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Vom Felsengipfel des Jägerhüttenberges geht eine steile Bachrinne in das Schwarzautal hinab. In dieser Bergfalte stehen drei kleine Bauerngehöfte, obwohl 's hier nicht gut Hüttenbauen ist. Die Leute da heroben büßen für die Narretei ihrer Väter mit Liebe und Demut. Schlechter hat keiner an seine Nachkommen gedacht als der Gründer dieser Ansiedelung. Merkwürdigerweise hängen diese Nachkommen mit allen Herzensfasern an ihrer rauhen, gnadenlosen Heimatscholle. Das Bergwasser mag ihnen die Ackerkrume noch so oft zu Tal tragen, sie legen das Feld doch wieder auf dem alten Fleck an und pflegen es mit nimmermüdem Fleiße. Ihre Treue zur Heimat ist stärker als alle Not. Heuer gedieh einmal gar keine Feldfrucht da oben. Die Boggerleute, welche in der obersten Hütte hausten, hatten im Frühjahr dem Boden drei Säcke Erdäpfel anvertraut. Im Herbst gab ihnen der diebische Boden zwei Säcke zurück. Da war der Bogger doch ein Weilchen unschlüssig, ob er nicht mit Kind und Kegel auf die Suche eines lohnenderen Broterwerbes ausziehen solle.
Seine achtzigjährige Mutter machte jedoch seinem Wankelmute ein schnelles Ende, indem sie also sprach: »Du bist ein Bauer. Du sollst lieber verhungern, als ein Zigeuner werden. Du sollst wie der Waldbaum fallen, wo du stehst. Auf diesem Boden ist deiner Väter Blut, und wenn auch das deine darauf bleibt, so wächst er an Wert für deine Kinder.«
Den ältesten Sohn des Boggers belustigten die Worte der Ahne bloß, und er fragte: »Wenn nun aber wir Kinder mit verhungern?«
Die Alte entgegnete: »Dann sollte hier ein Denkmal gesetzt werden mit der Inschrift: »Hier ist ein Bauerngeschlecht für seine Pflicht, seine Ehre und seinen gerechten Stolz Hungers gestorben.«
Bertl, so hieß der Junge, nahm eine alte, braune Fiedel von der Wand und sagte: »Ich gehe ins Tal zum Tanz aufspielen. Verhungern mag ich nicht. Und ihr dürft mir das auch nicht.«
»Halt!« schrie die Greisin. »Halt!« schrie auch der Bogger, aber der Bursche stand schon bis an den Hals im Neuschnee und drängte sich mit aller Kraft immer weiter in die weiße, ballige Maste hinein. Die Boggerin lief dem Waghalsigen nach und versuchte ihn mit Bitten zur Umkehr zu bewegen. Aber er hielt an seinem Entschlusse fest.
»Er kommt keine Viertelstunde weit«, meinte der Bogger lächelnd. »Laßt ihn nur!«
Aber Bertl war nach einer Stunde noch nicht da. Der Alte ging dann hinaus, um nachzusehen. »Bärenfest ist der Bub. Er ist schon im Tal nah an der ausgeschaufelten Straße.«
Die Boggerin brachte einen Topf voll Erdäpfel aus dem Keller heraus. »Die letzten«, sagte sie.
»Die allerletzten?« fragten allzugleich die drei übrigen Stubengenossen, nämlich die Ahne, der Bogger. »Aber wie wird es unseren Nachbarsleuten da unten gehen?«
»Soll ich sie gleich kochen?« fragte die Boggerin dawider.
»Ja«, entschied der Michel, als die andern nicht antworteten. »Bertl bringt sowieso Brot.«
Die Ahne machte ein bedenkliches Gesicht und sagte: »Muß mir es erst überlegen, ob ich von dem Brot essen soll, das Bertl mit der Geige verdienen will.«
»Wir können jetzt auf Brot hoffen«, sprach der Bogger und sein zweiter Sohn, der fünfzehnjährige Michel.
»Das weiß ich!« rief Michel. »Der Greiner Nazl hat gestern ein wenig beim Rauchfang heraus geschaut, und ich bei unserem Rauchfang. Anders steht man sich nicht den ganzen Winter lang vor lauter Schnee. Ich hab' den Nazl gefragt, was er macht. – »Den Rauchfang auslecken!« schrie er zurück, »denn der Rauchfang riecht noch so lieb nach dem geselchten Fleisch, das voriges Jahr drinnen hing.« So frag' ich ihn, ob sie denn rein nichts mehr zu beißen hätten. »Nein!« er, »seit gestern sind die Erdäpfel gar.« Sag ich: Wir haben noch gerade auf ein Mittagsmahl. – »Schon gut«, meint er, »da müßt ihr uns begraben, und euch begräbt dann niemand. Das habt ihr von den vielen Erdäpfeln.«
Nach der Erzählung des Jungen blieb es einen Augenblick still in der Stube. Dann sagte der Bogger: »Weib, der Bertl hat dir einen Pfad gegen die Greinerhütte zu getreten. Trag den Leuten die Erdäpfel hinab. Mußt aber nicht eingestehen, daß es unsere letzten sind.«
Das Weib sah erst staunend auf ihren Mann, dann war plötzlich ein seltsames, schönes Leuchten über ihr schmales, braunes, verhärmtes Gesicht gekommen. »Ja«, rief sie freudig, »gleich gehe ich. Nur deine Stiefel ziehe ich schnell an.«
»Recht so, Kinder«, sagte die Ahne, ohne sich aber von ihrem Sitz am Fenster nach den beiden umzusehen, denn es rollten ihr zwei Tränen heimlich über die Wangen.
In einer Weile darauf stand die Boggerin unten in der Greinerhütte. Der Greiner war ein riesenhafter, blonder, prächtiger Mann, sah aber bei aller Leibesmacht so gebrochen aus, daß es einem bei seinem Anblicke in das Herz schnitt. Sein Weib trug eine entsagungsvolle Miene zur Schau, aber ihre großen, hellen Augen stierten so eigentümlich. Es war der Blick des Hungers. Die beiden preßten mittelst einer sehr einfachen Vorrichtung Leinsamen. Es war unverkennbar, daß sie hernach den Ölzelten zum Essen verwenden wollten. Als die Boggerin eintrat, glaubte sie aus dem Bett, welches in der Fensterecke stand, ein Schluchzen zu vernehmen. Aber plötzlich verstummte es. Der arme Nazl schämte sich, vor fremden Leuten zu weinen. Er hielt sich auch während der ganzen Anwesenheit des Gastes hinter der Decke versteckt.
»Ich möchte euch unsere Erdäpfel kosten lasten«, sagte die Boggerin so heiter und unbefangen als nur möglich. Sie tat dabei, als ob sie den Leuten alles, nur keine Not anmerkte.
»Die sind nämlich so mehlig«, fuhr sie dann fort. »Ihr dürft mir keinen Korb geben. Hier leere ich sie aus.« Dann schüttelte sie die Erdäpfel behutsam auf den blank gescheuerten Eichentisch hin.
»Ihr denkt halt alleweil an andere«, sagte die Greinerin im Tone gewöhnlicher Höflichkeit, aber dabei sah sie flüchtig mit einem Blick der heißesten Dankbarkeit auf die Nachbarin. Der Greiner forschte recht scharf und unverhohlen in den Zügen des Besuches.
»Ihr selber habt wohl recht viele Erdäpfel?« fragte er beinahe spottend.
»O ja«, log die Boggerin, »es macht sich.«
»Wie groß ist denn euer Erdäpfelhaufen noch?« erkundigte sich der Greiner.
Die Boggerin zeichnete mit der Rechten die ungefähre Form des Jägerhüttenberges in die Luft. Dann eilte sie nach einigen gleichgültigen Redensarten mit dem leeren Topf wieder heim.
»Merkst du es, was die Boggerleut tun?« fragte der Greiner sein Weib.
»Ja«, entgegnete sie. »Es gibt sonst keine Erdäpfel mehr hier oben als diese. Und die Boggerleute wollen nicht diejenigen sein, welche die letzten Erdäpfel essen.«
»Und wir wollen es auch nicht sein!« rief der Greiner. »Trag du die Erdäpfel um ein Häusel weiter. Da unten in der Fitzeihütte sind acht kleine Kinder. Wir haben heute ohnedies den Ölzelten.«
Die Greinerin nickte und trug die Erdäpfel hinunter in die Fitzeihütte. Unten fielen die acht halbwüchsigen Kinder über die Erdäpfel her wie hungrige Raubtiere.
Sie wollten ihrer Mutter kaum Zeit zum Kochen der Früchte lassen.
»Kann denn das sein, daß ihr noch Erdäpfel zu verschenken habt?« fragte der Fitzei die Nachbarin.
»Du siehst es«, antwortete sie. Die Greinerin war von diesem Gange kaum zurück, als ihr der Fitzei nachkam. Er trug in seinem Schurze die Erdäpfel.
»Wir müssen euch auch von den unseren kosten lasten«, sagte er lächelnd. Die Greinerleute wunderten sich recht herzlich über die Entsagungsfähigkeit ihres Nachbars. Selbstverständlich wollten sie die Erdäpfel nicht annehmen. Nach vielem Hin- und Herreden sah sich der Greiner endlich veranlaßt herauszuplatzen: »Das sind dieselben Erdäpfel, die euch mein Weib hinuntertrug und die uns die Boggerin brachte. Ihr braucht sie am besten. Ihr habt die meisten Kinder.«
»Die meisten Kinder wohl«, sagte der Fitzei. »Aber nicht die wenigste Barmherzigkeit.«
»So?« eiferte der Greiner, »ist das barmherzig, wenn acht hungrige Kinder da sind und man gibt ihnen nicht von dem, was man hat?«
Aber der Fitzel entgegnete völlig triumphierend: »Man soll für den Nächsten mehr Barmherzigkeit haben als für sich selbst. Meine Kinder«, fuhr er fort, »sind soviel wie meine eigene Seele und Leib. Und du bist mein Nächster. Wir essen die letzten Erdäpfel nicht.«
Geredet war's und fort war der Fitzei.
»Nun?« fragte der Greiner erwartungsvoll sein Weib.
»Da ist leicht raten«, sagte sie lächelnd. Und sie lächelte diesmal so verklärt, als ob der Hunger auf dieser Welt für immer aufgehört hätte, weh zu tun. »Ich trag' die Erdäpfel den Boggerleuten hinauf, lieber Mann, und rede oben genau so, wie der Fitzei bei uns redete.«
Gesagt, getan.
»Gut«, sagte der Bogger, als die Greinerin die Erdäpfel durchaus nicht wieder mitnehmen wollte. »Sie bleiben hier aufgehoben. Vielleicht nehmt ihr sie doch noch.«
Am nächsten Morgen kam Bertl zurück. Vier Gulden hatte er erfiedelt. Anstatt des Geldes brachte er einen großen Sack von Lebensmittel heim. Davon lebten sämtliche Leute am Jägerhüttenberge eine ganze Woche. Mittlerweile gelang es ihnen, ein paar Baumstämme aus ihrer kleinen Waldung in das Tal zu bringen und dort zu verkaufen. Diesmal war Bertl der Retter. Im Frühjahr werden diese Braven wieder mit neuem Mut ihren Acker pflegen und auf eine gute Ernte hoffen. Und komme es wie immer, so ganz können sie nicht zuschanden werden, die armen, kleinen Bauern am Jägerhüttenberg.