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Vor dem Hintertürlein der alten Holzhütte dengelte der schöne Schwarzgrimmerbub, daß seine Hammerschläge durch das ganze kleine Böhmerwaldtal klangen. Durch das Türlein trat die Mutter des Buben, eine große, alte Frau. Sie klopfte ihm mit einem ihrer derben Fingerknöchel auf den goldhaarigen Kopf und sagte: »Wenn du für uns mähen gehst, da liegt dir nie so viel an der Sens' als wie diesmal!«
»Nun freilich!« rief er, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. »Von fremden Leuten will ich mich halt nicht spotten lassen wie von dir!«
»Du brauchst dir für fremde Leut' keine solche Müh' z' geben«, entgegnete die Mutter. »Du hast auf deinem Grund und Boden so viel Sach' und Arbeit, daß du dich auf keinem anderen verdingen mußt.«
Dann streichelte sie mit ihrer rauhen Hand dem Buben kosend über das Haar und sprach in einem zärtlich bittenden Tone weiter: »Schau, Simmerl, bleib schön daheim. Ich werd' wohl eh' nimmer lang leben, und nachher wird dich eine jede Stund' schwer gereuen, die du mich allein lasten hast.«
Da warf der schöne Bub den Hammer auf den weichen Rasen und raunzte so recht wie ein Kind: »Gar nichts soll ich genießen von meiner jungen Zeit, nicht einmal ein bißl soll ich die Welt kennenlernen, und von allen unseren Talbuben der dümmst' soll ich bleiben – das willst du! Es ist eh schon so weit, daß mir ein jeder das Maul verbieten darf.« Und dann ging er in einen sanfteren Ton über: »Schau, Mutterl', ich bleib' dir ja eh so gern bei der Kittelfalten, nur g'rad diese drei Wochen lang Verzicht auf mich, hernach komm' ich g'wiß mein Lebtag nimmer mehr weiter weg als der Dreihaubenberg, der da drüben steht, seinen Schatten wirft. Es wird sich auch g'wiß nimmer so wie jetzt eine Gelegenheit dazu finden, daß ich von der Fremd' was sehen kann. Und der Anlaßl hat mich mit aufgehobenen Händen gebeten, daß ich mithalten soll, weil er den Großbauern, zu deren er uns weisen will, nicht mit weniger als mit sechs Sensen kommen darf. Ich hab' ihm auch die Zusag' geben. Ein Waschhadern wär' ich drum, wenn ich daheim blieb'.«
»Red nicht so viel«, unterbrach ihn die Mutter. »Ich weiß's ja, daß du nur aus einem Grund, den du nicht genannt hast, mitgehen willst.«
Simmerl wurde nun so rot, daß es trotz des Abenddunkels zu sehen war. Er legte die Hand an das Herz und beteuerte: »Da tätest du mir wahrhaftig unrecht, Mutter.«
»Schweig!« herrschte sie ihn nun an. »Und glaub nur ja nicht, daß du vor mir was Geheim's haben kannst. Ich seh' dich durch und durch. Wegen der Wehrhaberin ihrer Nussi willst du mit den Schnittern gehen. Bis jetzt hab' ich d'raus g'wart't, ob du nicht doch von selbst zu einer richtigen Überzeugung kommen und von deinem sauberen Vorhaben abstehen wirft. Jetzt muß ich aber reden, wo ich seh', daß du wirklich diese Schamlosigkeit begehen tät'st. Du und die Nussi dürft nicht als Schnitter und Aufheberin miteinander gehen, sonst entsteht ein Gered', das ich nicht ertragen möcht'. Ich will nicht hoffen, daß die Leut' jetzt schon was zu reden Ursach' hätten.«
Da wandte sich der Simmerl rasch von ihr ab und ging mit stolz erhobenem Haupte langsam über den Anger gegen den Wald hin. Die Mutter hatte ihn nun tief beleidigt. Er war überzeugt, daß es kein ehrsameres Liebesverhältnis gab als das zwischen ihm und der Nussi. Wenn die zwei jungen Leute miteinander gesprochen hatten, war das immer mit einer schamhaften Schüchternheit geschehen. So keusch war ihre Liebe noch, daß sie an die möglichen Steigerungen des Glückes, welches sie bei einem gegenseitigen Anschauen erfüllte, gar nicht dachten. Ohne Zutun eines Dritten wäre es auch nicht zu der Vereinbarung gekommen, laut der sie morgen als ein Schnitterpaar ausziehen sollten. Als am letztvergangenen Sonntage unten in dem Talkirchlein die Messe aus war, hatte der Anlaßl, der alljährlich eine Schnitterschar in das ebene Land hinabführte, auch sie beide aufgedungen. Dieser alte, schlaue Zubringer, dem schier alles, was in der Gegend an Tratsch los war, zu Ohren kam, wußte es, daß die Zweie einander gerne sahen, und mit vieler List war es ihm schließlich gelungen, die Zusage der beiden zu bekommen. Es war wohl ihr lebhafter Wunsch, miteinander dem Anlaßl in die Fremde zu folgen, aber manches Unklare bedrückte sie doch. Am Ende erschien ihnen jedoch der Kummer, den sie sich mit diesem Zusagen schufen, leichter als das Verzichten. Sie stellten sich so ein gemeinschaftliches Reisen und Arbeiten unendlich reizvoll vor, und Simmerl sehnte sich nebenbei auch danach, ein ihm fremdes Stück Welt kennenzulernen. Der Simmerl ging nun über den Anger bis zu dem Walde, dann trat er zwischen zwei mächtigen Baumstämmen in die Finsternis hinein. Am Rande des Waldes ging er dahin zu der kleinen Hochfläche, auf welcher die Nussi in einem alten, ziemlich verlotterten Anwesen hauste. Er wollte bei dem Mädchen die Kraft finden, welche er nun gegen den Widerstand der Mutter haben zu müssen glaubte. Nussi saß im Mondenscheine vor der Hauswand und spielte mit drei Wagen weißen Katzen. Sie sah den Buben erst, als er plötzlich vor ihr stand. Zum ersten Male war sie nun über seinen Anblick mehr erschreckt als erfreut.
»Er wird mir doch nicht die Absag' bringen« dachte sie.
Aber da redete er nun schon: »Ich bin nur gekommen, damit du nicht vergißt, daß morgen unser Reis'tag ist.«
Sie war nun glücklich darüber, daß ihm gar so viel an dem Reisetag lag, und antwortete lächelnd: »Nein, nein, so gedankenlos bin ich nicht.«
Nun sah er es erst, daß seine frühere Rede nicht recht höflich war, und deshalb sagte er: »Das weiß ich ja eh. Ich hab' nur schauen wollen, ob du ganz wohlauf und reis'fähig bist. Weißt – man schläft leichter, wenn man sich vor solchen Tagen des Begleiters sicher fühlt.«
Sie nickte nun lebhaft. »Ja, ja, das ist wahr, und ich bin deshalb auch froh, daß du heute noch gekommen bist.« Dann scheuchte sie die Katzen fort.
Währenddes war um die Hausecke schwer keuchend und wimmernd ein kleines mageres Weib gekommen, die alte Enderlexin, welche dort, wo die Hochfläche an den steilen Berghang stieß, ihre gar erbärmliche Heimstelle hatte.
Auf die Rasenbank, von der sich Nussi erhob, ließ sich die Alte nieder und klagte: »Nimmer weiter kann ich. Das ganz' obere Tal hab' ich abgelaufen und meinen einzigen Zahn hab' ich mir schier locker g'redt bei lauter Bitten und Betteln, und all's war umsonst. G'radwie wenn die Menschen jetzt alte Ausreibbürsten anstatt Herzen in sich hätten.«
»Was willst du denn eigentlich?« fragte Simmerl teilnahmsvoll.
»Ein'n Schnitter will ich«, rief sie. »Völlig verzweifeln und elendig verkommen muß ich mitsamt den Meinigen, wenn ich nicht noch heut' ein'n Schnitter find'! Hellaus ist's in unserer Hütte oben, seitdem's im Frühjahr beim Holzflößen mein'n Schwiegersohn ermostelt hat. Ja, wenn sie – mein' Tochter – noch zu einer rechten Arbeit fähig würd'! Aber die wird sich wohl nimmer z'samm'nklauben. Wie ein ausgewurzelt's Blümerl siecht sie mir hin! Mit Müh' ist's noch zu einer leichten Hausarbeit fähig. Verdienen kann sie nichts mehr! Seit vier Monaten muß ich sie und ihre Kleinen ernähren – von dem, was mir die Talbauern für mein Tagwerk geben. Jetzt, wo ich schon selber eine Ruh' brauchen tät, muß ich noch so viel leisten. Aber ich plag' mich ja gern, bis ich hinfall'! Wenn ich doch morgen mit den Schnittern ins Land hinunter gehen könnt', nachher wär den Meinen für eine Zeit geholfen. Wie bald könnt' ich ihnen da etliche Gulden heimschicken! Aber der Anlaßl hat zu mir gesagt: ›Wenn du ein'n Schnitter für dich auftreibst, so ist's mir recht, sonst aber kann ich dich nicht brauchen!‹ Und jetzt renn' ich seit Mittag herum und bitt' lauter solche, die gar leicht mit mir geben könnten, wenn sie nur wollten, aber es will halt keiner. Wenn ich jung, begehrenswert und zutunlich wär', da hätt wohl gleich der Erst', zu dem ich kommen bin, ›Ja‹ gesagt. Aber um der rechten Barmherzigkeit willen, da rühren sich die Lakeln nicht; gefällig sind sie nur, wenn dabei für sie allseitig genug herausschaut. Jetzt bin ich halt zu euch daher kommen. Deine Ahnl ist im unter'n Tal mehr bekannt, vielleicht weiß sie einen, der mit mir gehen möcht.«
Das alte Weib kauerte in sich zusammen und ächzte wie bei unerträglichen körperlichen Qualen. In dem Simmerl wurde das Mitleid für diese Unglückliche und für die Ihrigen das weitaus stärkste Gefühl. Er kannte ihre Enkelkinder, sie kamen bei ihrem Schulgehen oft an seinem Hause vorüber, und es schnitt ihm bei ihrem Anblicke förmlich in das Herz, denn er sah es ihnen an, daß sie arge Entbehrungen leiden mußten.
Weil er hörte, das es ihnen nun gar so schlecht ging, hielt er nichts für so eilig und wichtig, als ihnen zu helfen. Er meinte, daß die Nussi nun ganz so fühlen müßte wie er. Und es war ihm nun so, als ob seine Liebe zur Nussi gar nicht schöner wachsen könnte als durch den Verzicht, zu dem er nun entschlossen war, und als ob sie hinwelken müßte, falls das Mädchen nicht die Güte besaß, deren Beweis er da erwartete.
Nussi besaß jene Güte nicht, und deshalb erriet sie auch nicht das Empfinden des jungen Mannes. Sie dachte gar nicht an das, was er ihr zumutete, und der ängstlich forschende Blick, mit dem er sie ansah, war ihr unverständlich.
»Mein' Ahnl ist drinn' in der Stube«, antwortete sie der Alten. »Geh' halt hinein zu ihr. Ich glaub' aber nicht, daß sie einen weiß, der mit dir schneiden gehen wird.«
Sie gab sich einige Mühe, damit ihre Rede voll Mitleid klingen sollte. Aber Simmerl fühlte ihre Kühle und war enttäuscht.
Hastig sprach er zu dem alten Weibe: »Ich geh' morgen auch mit den Schnittern in das Land hinab.«
Da riß die Alte die Augen auf und starrte ihn an: »Du, der Schwarzgrimmerbub'? Und wer ist denn dein' Aufheberin?«
»Die Nussi wär's gewesen« antwortete er. »Wenn du jetzt aber mein Aufheberin werden willst, so ist mir's recht.«
Da wär' nun die Alte vor ihm auf die Knie gefallen, wenn er sie nicht daran gehindert hätte. Die Nussi war ein Weilchen schreckensstarr, dann lachte sie schrill auf. Sie wußte es nun, daß er sie wegen ihrer Unbarmherzigkeit verurteilte. Ihre Liebe schlug jählings um in blinden Haß, und sie ging in das Haus und warf die Türe hinter sich zu.
Simmerl sah ihr entsetzt nach, und als die Türe krachend in das Schloß gefallen war, kehrte er sich an die Alte: »Zu meinem Mutterl müssen wir halt jetzt und fragen, ob sie uns das Miteinandergehen erlaubt. Ich hoff', sie wird's tun.«
Das seltsame Schnitterpaar kam zu der Schwarzgrimmerin, als sie eben hinter dem Kachelofen stand und die Erdäpfel zum Abendessen schälte. Mit gefalteten Händen trat die bucklige Alte vor sie hin und bat: »Laß' ihn halt mit mir gehen, dein' vielschönen Buben!«
»Mit dir?« fragte die Schwarzgrimmerin und war dabei so erstaunt, wie schon lange nicht. »Ich hab' g'meint, die Nussi ist sein' Aufheberin.«
»Nein, nein, ich bin's«, sagte die Alte. »Aus Erbarmen hat er mich zu seiner Aufheberin gemacht, und die Nussi hat er abdankt, weil ihr das recht' Erbarmen fehlt. Auswendig ist er gar schön, dein Bub, aber inwendig tausendmal schöner.«
Da lächelte die Schwarzgrimmerin ihren Buben glücklich an und sagte: »Ja, mit dieser Aufheberin sollst du gehen. Und wenn ich mich derweil daheim zu Tod' plagen müßt'.«
So zog er denn am nächsten Morgen mit der alten Enderlexin in das sommerliche Land hinaus.
Und er hob durch sein Erbarmen mit dieser armseligen Aufheberin eine gar feine Ehre auf.