildes Tier des Waldes sprang der jüngere Krodo von seinem Sitz empor, erfaßte das lange Messer an seiner Seite und stürzte mit einem wütenden Schrei auf Schlitzwang los. Dieser empfahl seine Seele Gott und erwartete den tödlichen Streich.
Da plötzlich drang ein Schrei an sein Ohr, der alle seine Fibern erbeben machte, und vor ihm stand Editha, das hocherglühende Gesicht und die zornigen Augen ihrem Bruder zugewendet.
69 »Halt!« rief sie, »du hast kein Recht, ihn zu töten!«
Dieser Zwischenfall wirkte wie ein rascher Blitz. Wohl hatte er kein Recht auf ihn, aber wer fragte an den Höfen der sächsischen Edelinge nach dem Rechte, wenn einer der Herren in Wut geriet? Was war das Leben eines Leibeignen wert, wenn er einen Herrn zum Zorn gereizt hatte? Frau Ilse hatte den Schreiberknecht ihrer Muhme Gerrita geschenkt, und diese würde nicht allzulange gegrollt haben, wenn der Sohn ihres Bruders, der Nachfolger des Gebieters, das Blut des Bauernsohnes vergossen hätte. Und nun? Was geschah soeben? Die Herrentochter verteidigte einen Knecht gegen ihren Bruder und sprach diesem das Recht ab, den Anhänger der Feinde ihres Stammes, den heimlichen Christen zu töten. Wie gelähmt standen einen Augenblick sämtliche Anwesende; dann ergriff der alte Herr Krodo das Wort und sagte begütigend:
»Sie hat recht, du darfst ihn nicht schädigen. Laß ihn für jetzt, aber wenn er sein Christenthum nicht abschwört, so werde ich selbst ein Wort darein reden. Vetter Heino hat alle Anhänger der neuen Lehre in seinem Gebiete zum Abfall gezwungen, und wir werden Mittel finden, dies auch hier durchzusetzen.«
Nach diesen Worten erhob er sich und verließ die Kemnate, um wieder nach dem Mushause zurückzukehren, wo die Waffengefährten der Herren harrten.
Scheltend und drohend schloß sich sein Sohn ihm an, und auch Frau Radegunda verließ mit giftigen Blicken auf die beiden andern Frauen und den Schreiber das Gemach.
Eine Weile blieb alles stumm. Schlitzwang wagte nicht, einer der Frauen ins Gesicht zu sehen, aber überwältigt von den Empfindungen, die auf ihn einstürmten, näherte er sich Editha, sank vor ihr auf die Kniee, neigte den Kopf zur Erde, erfaßte den Saum ihres Kleides und drückte die Lippen darauf.
Unwillig entzog sie ihm mit raschem Ruck ihr Gewand.
»Entferne dich!« stieß sie mit heiser klingender Stimme hervor; »geh' mir aus den Augen!«
Schmerzlich überrascht blickte der junge Mann zu ihr empor.
»Du hast mich geschützt«, sagte er mit bebender Stimme, »und sprichst nun im Zorne zu mir. Habe ich dich beleidigt? Ist mir dein Haß zu teil geworden?«
»Haß?« stieß sie hervor. »Weiß ich denn noch, was Haß, was Liebe, was Recht oder Unrecht ist? Ist nicht alles in mir verkehrt und verändert?« Und indem sie mit dem Fuße aufstampfte, rief sie noch einmal:
»Verlasse mich! Geh!«
»Ich soll gehen? Und wohin? Willst du, daß ich ohne Schutz und Schirm, ohne Wehr und Waffen in den wilden Wald laufen soll, den Tieren zum Fraß? Und wenn ich hier bleibe, was erwartet mich? Soll ich auf gebahnten Wegen entfliehen, daß sie mich ergreifen und zurückbringen? Was ist dann das Los des 70 Leibeignen, der sich seinem Herrn widersetzt? Sie werden mich zu Tode mißhandeln, und niemand wird im stande sein, den wehrlosen Sklaven zu beschützen.«
Ein wilder Aufschrei entrang sich ihrer Brust.
»Heiß' ihn gehen, Muhme«, wendete sie sich zu Gerrita, und ihre Stimme erstarb fast in der Heftigkeit ihrer Erregung; »heiß' ihn gehen, oder ich schütze mich selbst und töte ihn mit eignen Händen!«
Gerrita, welche alles dies mit sprachlosem Erstaunen angehört hatte, ergriff nun erschreckt das Wort und sagte:
»Thue ihr den Willen und entferne dich. Ich will sagen, daß ich dich nach Heinrode zurückgesendet habe und niemand wird deiner Flucht nachspüren und dich verfolgen. Wenn du bleibst, bist du verloren, also fort, eilig fort! Ich gebe dich frei!«
Schlitzwang sprang empor, und während Editha ihre Arme um Gerritas Hals schlang und das Gesicht an deren Busen verbarg, eilte er wie ein Wahnsinniger hinaus.
Vorher aber hatte er das Evangelienbuch ergriffen und es mit flehendem Blicke zu Edithas Füßen niedergelegt.
War es ihm doch, als ginge er dem gewissen Tode entgegen. Wohin er die Schritte lenken sollte, wußte er nicht. Die ganze Welt erschien ihm wie eine Einöde und als er im Freien war, lief er auf einem Fußpfade weiter, ohne zu beachten, wohin dieser führe. Nur vorwärts trieb es ihn, und er würde weiter gelaufen sein ohne Absicht und ohne Ziel, bis er vor Müdigkeit und Herzensjammer tot zusammengebrochen wäre, wenn nicht ein unerwarteter Zwischenfall nach kurzer Zeit seinen Weg gekreuzt hätte. 71