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Sechstes Kapitel.

Das schöne Mädchen von Sassnitz.

Waldemar hatte von dem Orte seiner zufälligen Heldentat aus bis zum Gute des alten Lachmann nur eine Strecke von höchstens einer Achtelmeile, und dazu reichten wenige Minuten hin. Begeben wir uns einige Augenblicke vor ihm, an Ort und Stelle und betrachten wir mit Ruhe das Gut, um dann zu der Szene überzugehen, die in der gegenwärtigen stillen Mitternachtstunde im Herrenhause daselbst vorgehen sollte.

Das Gut Bakewitz zeichnet sich durch keine hervorstechenden Eigenschaften, weder in bezug aus architektonische Schönheit der Hauptgebäude, noch auf Zierlichkeit und behagliche Räumlichkeit des ganzen Gehöfts vor den meisten übrigen Gütern auf Rügen und namentlich auf Mönchgut aus; nur seine malerische Lage an der Südseite des Göhrenschen Höwts und in der Nähe des blauen Seespiegels konnte einigen Anspruch auf vorzugsweise Begünstigung unter den Liegenschaften der Halbinsel erheben. Diese Lage war allerdings in ihrer Art reizend, und wenige Landgüter an den nordischen Küsten Deutschlands mögen sich einer angenehmeren, erfreuen. Von einer kleinen schattigen Laubwaldung umgeben, an die sich fruchtbare Äcker und sogar – ein seltener Luxus aus Rügen – einige Wiesen schlössen, sah die Hausfront über ein niedliches Gärtchen, in dem dicht am Strande zwei prächtige Nußbäume prangten, unmittelbar auf die See hinaus, die sich in allen ihren abwechselnden Reizen hier offenbarte. Zur Rechten von dieser Hauptfront aus gesehen zog sich die graue Küste von Mönchgut entlang bis zur hervorragenden Landspitze von Lobber-Ort, darüber hinaus sprang das steile Thiessower-Höwt wild und wüst mit seiner sparsamen Grasung, seinem wuchernden Seedorn und seinem winzigen Buschwerke hervor. Jenseits dieses Vorgebirges wogte das schöne Meer, aus dessen azurner Bläue ein wenig nach Osten das sandbankartige Eiland Ruden und mehr nach Osten hin die Greifswalder-Oie mit ihren senkrechten Wänden emporsteigt, während südlich vom Ruden die pommersche Küste sich grau und grün gegen den violetfarbigen Horizont abhebt. Ganz nach Osten dehnt sich das Meer in unabsehbare Ferne aus, und die einzigen Grenzen, die das sehnsuchtsvolle Auge in dieser Richtung erschaut, werden vom Himmel und den Wasserwogen gebildet, beide blau ineinander verschwimmend, bis man sie nicht mehr voneinander unterscheiden kann. Nach diesem Horizonte hin, ebenso wie nach Süden, zeigen sich in ruhigen Friedenszeiten zahllose Segel, die den Norden Europas mit Deutschland verbinden und Handel und Wandel in ihren weitbauchigen Rümpfen tragen, eine Zugabe, die selbst bei stürmischem Wetter einen großen Reiz ausübt, da man alsdann an jedem gefährdeten Schiffe einen Anteil nimmt, als wäre man selbst an Bord des schaukelnden Fahrzeugs, hätte die Gefahren mit den kühnen Schiffern zu teilen und freute sich, wenn man glücklich den sicheren Hafen gewinnt.

Das Gehöft selbst ist, wie gesagt, nur ein einfaches einstöckiges Viereck, dessen dem Lande zugewandte Seite, sowie die beiden Verbindungsflügel, Scheunen und Ställe enthalten, während das eigentliche Herrenhaus, die Seeseite einnehmend, niedrig, weißgetüncht, sechs Fenster und dazwischen eine Tür zeigt, die in das Gärtchen und an den Strand hinabführt. Gedeckt ist dieses Herrenhaus mit roten Ziegeln, einem Schmucke, dessen sich die drei anderen Seiten nicht erfreuen, da sie nur unter einer grauen Hülle von Rohr prangen, auf deren zwei nach Norden liegenden Firsten sich zwei Storchfamilien niedergelassen haben, die von den Hausbewohnern hoch geehrt sind und jedes Frühjahr bei ihrer Rückkehr aus wärmeren Zonen mit Jubelgeschrei begrüßt werden. So bietet das Ganze das Bild eines patriarchalischen, gemütlichen Landsitzes dar, der ein bescheidenes Auge wohl erfreuen und ein nicht allzu wünschereiches Herz in der Tat befriedigen kann.

Was den Namen, den das Gut führte, anbelangt, so rührte derselbe von zwei Baaktonnen her, die eine Strecke vom Ufer entfernt in der See lagen und das Fahrwasser andeuteten, welches innezuhalten war, wenn man an den gefährlichen Sandbänken vorbei, zu der bequemen Landungsstelle gelangen wollte, die der alte Lachmann angelegt hatte. Bis vor einigen Monaten hatten auf diesem Gute einige zwanzig Franzosen mit einem Offizier gelegen; als aber der größere Teil der Besatzungstruppen von der Insel gezogen wurde, um den Krieg in das Herz Deutschlands zu tragen, hatte man es für rätlich gehalten, die vom Mittelpunkt der Insel am weitesten entfernt liegenden Ortschaften zu räumen, wodurch auch Bakewitz von seinen Quälgeistern frei geworden war.

Der Besitzer desselben war kein reicher Mann im jetzigen Sinne des Worts, sicher aber ein wohlhabender und dabei sehr unterrichteter Landwirt, der es sich seit Jahren hatte angelegen sein lassen, sein Grundstück zu verbessern und die Lage seiner Untergebenen, die damals noch Leibeigene waren, zu einer befriedigenden zu gestalten. So war er auch in der ganzen Gegend wegen seiner wohlwollenden Gesinnung und Leutseligkeit gegen Freunde und Fremde bekannt, denn da er ohne Familie und nie verheiratet gewesen war, so hatte er sein Vergnügen darin gefunden, jedermann, wo er nur konnte und Gelegenheit dazu fand, Gutes zu tun. Mit der Familie des Strandvogts, der früher in seiner Nachbarschaft gewohnt, war er seit langen Jahren durch die innigste Freundschaft verbunden, beide Männer nannten sich Vettern, obgleich keinerlei Art Verwandtschaft zwischen ihnen bestand. Seine ganze Zärtlichkeit aber hatte der alte Lachmann seiner Pate zugewandt, der verwaisten Hille Vangerow, die er gern für immer bei sich gehabt, wenn er nicht eingesehen, daß sein einsames Gut, auf dem keine Frau waltete, kein geeigneter Aufenthaltsort für ein junges und lebhaftes Mädchen sei. In den letzten Jahren war er häufig krank gewesen und hatte sich umsomehr nach weiblicher Pflege gesehnt: darum besuchte ihn auch Hille von Zeit zu Zeit und weilte sogar, seitdem die Franzosen abgezogen, ganz auf Bakewitz, da der alte Herr jetzt ernstlich krank darniederlag.

Waldemar näherte sich dem Eingangstor von der Landseite her und fand es natürlich verriegelt, ein Pochen weckte jedoch einen alten Knecht, der schläfrigen Ganges endlich herbeikam und fragte, wer Einlaß begehre. Waldemar bat, das Tor zu öffnen, und nachdem er seinen Namen genannt, geschah es, worauf er sogleich die Frage stellte, ob Fremde auf Bakewitz seien.

»Wer soll denn hier sein, wenn nicht die schöne Hille aus Sassnitz,« antwortete der Knecht, der Waldemars Namen sehr gut kannte, obgleich er den jungen Mann lange nicht gesehen hatte. »Ihr kommt gerade zur rechten Zeit, wenn Ihr Euern Freund noch einmal sehen wollt, denn man sagt, er liege im Sterben. Da – seht – wo das Licht brennt, liegt er im Bette und bittet Gott, daß er ihn von seinen Schmerzen erlösen möge.«

Während der Knecht das Tor wieder verriegelte, schritt Waldemar dem Herrenhause näher, lehnte sich aus den niedrigen Fenstersims und schaute durch eine Lücke im Zipfel des kleinen Vorhangs in das Innere des Zimmers hinein.

Da hatte er denn eine ebenso unerwartete wie schmerzliche und doch in anderer Beziehung wieder sehr liebliche Szene vor Augen, die auch wir mit inniger Teilnahme betrachten wollen.

In der linken Ecke des Schlafzimmers des alten Lachmann stand ein breites und hohes Himmelbett, dessen schneeweiße Vorhänge zu beiden Seiten weit zurückgeschlagen waren, um dem darin liegenden Kranken Luft und Licht zu gönnen, der schwer zu atmen und augenblicklich große Leiden zu erdulden schien. Er war ein alter Mann mit schneeweißem Haar und von einiger Körperfülle; sein Gesicht aber war bleich und gedunsen, der Blick der fast erloschenen Augen matt und glanzlos, und doch prägte sich immer noch das freundliche Wohlwollen darin aus, das in gesunden Tagen jedermann so kenntlich daraus geleuchtet hatte. Er sprach, man sah es, mit Mühe und Anstrengung und nur in abgebrochenen Sätzen; dabei hatte er seine Hand gleichsam segnend auf das Haupt eines dicht neben dem Bette knieenden weiblichen Wesens gelegt, das Waldemar, sobald er nur einen Blick daraus geworfen, für seine Cousine Hille erkannte, obgleich er sie seit Jahren nicht gesehen und sie sich seit dieser Zeit unzweifelhaft außerordentlich verändert hatte. Denn das Bild, welches er von ihr in der Erinnerung bewahrte, war allerdings ein liebliches, da Hille schon in ihrem vierzehnten Jahre nicht allein ein verständiges Mädchen gewesen war, sondern auch schon die Anlagen zu einer sehr großen Schönheit verraten hatte. Obwohl sie am Bettrande auf einem Schemel kniete und so ihre ganze Gestalt nicht zu überschauen war, so schien sie Waldemar doch bedeutend gewachsen zu sein und eine für Frauen ansehnliche Größe erreicht zu haben, der auch die Formen ihres vollkommen entwickelten Körpers entsprachen. Von ihrem dem Paten zugewandten Gesicht konnte er nur bei zufälligen Bewegungen vorübergehend das Profil wahrnehmen, aber das, was er sah, verriet schon, wie schön und ansprechend sich das volle Ganze darstellen würde. Den blühenden warmen Farben, von denen ihre Wangen strahlten, hatte selbst der Schmerz um den leidenden väterlichen Freund keinen Abbruch tun können, und das große funkelnde Auge mit seinen langen schwarzen Wimpern, dessen schöne blaue Farbe dem Lauschenden noch aus früherer Zeit erinnerlich, war zärtlich und liebevoll und doch, dem Charakter des Mädchens gemäß, fest und zuversichtlich auf das Gesicht des Sterbenden gerichtet. In ihrer Kleidung verriet sich, obgleich auch sie nicht streng nach Mönchgutischer Sitte gekleidet ging, doch die Abstammung von dem Volke dieser Halbinsel, wie denn alle Frauen desselben, mögen sie auch später in ganz andere Verhältnisse geraten, immer einen Teil ihrer Jugendkleidung beibehalten, um schon dadurch ihre Anhänglichkeit an das Land ihrer Väter zu beweisen. So trug sie auch heute, wie sie noch nie einen anderen getragen, den kurzen faltigen Rock von seinem schwarzen Tuche, dessen Rand mit dunkelblauem seidenen Bande eingefaßt war, unter dem die zierlichen Füße in festen Schuhen mit dem kräftigen Beine in mattblauen Wollstrümpfen hervorsahen. Ihr Oberleib war in die wohlkleidende Jupe gehüllt, die sich fest und prall um ihre reizenden Formen schloß und dadurch den schlanken und doch kräftigen Wuchs der Jungfrau vorteilhaft hervortreten ließ, eine Tracht, welcher der Brustlatz nie fehlen durfte, der – wie die Einfassung des Rockes – aus dunkelblauem Seidenstoff bestand, den kreuzweise gezogene goldene Schnüre eng zusammenhielten. Ihr weißer, anmutig gebogener Hals trat voll aus dieser Jupe hervor und war von kostbaren Bernsteinperlen umschlossen, die vorn, dicht über dem Brustlatz, ein mattgoldenes Schloß vereinigte. Das Haar, dunkel von Farbe, glänzend und überaus glatt nach beiden Schläfen hin gescheitelt, so daß die blühenden Wangen vollkommen frei blieben, war nicht mit der Mönchgutischen spitzen Mütze, vielmehr mit jenem kleidsamen pommerschen Käppchen von schwarzer flitternbesetzter Seide bedeckt, das die reichen Flechten des Hinterkopfes nur zum Teil verbarg und den Nacken hinunter, der eigentümlich kühn und stolz getragen wurde, lange schwarzseidene Bänder bis herab zur Taille flattern ließ. Auf der Hälfte der Arme, bis wohin die enganschließenden Ärmel der Jupe reichten, traten, ähnlich wie jetzt die Mode der Frauen bei uns ist, weitgebauschte und mit selbstgefertigten Spitzen besetzte Ärmel von der feinsten holländischen Leinwand hervor, die vorn an der Handwurzel durch einen Bernsteinknopf mit goldener Einfassung zusammengehalten wurden und eine rein geformte, weiße und doch kräftige Hand sichtbar werden ließen.

Waldemar wurde durch den Anblick dieses herrlichen Wesens, das mit Recht den Namen des schönen Mädchens von Sassnitz führte, wovon es jedoch nicht die geringste Ahnung hatte, und welches seine Cousine war, die ihm schon als Kind von ganzem Herzen zugetan gewesen, in Wahrheit betroffen, denn so schön hatte er sich die Gespielin seiner Jugend nicht vorgestellt, obwohl er von der Mutter schon hinreichend darauf vorbereitet war. Er ließ seine Augen eine geraume Zeit auf ihrer Gestalt mit einem Wohlgefallen ruhen, das zu zergliedern er in diesem Augenblick wohl nicht die Stimmung besaß, wie denn seine Bestrebungen und Neigungen von jeher mehr den Taten der Männer als der Schönheit der Weiber zugewendet gewesen waren. Auch verließ er nach einer Weile die Gestalt und das Gesicht Hilles wieder, um seine Blicke auf den sterbenden Lachmann zu richten, ohne sich selbst den Eindruck zu gestehen, den er von diesem unvermuteten Anblick empfangen hatte. Der kranke Freund seines Hauses fuhr noch immer fort, mit leiser Stimme zu der knienden Jungfrau zu reden, bis er endlich, was seine Handbewegung, der Ausdruck seiner hoch erhobenen Augen und tiefer gebeugte Gestalt Hilles darbot, mit brechender Stimme den Segen über sie sprach.

Waldemar, fromm im wahren Sinne des Worts, wie die meisten starken und naturwüchsigen Menschen, ward von diesem Vorgange tief ergriffen; er entblößte andächtig sein Haupt und fühlte wenigstens die Bedeutung der erhebenden Worte mit, die er mehr erriet als verstand. Als Hille sich darauf von ihren Knien erhob, den alten Mann auf die Stirn küßte und ihm die weichen Kissen, damit er schlafen, könne, zurechtlegte, dann aber in das Nebenzimmer schritt, folgte er ihr außen an das entsprechende Fenster und klopfte leise an dasselbe an, um den kranken Freund nicht in seiner notwendigen Ruhe zu stören.

Hille, mit ganzem Herzen bei den Worten weilend, die soeben zu ihr gesprochen waren, vernahm dennoch das Geräusch am Fenster und, nicht im Geringsten erschrocken, denn sie gehörte nicht zu den leicht erschreckbaren Wesen ihrer Gattung, trat sie auf das Fenster zu, zog den Vorhang ganz zurück und blickte in den Hof hinaus, über den der von seiner Nebelhülle befreite Mond eben sein klares Licht auszugießen begann. Als sie aber einen ihr im ersten Augenblick fremden Mann draußen dicht am Fenster stehen sah, öffnete sie es behutsam und fragte mit ihrer lieblichen Stimme, was derselbe begehre.

»Hille,« sagte da eine warme Stimme, die sich bemühte, ihre natürliche Kraft und Fülle zu einem halblauten Flüstern zu mäßigen, »erschrick nicht und zürne mir nicht daß ich in so tiefer Nacht an deines Paten Fenster poche. Sieh, ich komme von den Eltern und bringe Euch die herzlichsten Grüße – du kennst mich doch? Ich bin Waldemar Granzow, dein Vetter aus Sassnitz, der gestern zurückgekehrt und absichtlich nach Bakewitz gekommen ist, um dich zu sprechen und sich von deinem Wohlbefinden zu überzeugen, da die Mutter darüber in Sorge war.«

Erst während diese Worte gesprochen wurden und ihr immer klarer und deutlicher ward, was sich in diesem Augenblick zutrage, erschrak Hille, aber es war ein eigentümlicher Schrecken, aus Überraschung und Freude gemischt, was sich auch beides in der Stellung aussprach, die sie annahm, und in den Geberden, die sie ausführte. Denn sie trat einen Schritt vom Fenster zurück, legte beide Hände auf die Brust und ließ einen tiefen Atemzug hören, der einem geübteren Ohre, als das Waldemars war, alle Empfindungen kund getan hätte, die augenblicklich ihre Seele durchzitterten. Dann aber wieder rasch zum Fenster vortretend, streckte sie beide Hände hinaus und ergriff die schon ihr entgegengehaltene Rechte des lange nicht gesehenen Jugendgespielen.

»Waldemar,« sagte sie einfach und doch voll so natürlicher Innigkeit und Hingebung, »Du bist es? O, wie sehr freue ich mich! Aber, mein Gott, was führt dich in so später Nacht nach Bakewitz?«

»Ja, ich bin es,« erwiderte Waldemar; »öffne mir die Tür und laß mich ein, ich will die Gastfreundschaft Deines Paten für diese Nacht in Anspruch nehmen und dann dir alles erzählen, was mich nach Rügen und in Vater Lachmanns Haus geführt hat.«

Hille hielt sich nicht auf, noch ferner Worte zu verlieren; rasch sprang sie zur Haustür, riegelte sie auf und führte ihren Vetter mitten in das Zimmer, das sie soeben verlassen hatte, stellte ihn dicht vor das Licht der Lampe, die auf dem Tische brannte, und blickte ihm mit steigernder Verwunderung, sprachlos seine Züge durchforschend, in das so ernste männliche Gesicht, das sich bei dieser Untersuchung mit ungewöhnlicher Wärme belebte.

Denn was Waldemar jetzt in den schönen großen Augen und dem so ausdrucksvollen blühenden Antlitz des Mädchens wahrnahm, tat ihm, er wußte nicht wie es kam, auf eine unbeschreibliche Weise im innersten Herzen wohl, und er pries im Stillen den Rat der guten Mutter, die ihn nicht ohne Nebenabsicht hierher gesandt, was er bei seinem arglosen Gemüte zu entziffern freilich nicht im stande gewesen war.

Wohl eine Stunde verstrich den beiden jungen Leuten, ohne daß sie den Flug der Zeit bemerkten, in traulichem und immer noch halblaut geführtem Zwiegespräch, und nach dieser Zeit wußte Hille so ziemlich, welchen Umständen sie das Wiedersehen Waldemars verdankte. Nach dieser Stunde aber erhob sie sich von ihrem Stuhle, schlüpfte leise in das Nebenzimmer, um nach dem Kranken zu sehen, der unterdeß ruhig eingeschlafen war, und gab dann einer verständigen Magd rasch einige Anweisungen, die sich auf die Lagerstätte des unerwarteten Gastes bezogen. Und als nach einiger Zeit die Magd ins Zimmer trat und meldete, daß alles zur Aufnahme des Vetters bereit sei, boten sich die jungen Leute eine gute Nacht, indem sie die Mitteilung ihrer noch nicht besprochenen Verhältnisse auf den folgenden Tag verschoben.

*

Waldemar, der einen tüchtigen Marsch gemacht hatte, verfiel fast augenblicklich in tiefen Schlaf. Nicht so Hille. Alles, was sie von dem jungen Manne in bezug auf seine persönlichen Verhältnisse erfahren, machte sie unruhig und einigermaßen besorgt, so daß der Schlummer, der sich sonst nie vergeblich erwarten ließ, heute zu kommen zögerte, und sie in eine seltsame Erregtheit sich versetzt fühlte, die sie noch nie im Leben empfunden zu haben glaubte. Und doch war mit dieser Unruhe ein gewisses nicht unangenehmes Gefühl verbunden, ein Gefühl, für das sie keine Bezeichnung wußte, obgleich es von einer ganz besonderen Art war. Ganz eigentümlich war ihr dabei zu mute, weil ihr Herz, das bisher immer so ruhig und gleichmäßig geschlagen, bei dem Gedanken an die möglichen Verwickelungen, denen Waldemar entgegenging, seltsam kräftig pochte und ihr gewissermaßen die Mahnung zuflüsterte, ihre Befürchtungen laut werden zu lassen, damit er die Verfolgung seiner Person seitens der Dänen nicht so gering anschlage, da wohl anzunehmen wäre, daß diese, falls sie einen bestimmten Verdacht gegen ihn hegten, seine Spur nicht aus den Augen lassen und sich jedenfalls mit den Franzosen auf der Insel Rügen deshalb in Verbindung setzen würden.

Dieser Entschluß blieb ihr auch bis zum Morgen im Sinne, obgleich sie sich gestehen mußte, daß die Gefahren, die sie während der Nacht auf Waldemars Pfade gesehen, bei hellem Tage nicht mehr so bedeutend erschienen. Nichtsdestoweniger wollte sie mit ihm darüber reden und ihn zur Vorsicht mahnen. Wenn sie nun diese Absichten nicht sogleich ausführte, so hielten sie nicht die Obliegenheiten davon ab, die sie täglich im Haushalt ihres Paten zu erfüllen hatte, sondern der Umstand, daß der alte Lachmann, nachdem er erfahren, welchen Gast sein Haus berge, diesen zu sich beschieden und mit ihm ein langes Gespräch angeknüpft hatte, das einen guten Teil des Vormittags in Anspruch nahm. Denn der Kranke befand sich an diesem Morgen auffallend besser, als in den Tagen vorher, es drückte sich dies in jedem seiner Worte aus, die er kräftiger und lauter sprach denn je, und namentlich ließ er seine Freude darüber hören, daß es ihm vergönnt gewesen sei, vor seinem Hinscheiden noch einmal den wackeren Sohn seines Freundes, des Strandvogts, zu sehen und mit ihm über die vaterländischen Angelegenheiten, den französischen Kaiser und die trübselige Lage zu sprechen, in die Schweden und Deutschland durch denselben geraten waren. Gegen Mittag endlich, als er wieder in Schlummer gesunken war, in dem er gewöhnlich mehrere Stunden verharrte, fand Hille Gelegenheit, sich Waldemar zu nähern, und nun leitete sie schon bei Tische das Gespräch ein, das sie eigentlich für den Nachmittag aufgespart hatte, wo sie einer ungestörten Ruhe gewiß sein konnte. Waldemar selbst war bei Tische weniger gesprächig, als am Abend vorher und schenkte den Fragen und Andeutungen des lieblichen Mädchens nicht die erwartete Aufmerksamkeit, wahrscheinlich aus dem Grunde, weil er, je weiter der Tag vorrückte, schon wieder an die Abreise und das Zusammentreffen mit seinem zärtlichst geliebten Freunde auf dem Rugard dachte.

So war denn endlich die ruhige Nachmittagsstunde gekommen, die Arbeiter hatten das Haus verlassen und das kleine Gut lag im Sonnenschein eines klaren Maitages, des letzten dieses Monats, wie wir wissen, friedlich am Strande der glatten Meeresfläche, auf der sich nur der blaue Himmel wiederspiegelte, so weit das menschliche Auge reichte.

»Komm,« sagte Hille zu Waldemar, der sich eben mit der Untersuchung seiner Waffen beschäftigte, »laß uns an den Strand gehen, ich will dir meine kleine Laube unter den Nußbäumen zeigen, wo ich manche einsame Stunde zu verbringen pflege.«

Waldemar legte sogleich seine Pistolen nieder und folgte der Aufforderung seiner holden Cousine, schritt ihr durch das kleine Gärtchen nach, das zwischen dem Hause und dem Strande lag, und erreichte unter zwei dicht zusammengepflanzten Nußbäumen eine kleine Bank und einen Tisch, die noch wenig von dem Schatten verdunkelt wurden, der im Sommer diesen lieblichen Sitz so wünschenswert und behaglich machte. Hier, dem leisen Gemurmel der See so nahe, daß sie die einzelnen Schaumperlen, die von Zeit zu Zeit über die Kiesel rollten, unterscheiden konnten, und von dem Geflüster der Binsen, die rings um den Strand in dichter Fülle wucherten, zur traulichen Ruhe eingeladen, ließen sich Beide nieder, wandten ihre Blicke erst auf die See, die nirgends ein Segel zeigte, und dann richteten sie die Augen auf sich selbst, eins das andere durch Schweigen fragend, wer denn nun zuerst das Gespräch beginnen werde. Da der ernstere Waldemar andauernd schwieg, so hielt sich Hille verpflichtet, das erste Wort fallen zu lassen, in der Hoffnung, dem ersten werde bald das zweite und dann die übrigen von selber folgen.

»Also da bist du wieder auf Rügen,« sagte sie sanft, mit ihren Händen an einem wollenen Schal beschäftigt, den sie bei ihrem nächsten Besuche auf Sassnitz Vater Granzow verehren wollte, und dabei bald auf die See hinaus, bald auf ihre Arbeit niederblickend, »ich habe nicht gedacht, dich sobald wiederzusehen, da du so lange von Hause entfernt bliebst, ohne uns irgend eine Nachricht zukommen zu lassen.« .

»Daran waren die Kriegsunruhen schuld, Hille,« erwiderte Waldemar freundlich, »ich würde gern geschrieben haben, wenn ich hätte hoffen dürfen, daß meine Briefe sicher in Eure Hände gelangten. Ach, aber daran ist jetzt nicht zu denken; die Franzosen spionieren in fast allen Briefen umher, und es ist also besser zu schweigen, als seine Gedanken und Wünsche in lesbaren Worten mitzuteilen.«

»Das haben wir uns wohl auch öfters gesagt, aber doch ist es übel, von seinen Verwandten, die fern und in Gefahr sind, nichts zu hören. Was hast du dir denn für die nächste Zukunft vorgesetzt, Waldemar?«

»Gar nichts, Hille, wer kann sich jetzt etwas vorsetzen? Die Tage der Gegenwart sind trübe und die der Zukunft unklar, da möchte man denn auf Sand bauen, wenn man sich einen bestimmten Plan machte. Laß uns erst das freche Franzosenvolk los und wieder frei sein von dem Joche, welches uns gegen alles Recht und alle Billigkeit zu Boden drückt, erst dann kann ein Mann wie ich an seine Zukunft denken.«

Hille schwieg eine Weile, dann sagte sie mit niedergebeugtem Kopfe: »Wirst du denn eine Zeitlang auf der Insel bleiben, oder wirst du sie wieder bald verlassen? Deine Mutter wird sich oft mit diesem Gedanken beschäftigen, und ich denke, es dürfte ihr tröstlich sein, wenn ich ihr etwas Angenehmes darüber sagen kann.«

»Leider kann ich dir darauf keine bestimmte Antwort geben, Hille; alles das hängt von Magnus Brahe ab, den ich heute Nacht auf dem Nugard erwarte. Wozu er Neigung, verraten wird, darauf werde ich auch meine Tätigkeit richten.«

»Du wirst ihm also auch ferner auf seinen Streifzügen folgen?«

»Gewiß werde ich das, ich verlasse ihn nicht, dazu habe ich ihn zu lieb. Er würde mich nicht verlassen haben, wenn die Notwendigkeit uns nicht zu einer Trennung geraten hätte.«

»Werdet Ihr Euch denn wieder irgend einem Unternehmen anschließen, wie Ihr bisher getan habt, oder werdet Ihr ruhig abwarten, was die Zeitereignisse bringen?«

»Das ist es ja eben, was ich nicht weiß, Hille; jedenfalls aber werden wir lieber tätig sein, als in Ruhe verharren, da es uns schlecht anstehen würde, die Hände in den Schoß zu legen, wenn es gilt, die Arme zu erheben und den Feind zu vertreiben.«

»Ach, was sind das für traurige Zeiten! Aber wir haben ja jetzt hier in der Nähe keine Feindseligkeiten zu erwarten, Waldemar, ich wüßte also nicht, was Ihr vor der Hand unternehmen könntet.«

»Das kann man so genau nicht sagen, und jedenfalls hat Magnus Pläne geschmiedet und Absichten vor Augen, die er mir mitteilen wird, und die wir dann beide beraten werden.«

»Ich bin recht neugierig darauf, ich kann es wohl sagen. Aber erzähle mir doch etwas von deinem Freund Magnus. Ich erinnere mich des Tages recht gut, als er zum letzten Male mit dir im Kiekhause war – ist er noch immer so bleich und traurig, wie er es schon als Knabe war?«

»Leider, ja, Hille,« so ist er noch immer. Indessen ist er aus einem Knaben ein stattlicher Mann geworden, fast noch größer als ich, aber freilich nicht so stark und dauerhaft wie ich. Seine bleiche Gesichtsfarbe und seinen zarten Körper hat er behalten, und was sein Gemüt, betrifft, so wird er noch immer von jenen traurigen Vorahnungen heimgesucht, die ihm, wie er so oft sagt, ein frühes Ende verkündigen.«

»Das ist doch, seltsam, was denkst du denn davon?«

»Was soll ich davon denken, Hille? Es schmerzt mich sehr, wenn ich ihn sich abängstigen sehe und ihm doch nicht helfen kann. Er hat nun einmal von der Natur diese traurige Mitgift empfangen, und dergleichen ist schwer auszurotten. Übrigens ist er noch immer, wenn sein Herz kein Kummer drückt, derselbe freundliche, wohlwollende Mensch, und nur, wenn sein heftiges Temperament erwacht, ist es gefährlich, mit ihm anzubinden.«

»Merkwürdig, daß er schon als Knabe so war! Ob er Wohl noch manchmal an die kleine Gylfe denken mag, die sein Vater in Obhut genommen und schon vor vielen Jahren in das Stift zu Bergen hat aufnehmen lassen?«

»Ach ja, an die denkt er oft genug, und am häufigsten dachte er an sie, als er den Entschluß faßte, nach Rügen zu gehen. Gylfe aber kann, so wenig wie du, noch ein kleines Mädchen sein, sie war vier Jahre jünger als Magnus und steht also in dieser Beziehung in demselben Verhältnis zu ihm, wie du zu mir.«

»Magnus war ja wohl zwei Jahre älter als du?«

»Ja, er ist jetzt vierundzwanzig Jahre alt, und ich bin zweiundzwanzig gewesen.«

»Weiß er, wo Gylfe geblieben ist, seitdem sie das Stift verlassen mußte, als es die Franzosen in ein Hospital umwandelten?«

»Nein, das weiß er, wie ich denke, nicht. Ist dir etwas darüber bekannt?«

»Einiges, o ja. Der alte Graf Brahe wollte sie mit nach Schweden nehmen, aber sie weigerte sich, die Insel zu verlassen, trotzdem die Feinde sie in Besitz nahmen.«

»Aber wo blieb sie denn?«

»Sie ging nach Spyker zu dem alten Kastellan Ahlström, in dessen Familie – er hat ja, wie du weißt, eine Frau und zwei Töchter – sie sicher zu sein glaubte.«

»In Spyker? Da liegen ja aber Franzosen –«

»Gewiß, und die Feinde, die uns so verhaßt sind, sollen ihr durchaus nicht gefährlich dünken.«

»Hille! Was sagst du? Gylfe ist in Spyker, wo die Franzosen sind, und verkehrt mit ihnen? Großer Gott, wenn Magnus das hört, so wird er in einen fürchterlichen Zorn geraten. Ha! Da haben wir ja schon ein Unternehmen!«

»Wie so? Was kann er dagegen tun?«

»Das frage ihn selber. So weit ich ihn kenne, wird er mit Gylfes Geschmack nicht zufrieden sein, und er wird sich nach Spyker begeben, um zu sehen, was dort vorgeht.«

»Da kann er sich aber in unangenehme Dinge verwickeln – die Herren dort spaßen nicht.«

»Glaubst du, daß Magnus spaßen wird? Er wird den Franzosen die Gylfe mit Gewalt nehmen, und wer kann wissen, was sich daran knüpft!«

»Nun, da geht Ihr ja einer bewegten Zeit entgegen – nimm dich in acht, Waldemar, ich bitte dich darum. Wenn Euer Name den Franzosen bekannt würde, dürftet Ihr in Spyker nicht allzu gesichert sein.«

»Wer wird ihnen unsere Namen verraten? Auf Spyker lebt kein Verräter!«

»Gott gebe es! – Wann wirst du aufbrechen und welchen Weg wirst du wählen?«

»Ich beabsichtige von hier quer durch Mönchgut bis Reddevitz zu gehen, dort wird sich ein Boot finden lassen, mit dem ich bis zur Stresower Bucht segle, wozu wir hoffentlich heute abend einen günstigen Ostwind bekommen. Von der Stresower Bucht werde ich den nächsten Weg über Nistelitz, Seelwitz, Zirkow und Dalwitz einschlagen und auf der Ostseite von Bergen den Rugard besteigen. Wenn der Wind irgend günstig ist, kann ich den ganzen Weg in vier Stunden zurücklegen, und so werde ich denn heute abend um acht Uhr aufbrechen.«

Hille antwortete nicht, sie hatte ihren reizenden Kopf tief auf die Stricknadeln gesenkt, aber sie strickte dennoch nicht; offenbar sann sie über etwas nach, was sie vor ihrem Gefährten verborgen halten wollte.

»Was denkst du?« fragte Waldemar, der einen zufälligen Blick auf das Mädchen warf.

»Ich stimme dir bei, das heißt, was deinen Weg anbetrifft. Der Landweg möchte dir mehr Gefahren bringen, als der Seeweg, und der Wind scheint wirklich günstig werden zu wollen. Bergen darfst du aber nicht berühren.«

»Warum nicht?«

»Weil dort sehr viele Franzosen stehen.«

»O, die fürchte ich nicht. Mich sollen sie nicht greifen, der ich wie ein Fuchs jeden Winkel des Landes kenne.«

»Und doch ängstige ich mich.«

»Du ängstigst dich? Das sieht dir gar nicht ähnlich.«

»O, man wird besorgt, wenn man so viel Schlimmes hört. – Waldemar, ich lasse dich jetzt allein. Ich will zu meinem Paten gehen und will sehen, was er macht. Verweile hier, ich komme wieder herab, wenn ich meine Pflicht erfüllt.«

»Geh, Hille, und tu, was du mußt.«

Hille nickte anmutig mit dem stolzen Köpfchen, erhob sich und schritt elastischen Ganges dem Hause zu, nicht wissend, daß Waldemar ihrer Erscheinung mit den Augen folgte, bis sie hinter der kleinen Tür, unter deren niedrigen Balken sie ihre schlanke Gestalt beugen mußte, im Innern des Hauses verschwunden war.

*

Es dauerte etwas lange, bis Hille wieder zum Vorschein kam, und Waldemar behielt Zeit genug, seinen Grübeleien nachzuhängen, die wie eine düstere Regenwolke sich plötzlich über sein Haupt zusammengezogen hatten. Das Gespräch mit Hille hatte seine Gedanken auf Magnus geleitet und zugleich Veranlassung genug geboten, dessen Verhältnisse und eigentümliche Gemütsrichtung, die wir noch näher kennen lernen werden, in ernste Erwägung zu ziehen. Aber es betraf nicht Magnus allein, was ihn während der anderthalb Stunden beschäftigte, die er allein blieb, auch eine andere Persönlichkeit war in das Sehfeld seines geistigen Auges getreten, und auf ihr, verweilte er mit einem um so größeren Interesse, als ihm dergleichen, in seiner Lebenserfahrung noch nicht vorgekommen war. Als daher Hille nach der erwähnten Zeit mit ihrem schwebenden Schritt wieder an seine Seite zurückkehrte, ahnte sie nicht, daß der still vor sich hinblickende Freund beinahe unwillkürlich und ohne sich des eigentlichen Grundes bewußt zu sein, sich mit ihr selbst beschäftigt hatte und daß er nur darum so rasch aus seinen Träumen emporfuhr, weil die Gestalt, mit der sein Geist verkehrte, nun plötzlich wieder vor sein leibliches Auge trat.

»Ich bin etwas lange geblieben, Waldemar,« sagte sie und nahm ihren früheren Platz wieder ein, »aber mein Pate war erwacht, und ich hatte mit ihm Wichtiges zu besprechen. Er befindet sich auch gegenwärtig ziemlich munter und hat mich gebeten, Dich zu ihm zu führen, bevor du dich zu deinem Vorhaben rüstest.«

»So will ich sogleich zu ihm gehen, Hille, denn es ist fünf Uhr vorbei, und die Stunden verstreichen in Bakewitz rasch.«

Hille nickte beistimmend mit dem Kopfe, und beide verließen den lieblichen Platz am Strande, um sich in das stille Haus zurückzubegeben.

Wenige Minuten später saß Waldemar an dem Bette des Kranken, und Hille hatte das Zimmer verlassen, um das folgende Gespräch nicht zu stören, das sich zuerst auf Waldemars Eltern und dann auf die Fragen der Gegenwart bezog.

»Waldemar, mein Sohn,« schloß der Alte liebevoll die Unterredung, »ich höre, du willst nach dem Rugard, um den Sohn deines Beschützers, deinen Freund Magnus, daselbst zu treffen. Wohlan denn, gehe in Gottes Namen und halte dein Wort, welches du dem wackeren jungen Mann gegeben, hast. Ich brauche dir nicht zu sagen, daß der Weg, den du betrittst, nicht ganz eben und klar ist, nein, er ist es durchaus nicht. Du weißt am besten selbst, was du zu tun und zu lassen hast, denn wie du mir heute morgen sagtest, weißt du, daß auf der schwarzen Liste der Fremden dein Name stark unterstrichen ist. Verzeihe mir nun, dem alten Manne, daß ich dir rate, vorsichtig, das heißt, nicht allzu kühn und auf dein Glück vertrauend zu sein, denn das Alter wandelt vorsorgend seine Bahn, wo die Jugend ungestüm dahinstürmt. Begib dich nie in Gefahren, die du umgehen kannst; der tapfere Mann muß auch weise sein, wenn er Großes vollbringen und zum Ziele gelangen will. Wenn du zu deinen Eltern heimkehrst – und ich wünsche, daß es recht bald und unter den günstigsten Umständen für dich geschehe – so grüße sie von mir und sage ihnen, daß der alte Lachmann selbst in den bittersten Stunden seines Lebens ihrer liebevoll gedacht habe. Wir sind zusammen jung und glücklich gewesen, und das vergißt man, selbst in seiner Sterbestunde nicht. Im übrigen gebe ich dir meine besten Wünsche mit auf den Weg, und falls du Geld brauchst, o sprich, ich bin geneigt, dir von meinem Überfluß etwas mitzuteilen.«

»Ich danke von ganzem Herzen,« erwiderte Waldemar gerührt, »ja, ich muß Euch danken, denn ich bin genügend versehen, und Graf Brahe hat nie vergessen, den Geldpunkt für uns auf lange Zeit voraus zu ordnen.«

»So ist es gut, ich dachte mir es wohl. Hast du noch sonst einen Wunsch, den ich dir erfüllen könnte?«

»Daß ich nicht wüßte, wenn es nicht der ist, daß Ihr Gott bittet, er möchte meine Schritte nicht vergebens sein lassen, und daß er uns allen den Frieden und damit das Glück des Lebens wiedergebe.«

»Das tue ich, das tue ich, so wahr mir Gott helfe, alle Tage und Nächte! – Nun habe ich aber noch selbst eine Bitte.«

»Welche wäre das?«

»Wenn ich nicht mehr bin, wird Hille wieder um ein Herz mehr verwaist sein und fast keinen Anhalt mehr auf Erden haben, als deine Familie, deren Haus das ihrige ist. Bitte also deine Eltern in meinem Namen, das Mädchen wie ihr eigenes Kind zu halten, und was du selbst dazu beitragen kannst, auf daß es geschehe, das versprich mir zu tun.«

»Von ganzem Herzen, Vater Lachmann, das versteht sich von selbst,« erwiderte Waldemar in seiner treuherzigen Weise.

»Ja, es versteht sich von selbst, das ist richtig, aber mir macht es Freude, deine Versicherung, daß es so sein werde, entgegenzunehmen. Da hast du meine Hand zum Abschiede und nun geh. Du hast noch zwei Stunden bis zum Sonnenuntergange vor dir, und die will ich der Hille nicht entziehen, die dich wie ihren Bruder liebt. Lebe wohl, mein Sohn!«

Waldemar kniete auf denselben Schemel nieder, auf dem Hille so oft gekniet, und empfing den Segen von derselben Hand, die auch schon ihren Scheitel so wohlwollend berührt hatte. Dann erhob er sich, schritt aus dem Zimmer und trat mit ernstem Gesicht in das kleine Gemach nebenan, in welchem unterdes Hille den Abendimbiß vorbereitet hatte.

Während derselbe eingenommen wurde, herrschte ein ziemlich verlegenes Schweigen von seiten der beiden daran teilnehmenden; Waldemar war mit seinen Gedanken bei den verschiedenen Aufträgen und Ermahnungen, die der Sterbende ihm ausgesprochen, und Hille verarbeitete einen Plan, der nicht wenig aufregend sein mußte, denn ihr blühendes Gesicht war höher gerötet als vorher, und ihr Auge blieb meist auf den Teller gerichtet, ohne zu wagen, das nachdenkliche Antlitz des ihr gegenübersitzenden jungen Mannes zu betrachten. Endlich waren sie beide mit essen fertig, und während nun Waldemar das Fenster öffnete, um den Stand der Sonne und die Stärke des Windes zu prüfen, begab sich Hille in ihr eigenes Stübchen, um irgend welche Vorrichtungen darin zu treffen. Als sie etwas lange ausblieb, trat Waldemar noch einmal an den Tisch, auf dem seine Pistolen, sein Messer und sein lederner Leibgürtel lagen, untersuchte die Waffen genau und fing dann an, den Gürtel umzuschnallen, da die Zeit des Abmarsches allmählich herankam.

»Willst du schon fort?« fragte da plötzlich eine liebliche Stimme hinter seinem Rücken.

Waldemar drehte sich herum und sah Hille im Zimmer stehen, das schwarze faltenreiche, mit Atlasbändern reich besetzte Mäntelchen auf dem Arme haltend, welches die Mönchguterinnen stets anzulegen pflegen, wenn sie zu irgend einer Festlichkeit gehen, begüterte Frauen und Mädchen aber auch bei jedem Ausgange tragen. Außer diesem Mäntelchen hielt sie noch ein großes Wolltuch in der Hand, welches bei heftigem Winde oder Regen über den Kopf geschlagen wird, um diesen und den ganzen Oberleib dagegen zu schützen.

»Nein, noch nicht,« erwiderte Waldemar auf obige Frage. »Aber wie, willst du auch ausgehen?«

Hille suchte das fragende Auge des jungen Mannes zu vermeiden, als sie schüchtern antwortete: »Ja, ich will ausgehen.«

»Wohin denn?«

»Nach Reddevitz.«

»Nach Reddevitz – wohin ich gehe? Was hast du denn dort zu tun?«

»Ich will dich geleiten, mein Pate hat es mir erlaubt.«

»Mich? Hille! Warum denn das?«

»Wir wollen sicher gehen, daß du ein gutes Boot findest, und da ich einen wackeren Fischer dort im Dorf kenne, der ein solches besitzt, so will ich dich zu ihm führen, und er selbst soll dich nach der Stresower Bucht fahren.«

»Wie! Und du denkst, ich werde das zugeben? Nun und nimmermehr!«

»Dann werde ich gegen deinen Willen hinter dir herlaufen – geh nur voran, ich folge.«

»Hille!«

»Waldemar!«

»Aber wozu das?«

»Ich habe es ja schon gesagt. Auch weiß ich ganz genau, wo die Wachtposten der Franzosen ausgestellt sind, und die sollst du vermeiden, wenigstens auf Mönchgut.«

»Aber du begiebst dich ja dann selbst in Gefahr, geschweige denn, daß du den weiten Weg rückwärts allein zurücklegen mußt –«

»O nein! Ich bleibe so lange im Hause des Fischers, bis er von Stresow zurückkommt, und dann geleitet er mich sicher hierher.«

Waldemar lächelte auf eine eigentümliche Art, die eben keine Unzufriedenheit ausdrückte. Der gute Wille seiner Cousine behagte ihm, und ihr Mut nicht minder. Da er sah, wie entschlossen sie zu ihrem Vorhaben war, so schwieg er – was sollte er auch sagen? Seitdem er in diesem Hause war, seitdem er Hille wiedergesehen, waren so manche Empfindungen und Gedanken durch sein Hirn gefahren, die ihm zum mindesten neu und so seltsam vorkamen, daß er sie sich auf keine Weise entziffern konnte. So brachte er die Zeit damit hin, langsam im Zimmer auf und ab zu schreiten, dann und wann aus dem Fenster zu blicken, bis er sich endlich zu Hille wandte, die ab- und zugegangen war, und zu ihr sagten »Jetzt ist es Zeit, Hille; wenn du willst, so bin ich bereit.«

Über Hilles Gesicht flog ein triumphierendes Lächeln. Sie warf sich das Mäntelchen mit einer geschickten Bewegung um die Schultern, nestelte es zu und griff nach dem Windtuche. Waldemar dagegen steckte seine Waffen ein, zog seinen Wetterrock an und griff nach Hut und Stock. Zwei Minuten später traten beide vor die Tür, und gleich darauf hatte das Gehölz, das sich um Bakewitz zieht, sie in seinen Schatten aufgenommen, den die beginnende Abenddämmerung allmählich darüber auszubreiten anfing.

*

Die kurze Strecke von Bakewitz nach Reddevitz, die, quer durch das Land vom Ost- zum Weststrande Mönchguts führend, etwa eine gute halbe Stunde betrug, wurde von den beiden Wanderern anfangs schweigsam, nachher in harmloser Plauderei zurückgelegt. Auf abgelegenen Wegen, bald durch öde Triften oder Torfmoore wandelnd und nur wenigen Eingeborenen begegnend, erreichten sie die Westküste der Halbinsel und das obere Ende der seltsamen Erdzunge, die im Ganzen Reddevitz heißt, sowie das kleine Dorf gleichen Namens, wo der Bekannte Hilles wohnte. Mit raschem energischen Schritte bewegte sie sich auf eins der winzigen Strandhäuserchen zu, hob mit kräftiger Hand die Tür empor und bückte ihren stattlichen Körper, um in den inneren räucherigen Raum einzutreten. Waldemar folgte ihr und fand in einem erbärmlichen Kämmerchen, Dünsen genannt, den Bekannten Hilles auf der breiten Ofenbank hockend, wo er eben ein Stück Brot und kalten Fisch verzehrte. Er speiste allein, da seine Familie irgendwo im Freien beschäftigt war.

Sobald er die hohe Gestalt des schönen Mädchens erblickte, dem ein ihm unbekannter stattlicher und seinen Begriffen nach fein gekleideter Mann folgte, erhob er sich und trat den Ankommenden grinsend entgegen. Aber dieses Grinsen bedeutete so viel wie: »Ihr seid mir willkommen, was kann, ich für Euch tun?«

»Guten Abend, Peter!« sagte Hille freundlich und setzte sich dicht zu ihm auf die Ofenbank. »Ich bringe Euch hier meinen Vetter, der auf einer geheimen Reise begriffen ist und den Franzosen gern aus dem Wege gehen möchte. Ich frage Euch nun, ob Ihr geneigt seid, ihn sicher nach der Stresower Bucht zu fahren?«

Der Fischer, der in seiner Nationaltracht, das heißt in einer weiten schwarzen Jacke mit Knöpfen von Kokosnußschalen und in seinen doppelten Fischerhosen, über die noch die unvermeidliche, bis zu den Waden schlotternde Schurzhose herabhing, eine dem Eingeborenen Jasmunds wohlbekannte aber immerhin auffallende Erscheinung bot, nickte mit dem Kopfe, trat an das niedrige Fenster und warf einen prüfenden Blick auf das Meer. »Ja,« sagte er, »ich bin bereit und gern. Der Wind ist gut, und die Fahrt wird in weniger als einer Stunde vollendet sein.«

»Gut, aber, wißt Ihr auch genau Bescheid, wo die Posten der –«

»O!« unterbrach sie der willige Mann, »es wäre schlimm, wenn ich das nicht wüßte. Ich bin erst heute morgen in Stresow gewesen und kann Euch sagen, wo rings eine Flinte. versteckt ist.«

»So bin ich zufrieden, macht Euch fertig – aber halt – noch eins! Ihr dürft Euch drüben auf Rügen nicht aufhalten, sondern müßt so schnell wie möglich wieder zurück kommen. Ich werde Euch hier erwarten und Ihr sollt mich flugs nach Hause begleiten.«

Bei diesen Worten einen lächelnden Blick auf Waldemar werfend, als wolle sie ihm dartun, daß sie seinem Wunsche jetzt hoffentlich entsprochen habe, schritt sie zur Tür, um aus der rauchigen und übermäßig warmen Stube wieder ins Freie zu gelangen. Der Fischer dagegen, der, wortkarg wie alle seine Landsleute, längst seine Beistimmung auf ihre Anrede genickt hatte, nahm seinen breitrandigen, tief über das Gesicht herabfallenden Hut, ging dann in einen nahegelegenen Schuppen, wo er einen kurzen Mast, an dem ein starkes Segel mit allen nötigen Tauwerken befestigt war, nahm und das Ganze, als wäre es eine kinderleichte Last, nach dem Strande trug, wo ein festes Boot, auf die Seite geneigt, mit dem Kiel im Sande lag. In wenigen Minuten waren alle seine Vorbereitungen beendet. Das Boot war ins Meer gewalzt, der Mast stand fest in seinen Klampen und Bügeln, das Segeltuch war auseinandergerollt und die Schoten an ihren Haken befestigt. Als alles das vollendet war, drehte sich der Fischer nach dem Strande um, als wolle er erkundigen, warum der Fremde noch zögere, zu ihm ins Boot zu steigen.

Die Unterhaltung zwischen den beiden Verwandten, die ruhig fortgedauert hatte, bis sie den Strand erreicht, war verstummt, sie standen anscheinend ganz gemütsruhig nebeneinander und schauten sich kaum an; nur von Zeit zu Zeit, und dann mit einer beinahe heimlichen Hastigkeit, als wollten, sie nicht dabei ertappt werden, flogen ihre Blicke übereinander hin und wandten sich dann gleich wieder ab, um den eilfertigen Vorbereitungen des Fischers ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Da sagte endlich Hille, um den peinlichen Druck zu beseitigen, den ein solches Schweigen immer in seiner Begleitung hat:

»Du hast eine schöne Nacht vor dir, Waldemar; der Mond kommt in seiner ganzen Herrlichkeit herauf, der Himmel ist ringsum klar, und du wirst einen angenehmen Gang haben. Ich wollte, ich könnte mit dir bis nach dem Rugard gehen, denn ich habe ihn noch nie bestiegen und liebe solche Spaziergänge in mondheller Nacht. Allein ich darf meinen Paten nicht verlassen, und so muß ich der Pflicht folgen. Nun aber, Waldemar, sei vorsichtig, ich bitte dich um deiner Mutter willen darum, deren einziger Sohn du noch bist – versprichst du es mir?«

»Ich verspreche es dir, besorge meinetwillen nichts. Mein Weg ist kurz und die Pfade sind mir bekannt. Vielleicht gibt es Gott, daß ich dir einmal, wenn wir Frieden haben, den Rugard im Mondenlicht zeige.«

»Gut, Waldemar, wenn es auch im Sonnenglanz des Tages ist, ich werde dies Versprechen nicht vergessen. Wann aber sehen wir uns wieder?«

»Wann Gott es will!«

»So geleite er dich! Da – Peter ist fertig und erwartet dich schon.«

Sie streckte ihre Hand aus, Waldemar ergriff sie etwas hastig und hielt sie eine Weile in der seinen fest. »Lebe wohl,« sagte er mit hörbar beklommener Stimme, obgleich er sich Mühe gab, sie so volltönend wie möglich erklingen zu lassen.

Hille begleitete ihn bis dicht an den Strand, wo ein langes Brett, auf gewaltigen Steinen ruhend, das bei stürmischem Wetter weit aufs Land gezogen wurde, bis zu dem Boote führte, welches sich bereits unter der Wucht des geblähten Segels schaukelte, als könne es die Zeit nicht erwarten, die tänzelnden Wogen mit seinem Kiele zu teilen.

Noch einmal wandte sich Waldemar nach Hille herum, noch einmal reichte er ihr die Hand, dann sprang er ins Boot, das augenblicklich von der Planke fort in See stieß, denn Peter war kein Freund von überflüssigem Zögern und langen Worten.

»Ich danke dir für deine Begleitung!« rief Waldemar zurück, noch im Boote stehend, das schon davonschoß.

»Glückliche Überfahrt!« tönte es ihm wieder zu.

»Glückliche Nachhausekunft!«

Das letzte Wort verschlang halb der Wind, der von Minute zu Minute heftiger zu wehen begann. Hille stand unbeweglich und sogar vergessend, das Tuch über den Kopf zu schlagen, auf der Planke und schaute dem Segel so lange nach, als sie es mit den Augen erreichen konnte, was seinerseits auch Waldemar in entgegengesetzter Richtung tat. Als aber das Boot immer mehr in dem Schatten der Abenddämmerung und dem Duft der Ferne verschwand, trat Hille langsam den Rückweg nach der Fischerwohnung an, wo sie sich so lange bei der heimgekehrten Familie Peters aufhielt, bis dieser zurückkam und die Meldung von der glücklich vollendeten Fahrt überbrachte.


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