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In der folgenden Nacht besuchte mich der Gram. Er winkte mir, ohne ein Wort zu sagen, und ich folgte ihm hinunter auf die Gasse. Es war ein naßkalter Abend, trübe flackerten die Gasflammen im Novembernebel, und die feuchte Stickluft in den engen, quetschenden Häuserreihen legte sich wie Albdruck auf meine Brust. Fast eine Stunde lang mußten wir uns durch ein Gewirr von Gassen und Gäßchen schlagen. – Wir befanden uns im Herzen der Weltstadt. Wenigstens war es inmitten des großen Häusermeeres das älteste Viertel, und die verräucherten Baracken mit ihren engbrüstigen, schiefen Giebeln trugen den Stempel der Altersschwäche deutlich an der Stirn. Aber das Blut des Lebens schien in diesen brüchigen Adern, abseits der großen Flutwege des weltstädtischen Verkehrs, nur träge zu sickern. Hier und da verfallene, fragwürdige Gestalten, die zerlumpt und scheu an uns vorüberschlichen.
Vor dem hohen, schmalen Hause einer ganz menschenleeren Sackgasse blieb der Gram stehen. Wir schritten durch die Einfahrt, deren Finsternis eine flackernde Petroleumlampe nur greller hervortreten ließ, und durch einen engen, schmutzigen Hof. Dann ging es treppab hinunter.
An der Tür einer Kellerwohnung klopfte der Gram an. Aber es erfolgte kein »Herein!« Und so traten wir ungebeten in den niederen Raum.
Eine Moderluft quoll uns entgegen – kalt und feucht. Vier leere Wände – weniges armseliges Gerät inmitten – drüben ein Kinderbett – und auf dem nackten Strohsack des Bettgestells in der Ecke, nur von einer wollenen Decke geschützt: ein krankes Weib.
Daneben kniete ein Mädchen, ein kleines verwahrlostes Geschöpf – kaum vier Jahre alt – und kaute an einer Brotrinde.
»Iß doch auch, liebes Mutterchen, iß! Das Mariannchen hat mirs ja von ihrem Abendbrot gegeben!«
»Laß sein, Kind – iß nur selber!« Und über das abgezehrte Gesicht glitt ein Lächeln, und die dürre Hand streichelte dem kleinen Kobold über das braune, zottige Haar.
Aber die Kleine ließ sich nicht beirren. Mit weinerlicher Stimme bat sie immer wieder:
»Ach, Mütterchen, komm doch und iß!«
Die Kranke wendete seufzend das Haupt: »Quäl' mich nicht, Kind – ich hab' ja keinen Hunger.« –
Ich sah es, daß sie log. Und der Gram wußte es: sie hatte vier Tage lang so gut wie nichts mehr gegessen. Einmal eine vertrocknete Brotrinde, die ihr das Kind gebracht hatte – das war alles gewesen.
Ich griff in meine Tasche, um ihr die paar elenden Groschen zu geben, die ich bei mir hatte. Aber der Gram schüttelte das ernste Haupt und flüsterte: »Willst du an seinem Werk den Tod stören? – Es ist zu spät ...«
* * *
Es war in derselben Nacht in einer anderen Gasse. Aus einer zweifelhaften Spelunke scholl uns Lärm und Gesang entgegen. Der Gram sah mich an und wir traten ein.
Ein widerwärtiger Brodem aus Tabaksqualm, Branntweindunst und dicker, verbrauchter Luft erfüllte die längliche, nicht sehr breite Stube. An den viereckigen groben Tischen saßen Fuhrleute mit Peitsche und Lederschurz, Arbeiter in ihrem Werktagskittel, bemützte Dienstmänner, Droschkenkutscher, Kohlenträger, und als die Parias unter ihnen, ein paar Lumpensammler und Hausierer: alle in lustiger Kumpanei vor Branntwein und Brot. Später fanden sich noch einige Gestalten dazu, die wenig Vertrauen erweckten, und deren Gewerb nicht zu erkennen war.
Aus irgendeinem Winkel des Zimmers erklang Gesang und Zitherspiel. Allein, der Qualm war so abscheulich, daß dem Auge auf zehn, zwölf Schritte alles darin unterging. Erst nachdem es sich an die ekle Atmosphäre gewöhnt hatte, erblickten wir an der hinteren Wand die niedre Bühne, auf der etliche junge Frauenzimmer und Burschen für Geld und freundliche Worte ihre lustigen Lieder zum besten gaben.
Eines der Mädchen fiel mir auf durch sein ausdrucksvolles Auge und einen für seine Jugend befremdlich ernsten Zug, der bisweilen herb um ihre Lippen spielte. Sie war ziemlich hübsch, aber die schmalen, verhärmten Wangen fälschte rote Schminke. Daß die Kunst der kleinen Sängerin, vielleicht auch ihre zierliche Person ihre Verehrer fand, das zeigten die Rosen, die in ihrem Gürtel welkten und im dunklen Haare.
Immer und immer wieder lenkte ein unerklärlicher Zwang meine Blicke nach den traurigen Augen hin, die in so seltsamem Widerspruch schimmerten zu dem lachenden, liederfrohen Munde. Aber es war unverkennbar, daß das Herz dieser Kleinen von dem, was ihre Lippen taten, nicht viel wußte und noch weniger verstand. Man sah es ja, wie das arme bißchen Gesang sie förmlich in der Kehle würgte, wie es den schönen, schlanken Hals fast erstickte. Und einmal glaubte ich zu bemerken, – es war bei einer so lustigen Stelle! – wie über die falschen Rosen ihrer Wange gar eine verstohlene Träne rann ...
Und wie sie alle lachten, und wie sie alle Beifall klatschten, und wie sie ihr zutranken und Kußhändchen warfen – ach, es mußte wohl eine Freude sein für die Kleine! – –
Es war schon spät, als der Wirt zum Aufbruch mahnte. – Jenes Mädchen, das man in der ganzen Nachbarschaft als die »Königin der Spelunke« kannte, und das auch einen Stolz und einen Gang hatte wie eine Königin, erhob sich zu allererst, und wir folgten ihr. An der nächsten Ecke blieb sie stehen und überzählte beim Scheine einer Gaslaterne den Ertrag ihrer Lustigkeit. Ich sah, wie die schmalen, blassen Lippen zuckten und etwas murmelten, das ich nicht verstand. Ich trat einen Schritt näher und lauschte.
»Das langt ja kaum zur Arznei!« seufzte sie. »Und Holz und Brot – ach, Gott!«
Sie ließ den Kopf hängen und ging, den gekrümmten Finger sinnend an den Mund legend, ganz langsam weiter, als ob sie über einem schweren Gedanken brüte. Plötzlich richtete sie sich auf, sah sich scheu um, daß ich im flackernden Gasschein ihr blitzend Auge schaute, und bog dann mit schnellem, entschlossenem Schritt in eine Seitenstraße.
Wir folgten ihr und ließen sie nicht aus dem Auge. Immer belebter wurde unser Weg, und zuletzt kamen wir in eine vornehme, des Nachts aber verrufene Hauptstraße. Hier mäßigte sie ihre Schritte ...
Es dauerte nicht lange, da hatte sie einen Begleiter an ihrer Seite, mit dem sie in dem nächtlichen Gewühl der Weltstadt bald verschwand. – – –
Wir suchten sie noch eine Weile, und als wir sie nicht wiederfanden, winkte mir der Gram, und wir gingen auf anderen Wegen langsam zurück.
Inzwischen hatte sich der weiße Nebel zerteilt, ein kalter Wind fegte durch die Gassen, und durch das Nachtgewölk war das Licht des Mondes gebrochen und leuchtete. Endlich standen wir wieder vor der Einfahrt an dem düsteren Hofe, in dessen Keller wir vor einigen Stunden die kranke Frau gefunden hatten. Aber das eiserne Tor war nun verschlossen.
Der Gram, dem sich alle Türen öffnen, an die er noch so leise pocht, hatte bereits seine Hand an das Schloß gelegt, als am Eingang der verödeten Gasse eine weibliche Gestalt auftauchte, die sich rasch näherte. – Wir erkannten sie wieder – es war jenes Mädchen aus der Spelunke! Ihr Gesicht schien verstört, und ohne uns zu beachten, schritt sie hastig an uns vorüber und drängte sich durch die wenig geöffnete Tür, die sie nicht wieder verschloß.
Wir folgten. Durch den Hof und die dunkle Treppe hinunter in den Keller.
Noch hatten wir nicht die unterste Stufe erreicht, als ein gellender Schrei mir Mark und Bein durchdrang. Ich ahnte den Zusammenhang von allem, und als ich an der Hand des Grames eintrat in den glückverlassenen, dumpfen Raum, da lag die geschminkte kleine Königin der Spelunke regungslos vor meinen Füßen, und vor meiner Seele sah ich enträtselt die Tragödie eines Menschenlebens ... Zu spät! Und alles um das Nichts! –
Durch das vergitterte kleine Fenster in der Giebelmauer quoll das Mondlicht herein und floß über das weiße, geisterhafte Antlitz einer Toten – der toten Mutter! Und auf dem Leib der Gestorbenen, da hockte in seinem Hemdchen – das Kind der Mutter! Es war erwacht in seinem Bettchen, und wie ihm sein Mütterchen nicht geantwortet, da hatte es die Angst herausgetrieben, da war es hinaufgeklettert auf das armselige Lager und auf den Leib der stummen Mutter. Und da weinte es nun bitterlich und hockte, die Füßchen herangezogen und mit den Händchen das liebe gestorbene Gesicht streichelnd, wie ein Hund auf seinem toten Herrn ...
Da verhüllte der Gram sein Haupt, und wir wandten uns ab und gingen. –
* * *
Am andern Morgen hat man die kleine Spelunkenkönigin mit ihrem Schwesterchen tot aus dem Fluß gefischt. Und am Abend stand in der Zeitung zu lesen: »Heute morgen hat sich ein geputztes Frauenzimmer, anscheinend eine Dirne, mit einem kleinen Mädchen in den Fluß gestürzt. Die Mörderin und ihr Opfer sind bereits gefunden.« – –
Kreuziget! ...
Eine Legende.
Ein gutes Kind war Goldkathrein.
Den lieben Tag von früh bis späte,
Da lernt' und half die kleine Käthe
Daheim dem trauten Mütterlein.
Die arme Witwe mußte leiden
An langer Krankheit schwerer Not;
Auch fehlt' es oft am nackten Brot
Im dumpfen Kämmerlein den beiden.
Es war zur harten Winterszeit,
Der Ostwind pfiff um Dach und Sparren
Und ließ die Kleine frierend starren
Im einzigen dünnen Sommerkleid.
Im Bette stöhnend lag die Mutter –
Und wiederum im Haus kein Brot! ...
»Hilf, lieber Gott, doch unsrer Not!
Du giebst den Tieren draußen Futter –
Und hungern soll mein Mütterlein?
Die Dich so lieb hat und mich lehrte,
Daß ich ein frommes Mädchen werde?
Ach, lieber Gott, komm doch herein
Und sitz an unserm Bette nieder
Und speis mein armes Mütterlein!
Ich will auch stets recht folgsam sein
Und niemals Dich betrüben wieder!«
So sprach das gute, liebe Kind
Und meint' in Einfalt, daß, ein Wunder,
Vom Himmel käme Gott herunter,
Und war in seinem Glauben blind.
Doch Gott kam nicht zur armen Kammer,
Und keine Seele brachte Brot!
Da wuchs darin die bittre Not,
Da wand sich drin der wilde Jammer! –
Kathrinchen schlich sich weinend fort
Und wollt' ein Brötlein auf der Gassen
Erbetteln sich. Sie stand im Nassen
Drei Stunden schon am selben Ort –
Und hielt erst
einen Pfennig,
einen!
Da trug sie diesen Pfennig fort,
Als wärs ein unschätzbarer Hort
Und Bergeslast den müden Beinen.
Wie sie daheim den Hof betritt,
Steht in dem Torweg, frei und eben,
Ein Bäckerkorb – ein Hund daneben.
Da hemmt Kathrein den schwachen Schritt.
Und Sehnsucht spricht aus ihren Blicken
Mit feuchter Glut. »Das viele Brot!
Ach Gott, nur
eins für unsre Not!
Nur eins, die
Mutter zu erquicken!«
Scheu blickt sie um – kein Mensch ist nah –
Das Hündlein wird es wohl verhehlen –
Doch spricht nicht Gott: »Du sollst nicht stehlen!«? ...
Sie wußte nicht, wie ihr geschah ...
Bang klopft ihr Herz – Gott wird mich strafen! –
Sie starrt – sie sieht das Kämmerlein,
Und drin ihr blasses Mütterlein, –
Das kann vor Not und Gram nicht schlafen! –
Da streckt sich aus die magre Hand –
Da ist die Sünde schon geschehen –
Die Welt will um das Kind sich drehen ...
Dann ist es schnell davon gerannt ...
Die kleine Diebin ward gesehen. –
Der Mutter brach das wehe Herz,
Als ihres Lebens Lust und Schmerz,
Ihr Kind, mußt' vor dem Richter stehen!
Der war ein harter, finstrer Mann
Und maß das Urteil voller Strenge:
»Hör, was ich über dich verhänge,
Damit ich dir noch helfen kann,
Und du nicht untergehst auf Erden:
Drei Tage Haft, die büßt du aus;
Dann gehst du in das Beßrungshaus,
Dort wirst du lernen, brav zu werden!«
Im Beßrungshaus, das liebe Kind!
Eh's noch die Schlechten drin verdorben –
Zu seinem Heil wars bald gestorben,
Verweht vom ersten Frühlingswind.
Ein Engel sank aus seligen Fernen,
Und über Strom und Turm und Tor,
Durch Nacht und Glanz trug er empor
Das arme Kind zu goldnen Sternen.
Nun stand es scheu vor Gottes Thron.
Da hört es
Eine Stimme fragen:
»Mußt du vor deinem Herrn verzagen?
Ist Gott nicht Vater, Geist und Sohn?!«
Das Kind, geblendet von dem Scheine,
Fromm faltet es die Hand zur Hand,
Und knieend spricht es hingebannt
Mit leisen Worten nur das
eine:
»Ach, lieber Gott, ich bin Kathrein,
Nun weißt Du's, was mich läßt erbangen –
Ich habe schwere Sünd begangen,
Dort, für mein teures Mütterlein!«
Da winkte Gott das Kind heran:
»Du sollst mein Angesicht nicht fliehen –
Ein Herz, das also lieben kann –
Komm, liebes Kind! – Dem ist verziehen!«
* * *
Längst stand Kathrein am sel'gen Ziel
Und Jahre waren hingeschwunden,
Als sich's begab auf Erden drunten,
Daß jäh in schwere Krankheit fiel
Der Richter, der das Kind einst strafte.
Zwar er genas, doch nur ein Jahr
Gab ihm der Arzt noch: »Nehmt es wahr,
Ihr zehrt vom letzten Lebenssafte!«
Da fiel dem Mann die Angst aufs Herz
Und in das mahnende Gewissen.
Ihm wars kein sanftes Ruhekissen,
Dem fremd war jeder Erdenschmerz!
Er, der nicht kannte das Erbarmen,
Der zehnmal jeden Pfennig wand
In seiner dürren Knochenhand,
Kein Krümlein freudig gab den Armen –
Der war verwandelt über Nacht,
Der streute Gold mit vollen Händen,
Und wo es galt ein Leid zu wenden –
Kein Opfer, das er nicht gebracht!
Doch, ach! Das alles half ihm wenig!
Es kam des letzten Stündleins Not,
Da stand vor ihm der bleiche Tod,
Da winkte ihm der düstre König!
Der Richter bat. Der Tod blieb taub,
Blieb blind für alle Goldeshaufen.
Er sprach: »Du willst den Tod erkaufen?! –
Komm mit mir, Mensch! Denn du bist Staub!« ...
Zur selben Nacht, zu selber Stunde
Stand jener Mann vor Gottes Thron.
Mit Zittern, Zagen liest er schon
Sein Urteil ab von Gottes Munde –
Als er Kathrein im Glanz gewahrt,
Das Mägdlein, das sich einst vergangen.
»Wenn die hier Gnade hat empfangen,
Wird dem Gerechten frohe Fahrt!«
So denkt er, und mit kecken Schritten,
Befreit von aller Ängste Bann,
Tritt näher er zu Gott heran,
Und steht im Engleinkranz inmitten.
Gott schaut ihn an und Er spricht streng:
»Auf deines Lebens stumme Klagen,
Was dir zugunsten kannst du sagen –?
Die Gnadenpforte hier ist eng!«
»O Herr! Gieb Gnade deinem Knechte!
Nie hab' ich dein Gesetz verletzt,
Nie deinem Wort mich widersetzt,
Auch nie gebeugt der Menschen Rechte –
Ich war ein gottgerechter Mann!
Sieh gnädig drum auf mich hernieder!« –
Doch ernst blickt Gott und Er spricht wieder:
»Dem Buchstab hast du Recht getan!
Doch hat mein Wort nicht Leben, Seele?
Wen
liebtest du? jahraus, jahrein –?
Als nur dich selbst und dich allein –?
Und nennst dich frei von Schuld und Fehle –?!
Geh hin von meinem Angesicht,
Ein neues Leben zu beginnen,
Dich auf dein Menschtum zu besinnen!
So leuchtet dir mein Gnadenlicht!
Und wirst du einst so gut und rein
Wie hier im Licht dies Mägdlein sein –
Dein früher Leben sei verziehen,
Aus Leid soll dir Erlösung blühen!
So wandle in ein neues Leben,
Und auf den weiten Wanderpfad
Will ich das
eine Wort dir geben:
Gott prüft das Herz und nicht die Tat!«