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Der Abend ist so hell und still wie selten einer im Jahr. Es ist, als ob auch die Natur das Auferstehungsfest des Christengottes feierte. Bei Sonnenuntergang haben die Bergriesen ihre Nebelkappen abgetan. Nun heben sich die entblößten weißen Häupter prachtvoll und feierlich von dem dunklen Himmelsblau ab, welches im Westen mit dem leuchtendsten Gelb verschwimmt. Die Bergnebel aber sind wie durch ein Wunder zu einer rotgoldenen Wolke geworden, welche jetzt gerade über dem nächtigenden Waldtale steht und einen zarten Rosenschimmer auf das Kirchlein von Sankt Egyd hinabwirft. Mit den ewigen Sternen zugleich erstrahlten in der Taltiefe wohl hundert winzige Lichtlein. Das ist die österliche Festbeleuchtung der Häuser von Sankt Egyd.
Durch die breite Bergluke im Süden tönt jetzt tiefes, leises Glockengetön in die stille Waldlandschaft herein. In dem Tale wird es kaum zu vernehmen sein, aber hier oben auf der freien Höhe des einschichtigen Murrnhofes hört es selbst die uralte Bäuerin. Die stand bisher betend an dem offenen Stubenfenster. Aber jetzt geht sie hinaus vor das Tor unter den Eichbaum, um sich zu überzeugen, ob sie denn auch recht hörte.
Sie ist schon sechzig Jahre lang hier oben Hausfrau, und seit dieser Zeit vernahm sie nur einmal die Domglocken der acht Meilen fernen Hauptstadt. Das war am ersten Auferstehungsabende, welchen sie mit ihrem geliebten Manne verbrachte. »Hörst du sie?« fragte damals der junge Bauer sein schönes Weib. »Und weißt du, daß sie uns zu einem wunderglücklichen Leben einläuten? Die Sage verspricht wenigstens dem eine große Gnad', der an dem heutigen Tage in unserem Walde das Domgeläute hört.« Die Bäuerin hatte später in ihrem Eheleben wirklich allen Grund an jene großen Gnaden zu glauben, bis plötzlich der Bauer einen frühen Tod fand.
Was hat wohl heute das Geläut' für mich zu bedeuten, fragte sich die Alte draußen vor dem Tore. Sie sann ein wenig nach, dann antwortete sie sich: Wenn es mir vor sechzig Jahren zu gesegneter Arbeit einläutete, so ist das jetzt gewiß das Feierabendläuten nach meinem vollendeten Lebenswerke.
Als hätten bisher viele Glockenstimmen nur auf das Anfangen des Domgeläutes gewartet, so schrillte und bimmelte es plötzlich in Nah und Fern und vereinigte sich hier oben zu einem einzigen großen Orgelklang. Zuletzt fielen die Glocken von Sankt Egyd ein und mit ihnen rauschende Musik und jubelnde Menschenstimmen: Alleluja!
Die Bäuerin kniete neben dem knorrigen Eichenstamme hin. Sie wußte, daß jetzt von dem Kirchlein zu Sankt Egyd die Auferstehungsprozession ausging. Noch kein einziges Mal hatte sie an dem Umzuge teilgenommen, seit sie auf dem Murrnhofe war. Dafür ließ sie alljährlich sämtliche Hausgenossen hinunterziehen und blieb als Wächterin daheim. Ihr war die stille Andacht da heroben lieber als die Leute im Tal. Wenn sie das ganze Jahr nicht in sich ging, in dieser Stunde tat sie es gewiß. Zu allen übrigen Zeiten kam sie nimmer so recht zur Ruhe und Erbauung.
Wenn es so eine verwitwete, alleinstehende Bäuerin zuwege bringt, daß alles in Haus und Hof, in Wald und Feld seinen gehörigen Gang nehmen soll, so muß sie bei Tag und Nacht in gar lebhafter Sorge und Aufregung bleiben.
Die Bäuerin wußte zwar nicht, für wen sie sich während all der Jahre mühte und plagte.
Ihre Verwandten waren abgestorben, bis auf einige, welche die Murrnbäuerin in den Himmel oder vielleicht auch in die Hölle wünschten und sich selbst auf den Murrnhof. Diese übelmeinenden Leute wollte die alte Murrnbäuerin nimmer zu Erben haben. Sie wollte einen Erben, der ihr Angedenken ehrte und die wackere Arbeit ihres Lebens gebührend schätzte und anerkannte. Sie hatte ja das arg verwahrloste Haus zu dem musterhaftesten des Berggaues gemacht.
Sie hatte ja heute mehr Geld als früher Schulden. Und das wollte etwas sagen. Mit all dem meinte sie ihre Menschenpflicht getan zu haben. Es beseelte sie immer ein schöner, löblicher Arbeitseifer, nie ein unlauterer. Bei der Großmut, welche sie dabei an den Armen übte, konnte es einen wirklich wundernehmen, daß es die Bäuerin so weit brachte. Aber sie verstand eben das Wirtschaften gar meisterlich.
Und auf all ihrer Arbeit schien ein eigener Segen zu sein. Mit sich selbst war sie wohl zufrieden, aber mit ihrem Schicksale nicht. In ihren späten Tagen begann sie immer mehr den Mangel einer freundlichen, liebenden Seele zu fühlen. Für ein bißchen zärtliche Besorgnis, für ein bißchen wahre Liebe hätte sie gerne alles hingegeben, was sie zeitlebens mit so viel ehrlicher Mühe sammelte. Es kam ihr gar so traurig und unglückselig vor, völlig unbetrauert sterben zu müssen und bei dem Scheiden aus dieser Welt nur fremde, lieblose Menschen sehen zu müssen.
»In meinem ganzen Leben hab' ich mir kein bißchen Lieb' verdienen können, und mit meinem ganzen Reichtum kann ich es mir nicht erkaufen, daß mir ein rechter Freund mit dem rechten Gefühl die Augen zudrückt«, sagte sie oft.
Sie hatte nie gemeint, daß sie in ihrem Lebensherbst so liebesbedürftig und schwermütig werden könnte. Sie kam sich jetzt fast wieder wie ein weichfühlendes Kind vor, welches kaum ohne zärtliche Fürsorge und Pflege sein kann. Das Alter machte die einst gar selbständige, seelenkranke Frau so weich und kindisch. Heuer wurde sie vierundachtzig Fahre alt. Und da sollte sie noch immer Bäuerin sein und walten auf dem großen Hofe wie ehedem. Seit einigen Jahren schon war sie unsäglich müde. Aber sie kam nicht dazu, sich einen ruhsamen Lebensabend zu verschaffen, so sehr sie sich auch darnach sehnte.
Aus diesen Ursachen betete sie jetzt ungefähr also:
»Herr, ich bin müde, lasse jetzt meine Mühe auf Erden vollbracht und meine Werke vollendet sein! Lasse es mich erkennen, auf welche Art ich am besten den Preis meiner Mühe zu deiner Ehr' und zum Glück bedürftiger Menschen verwenden könnte. Und laß mich dann den ewigen Frieden und deine Liebe finden, weil du schon willst, daß ich aller Menschenliebe bar aus dieser Welt fahre. Gewähre mir die Gnade, daß die Zeit der Himmelfahrt meines Heilandes auch die Zeit meiner Erlösung von dieser Welt sei, damit das Letzte, was mein Herz bewegt, so recht ein jubelndes Alleluja sei.«
Dann stand die Alte wieder mühselig auf. Das Knien machte dem alten, gebrechlichen Leibe schon Qualen, jedenfalls wollte sie noch das Ende des Ostergeläutes hier unter freiem Himmel abwarten. Darum lehnte sie sich mit talwärts gerichtetem Gesichte an die Eiche. Es war unterdessen völlig dunkel geworden. Die Alte lehnte nicht lange, als nahes Stimmengeflüster an ihr Ohr tönte. Unter dem Dunkel der Obstbäume waren plötzlich zwei Menschen. Zwischen den Stämmen unterschied die Alte mit genauer Not einen hohen, schlanken Mann und ein junges, stattliches Weib. So gut es ging, verbarg sich die Bäuerin unter dem Baume. Bisher war sie von den beiden nicht bemerkt worden. Neben dem Stamme guckte sie ein wenig nach den Ankömmlingen hinüber, deren Gespräch sie auch deutlich erlauschte.
Erst sprach der Mann: »Jetzt hast du wieder auf einmal Bedenken. Unten warst du doch schon so fest entschlossen. So seid ihr Weiber alle. Es ist auf euch kein Trauen und Bauen.«
»Ach«, seufzte das Weib, »wenn nur die Sünd' nicht gar so groß wär'! Und der Tag nicht so heilig. Oder wenn wir schon einmal was gestohlen hätten in unserem Leben. Aber jetzt während der Auferstehung das Schlechtsein anfangen. Da gehört schon eine Niederträchtigkeit dazu.«
»Aber gelt«, entgegnete er, »daheim die Kinder und die Ahnl verhungern und verschmachten zu lasten, da gehört nichts dazu? Ich mein', das Stehlen ist nicht so viele Sünde als das Letztere. Wer weiß, ob sie noch alle leben, bis wir heimkommen.«
Da stöhnte das Weib schmerzlich auf und sagte: »So probieren wir's halt in Gottesnamen. Aber wenn sie uns erwischen? Wenn wir eingesperrt werden? Wer bringt denn hernach den Unseren was zu Essen?«
»Es ist ja nur die alte Bäuerin daheim«, entgegnete er. »Der rennen wir zwei leicht davon. Und schaden tut's ihr ja auch nichts, wenn wir ihr einen Laib Brot und ein paar Stück geselchtes Fleisch stehlen. Oder einen Sack Korn, wenn wir sonst nichts kriegen. Uns ist geholfen, bis wir wieder einen Verdienst kriegen. Wenn es uns einmal wieder bester geht, bringen wir's heimlich zurück, was wir jetzt stehlen. Aber verkommen lassen wir die Unseren nicht. Oder weißt du noch einen ehrlichen Ausweg? Sag, wie es auf gerechte Art möglich ist, die Kinder zu erretten.«
»Betteln?« fragte sie tonlos.
»Lieber siebenmal sterben«, sagte er und fuhr dann fort: »Ich kann nichts für meinen sündhaften Stolz. Ich seh's ein, daß ich keinen Funken christliche Demut habe. Aber ich mag lieber heimlich schlecht als öffentlich demütig sein. Du kennst mich.«
»Weißt du was?« ließ sie sich wieder vernehmen. »Ich setz' meinen Stolz beseit' und bett'l bei der Murrnbäuerin an. Brauchst nit mitz'gehen.«
»Still sei!« befahl er. »Mein Weib darf nicht bei der Murrnbäuerin betteln. Die Murrnbäuerin hat meinen Vater als einen Ehrenmann gekannt und geachtet, und sie darf von dem Sohn auch keinen anderen Begriff kriegen, wenn der Sohn jetzt gleich ein Dieb ist, der aber seinen Diebstahl bald wieder gutmachen wird. Aber wir versäumen die Zeit. Die Hausleut' werden uns auf den Hals kommen, wenn wir uns nicht tummeln. Hörst? In Sankt Egyd hören sie zu läuten auf. Du wart da! Bist zu ungeschickt zum Stehlengehen. Ich geh' allein.«
Er wollte auf das Tor zu.
Aber das Weib hielt ihn zurück und flehte mit plötzlich von Schluchzen erstickter Stimme. »Laß ab davon! überlaß Gott die Sorge für uns! Bleib' brav! Du mußt brav bleiben! Ich will keinen Dieb zum Mann. Lieber sollen die Kinder und die Ahnl weg sein und wir zwei auch. Gehen wir heim. Beratschlagen wir, ob wirklich keine Hilf zu finden ist für uns, und wenn nicht, so soll geschehen, was der Herr will! Komm, Wastl! Ich hab' jetzt alles überlegt und bereu' unseren schlechten Vorsatz.«
Es folgte eine kurze Stille, dann sagte der Mann zögernd und eigentümlich weich: »Ja, wenn du durchaus keinen Dieb zum Manne willst
»Nein!«
»Sondern lieber mit all den Deinen verderben –«
»Tausendmal lieber!«
»So gehen wir halt wieder in Gottesnamen heim und machen uns auf das End' gefaßt.«
»Ja, das tun wir. Komm, Wastl!«
Eine Weile lagen sie sich in den Armen, dann schritten sie taleinwärts.
»Halt!« rief ihnen plötzlich die Bäuerin nach. »Hört mich an, ihr guten Leut'!«
Die beiden standen still. Es schien, als ob das Weib im höchsten Schrecken eiligst flüchten wollte. Aber der Mann hielt sie fest und wandte sich dann an die Murrnbäuerin, welche zu den beiden herabgetrippelt kam.
»Na? Was wollt Ihr?«
»Wer seid ihr denn?« fragte die Alte freundlich dagegen.
»Ich bin der Bachwastl.«
»Von der Schwarzau«, ergänzte die Alte in höchlicher Überraschung. »Von meinem alten gottseligen Schulkameraden der Sohn?«
»Ja. Und das ist mein Weib.«
»So, bist verheiratet? Und wieviel Kinder denn?«
»Sieben.«
»Und gehen tut's euch gut?«
»No ja«, sagte er zögernd.
»Abbrennt sein wir halt«, setzte das Weib hinzu. »Und nicht versichert gewesen. Nur mit dem nackten Leben davongekommen.«
»Richtig«, rief die Alte. »Das Feuer hab' ich gesehen von uns aus, vor drei Wochen war's. Und hat euch doch die Nachbarschaft ein bißl aufgeholfen?«
Das Weib seufzte. »Ja, wenn wir eine Nachbarschaft hätten. Die hätt' eh geholfen. Aber wir haben keine. Ganz auf der Einschicht ist das Häusel, und wir sind darum so viel unbekannt. Da kommt niemand helfen.«
»Kein Teufel!« setzte der Mann hinzu. »Aber Gott wird schon helfen.«
»Wie er halt will«, sagte das Weib. »Gerad so ist's uns recht.«
»Da werdet ihr schlechte Ostern erwarten?« fragte die Murrnbäuerin.
»Na, sie können ja noch gut werden«, antwortete der Mann dumpf.
»Ja, ganz, ganz gut können's werden«, fügte das Weib noch tonloser hinzu.
Die Alte verstand die beiden wohl.
»Gute Nacht!« sagte der Mann und wandte sich zum Gehen.
»Hört mich an!« rief die Murrnbäuerin dagegen. »Seid recht schon eingeladen auf die Osterfeiertag' zu mir auf den Murrnhof. Mitsamt eueren Kindern und der alten Ahnl. Müßt gleich morgen früh kommen. Ich werd' einen Wagen hinunterschicken. Bin so viel froh, daß ich mein'n alten Schulkameraden seine Leut' hab' g'funden.«
»Wirklich?« schrien sie fast beide zugleich.
»Ja wirklich. So wahr ich an ein andächtig's Gebet glaube!« entgegnete die Alte. »Gleich morgen müßt ihr kommen.«
Sie mußten ihr Wort und Handschlag darauf geben und taten es auch von Herzen gerne. So traurig sie gekommen waren, so wohlgemut gingen sie heim zu den Ihren in die Ruinen des abgebrannten Häusels.
Bald darauf kam das Gesinde des Murrnhofes heim.
»Zenzi«, sagte die Alte zur Großdirn, »mußt dösmal zu heiliger Zeit was arbeiten.«
»Was denn?«
»Gäns abstechen, Betten herrichten in die zwei schönen Stuben und Krapfen backen.«
»Ja warum denn, Bäuerin?«
»Warum? Na morgen, am Ostersonntag, wird unser Herrgott meine Erben auf den Murrnhof schicken.«
»Unser Herrgott?«
»Ja, unser Herrgott. Ich hab' ihn heut darum bitt', und gleich hat er mich erhört und mir ein Zeichen geben.«
*
In drei Jahren darauf trugen sie die alte Murrnbäuerin zur ewigen Ruhe hinab. Es waren drei schöne Jahre für sie gewesen. So schöne Jahre, daß sie dann nicht einmal gerne starb. Da hatte sie ja plötzlich sieben Enkelkinder. Die taten mit ihr wie mit einer Heiligen. Gehätschelt, gepflegt und wahrhaftig geliebt und verehrt wurde sie, wie sie sich das nie so schön träumen ließ. Und eine liebe Hand drückte ihr dann die Augen zu, und viele, viele aufrichtige Tränen wurden ihr in das Grab nachgeweint, auf welchem noch in fünfzig Jahren darauf so schöne Rosen blühen wie auf keinem zweiten unter den Kirchhoflinden von Sankt Egyd.