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Erstes Kapitel.

Der Strandvogt im Kiekhause bei Sassnitz.

Der geneigte Leser folge uns nach der Halbinsel Jasmund, jenem eigentümlichen, schönen und durch die Landzungen: »die schmale Haide« mit der eigentlichen Insel Rügen, durch »die Schabe« mit der Halbinsel Wittow verbundenen Hochlande, dessen der Ostseite zugewandte Küsten, schwer zugängliche Kreidefelsen, mit herrlichen Buchenwipfeln gekrönt, jäh in die See abstürzen und, wenn man das Glück hat, sie bei ruhigem Wasser von einem fern auf dem Meere schwimmenden Boote aus zu betrachten, wie der felsige Bug eines riesigen Schiffes erscheinen, das seine steinernen Rippen kühn und unverzagt dem gewaltigen Anprall der schäumenden Wogen entgegendrängt. Jene vorhergenannten schmalen Landzungen, deren nördliche die grollende Tromper-Wiek die südliche die gemäßigter brausende Prorer-Wiek bespült, erblickt man dann wie ein Paar weite, nach Süden und Norden sich ausbreitende Flügel, auf deren südlichstem Endpunkt die waldreiche Granitz und das seltsam gestaltete Göhrensche Höwt, genannt Peerd, hervorragt, auf deren nördlichem Auslauf aber die majestätisch blickende Küste von Arcona thront, welches das äußerste nördliche Vorgebirge unseres großen deutschen Vaterlandes ist.

Wenden wir uns zunächst der von uralten Erdrevolutionen, Stürmen und Regengüssen vielfach zerklüfteten Südostküste dieser Halbinsel zu, die hie und da nach dem Meer sich öffnende Schluchten, hier Lithen genannt, zeigt, in denen Bäche rieseln, kräftige Buchen prangen und die kühnen Menschen Schutz finden vor dem Ungestüm der Witterung, wenn sie nach schwerer Arbeit auf dem mächtigen Element, aus dem sie ihre tägliche Nahrung schöpfen, abends am flackernden Herdfeuer ruhen.

Eine dieser Schluchten, und zwar die, durch welche der Steinbach rinnt, nimmt auch uns zuerst auf und führt uns zu der Wohnung des Mannes, den die Überschrift dieses Kapitels genannt hat.

In dieser Schlucht nämlich, auf jeder dazu geeigneten Stelle, ob hoch oder niedrig, luftig oder dumpfig, gleichwie die Vögel ihre Nester in Erdlöchern anlegen, wo sie sie finden, haben die Fischer des Dorfes Sassnitz ihre Häuserchen erbaut, die, was die malerische Lage an der schönen See betrifft, vor vielen ähnlichen Niederlassungen weit und breit begünstigt sind. Freilich stellen sich diese kleinen Strandwohnungen ebensowenig als elegante, wie als besonders geräumige Landsitze dar, am wenigsten in dem Jahre, welches wir hier vor Augen haben, allein das zerklüftete und mit einem undurchdringlichen Gestrüpp grüner Bäume und weithin kriechender Gebüsche bedeckte hohe Ufer, die üppige, von der Seeluft und den Winden gekräftigte Vegetation, der rauschende Steinbach, der im tieferen Hintergrunde der Schlucht selbst eine Mühle treibt, und das patriarchalisch einfache und natürliche Leben der Strandbewohner, die sich fast allein mit Ackerbau- und Fischfang beschäftigen, gewähren ein so anziehendes und harmloses ländliches Bild, daß wir wohl die Liebhaberei einiger Touristen begreifen können, die sich in neuerer Zeit hier im Laufe mehrerer Sommer häuslich niedergelassen und Sassnitz zu einem nordischen Seebadeorte umgewandelt haben, der heutzutage alljährlich schon mehrere Hundert Gäste anzulocken imstande ist.

Unmittelbar am Ausgang dieser Schlucht ersteigen wir vom Strande aus auf einem schmalen Pfade langsam die Höhe der Uferwand und stehen nun etwa achtzig Fuß hoch über dem Meere, das, sobald wir das erstaunte Auge darauf geworfen haben, uns einen Ausruf freudiger Bewunderung entlockt. Denn vor uns dehnt sich in unabsehbarer Weite das baltische Meer aus, in der Ferne nur vom dunkelazurnen Horizont begrenzt; zu unserer Linken beschränkt die Aussicht der höher ansteigende kreidefelsige Klippenrand, der sich nach Stubbenkammer und weit darüber hinaus erstreckt; zu unsern Füßen aber weit und breit zur Rechten hin rauscht die Prorer Wiek und bespült in der Ferne das schön bewaldete Ufer der Granitz, während über dem schon erwähnten seltsam gestalteten Peerdvorgebirge hinaus die pommerschen Küsten mit ihren Städten und Dörfern im Nebel des Meeres verschwinden.

Aber wir bleiben nicht lange auf der, dem Dorfe zunächst liegenden Bergplatte stehen, sondern wenden uns nordwärts noch etwas höher, einen mit kräftigen Buchenstämmen dicht bewachsenen Hügel hinan, auf dessen freierem Gipfel ein Häuschen steht, welches an Zierlichkeit und Größe die Fischerhäuser in der Schlucht bei weitem überragt. Durch einen wohlgepflegten, mit Nuß- und Obstbäumen reichlich bestandenen Garten, den ein grüngestrichenes, drei Fuß hohes Holzstacket umgibt, schreiten wir auf den westlichen Eingang des Einsiedlerhäuschens zu, das auch einen östlichen, dem Meere zugewandten Ausgang hat. Die ganze westliche, also dem vom Lande herkommenden Wanderer zugekehrte Seite des Hauses ist mit wildem Wein und Efeu bis zum Giebelfelde hinauf bewachsen, so daß die zwei zu jeder Seite der Tür befindlichen kleinen Fenster im Sommer und Herbst fast ganz davon beschattet sind, was indes zu der Jahreszeit, in welcher wir es zum ersten Mal betrachten, noch nicht vollkommen der Fall ist.

Bevor wir jedoch in das Innere desselben treten, begeben wir uns einen Augenblick auf seine Ostseite und finden hier einen üppigen Rasenfleck, dessen Mitte zwei mäßig starke Buchenstämme einnehmen, die vom häufig brausenden Seewinde mit ihren Wipfeln etwas westwärts geneigt sind. Beide verbindet eine zierlich geschweifte Rasenbank, und acht Fuß darüber, zum Teil von den starken Baumästen getragen, hat der Besitzer sich eine kleine Warte angelegt, auf der wir, wenn wir ihre paar Stufen ersteigen, den höchsten Punkt erreicht haben, der von dieser Gegend aus den weitesten Fernblick gestattet und dem Orte den Namen »Kiekhaus« verschafft hat.

Haben wir auch hier unser Verlangen gestillt und die blaue Ferne lange genug überschaut, so wenden wir uns endlich nach dem Hause selbst, um mit seinen Bewohnern einen Freundschaftsbund zu schließen, der bis an das Ende dieses Buches und hoffentlich noch länger dauern wird.

Der Besitzer dieses Häuschens ist der alte Strandvogt Daniel Granzow, der mit seiner Frau Ilske im Mai 1809 allein hier wohnt. Er ist für seine bescheidenen Verhältnisse und mit den Fischern in Sassnitz verglichen, ein wohlhabender Mann, denn er hat sich das Kiekhaus, zwar nicht aus eigenen Mitteln erbaut, aber doch in der behaglichsten Art jener Zeit wohl ausgestattet.

Das Zimmer, in dem er sich gewöhnlich aufhält, ist ein mäßig geräumiges, schneeweißgetünchtes Gemach, dessen zwei Fenster oberhalb des angedeuteten Rasenflecks liegen und also nach der See hinausgehen. Unter der Decke desselben zieht sich eine Kante frischen Efeus herum, der an den Wänden von Strecke zu Strecke festgenagelt ist und hie und da einige frische Zweige, namentlich nach den Fenstern hin, absendet. Hinter dem dunkelumrahmten Spiegel zwischen diesen Fenstern stecken zu jeder Seite Zweige des immergrünen Hülsbusches, und zwischen den Füßen eines mit schwarzem Wollenzeuge überzogenen Sofas sowie eines Großvaterstuhls und den anderen hier und da aufgestellten Stühlen sind in zierlichen Schlangenlinien zerstückelte Wachholderästchen wie eine fortlaufende grüne Schnur gelegt, was in älteren Zeiten überall gebräuchlich war und vielleicht auch noch jetzt an manchen Orten in dem altväterischen Rügen für einen beliebten Zimmerschmuck gilt.

Von gleicher Ordnung und Sauberkeit glänzen auch die anderen Zimmer des Häuschens, nur sind sie nicht so verschwenderisch mit Bequemlichkeitsmöbeln versehen; das wohlgelüftete Schlafzimmer der Alten aber zeigt ein ungeheures Ehebett, dessen dickaufgewulstete Pfühle fest zugezogene Gardinen von blau gestreiftem Baumwollenzeuge verdecken.

Es ist nachmittag vier Uhr, und also die Zeit, wo der Hausherr sein gewöhnliches Mittagsschläfchen hält. Er sitzt halb liegend auf seinem Sorgenstuhl, der dicht neben dem gewaltigen schwarzen Kachelofen steht, um den eine schwere Bank läuft, breit genug, damit man im Winter nicht allein darauf sitzen, sondern im Notfall auch liegen kann. Über dem Sorgenstuhl hängt an einem Wandriegel des Strandvogts glanzlederner Seemannshut, eine kurze Pfeife, deren Kopf das Bildnis des großen Schwedenkönigs Gustav Adolf zeigt, eine lange Strandbüchse, um Seevögel zu schießen, nebst Pulverhorn, zwei lange Reiterpistolen, ein Entermesser in Aalhautscheide, ein kurzes Sprachrohr von Blech, das vom langen Gebrauch ganz schwarz geworden, und endlich an einem langen Riemen ein vortreffliches Fernglas, welches das kostbarste Besitztum des alten Seemanns ist.

Daniel Granzow hat eine kräftige, mehr untersetzte als lange Seemannsfigur mit breiten Schultern, muskulösen Armen, etwas großen und rauhen Händen und ist, abweichend von den gewöhnlichen Seeleuten auf Rügen, über die ihn seine amtliche Stellung und seine größere Bildung erheben, in ein blautuchenes Wamms mit Weste und Hose von gleichem Stoff gekleidet, nur trägt er aus alter Gewohnheit noch bis zur Mitte des Oberschenkels reichende Wasserstiefel, die er nie von sich streift, bevor er nicht zu Bett geht. Sein von vielfachen Stürmen, Regengüssen und Sonnenstrahlen hart mitgenommenes Gesicht ist wohlgenährt, trotz seines Alters – er zählt etwa sechzig Jahre – wenig gerunzelt und rings von einem etwas struppigen eisgrauen Barte umgeben, der sich an den Schläfen an ein ebenso gefärbtes, sehr dicht emporstehendes Haupthaar anschließt. Jetzt, wo er sanft schläft und nur bisweilen einen tiefen Schnarchton ausstößt, zeigt sein Gesicht den Ausdruck einer fast kindlichen Ruhe, dem keineswegs die männliche Würde fehlt; wenn er aber sein großes blaues Auge aufschlägt, gewahrt der mit ihm Redende in diesen wettergebräunten Kernzügen sehr bald einen leichten Anflug kummervoller Resignation, der dem mit einer Stentorstimme sprechenden alten Seemann eine gewisse Milde verleiht, die offenbar viel dazu beiträgt, daß man rasch großes Vertrauen zu ihm faßt und ihn bald lieb gewinnt.

Auf einem Stuhle am Fenster, das Gesicht dem schlafenden Manne zugewendet, dem sie alle Aufmerksamkeit schenkt, welche ihr die Beobachtung des Wetters, der See und des vor ihr liegenden Strandes übrig läßt, sitzt Vater Granzows Frau: »Mutter Ilske«, wie sie von Groß und Klein in der ganzen Nachbarschaft seit Jahren genannt wird.

Sie ist eine große, stattliche Frau von etwas vollkommenen Verhältnissen, deren Gesicht auf den ersten Blick die Spuren einer großen, noch nicht ganz entwichenen Schönheit verrät. Mutter Ilske ist eine geborne Mönchguterin und kann als solche noch immer nicht die Gebräuche und Gewohnheiten ihrer seltsamen Heimat vergessen, was sich namentlich in manchen Teilen ihrer eigentümlichen Kleidung ausspricht. Diese ist zwar nicht die vollständige Tracht der Mönchgutischen Schönen, wie wir sie, seit Jahrhunderten unverändert, noch heute bei ihnen antreffen, aber sie erinnert doch lebhaft daran. So trägt sie z.B. statt der spitz zulaufenden ungeschlachten wollenen Mütze ein schneeweißes Häubchen von feinem holländischen Cambrick, das mit einer faltenreichen Spitze geschmackvoll besetzt ist und unter welchem ihre gescheitelten grauen Haare höchst ehrwürdig matronenhaft hervorblicken. Auch die roten Strümpfe, die mit Werg ausgestopfte dicke Wulst von Leinwand um die Hüften, sowie der kurze schwarze Rock fehlen, allein reichlich gefaltet ist das etwas lang gewordene Kleid von schwarzem Wollstoff noch immer und der bunte Brustlatz, der vorn das Camisol von dunklem Tuche schließt, ist mit gleichfarbigem schmalen Bande im Zickzack zugeschnürt.

Fleißig ist Mutter Ilske wie jede Mönchguterin, die, wenn sie sich einmal, was selten geschieht, außerhalb ihrer Heimat verheiratet, stets die Gebräuche und guten Eigenschaften derselben überall beibehält: keine Minute ruht die alte Frau den ganzen Tag über; sauber wie sie selbst, muß das Hauswesen vom Dach bis zum Keller sein, und sogar Wenn sie mit ihrem Manne über wichtige Dinge spricht, holt sie ihren Strickstrumpf aus der Tasche hervor, dessen Nadeln sie mit einer bewundernswerten Schnelligkeit in Bewegung setzte

Auch heute ist sie mit dieser Arbeit beschäftigt, aber nur mechanisch, denn ihre Gedanken weilen durchaus nicht dabei: vielmehr tummeln, sie sich, wie schon gesagt, auf der weiten Meeresfläche, wo ihr Auge den Flug der Möven, des Seeadlers und der Schwalben verfolgt, und kehren dann stets wieder zu dem Gesicht des Alten zurück, dessen Erwachen sie nicht übersehen möchte, um ihm sogleich den schon lange bereitgehaltenen Nachmittagsimbiß aufzutragen, worunter sich der Leser jedoch keinen Kaffee vorstellen darf, da man in der Zeit, von der wir hier schreiben, unter den eisernen Gesetzen der Kontinentalsperre litt, die der gewaltige Halbgott von Frankreich in seinem Hasse gegen die seemächtigen Engländer auch über diese kleine Insel verhängt hatte.

Wie gesagt, beginnt im Monat Mai und zwar am 29. dieses Monats nachmittags vier Uhr unsere Geschichte. Der Mai ist auf Rügen noch kein Blütenmonat, oft sogar sehr rauh und sich mehr dem April als dem Juni zuneigend. Allein in diesem Jahre war das Wetter auffallend gut, die Winde mäßig kalt und der Sonnenschein andauernd genug gewesen, so daß die Blätter der Bäume schon teilweise sichtbar, der Rasen saftig grün und die Luft von jenem Hauche durchzogen war, der den Anzug des Sommers zu verkündigen pflegt. So freute sich denn Mutter Ilske über die auflebende Natur vor ihren Fenstern und ihrem Gärtchen, und nur der traurige Umstand, daß so wenig Leben auf der See herrschte, da Handel und Wandel mit anderen Nationen stockte und die Schiffahrt gänzlich still stand, schien ihr nicht zu behagen und vielleicht die Seufzer hervorzulocken, die manchmal ihren noch immer kirschroten Lippen entschlüpften.

Schon mehrere Male hatte sie ihr hellbraunes Auge auf die große Wanduhr gerichtet, die dem Spiegel gegenüber neben der Tür stand und ihr schnarrendes Rasselgeräusch im stillen Gemache überall vernehmen ließ. Die vierte Stunde hatte sie schon seit einigen Minuten geschlagen, und immer noch nicht wollte der Strandvogt die Augen öffnen. Da endlich, gerade als Mutter Ilskes Blicke einen Seeadler verfolgten, der, wie die Franzosen, seine Beute sogar aus dem Meere sich geholt, hörte sie den Alten behaglich gähnen, und sogleich wandte sie ihr Gesicht auf das des Erwachten, welches ihr freundlich wie immer einen guten Tag zunickte.

»Na, Alter, du hast ja heute lange geschlafen,« sagte sie lächelnd und ihm munter seinen Gruß zurückgebend. »Ich dachte schon, du hättest die Absicht gehegt, Nacht aus dem Tage zu machen.«

»Nein, Ilske, die Absicht habe ich nicht gehabt; es wäre auch die erste gewesen, die ich je im Schlafe gehegt, wo man ja so glücklich ist, weder Absichten noch sonst etwas zu haben, was einen an die hoffnungslosen Aussichten auf Erden erinnert. Ach ja!«

»So, so! Hast du denn auch nichts, geträumt, Alter?«

Der Alte seufzte, ohne zu antworten, und machte sich mit seiner tönernen Pfeife zu schaffen, die neben ihm am Sessel lehnte, woraus Ilske den Schluß zog, daß er allerdings geträumt, aber eben nichts Angenehmes, da er es sonst wohl sagen würde, und Träume zu hören und wo möglich zu deuten, war eine Lieblingsbeschäftigung der guten Mutter Ilske.

Während sie nun hinausgegangen war, um den Vesperimbiß zu besorgen, erhob sich der Strandvogt gemächlich von seinem Stuhle, gähnte und reckte sich und trat ans Fenster, um den Himmel und die See zu betrachten, und wie es seine alltägliche Gewohnheit war, daraus einen Schluß auf das kommende Wetter zu ziehen. Als er auf diese Weise eine Weile Nähe und Ferne geprüft, fing er an, etwas heftig durch die Zähne zu pfeifen, eine Musik, die Mutter Ilske stets richtig zu deuten wußte, was auch diesmal ihre Frage bewies, als sie zur Tür hereingetreten war und ihren Alten seinen Sturmmarsch flöten hörte.

»Nun,« sagte sie, Teller nebst Zubehör auf den Tisch stellend, »was gibt's, Daniel? Pfeifst du schon wieder den Sturm herbei? Laß ihn draußen Mann, wir haben lange genug schwer Wetter gehabt, und der dünne Sonnenschein tut jeder Kreatur wohl.«

»Ich möchte ihn schon draußen lassen, Ilske, wenn er sich daran kehren wollte. Aber du magst es immer glauben: jetzt ist es halb fünf, und es werden keine zwei Stunden vergehn, so wird die frostige See eine weiße Spitzendecke übergeworfen haben, und eine tüchtige schwere Böe wird sich gerade gegen unsern Strand wälzen. Schau, da hinaus gegen Südosten sitzt der Übeltäter; die breite Nebelwand hinter der Oie gefällt mir nicht – es gibt was!«

»Wahrhaftig, Alter, du hast recht, wie immer. Ich habe es mir auch schon gedacht, als du so glücklich nicktest, denn die Möven fliegen so niedrig, kommen haufenweise landeinwärts und die Schwalben jagen sich wie unklug am Strande.«

»Ha, Ha! Es ist merkwürdig! Die Tiere wissen es ebensogut und fast noch besser als die Menschen. Auch ich habe eine Art Instinkt darin, denn wenn ich am Morgen aufwache, und es liegt mir so bleischwer in den Knochen, Gott weiß, woher es kommt, dann bin ich im Klaren, was das zu bedeuten hat.«

»Ja, ja, und wenn die See erst donnert –«

»Ha, wenn sie erst donnert, Alte, dann wissen es sogar die Strandjungen, daß etwas Großes im Anzuge ist.«

»Heute habe ich noch nichts gehört, und es sollte mir leid tun, wenn das schöne warme Wetter so rasch ein Ende nähme. Jetzt aber laß Sturm Sturm sein – komm her. setze dich und laß es dir schmecken. Gott segne es, Daniel!«

»Ja, er segne es!«

Die beiden Alten hatten sich an dem handfesten Tische vor dem Kanapee niedergelassen und langten zu von dem, was in reichlicher Menge aber freilich geringer Auswahl vorhanden war, denn das ganze Vespermahl bestand aus Brod, geräuchertem Aal und trockenen Flundern, die vor nicht langer Zeit noch lebendig und munter unten in der See gespielt hatten. Kaum aber waren die ersten Bissen in den Mund gesteckt, so legten sie beide plötzlich Messer und Gabel nieder, denn ihre scharfen Ohren hatten zu gleicher Zeit ein Geräusch vernommen, welches in dieser abgelegenen Gegend selten gehört ward.

Es war das Gewieher eines Pferdes, dem alsbald das Stampfen seiner Hufen folgte, und zwar dicht vor der Tür, die nach dem Landwege hin lag.

»Halloh! Da kommt Besuch!« rief der alte Strandvogt freudig und sprang auf den kleinen Flur, in nicht gar langer Zeit von seiner guten Ilske gefolgt, da sie beide, wie jeder Rügianer in damaligen Zeiten, ihren Ruhm darin suchten, mit zu den gastlichsten Leuten im Lande zu gehören.

In dem Augenblicke, als die beiden Eheleute die Tür erreichten, sahen sie von einem kleinen aber sehr kräftigen Schecken einen Mann steigen, der, seiner äußeren Erscheinung nach, nur ein Geistlicher sein konnte, ihnen aber, was bei ihren Besuchen sehr selten stattfand, gänzlich unbekannt war.

»Ha, Ilske!« sagte der Alte mit leiser Stimme, als er neben seiner Frau dem Fremden durch den Garten entgegenging, »das ist eine angenehme Überraschung; ich wette, es ist der neue Diakonus des guten Herrn Pastors von Willich zu Sagard, und er kommt, uns seinen nachbarlichen Antrittsbesuch zu machen.«

Der Alte hatte sich nicht geirrt, es traf alles haarscharf ein, wie er es vermutet, es war wirklich der neue Diakonus – wir wollen ihn Wohlfahrt nennen – der seine Rundreise angetreten, um die Pfarrkinder, die zu seiner Kirche in Sagard gehörten, aus eigener Anschauung kennen zu lernen.

Die Geistlichen auf Rügen haben sich von jeher nicht allein durch große geistige Bildung, sondern auch durch liebenswürdige Eigenschaften des Charakters und Herzens ausgezeichnet, weshalb sie sich stets einer großen Popularität bei ihren Pfarrkindern erfreuten. Letzteres war sehr natürlich, denn der schlichte Sinn der Landbewohner Rügens begriff sehr bald, daß ihre Geistlichen ein Herz für sie hatten, und ebenso gefiel es ihnen wohl, daß sie das Wort Gottes lehrten, wie es lebendig aus ihrem Herzen kam, daß sie ihre Erklärungen der heiligen Schrift an die sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen der sie umgebenden großartigen Natur knüpften und sich dabei fern von aller Heuchelei und Duckmäuserei hielten, die einem einfachen Naturmenschen ebenso unnatürlich erscheinen und leicht zuwider werden, wie dem feingebildeten und vernunftgemäß urteilenden Denker.

Die Geistlichen Rügens waren im Verhältnis zu ihren Amtsbrüdern im platten Lande Norddeutschlands sehr gut gestellt; ihre Einnahmen, größtenteils aus den Abgaben ihrer Gemeindeglieder fließend, waren reichlich, wie man denn auch die auf den Halbinseln Jasmund und Wittow wohnenden vier Pfarrer, nämlich in Sagard, Bobbin, Wiek und Altenkirchen die Vierfürsten nannte und ihrer äußeren Stellung damit alle Ehre erwies, indem man sie gewissermaßen mit zu dem vielfach begünstigten Adel zählte. Mit diesem Adel waren die Pfarrer überdies sehr innig befreundet, ja sogar oft durch Blutsverwandtschaft verbunden, und weil man bei dem sehr geringen Verkehr mit den kleinen Städten und den oft weit entfernten größeren Gütern nicht allzu wählerisch verfahren konnte, so verknüpfte Adel und Geistlichkeit ein natürliches Interesse, sie suchten ihren gegenseitigen Umgang, teilten sich ihre Ansichten, ihre Bildung mit, und so entstand zwischen beiden eine gewisse liberale Denkungsart, die Generationen hindurch fortlebte und ebenso viel zum Wohlbehagen der Einzelnen, wie zum Nutzen des Allgemeinen beigetragen hat.

Mit aus diesem Verhältnis entsprang auch zu beiderseitigem Frommen die schöne Pflege der Gastfreundschaft, die sich von den ersten Ständen bis auf die letzten erstreckte. Denn da der Mensch ein geselliges Wesen ist, Fremde aber zu damaliger Zeit die Insel wenig besuchten, so waren die Bewohner derselben auf sich selbst angewiesen, und man freute sich wahrhaft, einem Bekannten die Tür öffnen und die Stunden seines Aufenthalts so angenehm wie möglich machen zu können.

So viel, von dem Verhältnis der Geistlichen zu den Bewohnern Rügens und dieser unter sich im allgemeinen. – Der Diakonus, den wir hier einzuführen im Begriff stehen und der leider nicht mit zu den Hauptpersonen unserer Erzählung gehört, die wir diesmal in einer anderen Klasse zu suchen haben, war erst vor kurzer Zeit als Adjunkt dem allverehrten Pastor von Willich in Sagard zur Seite getreten und mochte es nun für seine Schuldigkeit halten, von Hof zu Hof zu wandern und seine Person den ihm von vornherein freundlich ergebenen Pfarrkindern vorzustellen.

Für diese aber hatte der Besuch eines Geistlichen gerade in jenen trüben Tagen einen noch viel höheren Wert als zu gewöhnlichen Zeiten. Mancher Trost konnte nur von ihrer Einsicht gespendet, manche Hoffnung zum Besseren nur von ihrem warmfühlenden Herzen gesprochen werden, und so war denn Diakonus Wohlfahrt heute bei unserm Strandvogt doppelt willkommen, der, wie wir bald sehen werden, auch des geistlichen Zuspruchs bedurfte und aus seinen Tröstungen Gewinn für sein einsames Leben schöpfen konnte.

Nachdem der junge Geistliche, denn jung war er noch, obwohl ihm eine natürliche Würde und ein ernstes, sinniges Wesen den Anstrich eines durch Erfahrung gereiften Mannes gab, seinen Namen genannt, schüttelten ihm Mann und Frau warm die Hände und führten ihn sofort ins Zimmer, wo er sich ohne weiteres an dem Tische des Vogts niederließ und von den aufgetragenen Speisen nahm, nachdem Mutter Ilske einen reinen Teller geholt und einige Worte der Ermunterung dabei gesprochen hatte. Sie selbst nahm indessen nicht sogleich neben ihrem Gaste Platz, vielmehr einem Winke ihres Mannes folgend, begab sie sich hurtig in ihre Vorratskammer und entnahm einer wohlverwahrten Kiste eine bestäubte Flasche, deren Inhalt sie zwei alten hochfüßigen Römern einverleibte, die sie den Männern kredenzte, worauf diese den allbeliebten portugiesischen Wein in den Gläsern funkeln sahen.

Hören wir nun dem folgenden Gespräche aufmerksam zu, denn aus ihm werden sich von selbst die Verhältnisse des Strandvogts ergeben, deren Bericht wir dem Leser bis jetzt schuldig geblieben sind.

»Ja, ja,« sagte der Strandvogt, während sein Gast tüchtig zulangte, denn er hatte soeben einen weiten Ritt zurückgelegt, »ich freue mich herzlich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Die Leute, die Sie früher gesprochen, haben mich neugierig auf Sie gemacht, und es kann uns ja nicht gleichgültig sein, welchen einstigen Nachfolger unser guter Herr Pfarrer in Sagard hat. Er befindet sich doch wohl, der vortreffliche Herr?«

»Ganz wohl, Herr Strandvogt, und er läßt Sie bestens grüßen. Auch würde er einmal selbst schon zu Ihnen gekommen sein, um sich nach Ihrem Wohlergehen zu erkundigen, wenn ihn nicht die vielen Geschäfte mit den Herren Franzosen an sein Haus und seinen Schreibtisch fesselten.«

»Ich glaube es gern. Ach, was sind das für Zeiten, Herr Diakonus, und was werden wir noch zu erleben haben!«

»Nicht mehr, als uns Gott auferlegt, lieber Mann, ganz gewiß nicht mehr.«

»Ja freilich, mehr wird es nicht sein, aber das ist auch schon genug. Nun ist die Reihe des Leidens auch an Schweden und uns gekommen, nachdem fast ganz Europa die Faust des Eroberers auf seinem Nacken gefühlt. O unser armer König! So schnell ist es mit ihm zu Ende gegangen! Aber ich glaube, man konnte ihn wirklich nicht länger am Steuer des Staatsschiffes lassen.«

»Wie es scheint, nein! Er steuerte sein Schiff harten Klippen entgegen, und die heutige Zeit verlangt kundige Seefahrer. Wir haben eben Sturm, und beim Sturm muß man, Sie wissen es ja, alle Segel einziehen! Gustav IV. Adolf aber gefiel es, sie alle flattern zu lassen, und das mußte Unheil bringen. Nun, gebe nur Gott, daß der alte Herr, der uns jetzt regiert, von Weisheit und Milde erleuchtet sei, dann wird sich das Übrige schon finden, wenn wir Geduld auf das Zukünftige und Ergebung in das Unvermeidliche besitzen, wie ein Christ es ja soll. Aber sagt mir einmal, alter Herr, habt Ihr schon viel von den Fremdlingen zu leiden gehabt, die auf unserer Insel die gebietenden Herren spielen?«

»Daß ich nicht wüßte, Herr Diakonus, nein, eigentlich nicht. Ich habe zwar wiederholt meinen Anteil an Steuern und Kontributionen entrichtet, die sie über uns verhängt, aber auf meinen Hof und in mein Haus sind nur wenige gekommen und höchstens nur beim Vorübermarsch. Pah! was sollten sie auch bei mir suchen und von mir wollen! Sie lieben mehr die großen Höfe und reichen Herren, und ein armer Strandvogt, wie ich, hat wenig, was ihrem Verlangen entspricht und ihr Begehren reizt.«

»Eure Geschäfte sind durch die fremden Herren auch nicht sonderlich vermehrt worden?«

»Leider nein, ach ganz und gar nicht! Es kommen wenig Fahrzeuge mehr in diese Gewässer, denn der Handel mit unsern Freunden, den Engländern, ist ja verboten, und die paar Schiffe, die dann und wann vorübersegeln, sind dänische Spürhunde, die unsere Küsten bewachen, damit kein Schmuggel mit den verbotenen Waren getrieben wird.«

»Mit den Lotsengeschäften habt Ihr nichts zu tun in Eurer jetzigen Stellung?«

»Von Amtswegen gerade nicht, nein, Herr; aber wer kann von einem Handwerk lassen, das er dreißig Jahre betrieben hat, wie ich? Wenn es daher was zu lotsen gibt, da drüben, so habe ich gern noch meine Hand im Spiele und lasse meine Stimme mit im Rate der Leute erschallen, die die Küstenschiffahrt sicher stellen.«

»Ihr seid früher Lotsenkommandeur gewesen, wie ich gehört habe?«

»Ach ja!« sagte der Alte mit einem Seufzer, der aus tiefstem Herzen kam. »Viele, viele Jahre sogar, und es gibt keinen Sturm in den letzten dreißig Jahren, den ich Ihnen nicht von Anfang bis zu Ende in allen Wirkungen beschreiben könnte und der mir nicht die Kleider bis auf die Haut durchnäßt hätte.«

»So seid Ihr auch wohl sehr erfahren in der Küstenschiffahrt dieses Landes?«

»Ja, Herr, das kann ich dreist von mir behaupten, besser sogar, wenigstens ebensogut, wie irgend ein anderer. Ich kenne jeden Stein im Wasser, rings um die Insel herum, jede Furt, jede Untiefe ist mir bekannt, und fast jeder Windstoß weht mir als ein guter Freund oder ein böser Feind entgegen, und daher kommt eben meine Liebhaberei für das Handwerk, denn was man in der Jugend getrieben, liebt man im Alter und kann nicht davon lassen, wie der Fisch nicht vom Schwimmen läßt, so lange er lebendig im Wasser liegt.«

Der Geistliche nickte zustimmend und nippte von dem feurigen Wein, der noch unangerührt vor ihm perlte. Offenbar hatte er eine Frage auf dem Herzen, aber er schien innerlich zu erwägen, ob er sich damit herauswagen solle.

Endlich faßte er Mut dazu, und während Mutter Ilske den Tisch abräumte, die Flasche und die Gläser aber vor den redenden Männern stehen ließ, sagte er mit merkbarer Bewegung in seiner weichen Stimme:

»Ihr wohnt hier in diesem kleinen Hause allein mit Eurer guten Frau, nicht wahr?«

»Ja, Herr, jetzt wohne ich mit ihr allein; nur eine alte Magd ist noch da, die den Garten und das Vieh besorgt, während meine Frau sich mit unserm kleinen Hauswesen zu schaffen macht. Meine Nichte – sie ist die Stieftochter der Schwester meiner Frau – hat uns gegenwärtig verlassen, um ihren Pflichten in Mönchgut nachzugehen, woher sie stammt, wie auch meine alte Ilske daselbst geboren ist.«

»In Mönchgut? Was hat denn Eure Nichte da für Pflichten zu erfüllen?«

»Ihr Pate ist ein alter Mann, Herr, Besitzer des Gutes Bakewitz, im Süden von Peerd. Er liegt leider im Sterben und hat den Wunsch ausgesprochen, unsere gute Hille so lange bei sich zu behalten, bis er das Zeitliche gesegnet hat. Nun ist sie schon seit drei Wochen auf Bakewitz, und wir sind allein.«

»Hm! Habt Ihr sonst keine Familie?«

Der Alte warf einen scheuen Blick auf seine Frau, die sich wieder mit ihrem Strickstrumpf am Fenster niedergelassen hatte, und da sie die Augen fest auf ihre Arbeit gerichtet hielt, so sagte der Vogt: »Mutter, sieh doch, wo Trude ist, und sag' ihr, sie solle das Vieh aus der Lithe holen, damit es im Stalle ist, ehe der Wind losbricht – denn er kommt allmählich herauf, ich habe es ja gesagt.«

Mutter Ilske erhob sich ohne Zögern, denn sie merkte, daß jetzt von ihrer Familie die Rede sein würde, und kannte ihren guten Alten, der sie stets zu entfernen bemüht war, wenn er von seiner Vergangenheit sprach, um ihr den Kummer zu ersparen, der für sie in der Erinnerung daran lag.

So waren denn die beiden Männer allein. Der Vogt, der einen Blick auf das Meer geworfen, war vom Fenster an den Tisch zurückgekehrt und hatte seinem Gaste gegenüber wieder Platz genommen. »Ich schicke meine Alte absichtlich hinaus,« sagte er flüsternd, »weil ich weiß, daß meine Antwort auf Ihre Frage ihr nicht lieb sein kann. Sie fragen nach meiner Familie, Herr Diakonus, nicht so? Ja, ich habe eine Familie, und eine recht große. Der Himmel hatte mir sieben Söhne, und recht wackere, starke und gute Söhne gegeben.«

»Er wird sie Euch doch nicht alle wieder genommen haben?«

Der Alte schüttelte wehmütig den Kopf, und seine Miene nahm einen so kummervollen Ausdruck an, daß man ihm ansah, wie tief ihn die zuletzt ausgesprochene Frage erschütterte. »Wer schaut in des Himmels Rat?« sagte er leise. »Ich bin ihm noch dankbar, daß er mir einst so viel Freude gegeben, so daß ich also mit Ergebung auch das Leid ertragen muß, womit er mich nachher geprüft hat, wie selten einen Mann und Vater. Ja,« fuhr er mit halb gebrochener Stimme fort, »er hat sie mir fast alle wieder genommen, und das ist es, was ich die alte Ilske nicht wollte hören lassen, obwohl ich wetten will, daß sie weiß, wovon wir sprechen.«

»Da sind Sie ja sehr zu beklagen, armer Mann! Sind Ihre Söhne Ihnen schon in frühester Jugend gestorben? Sie verzeihen, daß ich auch danach frage, aber ich nehme Anteil an Ihrem Schicksal und werde noch mehr daran nehmen, wenn ich es genauer kenne.«

»Das sollen Sie, ja, das sollen Sie, und um so lieber will ich es Ihnen mitteilen, da mich schon seit mehreren Tagen mein Familienleid tiefer bedrückt, denn je, da es noch immer nicht sein Ende erreicht zu haben scheint.«

»So sprecht Euch die Brust frei, es tut wohl, einem teilnehmenden Herzen seine Sorge auszuschütten, und ich will Euch trösten, so gut ich es mit Empfindungen und Worten vermag. Also Ihr hattet sieben Söhne?«

»Ja, sieben, eine schöne Zahl, nicht wahr? Sie wurden mir fast alle in meiner Jugend, geboren, als ich noch Lotse auf Mönchgut war und mehr Stunden des Tages und der Nacht auf dem Wasser als in meinem Hause und Bette zubrachte. Ich war ein armer Mann, Herr, und habe von der Pike auf dienen müssen. So mußten denn auch meine Jungen früh zur Arbeit greifen, und sie taten es gern, denn sie hatten ein gutes Beispiel vor sich und waren, sozusagen, auf dem Wasser geboren, sahen es alle Tage blitzen, und hörten es alle Nächte rauschen. So wuchsen sie mir denn zur Freude und zur besten Hilfe heran, und da ich das Glück hatte, Lotsenkommandeur zu werden, und ein großes Bergegeld von den an den Strand geworfenen Gütern zu erhalten, so konnte ich sie unterrichten lassen, und der gute Prediger in Zicker hat darin redlich seine Schuldigkeit getan. Aber die Jungen der Lotsen lernen nicht viel mehr, als was sich auf ihr künftiges Geschäft und ihren angeborenen Beruf bezieht, so auch die meinen. Statt in den Büchern zu lesen, die ich kaufte, segelten sie in den Wieken und Bodden herum, und als sie mannbar geworden, verließen sie mein Haus und gingen über das Meer nach fernen Ländern, einer nach dem andern, und alle kamen sie nach einigen Jahren heil und gesund zurück, denn es war ihnen nicht beschieden, fern von der Heimat zu sterben.«

»Das ist noch eine Wohltat, mein lieber Vogt, die Ihr anerkennen werdet!«

»Ja, ja doch, aber sie unter meinen Augen – hier – auf diesem Wasser sterben zu sehen, war keine Wohltat, Herr Diakonus.«

»Wie, sind sie denn vor Euern Augen auf diesem Wasser zugrunde gegangen?«

»Ja, alle hintereinander und fast in derselben Reihe, wie sie mir geboren waren, aber Gott sei Dank! in ihrem Berufe, indem sie anderen Menschen Leben und Eigentum zu retten versuchten.«

»O, das ist ja schrecklich! Aber erzählt mir doch Einiges davon – ich bin begierig, die Geschichte der Eurigen ganz kennen zu lernen.«

»Ach, erzählen! Was ist da viel zu erzählen! Sie gingen lebendig an Bord und – kamen als Leichen wieder an den Strand geschwommen. Zuerst starb mein Harold und mein Olaf. Es war an einem schönen Junitage. Die Sonne blitzte so herrlich über dem Meere, alle Kreaturen außer und in dem Wasser sangen ihr Halleluja, und ich war glücklich mit meiner Alten, die damals noch eine schmucke Person, schlank und nett wie eine Seejungfer war. Da kam ein Orkan von Nordosten herauf und brachte drei große Schiffe in Gefahr. Sie polterten mit ihren Böllern gewaltig gegen das Ufer und winkten und riefen um Hilfe, denn es ging ihnen an den Hals. Als die Lotsenglocke läutete, kamen meine Jungen an den Strand gelaufen, denn an ihnen war die Reihe zu lotsen. Es wird ein hartes Stück Arbeit sein, Jungen! sagte ich, befehlet Eure Seele Gott und seid vorsichtig um Eurer Eltern willen. Sie nickten mir schweigend ihre Antwort zu, denn der Sturm brüllte so heftig, daß keines Menschen Stimme mehr gehört ward. Ja, stumm stiegen sie in ihr Boot, und stumm kamen sie in der Nacht auf das Ufer geschleudert, aber auch kalt und steif.«

»Ha, das ist schrecklich! Ihr wurdet allerdings hart geprüft.«

»Hören Sie nur weiter. Im darauf folgenden Winter kam mein Daniel an die Reihe, ein hochgewachsener Bursche und von Riesenkraft, die ihn leider verführte, zu Schweres zu vollbringen. Ein Schiff kam bei hoher See von Schweden vor Top und Takel daher getrieben. Mein Junge wollte retten, was an Bord war, und so fuhr er kühn durch die Schollen mit sechs Mann nach dem reich beladenen Kauffahrer. Aber die Schollen und der Wind waren stärker als er, und weder Kauffahrer noch Lotsen sah man jemals wieder.«

»Armer Mann! Und die anderen?«

»Ja, die anderen! Die kamen auf ähnliche Weise um; Heinrich in der Tromper-Wiek, der bösesten von allen um Rügen, Clas in der Nähe von Zicker und endlich Paul vor den Wissower Klinken dort. Das ist die Geschichte meiner braven sechs Jungen, die einen ehrlichen Seemannstod gestorben sind.«

»Aber der Siebente, wo ist der geblieben?«

»Hoho!« rief der Alte und erhob stolz seine ganze Gestalt, wobei seine Augen blitzend auf den Geistlichen hafteten. »Sie meinen Waldemar, den Jüngsten und Nachgeborenen! Ja, den wolle mir Gott beschützen, denn würde auch er mir genommen, dann, Herr Diakonus, hülfen alle Ihre und Herrn von Willichs Trostsprüche nichts.«

»Aber wo ist er, wenn er noch lebt?«

»Herr, Sie haben recht, wenn er noch lebt, denn das weiß allein Gott, ich nicht. Seit dem Mai im Jahre 1805 – also es sind jetzt vier Jahre her – habe ich ihn nicht wiedergesehen. Am 22. Oktober 1805 hat er bei Trafalgar gegen die Franzosen, seine Feinde, gefochten, er hat sich sogar ausgezeichnet, ich weiß es – aber seitdem ist er mir nie wieder vor Augen gekommen.«

»Aber Ihr wißt doch, daß er noch lebt?«

»Ja, bis vor einem Jahre war er noch unbeschädigt, und er hat mich durch einen Mann grüßen lassen, der ihn in Colberg gesprochen, wo er dem wackeren Nettelbeck zur Seite stand und den Franzosen vor der deutschen Festung die Köpfe einstoßen half.«

»Ah, er ist also ein Krieger geworden?«

»Nicht so ganz, und es hat damit seine eigene Bewandtnis, die Ihnen zu erzählen mir ein großes Vergnügen machen wird, wenn Sie geneigt sind, sie zu hören.«

»Von Herzen gern, zumal es scheint, als ob Ihr gern von diesem Eurem Waldemar sprächet.«

»Bei Gott, das ist ein wahres Wort. Mein Waldemar ist ein Kerl, der das Herz auf dem rechten Flecke hat – so groß, Herr, daß er kaum in diese Tür kann, und mit einem Gesicht voll Feuer und Edelmut, wie selten ein Mann in diesen Landen es gehabt hat. Aber verzeiht, daß ich meinen eigenen Sohn lobe, was ich gewiß nicht tun würde, wenn seine guten Eigenschaften bloß äußerlicher Art wären. Allein Waldemar ist auch ein guter Sohn, ein braver Mensch und hat viel von den Brahes sich angeeignet, mit denen er seit seinem zwölften Jahre zusammen lebt.«

»Mit den Brahes? Meint Ihr unsere – die Grafen Brahe auf Spyker?«

»Die meine ich, ja, Herr und nun will ich Ihnen erzählen, was ich davon weiß. Seht, an dem Tage, wo mein Paul zu grunde ging – ich war damals schon Lootsenkommandeur in Sassnitz – es war im Jahre 1799 bei einem argen Südoststurm im September – war mir, wie Gott oft das Glück dem Unglück auf dem Fuße folgen läßt, großes Heil beschieden. Mein Paul, ja, der ging dabei unter, ich hatte das Glück, aus demselben Schiffe, welches er retten wollte, den Grafen Brahe zu bergen, der von Deutschland kam, um nach Schweden zu gehen. Wie gesagt, ich brachte ihn heil zu Lande und in mein kleines Haus, was ich damals dort unten am Strande bewohnte. Da lag er denn in dem einen Bette und mein Paul, steif und starr in dem andern. Und als der gute, edle Herr von seiner Erschöpfung zu sich kam und sah, was geschehen war, da dankte er mir herzlich und bedauerte mein Mißgeschick. Es ist der sechste, Herr Graf, den mir die See nimmt, und gelobt sei Gott, der Herr, daß er mir gestattet hat, Ihnen dabei das Leben zu retten. – Ich werde nie den Ausdruck seines schönen Gesichts vergessen, den er auf diese Worte blicken ließ, und wie er mir die Hand reichte und sagte: Ihr habt recht, Granzow, was Gott tut, das ist wohlgetan. Aber Ihr dürft keinen Sohn als Lotsen mehr auf die See lassen, denn man muß das Schicksal nicht herausfordern.

Ich habe nur noch einen und der will auch ein Lotse werden, sagte ich, und da ist er, denn eben kam mein Waldemar herein und wollte sich seinen toten Bruder betrachten, zu dem er eine große Neigung hatte.

Der Graf rief den schönen Knaben mit dem dunklen Lockenkopf an sich heran und fragte ihn verschiedenes, worauf er immer die Antwort erhielt, er wolle ein Seemann werden. Das sollst du auch, mein Junge, sagte der edle Herr endlich, aber ein tüchtiger, gelehrter Seemann, und ich selbst will dafür sorgen, daß du es wirst, denn wenn dein Vater will, wie ich, und du uns beistimmst, so will ich dich mit mir nehmen und meinem Sohne zum Gesellen geben, der dieselbe Neigung zum Meere hat, wie du, und in gleichem Alter mit dir ist. –

Schon am nächsten Tage fuhr mein Waldemar mit dem Grafen nach Spyker, ich aber erhielt durch des letzteren Verwendung die Strandvogtsstelle, die ich noch jetzt bekleide, und zum Geschenk dies kleine Gut mit dem Häuschen, in dem wir sitzen und davon sprechen.«

»Hm, das war edel von dem reichen Herrn, aber was fing er mit Eurem Waldemar an?«

»Nun, dem hat das Glück gleichermaßen wohlgewollt. Der Graf hat hochherzig Wort gehalten und meinen Knaben mit seinem einzigen Junker, dem Grafen Magnus, erziehen lassen, als wäre er sein eigen Kind gewesen. Die beiden Jungen blieben anfangs, auch wenn Graf Brahe selbst nach Stockholm ging, was er jährlich in der Regel mehrere Mal tat, in Spyker, wo ein kluger Hauslehrer sie in allem Möglichen unterrichtete. In späteren Jahren besuchten sie, von einer und derselben Neigung beseelt, die Navigationsschule in Stockholm, die Universität Greifswald und studierten außerdem auf Schiffen und aus Büchern das Seewesen aus dem Grunde. Dann gingen sie, immer wie zwei unzertrennliche Freunde, zusammen auf Reisen, besuchten das alte Schloß Spyker und mich von Zeit zu Zeit, bis der unselige Krieg mit Frankreich ausbrach, der ihr Vergnügen und ihre Studien unterbrach und sie in ihrem Eifer gegen den französischen Tyrannen nach England führte. Kurz vor ihrer Abreise dahin besuchten sie mich noch einmal; und das ist das letzte Mal gewesen, daß ich sowohl meinen Sohn wie den jungen Grafen sah, der auch ein wackerer Junge, obwohl nicht so ein dauerhafter Kernmensch wie sein edler Vater ist. Ach, Herr Diakonus, in jenen Tagen war eine große Freude in diesem kleinen Hause und weder meine Ilske noch ich dachte daran, daß vier Jahre vergehen könnten, ehe wir unsern Einzigen wiedersähen.«

»Das ist eine lange Zeit für ein sehnsüchtiges Vater- und Mutterherz!«

»Ja, Herr, und das ist das große Leid, was die Ilske nicht verschmerzen kann und was sie oft des Nachts sogar nicht schlafen läßt.«

»Aber Ihr wißt doch, wo er sich jetzt aufhält und daß er noch immer mit dem Grafen Magnus zusammen lebt?«

»Nur das letztere weiß ich, das hat mir der alte Graf mehr denn zehnmal sagen lassen, ebenso wie daß ihre Freundschaft noch die nämliche wie in ihrer frühesten Jugend ist. Auch haben sie bereits große Taten verrichtet, die beiden Jungen, denn sie haben wie wackere Männer ihre Hand geliehen zur Bekämpfung jenes Korsen, der auch über uns jetzt seine Faust schwer ausgestreckt hat.«

»Wo sind sie denn gewesen und bei welchen Affären haben sie denn mitgewirkt in den verschiedenen Kriegen?«

»Von hier segelten sie, wie gesagt, nach England; dort kamen sie im Frühjahr an, und da bald darauf die große Flotte ausgerüstet wurde, die der Nelson befehligte, so gingen sie als Freiwillige bei demselben in Dienst und haben an seiner Seite – ich bin stolz darauf, das vor Ihnen sagen zu können, Herr Diakonus – die Schlacht von Trafalgar mitgefochten.«

»Ah, das war brav!«

»Jawohl war es das. Nach der Schlacht aber kehrten sie, da Graf Magnus verwundet war, nach England zurück und blieben daselbst bis 1807, wo ihre freiheitsliebende Seele sich vollgesogen hatte an dem britischen Haß gegen den Bezwinger Europas und nach Gelegenheit brannte, sich endlich Luft zu machen. 1807 nun verließen sie England, kamen nach Schweden und erhielten vom Grafen Brahe die Erlaubnis, sich auf einem der Schiffe nach Deutschland zu begeben, welche die Belagerer Colbergs von der See her beunruhigen sollten. Da kamen sie denn mit dem edlen Bürgersoldaten Nettelbeck in Berührung, der sie vielfach bei seinen kühnen Unternehmungen verwendete, bis der Tilsiter Friede eintrat, der ihrer Tätigkeit in Colberg ein Ende machte. Wo sie nun seit jener Zeit geblieben sind, ist mir dunkel, gewiß aber haben sie nicht aufgehört, gegen Napoleon zu fechten und zu wirken, so viel in ihren Kräften stand. Nach des Grafen Brahe Vermutung, die er mir vor wenigen Wochen zukommen ließ, halten sie sich im Preußischen auf und warten irgend ein Ereignis von Wichtigkeit ab, um sich auch daran wieder zu beteiligen. Das ist alles, was ich von meinem Sohne weiß. Ob und wann ich ihn wiedersehen werde, weiß allein Gott, den ich täglich um seine Gnade für ihn bitte. Jetzt habe ich Ihnen meine ganze Geschichte erzählt, und ich wüßte nichts mehr, was ich noch hinzuzufügen hätte.«

»Ich danke Euch von ganzem Herzen für Eure Ausführlichkeit und freue mich, in Euch einen so wackeren Mann und Vater kennen gelernt zu haben. Wolle es Gott, daß Euer Vertrauen auf die schützende Vorsehung sich bewähre, und ja, ich glaube, es wird sich bewähren, denn sie wird Euch, nachdem Ihr so hart geprüft, für das Ende Eurer Tage nur Freude aufgespart haben.«

»Wolle es Gott!« rief der alte Vogt und schlug mit seiner breiten und kräftigen Hand derb in die hingehaltene Rechte des Geistlichen ein, der sich eben von seinem Sitze erheben wollte, als Mutter Ilske rasch die Tür öffnete und mit fast heftiger Eile in das Zimmer trat, welches der beginnende Abend schon dunkler beschattet hatte.

Ilske warf einen verwunderten Blick auf die beiden Männer, die noch immer an dem Tische saßen und nicht daran gedacht hatten, ihre Gläser zu leeren, da ihre Aufmerksamkeit ganz und gar der Erzählung des Strandvogts gewidmet gewesen war. Dieser hatte von der Aufregung, in die er sich hineingesprochen, einen roten Kopf; das sprechendste Zeugnis aber, daß ihn die Geschichte seiner Familie und namentlich seines jüngsten Sohnes gänzlich gefesselt, bot der Umstand, daß ihm die Vorgänge draußen im Freien entgangen waren.

»Vater!« sagte seine Frau mit ungewöhnlichem Eifer zu ihm, »deine Prophezeihung bestätigt sich, wir bekommen einen gewaltigen Sturm aus Südosten, und wenn Sie noch vor der Zeit nach Hause wollen, Herr Diakonus, so mögen Sie Ihren Schecken tüchtig ausgreifen lassen. Hören Sie, wie er draußen wiehert? Ich glaube gar, auch er wittert den Wind, wie die Möven und Schwalben am Strande.«

Der Strandvogt tat nur einen sprungartigen Schritt zum Fenster und er hatte begriffen, was vorging. Hastig wandte er sich zu dem Geistlichen, der seinen Rock schon zuknöpfte, herum und sagte: »Es tut mir leid, Herr Diakonus, daß wir so früh am Tage scheiden müssen, ich habe noch manche Frage auf meinem Herzen und Sie gewiß noch manchen Trostspruch für mich auf den Lippen, aber das Wetter da ist in der Tat ungünstig und Sie werden wol zu Hause sein wollen, ehe der Tanz mit ganzer Furie losbricht. Oder wollen Sie vielleicht bei mir bleiben, mit der Voraussicht, selbst ein Bett annehmen zu müssen?«

»Nein, mein guter Vogt, nein, ich danke Euch, ich will sogleich fort. In der Stubnitz faßt mich der Wind nicht so leicht und mein Schecke ist rasch genug, mich vom freien Felde aus in fünfzehn Minuten nach Hanse zu tragen. Nun gehabt Euch wohl, Ihr guten Leute; lebt wohl, Mutter Ilske, lebt wohl, Daniel Granzow, und Gott behüte Euch und Euern Sohn durch alle Stürme des Lebens.«

Bei den letzten Worten des Geistlichen war man schon aus dem Hause getreten und fühlte die ersten Tropfen des Regens, den der Himmel spenden wollte; hurtig führte Trude das schon bereit gehaltene Pferd herbei, und der Diakonus stieg nach einigen Händedrücken in den Sattel, wobei ihm der Strandvogt selbst den Bügel hielt. Alsbald setzte sich der Schecke in Trab, und in wenigen Augenblicken waren Pferd und Reiter unter den Bäumen des Stubnitzwaldes verschwunden, der bis dicht an Granzows Gehöft reichte. Dieser aber, einen kundigen und ebenso hastigen Blick nach allen vier Himmelsgegenden werfend, hatte fortan seinen Entschluß gefaßt, den er im Zimmer ohne Zögern auszuführen begann, indem er seinen Sturmrock aus dem Schranke nahm und die übrigen bei solchen Gelegenheiten notwendigen Utensilien zur Hand legte.

Als Mutter Ilske alle diese unverkennbaren Vorbereitungen sah, schüttelte sie verwundert den Kopf und sagte etwas unwillig: »Granzow, was willst du denn draußen? Dich treibt ja weder Pflicht noch Drang. Du bist warm, Mann, vom vielen Sprechen und doch bei Gott kein Jüngling mehr, um dich unnötigerweise dem Pfeifen des Sturmwindes preiszugeben. Bleib bei mir, wir wollen vom Fenster aus das Unwetter beobachten, dann haben wir beide Genuß davon.«

»Ilske!« erwiderte der hurtige Strandvogt, der seinen langzottigen, bis zum Knie reichenden Sturmrock schon übergeworfen hatte und eben im Begriff war, sich den Regenhut um das Kinn festzubinden, »Ilske, wie oft werde ich dergleichen noch von dir hören und dir immer dieselbe Antwort geben müssen! Ob mich die Pflicht ruft oder der Drang der Umstände, es ist immer einerlei und immer dasselbe. Ich gehe, wenn es stürmt, auf mein Kiekhaus und beobachte das Meer und den Himmel, das tue ich, so lange ich nicht blind und taub bin und die Möglichkeit vorliegt, ein Schiff, das in Nöten ist, zu retten. So, da hast du deine Predigt, und nun adieu, Alte! Gott behüte dich und du behüte das Haus – ich muß auf meinen Posten! Auf Wiedersehen!«

Ilske setzte keinen Widerstand mehr entgegen, sie wußte, daß alles Reden bei dem Manne überflüssig gewesen wäre, dem es zur zweiten Natur geworden war, im stürmischen Wetter seine Beobachtungen abzuhalten. Sie empfing daher einen laut schallenden Kuß auf die Wange, und dann begleitete sie ihn bis zur Stubentür, worauf sie sich an das Fenster setzte und auch ihrerseits geneigt schien, das Wetter und das Meer zu beobachten, wie es ihr Mann von dem hölzernen Gerüst zwischen den Buchen aus tat, das hart an der steilen Berglehne lag, an deren Fuß sich der schmale Strand dehnte.


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