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Von erloschnen Sternen fällt ein Strahl
Immer noch wie einst auf Berg und Tal;
Und so leuchten mir noch aus der Ferne
Meiner Jugend längst erloschne Sterne.
Sturm.
In meiner nächsten Nachbarschaft war die Sankt Eusebienschule, ein altes Stift für Kinder armer Leute. Jeden Mittag um Zwölf, wenn die Schule aus war und aus dem breiten Tore des düsteren alten Gebäudes das Völklein der kleinen Denker sich heraus auf die Gasse ergoß, da traf es sich regelmäßig, daß vor meinem Hause ein alter, freundlicher Herr vorüberging. Mit den Kindern schien er gut Kamerad zu sein. Alle kannten sie ihn und stürmten ihm schon von weitem jubelnd entgegen. Und für die flinkfüßigen Sieger in diesem Wettlaufe, die sich ihm jauchzend an Kniee und Hände hingen, brachte er fast jedesmal ein kleines Geschenk mit. Gestern war es ein rotbäckiger Apfel, heut eine süße Birne, ein andermal ein verlockender Pfefferkuchenmann, und so immer was Schönes.
Ich konnt' mirs gar nicht erklären, was ich an dem lieben alten Herrn mit der Zeit für Anteil gewonnen hatte. Und schon längst war ich begierig zu erfahren, wer er denn eigentlich sei, der alte, gute Mann. Neulich fragt' ich einen kleinen Knaben auf der Gasse, dessen Mäulchen eben an dem Kuchenherzen knabberte, das er sich von dem Alten erobert hatte. Und da hörte ich denn, daß es »der gute Doktor« sei!
Später erfuhr ich noch, daß der alte Sanitätsrat nur wenige Straßen entfernt von mir wohnte, und daß er schon seit langen Jahren seine tiefe Wissenschaft und seinen großen Reichtum ausschließlich den Armen widmete, die ihn im ganzen Viertel nahezu wie einen rettenden Messias, einen Not- und Schmerzen-Erlöser, verehrten und vergötterten. Und das noch um so mehr, als in dem großen, großen Viertel nur ein einziger Armenarzt wohnte, auf den zehntausend Köpfe und noch zwei darüber kamen. Eh' der erst einmal zu einem armen Kranken die drei Höfe herüber und die vielen Treppen heraufgestiegen kam, da hatte in der Regel der arme Kerl schon mit einem halben Maule ins Gras gebissen. Und ehe nun gar erst, nach unendlicher Beglaubigungsschererei und Geschreibselei, in der Apotheke die Arznei verabfolgt wurde, da war wohl der arme Teufel mit Sankt Peters Erlaubnis von den Toten schon wieder auferstanden!
Heute am Weihnachtsvorabend – es war schon spät – durchwandelte ich daheim mein Stübchen und sann darüber nach, warum wohl am Mittag um Zwölf mein alter, pünktlicher Freund zum ersten Male, seitdem ich ihn kenne, nicht vorübergekommen war.
Sollte er vielleicht krank geworden sein? – Wie ich noch so darüber nachdenke und hinunterstarre auf die weiße, verschneite Gasse, da legt sich plötzlich eine sanfte Hand auf meine Schulter. Erstaunt wende ich mich um und gewahre eine holde Frauengestalt, die meinem sterblichen Ich noch niemals entgegengetreten war.
Ich blickte in zwei wundertiefe, dunkelgesternte Blauaugen, und ich schaute darin bis auf den tiefen Grund einer unschuldreinen Seele.
»Dich sah ich niemals noch! Wer bist du? Und wie kommst du zu mir?« So sprach ich zu dem glanzumflossenen, holden Mädchen.
»Ich bin ein seltener Gast auf Erden,« antwortete sie mir, »obwohl mich die Menschen ihre Freundin nennen. Denn ich bin das Kind der Liebe und eine Schwester der Sehnsucht – ich heiße die Treue!«
»Wenn du die Treue bist, die zu mir kommt,« sprach ich entzückt, »so will ich deine Hand festhalten mein ganzes Leben lang, denn du bist meines Lebens Gesang – der Schmerzensklang meiner Tage und das Lied der Sehnsucht meiner Nächte! – O sage, wie kommst du zu mir?«
»Diesmal wollte dich meine Schwester aufsuchen. Doch die Sehnsucht mußte weiterschweifen, und nun sendet sie mich zu dir!«
»Und wohin gedenkst du mich zu führen?«
»Komme mit mir, du wirst es sehen!« –
Es war nahe an Mitternacht, als wir nach kurzer Wanderung vor einem steinalten, doch noch gut erhaltenen, geräumigen Patrizierhause der nächsten Querstraße standen. Wir stiegen nur eine Treppe hoch und traten durch den breiten Vorsaal, dessen Doppeltür sich geräuschlos meiner Begleiterin öffnete, in ein vornehm ausgestattetes Schlafgemach ein. Es brannte Licht im Zimmer. Unter dem Betthimmel in dem weichen Daunenbettchen lag ein kleiner Knabe, der friedlich schlummerte. Auf dem Tische standen neben der brennenden Studierlampe Tassen und Arzneiflaschen, und schöne, bunte Bilderbücher lagen noch aufgeschlagen.
In dem Lehnstuhl aber, der am Bettchen stand, schlief ein alter Herr, dessen mildes, freundliches Gesicht mir recht bekannt vorkam. Es war »der gute Doktor«! – Meine Begleiterin erzählte mir, daß er heut in aller Frühe einen armen, kranken Jungen, dem in der vergangenen Nacht sein Mütterchen gestorben war, und den er schon lange in sein einsames Herz geschlossen, zum Schrecken der alten Wirtschafterin mit nach Hause gebracht hatte. Über den ganzen Tag war der alte Herr vom Bett des Kindes nicht gewichen, und erst in vorgerückter Nachtstunde, als er sah, daß es sich mit dem kleinen Krauskopf zum Guten wendete, waren ihm die müden Augen gesunken.
Wie ich näher hinsah, bemerkte ich in der lässigen Hand auf seinem Schoße ein Bündel vergilbter Blätter, in denen er wahrscheinlich nach alten Erinnerungen gesucht hatte, um mit ihren längst verblaßten Gestalten die einsamen Stunden der Nacht zu beleben. Zwischen den ersten Blättern lag eine rote getrocknete Rose und daneben ein verblaßtes Vergißmeinnicht.
Als das die Treue sah, glitt über ihr schönes Angesicht ein mildes Lächeln, und mit Vorsicht löste sie das Blätterbündel leise aus der schlaffen Hand des alten Herrn.
»Komm schnell,« sagte sie zu mir, »und folge mir zurück in dein Stübchen. Dort will ich dir, weil du ein Dichter bist, die kleine Geschichte, die in diesen vergilbten Papieren steht, vorlesen. Aber wir müssen uns beeilen, denn noch in dieser Nacht, ehe der gute Doktor aufwacht, muß ich diese Blätter in seine Hand zurücklegen.«
Es war noch kein Viertelstündchen vergangen, da waren wir wieder in meinem Stübchen und saßen beim trauten Schein der Lampe.
Die Aufschrift auf dem ersten Blatte lautete:
Aus den Erinnerungen eines Einsamen.
Die Treue begann: Dort, wo die Wälder der Granitz rauschen und ihr ewiges Wellenlied die jungfräuliche Ostsee singt: in einer stillen Sommerfrische der schönen Hertha-Insel Rügen lebte mir vor Jahren ein lieber Freund. Die Einsamkeit seines zwar bescheidenen, im grünen Waldfrieden aber wunderbar gelegenen Heims verschönte eine junge, liebreizende Frau. Von einem eigenen Schicksal, das mir in dem weinumsponnenen Häuschen dieser beiden Leute begegnet ist, handelt die kleine Geschichte, die ich hier erzählen will. Sie beginnt, wie die meisten Passionsgeschichten der Liebe, sehr alltäglich, doch hat sie einen so ungewöhnlichen und für drei Menschen folgenreichen Ausgang genommen, daß ich nicht länger der Versuchung widerstehen mag, sie im Buche meiner Erinnerungen niederzuschreiben. So getreu, wie ich sie in unvergeßlichen Stunden selbst erlebt habe. Ich glaube mich damit keiner Rücksichtsverletzung schuldig zu machen, denn außer mir und der Gattin meines Freundes weiß darum niemand. Auch ihrem Manne hat sich die eigene blonde Frau damals und wahrscheinlich bis heute nicht entdeckt, und ich habe ihr Schweigen verstanden und gebilligt. Jahre sind darüber hingegangen, und das bizarre, launenhafte Leben, das Menschen und Menschenschicksale wunderbar verkettet und noch unbegreiflicher löst, hat uns längst auseinander geführt. Aber ich bin überzeugt, wenn je ein Zufall diese Blätter in die Hand meines Freundes spielen sollte, dann wird es nach Jahren wie Schuppen von seinen Augen fallen, er wird die Träger dieser kleinen Erzählung erkennen und verstehen und vielleicht im Geiste Weib und Freund die Hand drücken und ihnen leise sagen: Als ihr damals geschwiegen – ihr habt es gut gemacht!
Unsere Geschichte beginnt wie ein altes Lied ... sie liebten sich nicht, und sie gingen doch zusammen durch das Leben. Eine Konvenienzehe wie tausend andere! Wie in unserer Zeit so viele, vielleicht die meisten Menschenkinder, hatten sie sich auf dem parkettierten Gemeinplatz eines Ballsaales kennen gelernt. Das blonde, stille Mädchen gefiel ihm recht gut. Sie war nicht eigentlich schön zu nennen, aber ihre Züge hatten etwas ungemein Sympathisches; dazu war sie die einzige Tochter einer angesehenen Familie, sie hatte eine vortreffliche Erziehung genossen, und schließlich, was ja unter Umständen kein Unglück ist, sie besaß auch Geld.
Er war damals noch ein armer Student. Aber da er Begabung mit Fleiß vereinte, so stand ihm als künftigem Arzt ohne Zweifel eine große Zukunft bevor. Die Liebe hatte an seinem Herzen wohl niemals angeklopft. Und war es ja einmal, dann hatte er die Tür nicht aufgetan. Seine Jugend war zu ernst gewesen. Der Vater tot, die alte Mutter hinfällig und erwerbsunfähig, er selbst im freudlosen Einerlei sonnenarmer Jahre, die sonst die schönsten sind, überbürdet mit Arbeit und Stundengeben, wodurch er den Lebensunterhalt für die alte Mutter und sich, und zum Teil auch die Mittel zu seinem Studium dem Schicksal mühsam abringen mußte. Da war ihm zu Sekundanerschwärmereien kein Mut und keine Zeit geblieben. Das stille Käthchen war das erste weibliche Wesen, das auf ihn einen tiefern Eindruck gemacht hatte. Er lernte sie kennen und schätzen, er gestand ihr seine Neigung, er verlobte sich auch mit ihr – aber die Sprache der Liebe, die bald tiefinnig und leise, bald überströmend und heißbegehrend mit den Zungen der Leidenschaft redet: die war seinem Herzen fremd geblieben.
Das kluge Mädchen, dem auch das Herz auf dem rechten Fleck schlug, erkannte sehr bald den innern Wert des für seine jungen vierundzwanzig Jahre fast zu ernsten Freundes. Käthe war ein ungewöhnlicher Charakter, und da sie Robert achten mußte, höher als einen Mann, der ihr je begegnet war, sah sie über den Mangel liebenswürdiger Formen, die sonst ungern eine Frau vermißt, nachsichtig hinweg und schenkte nach einigem Bedenken seiner Bewerbung Gehör. Eine tiefere Neigung hatte auch sie nicht geleitet. Gleichwohl konnte man nicht sagen, daß sie ihr Wort leichtsinnig gegeben habe. Sie war noch jung, sie kannte die Liebe nicht, sie konnte daher nicht wissen, daß es noch eine andere Macht im Leben giebt als die Vernunft – die Gewalt der Leidenschaft, deren Stürme, wenn sie einmal hereinbrechen über ein armes Menschenherz, alle die wohlgesteuerten und gutbefrachteten Schlüsse des Verstandes rettungslos verschlingen ...
Nun waren sie schon fünf lange, unendliche Jahre Mann und Frau. Nie hatte eine ernstliche Meinungsverschiedenheit, etwa gar ein Zwist die Eintracht ihrer jungen Ehe getrübt – und doch ... das Glück war ausgeblieben. In dem meer- und waldumgürteten Dörfchen im Mönchgut, das von der Überfeinerung moderner Weltbäder damals noch unberührt war, führten sie ein stilles, zurückgezogenes Leben. Der Mann hatte sich eine ganz leidliche Praxis gegründet und ging in seinem Berufe, dem er über Dorf und Land Tag und Nacht mit Eifer oblag, völlig auf. Er war noch wortkarger geworden als zuvor. Eine starke künstlerische und literarische Neigung, die sich früher interessant an ihm bemerkbar gemacht hatte, war unter Last und Drang schwerer Berufspflichten völlig verkümmert, und Robert war in seiner Ehe nun erst recht ein einsamer Mann geworden.
Die arme Frau Käthe! Sie klagte niemals, aber sie fühlte alles um so tiefer. Ihr einziger Trost war ihr Mutterglück, ihr trautes Schneeweißchen! – Da trat eines Tages ein Ereignis ein, das, an sich unscheinbar, in der Folge für die beiden Leute bedeutungsvoll werden sollte. Es war gegen Ende Mai, als Robert zu einer längern Sanitätsübung in eine entfernte Garnison- und Universitätsstadt die Einberufungsorder erhielt. Der Abschied der beiden Gatten war ziemlich flüchtig. Robert war nicht der Mann der rührseligen Empfindsamkeit, dazu besaß er zu viel Gemüt; und es handelte sich ja auch nur um eine Trennungszeit von zehn schnellvergangenen Wochen. Als Stellvertreter hatte er sich einen befreundeten jungen Assistenzarzt von der nahen Greifswalder Universitätsklinik bestellt.
Dieser Freund war ich. –
Wie es unter Ärzten in kleineren Verhältnissen bei Stellvertretungen durch junge Assistenten üblich ist, nahm ich im Hause meines Freundes Wohnung und hielt dort die festgesetzten Sprechstunden.
Mit der Gattin meines Freundes kam ich bei den täglichen Mahlzeiten regelmäßig in Berührung. Ich erfüllte Roberts Wunsch und entsprach auch meinem eigenen Geselligkeitsbedürfnisse, indem ich mich in meinen freien Stunden bestrebte, Frau Katharinen durch Unterhaltung und harmlose Zerstreuungen mancher Art die lange Trennung von ihrem Manne einigermaßen zu verkürzen. Wir plauderten zusammen und lasen, wir gingen spazieren und musizierten, wir sprachen auch über ernstere Gegenstände und tauschten dabei unsre Anschauungen und Gesinnungen aus – kurzum, ich weiß selbst nicht, wie es gekommen – ohne daß wir es wollten und merkten, waren wir uns allmählich näher getreten.
Ich fühlte es instinktiv und ich konnt' es auch aus vielem schließen, daß ich in dem freudlosen Leben dieser Frau der erste Mann war, der ihrer Eigenart entgegenkam, der sie ganz und gar verstand, und der ihrer Natur, ihren geistigen und seelischen Bedürfnissen die ersehnte Ergänzung bot, auf die nun einmal der Mensch um so dringender angewiesen ist, je höher er selbst steht und je mehr er zu geben hat. Es war mir zweifellos, daß unter den gegebenen Verhältnissen mein Eintritt in das Stillleben der armen vereinsamten Frau dieses Hauses die Gewalt eines völlig Neuen, ja eines elementaren Ereignisses über sie gewinnen konnte, wenn ich es selbst nur wollte. Und dieses überlegene Gefühl der geistigen Macht, dieses Bewußtsein der beherrschenden Kraft schmeichelte mir und ließ mich gänzlich eine Gefahr verkennen, die ich zu lenken glaubte, weil ich noch mit ihr spielte. Auch der blasseste Gedanke der Untreue an meinem Freunde lag mir fern. Und doch stand auch ich schon unter dem dämonischen Banne der aufkeimenden Leidenschaft.
Dieses kam mir zum Bewußtsein, als Frau Käthe an einem Abend erklärte, daß ich am folgenden Sonntag mein eigener Wirt sein müsse, da sie am Samstag nachmittag auf Wunsch ihres Mannes in einer Familienangelegenheit nach Greifswald fahre. Ich fühlte in diesem Augenblicke förmlich mein enttäuschtes Gesicht, so betroffen war ich von dieser Nachricht. Käthe schien meine Verstimmung bemerkt zu haben, denn ich sah, wie es in ihren großen meerblauen Augensternen ungewiß flirrte und eine Blutwelle in ihr edelgeformtes blasses Antlitz schoß. Der Gedanke, einen ganzen Tag in dieser Einsamkeit ohne sie verbringen zu müssen, erschien mir unerträglich. Mit stockender, ungewisser Stimme fragte ich sie, ob sie mir gestatten würde, daß ich am Sonntag nachfahre und sie auf der Heimfahrt begleite. Ich sagte, daß es schon lange in meiner Absicht gelegen habe, eine befreundete Familie in Eldena zu besuchen, einem von der alten Hansastadt etwa eine Stunde entfernten freundlichen Badeorte am Greifswalder Bodden. Und da übermorgen Sonntag sei, so biete sich zur Ausführung meines Planes die beste Gelegenheit.
Sie zögerte einen Augenblick mit der Antwort; dann sagte sie in gleichgültigem Tone, sie habe gegen meinen Vorschlag nichts einzuwenden: wenn ich nichts versäume, sei ihr meine Begleitung angenehm.
Damit war diese Angelegenheit abgetan. – Die Unterhaltung wollte an jenem Abend nicht wieder recht in Fluß kommen. Ich bat sie daher, ein Schumannsches Lied zu singen, das ich schon einmal von ihr gehört hatte, und das mich, im Zauber ihrer klangvollen, dunklen Altstimme, tief ergriffen. Sie lehnte aber ab mit einem müden Kopfschütteln. Da setzte ich mich selbst an den Flügel ...
Auf einsamer Alm, wo trauernd
Der Berg ragt im ewigen Eis,
Da blüht am schweigenden Abgrund
Ein einsam Edelweiß.
Vom Tale drunten, singend,
Kam froh ein Wandersmann;
Der suchte die weiße Blume,
Als zög' ihn ein Zauberbann.
Da zitterte, blutlos, im Winde
Die bleichende Blumenbraut –
Es stürzte der Fels – vom Wandrer
Kam nie mehr ein Gruß und Laut. –
... Sie hatte sich erhoben, und indem sie mich mit einem wunderbaren Blicke ansah, sagte sie leise: Es ist spät geworden – schlafen Sie wohl! –
Ich war allein. – – –
Es war am Sonntag nachmittag. Da die Abfahrt des Greifswalder Dampfers in Eldena erst um sechs Uhr abends erfolgte und unsere Besuche schon am Vormittag erledigt waren, so hatten wir verabredet, uns um vier Uhr in der Klosterruine bei Eldena zu treffen. Schon seit einer Stunde wandelte ich unruhig unter den grauen, von Efeu dicht überrankten Mauern der uralten Cistercienserabtei auf und ab. In das bange Gefühl der Erwartung, das mich plötzlich überkommen hatte, mischten sich eigene Schauer, die mich an dieser Stätte der Vergangenheit ergriffen. Stolz ragten noch zu meinen Häupten die reichgegliederten Säulen und die gotischen Spitzbogen der ehemaligen Kapelle und des Kreuzganges, aber die Decke war eingestürzt und durch das grüne Laubdach der ernsten Buchen, die sich heute aus den gesprengten Steinfliesen der Gänge hoch emporrecken, lugte das sanfte Blau des Himmels. Mein Fuß schritt über eingesunkene Gräber, und ich dachte bei mir, wie auch in dieser Burg des Friedens manch heißfühlendes Menschenherz einstmals Asyl gesucht hatte aus den leidenschaftlichen Kämpfen dieser Welt, und wie manche Tragödie des Lebens wohl hier mag zu ihrem Abschluß gekommen sein.
Es wurde mir beklemmend in der schweigenden Enge dieser Mauern und ich lenkte meine Schritte zu dem verwitterten Turm des Klosters, der von seinem Söller aus einen herrlichen Fernblick über Land und Meer gewährt. Bald hatte ich die ausgetretenen morschen Stufen erklommen und trat hinaus auf den schmalen Altan. Fernab, zu meiner Linken grüßten die Türme und Dächer meiner Musenheimat, der alten, ehrwürdigen Greifenstadt. Vor mir, unter dem fast wolkenlosen Azur des Himmels, spannte sich weithin wie ein gigantischer eherner Schild das stahlblaue unendliche Meer. Nur zu meinen Füßen, wo die weißen Ufer ein hellgrünender Buchenhain säumt und wo hängende Weiden das Wasser küssen, glitzerte das Meer im Sonnengold und flutete kristallklar wie flüssiger Smaragd. Die Luft war so still und rein, daß ich in weiter Ferne die verdämmernden Küsten von Rügen wohl erkennen konnte.
Lange stand ich sinnend, in den Zauber dieses Anblicks versunken. Da schlug das nahende Geräusch eines Wagens an mein Ohr. Unwillkürlich folgte mein Auge der Richtung des Schalles und ich bemerkte auf der Landstraße ein zweispänniges elegantes Gefährt, in dem eine einzige Dame saß. Ich glaubte den Schlag meines Herzens zu hören – das mußte sie sein! Ich konnte noch sehen, wie der Wagen, dem eine wirbelnde Staubwolke folgte, in den Hain einlenkte und unter den weitverzweigten grünen Buchenkronen bald verschwand. Dann lief ich so schnell es ging die gewundene steinerne Treppe hinunter und eilte durch Kreuzgang und Garten zu dem verfallenen Pförtchen, durch das sie eintreten mußte. Ich brauchte nicht lange zu warten – da kam sie. Die Begrüßung war fast etwas verlegen. Ich hatte die Empfindung, als ob das jäh erwachte Bewußtsein einer unseligen und verhängnisvollen Leidenschaft alle Unbefangenheit und Freudigkeit des Gemütes von ehedem in uns beiden ersticken wolle. Aber das war nur das Gefühl weniger Augenblicke. Der Anblick der geliebten blonden Frau berauschte mich so vollkommen, daß ich die Hoffnungslosigkeit meiner Leidenschaft gänzlich vergaß und mich dem holden Glück der Stunde gefangen gab. So war uns, indem wir in den schattigen Gängen auf und ab wandelten, in ernstem Gespräch die Zeit schnell vergangen.
Vom nahen Turme des Kirchleins in Wieck, einem freundlichen Fischerdorfe, das jenseits des Ryckflusses Eldena gegenüber liegt, ertönte friedvolles Abendgeläut herüber und erinnerte uns, daß es Zeit sei zu gehen. Wir hatten die hölzerne Ziehbrücke, die die beiden Schwesterdörfer verbindet, noch nicht erreicht, als auch schon unser Dampfer durch die grünenden Wiesen und Auen schnitt, die sich zu beiden Seiten der schmalen, schilfeingefaßten Wasserstraße des Ryck weithin dehnen. Hart vor der Brücke legte das Ungetüm an und wir hatten kaum unsern Platz am Bug des Schiffes eingenommen, als es auch schon durch die weitgeöffnete Durchfahrt und vorüber an Bollwerk und Mole, die sich in langem Halbbogen wie eine ruhende Sphinx in die See vorlegt, in königlicher Ruhe hinausschwebte in den Bodden.
Vor uns lag die Unendlichkeit. Nie wieder in meinem Leben hat die geheimnisvolle Schönheit des Meeres einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht, wie an der Seite dieser blonden, stillen Frau an jenem Abend. – Eine Zeitlang begleitete uns noch die weitgedehnte Hügelkette der Ludwigsburger Landzunge, während links in unendlicher Ferne im Gold der Abendsonne wie ein rötlicher, duftgewebter Schleier die Küste von Stralsund aufschimmerte, der uralten, ans Firmament geketteten Hansastadt.
Mehr und mehr versank hinter uns Land und Küste. Nur die Kirchturmspitze von Wieck war noch sichtbar und gegenüber der aus dem Grün des Haages wie ein Zeuge der Vorzeit ragende Turm der Eldenaer Klosterruine, wo ich noch vor wenigen Stunden geträumt hatte und wo einst auf hohem Altane fromme Mönche saßen und ihre trübsinnigen Litaneien zur eintönigen Melodie des Meeres sangen.
Dann war auch dieser letzte Halt verschwunden und grenzenlose Wasserfläche umgab uns rings umher. Kaum, daß hin und wieder noch ein einsames Segel auftauchte, das langsam, wie es kam, verschwand. – Auf dem Wasser lag tiefe Stille, die das gleichmäßige Stampfen des Dampfers nur mehr noch hervortreten ließ. Keine Unterhaltung wollte heute mehr zwischen uns beiden gedeihen, und so saßen wir schweigend fast während der ganzen Fahrt.
Noch einmal ward westlich Land sichtbar. Es war die südöstliche Küste Rügens, die sich auf dem violetten Hintergrund des Himmels von der Südspitze der Halbinsel Zudar bis zu den meerumflossenen Wäldern der Insel Vilm dehnte. Aber bald war auch dieser Landgruß wie eine Fata Morgana in Duft zerflossen. Weiter und weiter flogen wir, bis wir auf der Höhe von Thissow hinaus gelangten auf das offene Meer!
Nun lagen Festland und Inseln hinter uns in verschwimmender Ferne und wir hatten vor uns und um uns nichts als Wasser an Wässern und immer wieder Gewässer ...
Die Dämmerung war eingebrochen und stiller wards an Bord und stiller. War es der einschläfernde Rhythmus der anschlagenden Wogen, der so beschwichtigend wirkte? Wars die Majestät der Unendlichkeit, die den Sinn zu Andacht und Bewunderung erhob? Alles war ernst und stumm um uns geworden. Eine auf den kleinsten Punkt zusammengedrängte Menge von Menschen in der schweigenden Unendlichkeit des Todes! Und doch – ein lebendes Wesen außer uns schwebte hoch zu unsern Häuptern. Es war ein Vogel. Wohl ein verspäteter Wandervogel, der in Sehnsucht zum fernen Neste in der Heimat strebte.
Längst war im Westen der Sonnenball hinabgetaucht in die blaue Tiefe. Herniedergesunken war die sternenklare Nacht, und über weißem Gewölk im Süden segelte das silberne Schiff der Nacht. – Die blasse Frau an meiner Seite hatte sich erhoben und starrte gedankenverloren hinunter in die geheimnisvolle Flut, die, vom scharfen Kiel des Schiffes zerschnitten, zu beiden Seiten auseinandersprühte wie blitzendes Geschmeide.
Mir kam eine alte Sage und ein altes Wort in den Sinn, und indem ich meine Hand leise auf ihren Arm legte, neigte ich mich zu dem Zauber des goldenen Blondhaares herab und fand einen Klang für das, was durch meine Seele ging.
Wo der Menschheit Weise einst entschlief –
Willst du dem Liede der Wogen lauschen,
Die von versunkner Meerstadt tief,
Von Vineta raunen und rauschen ...?
Sie bewegte das schwermütige, schöne Haupt, ohne dabei aufzusehen, und ein gepreßter Seufzer entrang sich ihr aus tiefster Brust. – Nach einer Weile begann ich wieder: Wie wunderbar ist diese Welt doch eingerichtet. Da kreisen über uns die einsamen Sterne in ihren ewigen Bahnen, und kommt es einmal, daß verwandte Gestirne einander begegnen, dann ist es nur der Traum einer Nacht – ein ahnungsvolles, wehmütiges Grüßen – und sie fliehen weiter – fliehen weiter – und für immer auseinander ...
Lange sah sie mich an, dann sagte sie leise: Glauben Sie mir, lieber Freund, es ist besser, zwei Sterne fliehen einander, als – als daß sie – – sie stockte und brach ab.
Ich ergriff ihre Hand.
Sie entzog sich mir. Ich will sagen, fuhr sie errötend fort, indem ihre Augen in wunderbarem Glanz aufleuchteten, vielleicht ist es gerade das reinste und tiefste Glück, das uns armen, sehnsüchtigen Menschenkindern naht wie ein unbegreiflicher und unfaßbar schöner Traum, und das uns beschenkt mit einem unvergänglichen Abglanz – der unauslöschlichen Erinnerung. –
Sie lehnte sich schweigend an Bord und blickte hinaus in die weiße Nacht. – – –
Ein rauhes Kommandowort schreckte mich aus meinem Sinnen. Vor uns lag Land. An der äußersten Spitze der vor uns aufgeschlossenen waldumkränzten Meeresbucht schimmerte im Mondlicht, als hätten es Zauberhände aus dem Kasten aufgebaut, das glänzende, bis zu den Wipfeln der hohen Stubnitz in Terrassen aufgetürmte Saßnitz. Und vor uns winkte unser Ziel, das friedliche Binz.
Der Anker rasselte nieder; das Boot nahm uns auf und so landeten wir.
Bis zu unserer Klause war noch etwa eine Stunde zu gehen. Der Weg führte mitten durch den Wald. Ich hatte ihr meinen Arm gereicht und so schritten wir schweigend nebeneinander her.
Dunkler ward es um uns und dunkler.
Ach, wären wir erst heraus aus dieser schwülen Finsternis! kam es einmal angstvoll von ihren Lippen und sie schmiegte sich furchtsam an meine Seite. Mir war es, als fühlt' ich ihr bangendes Blut überströmen in alle meine Adern, und ihr heißer Atem wehte erschauernd an meiner Wange.
Es flirrte vor meinen Sinnen – das wilde Geißblatt hauchte seinen berauschenden Duft in die laue Sommernacht – ich fühlte den Strudel der uferlosen Leidenschaft unrettbar mich erfassen – und, alles vergessend, meiner Seele nicht mehr mächtig, schlang ich die Arme um die geliebte Gestalt, und preßte sie an mich, und in einem langen, langen Kusse flammte auf ihren Lippen das Siegel unserer Sünde ...
... Da schlossen sich die schönen Augen, da sank das blonde Haupt zurück und sank an meine Brust ...
Wie lange wir so gestanden, weiß ich nicht. Es können wohl nur Augenblicke gewesen sein, aber sie drängten in mir zusammen das grenzenlose Glück einer Ewigkeit.
Da trat etwas ein, ein Ereignis so klein und unbedeutend, und doch wie eine Stimme der Vorsehung zwei Menschen vor dem Abgrund warnend, der sich jäh vor ihnen aufgetan hatte. Es war nur der schlichte, fast kunstlose Ton einer Flöte, der aus weiter Meeresferne zu uns herüberdrang. Vielleicht aus der Granitz ein junges Fischerblut, das draußen auf dem stillen Wasser der blondgezopften Liebsten gedachte. – Aber die Weise! Wir kannten sie beide recht gut!
»Steh' ich in finstrer Mitternacht
So einsam auf der stillen Wacht,
So denk' ich an mein fernes Lieb,
Ob mirs auch treu und hold verblieb.«
Es sei mir erspart zu schildern, was in diesen Augenblicken in meinem Innern vor sich ging und sichtbar im Gemüt der Gattin meines Freundes. Nur soviel will ich sagen, daß jenes alte Lied wie ein Blitz in unsere Seelen schlug und daß ich mir damals vorkam wie der elendeste Mensch in dieser Welt!
Noch heute steht es vor meinen Augen, das zitternde, totenblasse Weib, wie es entgeistert hinauslauschte in die Nacht und wie ihre Lippen zuckten und murmelten:
»Jetzt bei der Lampe mildem Schein
Gehst du wohl in dein Kämmerlein,
Und schickst dein Nachtgebet zum Herrn
Auch für den Liebsten in der Fern'!« –
Kein Wort ist mehr an diesem Abend zwischen uns beiden gefallen. Ein einziger, langer Blick – das war alles. Dann sind wir nebeneinander stumm nach Haus gegangen.
Ich konnte keine Ruhe finden, und es war längst nach Mitternacht, als es mich noch hinuntertrieb in den Garten. An ihrem Schlafzimmer mußte ich vorüber. Das Fenster war nur leis angelehnt, und da hört' ich ein Weinen, ein Schluchzen, so schmerzzerrissen und erbarmend, daß es mir ins Herz ging. Nie wieder in meinem Leben haben mir Menschentränen so wehe getan, wie diese in jener unvergessenen Nacht.
Am andern Morgen suchte ich sie auf und sagte ihr, daß es vielleicht ihrem Wunsche entspräche, wenn ich mich um einen andern ärztlichen Vertreter für ihren Gatten bemühen würde. Mit ihrer ruhigen, ernsten Stimme bat sie mich aber, daß ich von diesem Vorhaben abstehen möchte. Da ein äußerer zwingender Grund für einen solchen Schritt nicht vorliege, so müsse das ihrem Manne auffallen, und sie wünsche ihm die Kenntnis von jenem Vorkommnis zu ersparen.
Das ist das einzige Mal gewesen, daß wir des Vorfalls jener Nacht Erwähnung getan. Ohne uns zu meiden, aber auch ohne Begegnung zu suchen, bemühten wir uns, die wenigen Tage bis zu Roberts Rückkehr in unserm Verkehre den unbefangenen, freundschaftlichen Ton von ehedem zu finden.
Nach acht Tagen kam ihr Mann. Ich sah von meinem Zimmer aus, wie sie ihm durch den Garten entgegeneilte und die Arme um seinen Nacken schlang und weinend vor Freude seinen Mund mit Küssen bedeckte. Und ich sah es auch und hörte es mit an, wie Robert, ganz beglückt von diesem Empfang, vielleicht auch gewandelt durch die lange Trennungszeit, alle Innigkeit seiner Frau ebenso zärtlich erwiderte, und wie sich sein herzenswarmes ruhiges Wesen aus der rauhen Hülle löste und sich in einer Weise ausgab, daß ich ihn kaum wiedererkannte.
Am nächsten Tage reiste ich ab. Ich nahm die Überzeugung mit mir, daß an meiner Statt unter das Dach jenes stillen Waldhauses ein besserer Freund eingekehrt war – der Friede und das Glück.
* * *
Ich sterbe unvermählt. Aber ich bin ruhig geworden und zufrieden. Und ich kann sagen, heute bin ich versöhnt mit meinem Schicksal und preise es als ein Glück, daß alles so gekommen ist, wie es damals kam.
Nur noch einmal habe ich die Freunde in dem waldumrauschten Hause der Granitz wiedergesehen. Das war um Jahre später. Ich fand alles, wie ichs erwartet hatte. Und als ich mich verabschiedete und noch Frau Käthe allein mich bis zur weinumsponnenen Gartenpforte brachte, da fragte ich sie leise: Nicht wahr, liebe Freundin, ich darf Sie glücklich wissen?
Sie zögerte einen Augenblick, als ob sie sich scheue, ihr Glück so preiszugeben. Dann aber ergriff sie meine Hand und sagte: Ja, Herr Doktor, wir sind glückliche Menschen. Gefunden haben wir das Glück in einer wahrhaftigen Ehe, und Sie, lieber Freund – hier lächelte sie – sind der Stifter unserer Ehe!
* * *
... Meine Vorleserin hatte mich verlassen, und wohl lange schon war die Träne getrocknet, die ich beim Abschied in ihrem Auge hatte schimmern sehen! Ich aber mußte noch immer des einsamen, alten Mannes gedenken, der da drüben im Väterstuhle des stillen Gemachs so friedselig schlief ... Und dann auch, an die gelben Blätter mußt' ich denken, die ihm nun wieder in der losen Hand so leicht auf dem Schoße ruhten, und an die rote, vertrocknete Rose darin, und das blaßblaue Vergißmeinnicht, die von längstverklungenen Stunden träumten und von dem stillen Waldhause in der Granitz ...
Jugendträume, Jugendschäume,
Längst zerronnen und verweht –
Manchmal will ein Glanz erwachen,
Flackernd, eh' das Licht vergeht!
Nächte dunkeln, Meere funkeln
Heute noch und immerdar;
Alte Lieder klingen wieder ...
Brunnen rauschen wunderbar.
Und in stille Wehmuttränen
Löst sich unbegreiflich tief,
Tief im Innern – ein Erinnern,
Das wie lange – lange schlief! ...