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O schöne Sphinx! O löse mir
Das Rätsel, das wunderbare!
Ich hab' darüber nachgedacht
Schon manche tausend Jahre.
Heine.
In den folgenden Nächten lag ich krank in meinem Stübchen. Die Aufregungen in der Brandnacht hatten mir ein hitziges Fieber hinterlassen. Ich hoffte immer, die Liebe würde zu mir kommen und mich pflegen, aber sie blieb fern. – Nun saß die Sehnsucht auf meinem Bettrand und suchte mir mit Märchen und holden Phantasien den Zug der Stunden zu verkürzen. Allein, ich war so müde, daß ich heute gar nichts hören mochte, und bald schlief ich ein.
Da hatte ich einen seltsamen, sehr lebhaften Traum. Ich bildete mir ein, ich ginge auf den Bahnhof hinaus und stiege in ein Abteil des Zuges ein, der gerade zur Abfahrt bereit stand. Ein vornehmer Herr und eine junge Dame, anscheinend ein neuvermähltes Paar, das ich schon irgendwo einmal als Brautleute gesehen haben mochte, hatten bereits darin Platz genommen. Die Eltern der Braut waren mitgekommen und nahmen von ihrem Kinde rührenden Abschied. Da ertönte ein schriller Pfiff – ein letztes Lebewohl – und der Zug rollte hinaus. – Hinaus in unbekannte Fernen! –
Bald war ich –– so schien es mir im Traume – der Mitreisende des Paares, bald saß ich in einem Nebenabteil und beobachtete die beiden Leute durch einen kleinen Spalt in der Scheidewand – bald wieder war ich der Schaffner, der draußen in der Sonnenglut auf dem schmalen Gangbrett entlang der Wagenreihe auf und ab wandelte und durch die offenen Fenster, bis in der Menschen tiefstes Herz hinein, alles sehen und betrachten konnte.
... »Endlich allein – allein zum ersten Male!« so sagte er zu ihr, und dabei versuchte er leise den Arm um sie zu legen. Sie aber entzog sich ihm. Und als er schmeichelnd, halb auch vorwurfsvoll ihr zuflüsterte: »Wie, mein Glück will sich mir entziehen?« da glitt es um ihren Mund fast wie ein Lächeln. Doch es war nicht das glückliche Lächeln einer Braut, es war ein eigentümliches Lächeln. Ein unsagbarer Schmerz lag darin, und doch auch wieder ein gewisser herber, ja fast harter, verbitterter Zug. War es vielleicht bittere Selbstbelächelung? Warum waren sie auch heute, an ihrem Hochzeitstage, zum erstenmal allein? Kannten sie sich denn überhaupt? Waren sie sich nicht gegenseitig halb und halb noch Fremde? Merkwürdig! Und nun war sie seine Frau, sie, das jungfräulich stolze und freie Geschöpf Gottes, dem halbfremden Manne »eigen«, war – sein! ... Ein Schauer durchrieselte ihren Körper. Er bemerkte es. »Soll ich das Fenster schließen, Liebe? du fröstelst!« – »Nein, ich danke dir, es ist ja so glühend, so furchtbar glühend!« Er fragte sie noch etwas, sie gab ihm aber keine Antwort und so schwiegen sie beide ... Durch das offene Fenster quoll erstickend, sinnbetäubend, in glühenden Strömen die von Sommerblumenduft getränkte Abendluft. Die junge Frau atmete tief – es rang sich aus ihrer Brust schwer wie ein Seufzer. Sehnte sich ihr Herz nach Liebe? Abermals versuchte der Mann an ihrer Seite, wie teilnehmend, sich ihr zu nähern, aber sie schauderte zurück – und beide schwiegen.
... Der Zug brauste an Städten und Dörfern, Wiesen und Wäldern vorüber, und das melancholische Rollen und Schlagen der Räder begann auf das junge Weib anscheinend jene geheimnisvolle narkotische Wirkung zu üben, wie sie eintönigen Geräuschen so eigentümlich ist ... Sie träumte. Wo mochte ihr Geist wohl schweben? – Ach, so weit, so weit von hier! ... Ein blutjunges Wesen war sie damals, süß und unschuldig wie die thaufrische Waldknospe, die sich vor der Nacht und den goldenen Sternen schämt. – Da kam ein purpurglühender Morgen, und auf den goldgewebten Fittichen dieses Morgens kam zu ihren Lippen frühlingstrunken ein schöner, prangender Schmetterling geflattert; der trank die Thauperlen von ihren Wimpern und küßte die Unschuld von ihren Lippen. Niemand wußt es als der liebe Gott im Himmel, und im tiefen, wilden Fliederbusche ein nistend Finkenpärchen, und das plauderte auch nichts aus. Die kleinen Waldsänger waren ja ihre trauten Freunde und wußten selber recht gut, was heimliche Liebe heißt! Die kalten, engherzigen Menschen hätten auch von ihrem jungen Liebesglück nichts wissen mögen. Wer war er denn? woher kam er? was wollte er? Ein junger Flattergeist ohne Geld und Gnade! Ein fahrender Gesell aus Genieland, ein schäumend Künstlerblut, Maler, der mit Pinsel und Palette haus- und heimatlos die halbe Welt durchstreifte und lebte und liebte, unbekümmert um den kommenden Tag, und malte, wie es just begegnete. Ein liederfroher, echter, rechter Wandervogel – blutarm wie eine Kirchmaus, leichtherzig wie der sorglose Falter auf der Wiesenblume, und dabei ein Gemüt wie lauteres, weiches Gold! Aber sonst auch nichts mehr in der Welt! – Sie kannten die feindseligen, harten Menschen, und weil sie die Menschen so gut kannten, liebten und küßten sie sich, ohne sich dazu erst ein besonderes, gnädiges Privilegium von ihnen auszubitten. Freilich – Glück und Glas, wie bald bricht das! Eines trüben Tages ward alles grausam ans Licht gebracht und sie sollten sich trennen. Da sprach er zu ihr: »Komm, mein treuer Schatz, laß Hab' und Heimat fahren, folg deinem Liebsten und flieg hinaus mit ihm in die weite, weite Welt. Gott wird uns nicht verderben lassen!« Sie aber schüttelte mit dem Kopf und weinte. Und als er immer und immer wieder so inständig bot und sie ihm weigerte, da schließlich ward er traurig, zog einen Reif von seinem Finger, gab ihr den zum Angedenken und zog hinaus in die Welt – einsam wie er gekommen war. »Auf Wiedersehen« hatte er gesagt – »auf Wiedersehn über drei Sommer, wenn die Finken wieder schlagen und der Flieder blüht.« Wenn er Ruhm und Gold gewonnen, dann wollte er kommen und sein Kleinod holen.
... Drei Winter gingen und drei Sommer kamen, und der Flieder blühte und die Finken schlugen, so süß wie damals, aber – ein Sommervogel war nicht heimgekehrt! Und als statt seiner bald ein anderer sich einstellte, ein glänzender Goldvogel, und als alle auf sie einstürmten und drängten, da – sagte sie endlich »Ja«. War er nicht auch treulos? Oder – doch krank, elend – tot? ... Nun war sie – »glückliche Braut«! Und heute ihre Fahrt, war die Fahrt nach dem Glücke – und das erste Ziel dieser Fahrt – warum krampft sich plötzlich die kleine Hand zusammen und zerdrückt die armen Veilchen neben ihr –?! ...
... Sie öffnete die Augen. Der Mann an ihrer Seite las. Es war der vielbegehrte Roman eines berühmten russischen Dichters. Zwei oder drei Stationen zuvor hatte ihn ein Zeitungsverkäufer mit ausgeboten. Und er hatte ihn gekauft, natürlich, weil er nichts Besseres tun konnte. Er las. Und um seinen Mund zuckte es spöttisch, fast frivol. Sie verstand ihn nicht, und sie kannte nicht die Kreutzersonate, aber – sie wußte nicht warum – sie empfand plötzlich Furcht vor ihm, fast Grauen.
Doch hatte sie keine Zeit mehr, nachzugrübeln. Ein gellender Pfiff – schrilles Läuten einer Bahnhofsglocke – sie sind am Ziel! Auf dem Bahnhofe hat sich trotz der vorgerückten Nachtstunde zur Begrüßung – o wie lieb! – seine kopfreiche Familie eingefunden: Schwestern, Tanten und eine ehrwürdige Matrone, die wahrscheinlich seine Mutter ist. »Ach, mein Gott! lauter fremde Gesichter!« Aber das blasse Weib bleibt stark. Es zerdrückt die vorlaute Träne, würgt die treulose Schwäche hinunter – hinunter in das Grab, wo die Vergangenheit schläft, und – nimmt seinen Arm. Die alte Frau hatte ihre Bewegung gleich bemerkt. »Ach, wie glücklich ist das liebe Kind! Und wie sie zusammenpassen!« – Und wie sie beide zu ihrem Wagen schreiten, drängen sich alle an sie heran, reichen ihr alle die Hand und beglückwünschen sie. Und sie nickt allen zu und bedankt sich bei allen. Und als sie schon im Wagen neben ihm sitzt und die freundliche Matrone nochmals herantritt und gütig lächelnd, voll mütterlichen Stolzes, ihr zuflüstert: »Du bist wohl sehr beglückt, meine Tochter?!« da neigt sie nur das schöne Haupt und verzieht den Mund, als müßte sie mitlächeln. Darf sie denn nicht glücklich sein und lächeln? Hat sie nicht das Ziel ihrer heimlichen Mädchenwünsche erreicht? Leidet sie einen Mangel? Ist sie nicht mit irdischen Gütern überschüttet?! – Ja, sie lächelt, aber vor Weh in tiefer Brust krampft sich dabei das kleine zuckende Herz zusammen, als wollt' es brechen. – Der Wagen rollt fort – an Häusern und Gärten vorüber – weiter – weiter – auf der Fahrt nach dem Glück! ...
Wie schön ist diese Nacht! Über den hohen Pappeln winkt der blasse Freund der Liebenden und wirft sein unwillkommen silbernes Licht auf ihr erglühend Angesicht. Oh, wie duftet dieser Jasmin – wie berauschend weht dieser Lindenblütenduft – wie balsamisch schmeichelt diese laue Nachtluft um die fiebernden Wangen – und dann – dieses funkelnde, zärtliche, sinnverwirrende Schwirren – und drüben im Park die berückende Nachtigall – dieser ganze traumhafte Sommernachtszauber – oh, es ist als schlügen bräutlich alle tausend Pulse der Natur! ... Und jetzt beugt sich der schöne Mann an ihrer Seite zu ihrem Mund herab – leise, leise – und legt den Arm um ihren Körper – und zieht ihr Haupt an seine Brust ... Und sie schließt die Augen – und sie schweigt – und läßt es geschehen ... Sie lächelt nicht mehr – so wehmütig herb – sie denkt nur, denkt ... ob sie wohl an den Schmetterling dachte – an den Fliederbusch – an den armen, ausgebliebenen Sommervogel?!
* * *
... Die Stimme in mir schwieg und ich erwachte. – War es aus einem Traume? ... Ich fühlte, wie mich mein fiebernd Haupt schmerzte, und als ich mich aufrichtete auf meinem Lager, sah ich, daß ich allein war ... Ich sann und sann, und wie mein Auge hinüberschweifte über die schlafenden Dächer, da kam es leise über meine Lippen: Oh, ihr armen, betörten Menschen da unten, die ihr mit verbundenen Sinnen durchs kalte Leben wandelt, die ihr euch selbst verkauft, Leib und Seelen, euch selber bestehlet, deren ganzes armes Dasein nichts ist, als ein friedloses Hasten nach Gold und Ehren, und die ihr darüber das einzige Glück vergesset, das wahrhaft, ewig, göttlich ist – die unsterbliche Liebe! ...