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Fünftes Kapitel.

Das Gespenst auf dem Göhrenschen Höwt.

Trotzdem die Bewohner des Kiekhauses ungewöhnlich spät zur Ruhe gegangen waren und den Tag vorher körperliche Anstrengungen und geistige Aufregung in Fülle gehabt hatten, so erhoben sie sich doch schon bald nach sechs Uhr morgens von ihrem Lager und versammelten sich unter fröhlichen Begrüßungen in demselben Zimmer, wo die Unterhaltung in der vorigen Nacht stattgefunden hatte. Nachdem sie ihr Frühstück eingenommen, hielt es der Strandvogt für rätlich, nach Sassnitz hinunter zu gehen und zu horchen, ob vielleicht irgend eine Kunde von dem unbekannten Flüchtling oder den ihm nachsetzenden Feinden unter den Dorfbewohnern laut geworden sei, um in diesem Falle ohne Zaudern die nötigen Maßregeln zu Waldemars Sicherung treffen zu können. Als er ging, schärfte er den Zurückbleibenden Vorsicht ein, namentlich sollten sie die Türen verschlossen und die Fenster verhangen halten, damit kein unberufener Lauscher den arglosen Flüchtling im Vaterhause erspähe.

Als die Mutter nach Erfüllung ihrer häuslichen Pflichten zu ihrem Sohne zurückkehrte, setzte sie sich in seine Nähe, faßte seine Hand und fragte nach tausend verschiedenen Kleinigkeiten, die ihr interessant und am vorigen Abend gar nicht oder nur oberflächlich berührt waren. Nach einer Stunde traulicher Plauderei hatte sie so ziemlich alles in Erfahrung gebracht und war nun geneigt, auch Waldemar die Einzelheiten mitzuteilen, die während seiner Abwesenheit auf der Insel und im Hause vorgefallen waren. Da hörte er denn mancherlei, was ihm das Herz schwer machte, namentlich insofern es die Bedrückungen seiner kleinen Heimat durch die Feinde betraf, die jetzt freilich nur in geringer Anzahl auf der Insel zerstreut lagen, da ein großer Teil derselben zur Armee nach Polen befehligt war. Ihm blutete das Herz, als er vernahm, wie sie im Lande gewirtschaftet, wie sie das Eigentum anderer so gering geachtet, Land und Leute geplündert und mit großen Abgaben belegt hatten. Namentlich aber schmerzte es ihn tief, als er hörte, daß der Kaiser der Franzosen in seinem Übermute es gewagt, die Königlichen Domänen an einzelne Offiziere und Beamten seiner Armee zu verschenken, und wie diese nun auf den so leicht errungenen Gütern schwelgten, nicht allein den vorgefundenen Bestand vergeudend, sondern auch Grund und Boden für alle Zukunft verderbend. Allein was konnte man dagegen anderes tun, als geduldig auf die Stunde der Erlösung warten, die ja auch einmal für die Bewohner von Rügen schlagen müßte.

Die Mutter hatte ihre Erzählung geendet, und Waldemar saß gesenkten Hauptes neben ihr, im Stillen bedenkend, wie sich die Verhältnisse der Insel gestalten würden, wenn die gegenwärtige Besitzergreifung noch lange dauern sollte. Da unterbrach die Mutter sein Nachdenken, faßte von neuem seine Hand und sagte: »Waldemar, nun haben wir alles besprochen, was uns im großen am Herzen liegt, jetzt laß uns auch einmal das Kleinere bereden. Däucht es dir nicht sehr still in unserm Hause, und hast du außer uns beiden und der alten Trude niemanden darin zu finden erwartet?«

»Still ist es hier, ja, meine Mutter, das ist wahr, aber ich finde diese Stille wohltuend, und man fühlt sich beruhigt, wenn man sie mit dem ungestümen Hämmern und Pochen in der Außenwelt vergleicht. Wen ich aber hier zu finden erwartet? Was meinst du damit?«

»Wie, du hast noch nicht an Hille gedacht, die doch in früheren Jahren so oft deine Gespielin gewesen und die dich so lieb hat wie einen Bruder, obgleich du nur ihr Vetter im dritten Grade bist?«

»Ah ja, du hast recht. Hille, wo ist sie? Sie ist doch nicht schon verheiratet?«

»Bewahre, Waldemar, wer denkt jetzt ans Heiraten! Auch ist sie im vergangenen März erst achtzehn Jahre alt geworden und hat also Zeit genug, um auf einen Mann zu warten.«

»Ah, achtzehn Jahre ist sie schon alt? Ist sie denn groß und stark geworden, wie sie es damals zu werden versprach?«

»Groß und stark und stattlich, mein Sohn, die schönste Kreatur in diesen ganzen Landen. Ich glaube nicht, daß du je ein schmuckeres Mädchen gesehen.« »So, das freut mich, aber wo ist sie denn?«

»Auf Bakewitz in Mönchgut bei ihrem Paten, de, Gutsbesitzer Lachmann.«

»So, und was tut sie in diesen unruhigen Zeiten da, wo keine Frau im Hause ist?«

»Ja, sieh, das hat so seine eigene Bewandtnis. Der alte Lachmann, der gute brave Herr, liegt auf den Tod krank darnieder und wollte sie vor seinem Abscheiden noch einmal sehen. Vielleicht vermacht er ihr in seinem Testament einen Teil seines Vermögens, denn, wie du weißt, hat er weder Weib noch Kinder, noch irgend andere Verwandte.«

Waldemar schwieg, während die Mutter glaubte, vielleicht auch hoffte, er werde irgend eine hierauf bezügliche Antwort folgen lassen. »Freut Dich das nicht?« fragte sie nach einer Weile.

»Mich freut alles, was das Wohl meiner Freunde und Verwandten vermehrt. Hille mag zufrieden sein, einen so lieblichen Paten zu haben, wenn sie sich nur nicht zu viel vom Glück des Reichtums verspricht.«

»O, nach Reichtum fragt sie auch nicht, danach steht ihr Herz am wenigsten, denn sie ist ein ebenso braves und gottesfürchtiges, wie schönes und starkes Weib geworden. – Höre 'mal, Waldemar – wann willst du nach dem Rugard aufbrechen?«

»In der Nacht zum ersten Juni, Mutter.«

»Das ist in der Nacht von morgen zu übermorgen. Du hast also zwei Tage Zeit. Heute bleibst du doch gewiß, bei uns?«

»Warum nicht auch morgen?«

»Ach, mein Sohn, ich bin in großer Sorge um Hille. Sie ist, so mutig und großherzig sie sein mag, doch immer nur ein Mädchen; die Franzosen stehen auf Peerd und in der Umgegend. Auf Bakewitz freilich sind sie in der letzten Zeit nicht gewesen – aber ich habe lange nichts von ihr gehört und möchte doch gar gern wissen, wie es ihr geht und ob der alte Lachmann noch lebt. Ich will sie sogleich wieder hier haben, sobald er das Zeitliche gesegnet hat.«

»Nun wohl, das ist recht. Aber was hat das mit meinem freien Tag morgen zu schaffen?«

»Waldemar, versteh' mich recht – ich möchte Dich keiner Gefahr aussetzen aber ehe du nach dem Rugard gehst, könntest du –«

»Was denn, sprich es aus.«

»Hille besuchen.«

»Gern. Warum sagst du das mit so vielen Umschweifen? Was ist denn dabei? Denkst du etwa an eine Gefahr? Woher sollte mir die drohen? Die Franzosen, die auf Peerd stehen, kennen mich nicht und halten mich für einen Eingeborenen, was ich ja auch bin. Auch werde ich Ihnen nicht gerade in das Garn laufen, und in Bakewitz bin ich so sicher wie hier, denn ich kann mich überall ihren Nachforschungen entziehen.«

»So danke ich dir. Ja, gehe zu Hille, grüße sie von uns und bitte sie, keine Stunde allein auf dem abgelegenen Gute zu bleiben, sobald –

In diesem Augenblick ging die Tür auf, der Strandvogt trat fröhlich herein und unterbrach die Rede seiner Frau.

»Alles still, Kinder!« rief er jauchzend. »Alles still, rings herum! Kein Mensch weiß, daß du hier bist, und niemand hat nach dir gefragt. Der Däne wird auch keine Botschaft ans Land geschickt und glaubt gewiß seine Pflicht erfüllt zu haben, nachdem er dich von Stettin bis Rügen verfolgt.«

»Um so sicherer kann er nach Mönchgut gehen,« wagte die Mutter leise einzuschalten.

»Nach Mönchgut? Was soll er denn da?«

»Er sehnt sich, Hille zu sehen,« erwiderte schnell die Mutter, »und Hille wird sich nicht weniger freuen, ihn nach vier Jahren mit groß gewordenen Augen anzuschauen.«

»Ah, stehen die Sachen so!« brummte der Alte halb für sich. »Meinethalben, ich habe nichts dagegen. Aber die Franzosen, Junge?«

Der Junge lächelte, – nicht über diese Franzosen, sondern weil ihn die Taktik der Mutter belustigte, die mit weiblich schlauer Berechnung ihn zu diesem Besuche veranlaßt, gegen den er im Grunde nichts einzuwenden hatte. Er beruhigte daher den Vater wegen seiner Besorgnis und bat, ihm zu sagen, wo die Wachtposten der Franzosen ständen.

»Mein Sohn,« erwiderte der Alte, »das ist eine Frage, die ich dir nur halb beantworten kann. In Sagard steht ein kleines Kommando und in Spyker eins, das ist gewiß. Ein größeres in Bergen und Garz, vielleicht auch in Putbus und Gingst, und das größte ohne allen Zweifel an der Südwestküste, Stralsund gegenüber, wo sie ja das neue Fort erbaut haben, das ihres Kaisers Namen trägt. Außerdem aber halten sie auf allen ins Meer vorspringenden Landspitzen Wachtposten, um nach den Engländern auszulugen, die sie fürchten wie die Pest. Darum haben sie auch überall Feuerbaaken errichtet, um sie anzuzünden, wenn die Engländer etwa landen wollten, die Ihrigen damit zusammenzutrommeln und dem Feinde die Landung zu wehren, oder zu entwischen, wie sie es nun für ratsam halten. So weiß ich, haben sie auf Peerd, Thiessow und Zicker ein Kommando untergebracht, auch im Granitzer Ort liegen sie und senden Streifpatrouillen an der Prorer Wiek entlang. Auf Stubbenkammer hast du selbst ihre Bekanntschaft gemacht. Auf Arcona haben sie sich erst recht eingenistet, ebenso am Möven-Ort auf Wittow. Hiddens-öe sollen sie nicht berührt haben, das ist ihnen ein zu trauriger Aufenthalt, und das Kloster und Grieben haben sie voriges Jahr so leer gefressen, daß keine Maus mehr ihre Nahrung findet. Weiter weiß ich nichts von ihnen, als daß vorauszusetzen ist, daß sie alle Fähren im Auge behalten, um zu wissen, was vorgeht im Lande, da sie es nun einmal in Besitz haben.«

»Nun,« sagte Waldemar, »das ist auch genug, was du mir da sägst. Es ist mit einem Worte so, wie ich mir dachte, und es kann auch kaum anders sein: sie haben das ganze Land in der Gewalt, aber noch lange nicht so, daß man nicht still für sich einige Zeit hier leben und seine Freunde besuchen könnte, wie man Lust hat, ohne ihnen aus Schritt und Tritt in den Rachen zu laufen. Ich werde also heut abend, wenn es dunkelt, nach Mönchgut aufbrechen. Morgen bleibe ich in Bakewitz. In der Nacht zum ersten Juni gehe ich nach Rugard, und von da denke ich mit Magnus zu Euch zurückzukehren, um hier das zunächst Folgende zu beschließen.«

»Das ist vernünftig, mein Junge, und dazu gebe ich gern meine Einwilligung. Es ist mir lieb, daß Ihr keine Absicht auf Spyker habt, denn dort würde sich der Graf nicht wohlbefinden, wenn er seinen schönen Besitz in den Händen und Mäulern der Franzosen sähe. Auch würde man ihn dort bald auswittern, und es wäre in kurzer Zeit um Euch beide geschehen.«

»Wir kennen die Gefahr und wissen ihr zur rechten Zeit entgegenzugehen oder auszuweichen. So sei es denn abgemacht; und nun wollen wir uns einmal die See betrachten.«

Vom Vater begleitet, trat er auf die kleine Warte und schaute durch sein Glas einige Stunden lang rings herum das Land und das Meer an. Kein Punkt entging seiner Aufmerksamkeit, er hatte für jede Kleinigkeit Sinn und begrüßte bald laut, bald im stillen die reizenden Bilder, die sich seinem Auge darboten und die ihn wie traute Erinnerungen aus den Kinderjahren wieder begrüßten. In ruhigem Glanze lag das Meer vor den beiden Männern. Die Sonne schien sanft und freundlich hernieder, was sie im Mai auf Rügen so selten tut. Der Himmel war ziemlich wolkenklar, und kein Wind bewegte die schwere und jetzt anscheinend so träg dahinfließende Flut. Waldemar sah mit Entzücken von der friedlichen Heimat aus die Möven über die Strandwellen flattern, die Schwalben miteinander spielen und in der Ferne dann und wann ein schneeweißes Segel glänzen, obwohl in diesen Kriegszeiten Schiffe seltene Erscheinungen waren und schnell am Horizonte wieder verschwanden, sobald sie aufgetaucht waren.

Um zwölf Uhr nahm man das Mittagsbrot ein, die Nachmittagsstunden verbrachte man in traulicher Plauderei, als der Abend aber leise heraufdämmerte, erhob sich Waldemar, ordnete seine Waffen und steckte sein Fernglas zu sich, was die Mutter als die Rüstung zur Reise betrachtete.

»Waldemar,« sagte die ängstliche Frau, »mich quält es doch, daß du so allein den unheimlichen Gang durch die Nacht antrittst. Hätte ich doch nichts von Bakewitz gesagt! Aber ich dachte ja nicht, daß du den Abend, oder gar die Nacht zu deinem Besuche wählen würdest.«

»Ängstige Dich nicht ohne Not, Mütterchen. Sieh, der Gang bei Nacht ist ebenso sicher wie bei Tage und für mich sogar noch sicherer, denn ich kann mich einer Gefahr, wenn sie drohen sollte, um so leichter entziehen. Auch ist der Weg nicht so arg weit. In zwei kleinen Stunden bin ich an der Prora, in drei in der Granitz und in vier auf Bakewitz. Freilich wäre es mir lieber, wenn ich mein gutes Segelboot von gestern hätte und geraden Weges von hier nach dem Peerd segeln könnte. Allein der Wind ist nicht günstig, und dann möchte es nicht immer so glücklich ablaufen, wenn die Dänen hinter mir her wären. Sei also getrost und ängstige dich nicht; dein Waldemar hat ärgere Gefahren bestanden, als ihm heute drohen.«

»Gott sei gedankt für diesen guten Trost! Aber noch eins muß ich sagen. Wäre es nicht geraten, wenn du andere Kleider anzögest?«

»Warum das?«

»Damit man dich nicht erkenne, wenn man dich etwa verfolgt, und die Dänen haben dich auf der Oie doch darin gesehn.«

»Das ist kein übler Vorschlag,« sagte der alte Strandvogt. »Die Alte ist schlau, mein Junge. Wenn dich die Dänen nun doch signalisiert hätten?«

Waldemar dachte einen Augenblick nach. »Nein,« sagte er dann entschieden, »ich ändere meine Kleidung nicht. In dieser fühle ich mich heimisch und habe alle Bewegungen frei; selbst die schweren Stiefel hindern mich nicht am raschen Laufen, kann ich doch damit durch Moor und Sumpf waten. Auch kann ich unter dem weiten Wetterrock sehr gut meine Waffen verbergen, und ungewohnt ist man ja hier der Seemannskleidung nicht.«

»Sie ist aber viel besser und feiner, als man sie hier zu Lande trägt, und man sieht ihr gleich das Fremdländische an.«

»Daß ich nicht wüßte. Man kann mich für einen Seemann aus Stralsund halten, und im Notfalle spreche ich vortrefflich Dänisch und Französisch. Nein, nein, laßt mich in diesen Kleidern, ich würde mich schämen, durch meine Heimat in einer Verkleidung zu gehen, und was würde Hille sagen!«

»Haha! Ja freilich,« jauchzte wieder der Alte und warf Mutter Ilske einen verständlichen Blick zu, »das ist die Hauptsache!«

»Die Hauptsache nicht, Vater, aber ich zeige mich überall und immer gern in meiner wahren Gestalt.«

»Da hast du auch recht, mein Junge, und nun behüte dich Gott, es wird Zeit, daß du fortkommst. Bist du auch satt?«

»Bis morgen früh.«

»So ist es gut.«

*

Somit war der Augenblick des Abmarsches gekommen, und als ob das Wetter den kühnen Wanderer hätte begünstigen wollen, so trat plötzlich eine Änderung desselben ein, und zwar mit einer Naturerscheinung verbunden, die auf dem kleinen Eilande nicht allzu selten beobachtet wird. Durch die durchsichtig klare und ungewöhnlich warme Luft fuhr jählings ein kalter schneidender Wind, der über die bisher deutlich wahrnehmbare See jenes seltsame, in geballten Massen einherstürzende Nebelgewölk fegte, welches man auf Rügen See-Daak nennt und sich mit reißender Schnelligkeit oft über die ganze Insel verbreitet. Phantastische Gestalten annehmend, dicht über dem Seespiegel meist in breiter Masse vorrückend, in der Höhe aber in spitz zulaufenden Spiralen wirbelnd, gleitet das Meerungetüm gespenstisch über die Wasserfläche hin, wie wenn eine Unzahl Kanonen plötzlich, ohne ihr Gekrach hören zu lassen, sich ihres Pulverdampfs entledigt hätten und denselben nun vor sich her kreiselten. In seinem Sturmeslaufe bricht dieser Nebel mit Gedankenschnelle herein, und was er erreicht, hüllt er in ein so undurchdringliches Dunkel, daß es dem schärfsten Auge nicht gelingt, sich einen Durchblick zu bahnen. Den schönsten und seltensten Anblick aber gewährt dieser Nebel, wenn er im Anstürmen einen mit dicken Baumstämmen besetzten Wald erreicht. Hier teilen, zerreißen ihn die widerstrebenden Stämme in einzelne Schichten, und er huscht, fortgetrieben von einer unsichtbaren Gewalt, wie der Windstoß den Windstoß und eine Wolke die andere treibt und drängt, in gewundenen Linien, die sich vereinigen, um sich bald wieder zu trennen, durch die freien Zwischenräume der Bäume, hier einen kurzen Einblick in eine höhlenartige Vertiefung, dort nur Schatten und nächtliches Dunkel gewährend.

Waldemar kannte diese im Frühjahr und Herbst sich am häufigsten zeigende Erscheinung sehr wohl und wußte, wie sie ihm auf seinem heutigen Marsche förderlich war. Er hüllte sich daher fest in seinen warmen Sturmrock, nahm seinen schweren Stock zur Hand und schritt nach zärtlicher Trennung von der Mutter und nach festem Händeschütteln mit dem Vater, rasch in den Stubnitzwald hinein, der sich von Sassnitz aus noch eine Strecke südlich und westlich über Crampas hinaus fortzieht. In einem nach Westen geschweiften Bogen schritt er unter den Bäumen auf ihm wohlbekannten Seitenpfaden bis zum Dorfe Mucran, dann schnell die Felder hinter sich lassend, erstrebte er das Dorf Reetz, von wo er der großen alten Landstraße folgte, die fast schnurgerade auf die schmale Haide zuführt. Dieser in der Tat überaus schmale Landgürtel, der die Halbinsel Jasmund mit dem eigentlichen Rügen wie eine Brücke verbindet, die den kleinen Jasmunder Bodden von der Prorer Wiek trennt, ist außerordentlich niedrig und flach, teils sandig, teils mit zahllosen Feuersteinen bedeckt, die das Wandern erschweren und bei heftigen Winden, namentlich wenn sie vom Meere her fegen, unangenehm zu beschreiten sind. Heute nun wehte gerade der Wind scharf von Osten her und trug das brausende Geräusch der Brandung weit in das Land hinein, jeden Laut, der sich etwa vom Lande selbst hören ließ, ganz übertönend. Sich in noch raschere Bewegung setzend, um dem kalten Luftzuge bald zu entgehen, schritt Waldemar bei der schönen und noch jetzt vorhandenen Gruppe riesiger Hülsbüsche vorüber auf die öde und kahle Strecke der schmalen Haide hinaus und mäßigte seinen Gang erst, als er das einsame Nadelgehölz auf der Haide erreichte. So kam er glücklich bis zum Haidekruge, wo er mit Recht französische Einquartierung vermutete. Schon von weitem schallte ihm lauter Gesang aus der Schänke entgegen, vor der ein schläfriger Posten, unwillig, daß er am Spiel und der Unterhaltung der Kameraden nicht Teil nehmen konnte, langsam auf und ab klirrte. Waldemar hielt sich von ihm fern, verließ rasch das einsame Gehöft und wandte sich nun der vielgenannten Prora zu, diesem damals eigentümlich düstern, von beiden Seiten mit stark abschüssigen Bergwänden eingeschlossenen Hohlwege, den ein Fremder zur Nachtzeit und namentlich wenn der See-Daak das Land durchstreicht, sicher vermeidet, weil er gehört hat, daß es ein so schmaler Engpaß ist, daß zwei sich etwa begegnende Menschen höchstens zu Fuß einander ausweichen können. Für Waldemar hatte er nichts Bedenkliches, ja er schien ihm noch sicherer als der Dreiviertelstunden lange sandige Weg, der an den Dünen und dem Strande entlang nach dem öden Aalbeck führt und von den zwischen dem Haidekruge und dem Vorgebirge Peerd hin- und herziehenden Patrouillen häufig betreten wurde. Zwischen beiden Wegen aber konnte er nur wählen, da sie die einzigen waren, die Jasmund und Mönchgut verbinden.

Als Waldemar den Eingang der Prora erreicht hatte, horchte er scharf hinein, ob kein klirrender Tritt oder ein rasselnder Wagen auf dem holprigen Wege ihm entgegen käme. Er hörte nichts, und so schritt er rasch und mutig in den eine Viertelstunde langen Engpaß hinein, der – zu damaliger Zeit – an manchen Stellen so schmal war, daß sich die Gebüsche von beiden Berglehnen in der Mitte berührten, die er dann mit dem Stocke erst auseinander biegen mußte, um einen Durchgang zu gewinnen. Daher herrschte denn, wie schon bei Tage, so jetzt am späten Abend erst recht eine undurchdringliche Dunkelheit darin, dafür aber hatte der Wind keine Gewalt, und die Luft war ungleich wärmer als in der Nähe des Strandes. Vom Himmel war, zumal in dieser düsteren Nebelnacht, keine Spur zu sehen, und so setzte Waldemar, der fast jede Erhabenheit und Vertiefung des Bodens kannte, den steil auf und absteigenden Pfad rastlos fort. Endlich aber wurde der Weg wieder breiter und ebener, die Höhen mit ihrem Buschwerk traten weiter zurück, und man atmete wieder freier, da sich der Wind alsbald fühlbarer machte. So war die Prora überwunden und nun den Schanzenberg zur Linken umgehend, auf dem er mit Recht einen Posten vermutete, weil man von seiner Höhe einen weiten Fernblick über das ganze Land hat, wandte der nächtliche Wanderer, durch Felder und Niederungen schreitend, sich dem malerischen Schmachtersee zu, dessen reizende Umgebung, herrliches Laubholz auf schön geschwungenen Bergen, ihm in früheren Jahren so oft ein beliebter Spaziergang gewesen war. Von diesem See aus, den er zur Rechten ließ, erreichte er bald das sterile Dorf Aalbeck, in dessen Nähe er laut und immer lauter das Meer an die öden Dünen branden hörte. Dicht dahinter beginnt der schon mehrfach erwähnte schöne Granitzwald, dem er mit frohem Herzen zueilte. Denn war er auf dem schmalen Sandwege am Meere, den er zuletzt betreten, leicht der Begegnung einer Patrouille ausgesetzt gewesen, so bot ihm die prachtvolle Waldung mit ihren dicken Stämmen, ihrem hügeligen Boden und dem fast undurchdringlichen Gestrüpp eine bei weitem größere Sicherheit. Deshalb hielt er sich so fern wie möglich von den jäh in die Prorer Wiek abstürzenden Ufern und schlug den breiten Weg auf den höchsten Punkt dieser Gegend ein, einen herrlich bewaldeten Bergrücken, auf dessen höchstem Gipfel sich das alte Putbusser Jagdschloß erhob. Aber nicht dieses Jagdschloß selbst erstrebte er, da er auch hier eine Niederlassung der Franzosen voraussetzte; vielmehr es zu seiner Rechten lassend, wandte er sich auf einem Nebenwege nach dem Dorfe Sellin, hinter dem er in kurzer Zeit den Grenzgraben erreichte, der die Halbinsel Mönchgut von Rügen trennt und durch welchen der Selliner See sein Wasser dem Meere zusendet. Jetzt schritt er rasch über die dortigen Wiesen hinweg dem Dorfe Baabe zu und erreichte endlich das große Dorf Göhren, das nicht weit von dem Göhrenschen Höwt oder dem Vorgebirge Peerd, entfernt liegt.

Die Umwege auf den verschiedenen Schleichpfaden mit eingerechnet, hatte er etwa einen Weg von vier starken Meilen zurückgelegt, was ihn jedoch bei seiner kräftigen Konstitution durchaus nicht ermüdet hatte. So war es ungefähr Mitternacht geworden, als er den Bergrücken des Peerdes erreichte, den er durchkreuzen mußte, um nach Bakewitz, dem an der Südseite desselben gelegenen Gute, zu gelangen. Der heftige Wind hatte um diese Zeit bedeutend nachgelassen, und nur bisweilen noch fuhren abgerissene kurze Windstöße mit geisterhaftem Heulen von der See her über das steile Ufer hin. Auch war der Nebel undurchsichtiger geworden, und nur einzelne dichtgeballte Streifen huschten stoßweise als Nachzügler über die nächtliche Szene.

Hier beschloß Waldemar eine Weile zu rasten und zu überlegen, wie er in so später Nacht sein Eintreten bei dem kranken Lachmann entschuldigen sollte, der seiner Familie freilich ein lieber Freund und ein allen Landeskindern wohlbekannter Patriot war.

Als er sich zu diesem Zweck auf einen Mooshügel niederließ und dabei zur Linken das steile Vorgebirge, vor sich den schmalen Weg nach dem Gute hatte, glaubte er in der Ferne von der Seite des Meeres her ein flackerndes Feuer wahrzunehmen. Begierig, den Grund desselben zu erspähen, schlich er dem spitz zulaufenden Vorgebirge zu, aber in die Nähe der äußersten Spitze gelangt, stockte er plötzlich im Vorschreiten, sprang hinter ein dichtes Erlengebüsch und hatte nun eine Szene vor sich, die ebenso seltsam wie anziehend war.

Das Göhrensche Höwt, in der Volkssprache Peerd genannt, weil es, von der See gesehen, die Gestalt eines kolossalen Pferdekopfs hat, springt in abgestumpften unförmlichen Kegeln von gelbem Sand und Ton aus einer Hülle des Seedorngesträuchs hervor und bäumt sich in ansehnlicher Höhe gerade nach Osten gegen das Meer auf, dessen feindliches Andringen ein gewaltiges Lager von großen und kleinen Steinen bricht, zwischen denen gewöhnliches Schilfrohr in unendlicher Menge hervorwächst. Das schräge Vorufer, an dessen Strand und Abhang diese Steine liegen, ist wild, rauh und gleicht einem Chaos von zufällig zusammengehäuftem Schutt. Auf dem dahinter liegenden Klippenplateau nun stand ein ansehnliches Gehölz riesiger Tannen, durch welches der Wind stoßweise fuhr und dabei ein hohl und geisterhaft klingendes Sausen in den hin und her bewegten Wipfeln verursachte, das sich nicht unharmonisch mit dem pfeifenden Säuseln des Schilfes mischte, dessen elastische Halme sich tief bis zu den brodelnden Wellen beugten.

Auf der äußersten kahlen Spitze hatten die Franzosen eine Feuerbake errichtet, eine hohe Stange, an deren Ende eine Teertonne befestigt war, um den landeinwärts liegenden Kriegern ein weithin sichtbares Zeichen zu geben, wenn irgend ein Feind es wagen sollte, eine Landung zu versuchen, namentlich aber wenn etwa die unternehmenden Engländer, die man am meisten fürchtete, den verpönten Handel mit Kolonialwaren auf heimliche Weise an dieser abgelegenen Küste ausüben wollten.

In der Nähe dieser Bake schlich seufzend und frierend eine Schildwache auf und ab, von Zeit zu Zeit sich den Tannen nähernd, unter deren Schutze ein Wachtposten, aus vier Mann bestehend, sich gelagert und ein Feuer angezündet hatte, zu dessen Unterhaltung einige umstehende harzreiche Bäume gefällt und zersägt waren. Das Feuer selbst brannte nicht allzu hell in einer Vertiefung, die die Natur gegraben und die menschliche Hand erweitert hatte. Düster flackerte die matte Flamme in der nebligen Nachtluft, die heute kein Mondstrahl erhellte, und warf einen dunkelglühenden Schein weit auf das brodelnde Meer hinaus, während ein schwarzer, harzig duftender Qualm in umfangreicher Säule langsam emporstieg, in der Höhe aber bald von den Windstößen westwärts getrieben wurde.

Im Kreise um das Feuer herum, an dem sie ein warmes berauschendes Getränk kochten, saßen vier Scharfschützen, die zu der unglückseligen deutschen Reichsarmee gehörten, welche die Franzosen oft wider Willen in alle ihre Feldzüge und Schlachten mitschleppten. Nur ihre Seitengewehre hatten sie um die Hüften geschnallt, ihre Büchsen aber standen, zu einer Pyramide vereinigt, zwischen der Bake und dem Feuer, so daß sie im Fall der Not sie mit wenigen Schritten erreichen konnten. Indessen war an einen Überfall an diesem stillen und abgelegenen Orte der Insel, auf der kein feindliches Korps ihnen gegenüber stand, nicht zu denken, und so ruhten sie sorglos, im Moose niedergestreckt, ihren nächtlichen Dienst, so leicht er war, nicht gerade mit großer Lust verrichtend, wie wir sogleich hören werden, vielmehr die windige Insel zu allen Teufeln wünschend, wenn sie sie mit ihrer spießbürgerlichen Heimat verglichen und an die reichlichen Genüsse dachten, die ihnen ohne alle Mühe daselbst zuteil geworden waren.

An ihrem Dialekt, den sie in seiner ganzen südlich gedehnten Breite sprachen, erkannte der unberufene Lauscher, der wenige Schritte hinter ihnen im dichten Gebüsch verborgen war, wessen Landes Kinder sie waren, und als er erst einige Worte gehört, ward er begierig, den Verlauf der für ihn höchst ergötzlichen Unterhaltung zu vernehmen.

»Ich sage dir,« sagte der eine, der ein Korporal zu sein schien, zu einem seiner ruhmreichen Kameraden, »du bist ein wahres Rhinoceros, wenn du von den Schönheiten dieser Insel sprichst, auf die wir alle wie ebenso viele Robinsons verschlagen sind. Was gibt es denn hier, was nur einigermaßen zu loben wäre? Laß hören. Zuerst hast du den bittersten Wind und immer aus erster Hand, der Mark und Bein erkältet – hu, mich schaudert schon, wenn ich nur davon rede. Mit dem Winde kommt der Nebel, von dem wir heute wieder eine anständige Probe erlebt haben. Nennst du den etwa warm?«

»Ich habe auch nicht gesagt, daß er warm ist, Korporal.«

»Halt's Maul, dummer Kerl, Subordination bitt' ich mir aus, ich habe das Wort. – Zunächst dem Winde und dem Nebel kommen ihre Gevattern, die schwarzen Wolken, die Regen auf Regen herabschütten, als wollten sie das Meer noch größer machen, das leider Gottes so schon groß genug ist. Für die dummen Fischer und Schiffer hier mag so eine Sündflut ganz angemessen sein, für unsereins aber, die wir nicht zu dem Stamme der Grönländer und Eskimos gehören, ist das ein überflüssiges Element.«

»Das war ein guter Witz Korporal – überflüssig!«

»Halt's Maul, sag' ich, und sperr' die Ohren auf, wenn ein erfahrener Mann dein Trommelfell kitzelt. Das ist nun alles, was die Natur hier gibt – jetzt komm' ich zu dem, was die Menschen fabrizieren. Daß sich Gott erbarme! Ich will einmal vom Essen und Trinken sprechen, da es doch den Leib und die Seele zusammenhält. Aber was soll ich da viele Worte machen, es ist ja nichts der Rede wert. Saures Brot gibt es genug, nun ja, aber der Fische gibt es zu viel, vom Morgen bis Abend, vom Abend bis Morgen, Fische und immer Fische, und wenn man denkt, es kommt einmal was anderes, so sind es abermals Fische.«

»Fabrizieren denn die die Menschen, Korporal?«

»Halt's Maul, Halunke, sage ich, sonst melde ich dich als widerspenstig und du wirst eingesperrt, – verstehst du? – Ja, was wollt ich sagen – von den Fischen sprach ich – hm! Nun ja, das ist auch alles, ich weiß nichts mehr.«

»Ihr habt das Getränk vergessen, Korporal,« sagte ein dritter, der höher in der Gunst seines Vorgesetzten zu stehen schien, denn er fürchtete sich nicht vor dein angedrohten Arrest.

»Du hast recht, Jürgen, du bringst mich erst auf das rechte Kapitel. Getränk? Sieh doch mal nach, Klaus, ob das Wasser noch nicht kocht, ich habe Durst und friere, als ob ich selbst zu einem kalten Fisch geworden wäre. Ach Gott, ach Gott!«

»Was ist Euch denn, Korporal?«

»Was mir ist? Ich lamentiere um das, was mir fehlt, um mein Bier zu Hause, das schöne Bier – das Münchener ist gar nichts dagegen – ach, Jungens, wenn Ihr wüßtet – hm! Meine Meisterin brachte mir alle Tage zwei Maß davon in die Kammer, heimlich, der Alte durft' es nicht wissen, und das schmeckt am besten, wie Ihr wißt.«

»Ja, das wissen wir,« sagte der begünstigte Scharfschütz. »Ihr habt recht; wenn ich an unser Bier denke, bricht mir beinahe das Herz vor Sehnsucht und ich muß denken, wenn der Kaiser Napoleon wüßte, daß wir hier keins haben und so hundemäßig darben müssen, er schriebe sogleich eine Ordre und ließe uns nach Hamburg oder irgend wo anders hin marschiren, wo es außer Fischen, Brot und Bier noch was besseres gibt.«

Das Gespräch stockte eine Weile, denn der zur Untersuchung des Wassers beorderte Schütz hatte es siedend gefunden, eine Flasche Branntwein und ein großes Stück konfiszierten Zuckers in einen Kochkessel getan, und dann mit einem Stück Holz den duftenden Inhalt umgerührt. Es mußte ihm sehr appetitlich riechen, denn er füllte hastig ein irdenes kleines Geschirr damit, kostete es, nickte beifällig, tat einen größeren Zug und reichte es dann dem Korporal, der keine so derbe Haut auf den Lippen besaß wie der Koch, denn er verbrannte sie sich weidlich, hustete und brach dann in ein lautes Schelten aus.

»Verfluchter Esel! Ich sage es ja, du bist zu nichts zu gebrauchen. Glaubst du denn, daß meine Lippen Stiefel tragen, wie deine bäurischen Pfoten? – Kerl, so sauf doch nicht wie ein Tiger, der zehn Tage gedurstet hat – laß die Brühe kalt werden, ehe du sie ganz verschlingst.«

Der Befehl wurde befolgt und dann das Gefäß herumgereicht, als plötzlich hinter ihnen eine Stimme sagte: »Korporal – heda! Ich glaube, Ihr könnt mir auch was darin lassen.« –

Der Korporal, heftig erschreckend, erbleichte und drehte sich wie eine wohlgeölte Windfahne nach dem Sprechenden um. Als er aber den an der Bake Wache haltenden Schützen mit lose über die Schulter gelegter Büchse hinter sich stehen sah, sprang er auf die Füße und donnerte:

»Marsch! Dort ist dein Platz, Halunke! Schau nach dem Meere, das ist dein Dienst; erst wenn du abgelöst wirst, kannst du den Hundetrank trinken wie wir.«

Die Schildwache stand schon auf ihrem Posten, sie hatte wenigstens einen Augenblick die Wärme des Feuers gespürt und eine Nase voll von dem Duft des leckern Gebräues eingesogen. Der Korporal aber, etwas weicher gestimmt, sobald das starke Getränk seine Lebensgeister erregte, streckte sich wieder nieder und schien geneigt, das Gespräch fortzusetzen, als ein ächzender Windstoß durch die Wipfel der Tannen über ihnen hinfuhr und ein so klägliches Wimmern hören ließ, daß alle Anwesenden ein unwillkürliches Grauen empfanden.

»Habt Ihr gehört,« sagte der Korporal, nachdem er eine Weile auf den seltsamen Ton gelauscht – »war das nicht ein Aechzen und Wimmern, wie wenn ein neugeborenes Kind um Mitleid und Barmherzigkeit fleht?«

»Ja, ja, wir haben's gehört, Korporal, und es schauert uns allen die Haut davon, – denn mag einer sagen, was er will, es ist nirgends geheuer auf dieser Insel.«

»Weites der liebe Gott!« fuhr der Korporal fort, »ich denke erst jetzt daran, und das ist nicht das geringste Ungemach hier. Sagt mal, was denkt Ihr denn von dem Spuk, der hier alle Nächte in den alten Schlössern, Schluchten und Wäldern umgehen soll?«

»Was wir davon denken?« fragte der begünstigte Schütz und bekreuzigte sich herzhaft. »Was jeder redliche Christenmensch davon denken muß, wenn er selig werden will. Natürlich spukt es hier überall und das ist kein Wunder, denn das ganze Land ist ein Kirchhof, überall sind Gräber und zu Tausenden liegen die erschlagenen Menschen darin und vor allem in den Hünengräbern, wie sie sie nennen.«

»Natürlich, und das finde ich ganz in der Ordnung,« erwiderte der Korporal sehr leise und rückte etwas näher an seine Kameraden heran, was diese auch schon untereinander getan hatten und so ganz dicht beieinander saßen. »Die alten Rügianer sind alle Heiden gewesen und haben Menschenfleisch gegessen – das bestraft sich an Kind und Kindeskind, und darum müssen ihre Nachkommen jetzt so saures Brot essen. Ihre Götzen sollen sogar Jungfrauen verschlungen haben, und in dem See dort oben – habt Ihr ihn schon gesehen?«

»Gott bewahre, ich mag ihn gar nicht sehen!«

»Ich auch nicht, er soll noch ganz schwarz aussehen, von verfaultem Blut, und darum nennen sie ihn auch den schwarzen See.«

»Schweigt still davon, es wird einem ganz weich dabei ums Herz und mir schaudert die Haut. Hu! was ist das kalt! Schür' mal das Feuer, Klaus, es geht sonst aus.«

Aber Klaus regte sich nicht; ihn hatte die Furcht so übermannt, daß er sich nicht von seinen Kameraden trennen mochte, und so brannte das Feuer stets matter, da auch der Korporal nicht den Mut besaß, seinen Nebenmann zu verlassen.

»Ja,« sagte er endlich, »es ist das eine schreckliche Gegend hier. Neulich erzählte mir Korporal Melchior, als er vor drei Wochen auf Kommando nach Spyker gemußt – das ist ein Gut dort oben in Jasmund und ein altes verhextes Schloß – er habe das Spykersche Gespenst gesehen und beinahe wäre es ihm eines Abends in den Nachen gelaufen. Er hat sich so darüber erschrocken, daß er das Fieber gekriegt und in das Lausenest Bergen ins Hospital gemußt hat, und da hab' ich ihn gesprochen.«

»Hu, das ist schrecklich, Korporal! Das Übelste aber sollen die aufgeworfenen Gräber sein, wo man Schätze zu finden geglaubt und nichts als ungeheuer dicke Knochen gefunden hat; die Gespenster, die sie behüten, sollen Rache geschworen haben einem jeden, der einen Spaten anrührt.«

»Rache? Du sagst es? Kerl – mache mich nicht toll!«

»Warum denn gerade Euch, Korporal?«

»Weil ich auch so dumm gewesen bin und an Schätze gedacht und mir welche habe ergraben wollen – und da« – ihm erstickte das Wort beinah in der Kehle – »da hinter dem Gebüsch – gleich hier, wo wir sitzen, da ist so ein Kegelgrab, wie sie es nennen –«

»Ihr habt doch nicht darin gegraben?«

»Ja, ich sag's ja, ich bin – so dumm gewesen. Denn seitdem ich's getan – seitdem –«

»Nun seitdem?«

»Seitdem gehe ich nie ohne Schauder daran vorüber, denn es summt und gurgelt und prustet darin, wie wenn –«

»Was ist Euch, Korporal?«

Der Korporal hatte sich ganz fest an seinen Nachbar gedrückt, die andern desgleichen, und so lagen sie alle dicht nebeneinander. »Still!« sagte er leise und den Kopf dem Gebüsche, von dem er gesprochen, entgegenneigend – »Hörtet Ihr nichts?«

Alle sperrten die Mäuler auf, hoben die Köpfe in die Höhe und horchten atemlos auf das angedeutete Geräusch, während ihre Hände vor der Brust auf und abflogen und ohne Unterlaß das Kreuz schlugen.

In der Tat, hinter dem Gebüsche hervor, auf das alle Augen glotzend gerichtet waren, sogar die der Schildwache, die schon lange, das Gewehr beim Fuß, hinter den Gespenstersehern stand, ließ sich ein seltsames, summendes Geräusch vernehmen. Erst leise, dann immer lauter, stieg es gleichsam aus der Erde hervor und klang dem Ohre der Abergläubischen so geisterhaft, daß es nach ihrer Meinung nimmermehr der Kehle eines Sterblichen entstammen konnte.

»Still – hört Ihr?«

»Ja, ja – was ist das? Es kommt näher – da ist es – hört! –

»Still!«

Das summende Geräusch ging in ein heiseres Gebelfer über; es klang entsetzlich, und hautschaudernd war die Wirkung, die es auf die in Furcht Gesetzten ausübte. Plötzlich geschah ein starker Schlag oder Wurf mitten ins Feuer hinein, die Funken sprühten rings umher und fielen auf die wie ohnmächtig daliegenden Krieger.

Das war das Letzte, was zu ertragen war. Wie vom Sturmwinde aufgehoben, sprangen die mutigen Schützen samt ihrem Korporal in die Höhe, und ehe man nur drei zählen konnte, waren sie davongestoben, Feuer, Getränk und sogar Gewehre im Stiche lassend. Der Letzte aber, der davonlief, war die Schildwache selbst, jedoch nicht eher, als bis sie ihre Büchse fortgeworfen und ein vor Angst heiseres: »Wer da?« gekräht hatte.

Keine halbe Minute war seit dem Verschwinden der mutigen Reichssoldaten verstrichen, so trat aus dem erwähnten Gebüsch eine hohe Gestalt hervor, ging zuerst auf das Feuer zu, das sie ganz austrat und mit Erde bewarf, so daß es keine Flamme mehr entsenden konnte, dann aber zur Bake tretend, riß sie sie mit herkulischer Gewalt aus der Erde und rollte die Tonne den Abhang nach dem Meere hinunter, die Stange flugs hinterherwerfend. Aber auch damit hatte das nächtliche Gespenst noch nicht genug. Rasch trat es zu den zusammengestellten Gewehren, nahm sie gewandt auseinander, hob eins nach dem andern in die Höhe und warf sie mit gewaltigem Schwünge mitten in das Schilf, so daß die Wasser darüber zusammenschlugen und ein Plätschern hören ließen, das wie ein dämonisches Gejauchze der so unverhofft beschenkten Wassergötter klang. Dann aber ein Stück rückwärts schreitend und den Weg gewinnend, der nach Bakewitz führt, lief das Gespenst, was es laufen konnte, querfeldein, und nicht eher hielt es in seinem Laufe an, als bis es das einsam gelegene Gehöft erreicht hatte, welches für diese Nacht sein Ziel gewesen war.

Kaum aber war das Gespenst vom Schauplatze seiner Taten verschwunden, so änderte sich die Szene in der Nähe des Biwaks auf eine für die Wache sehr unangenehme Weise.

Da nämlich die Stunde der Ablösung der Küstenwache gekommen war, so erschien der Offizier, der diese Nacht den Dienst hatte, nicht allein mit der Ablösung, sondern auch mit einer größeren Patrouille von der Seite des in Philippshagen gelegenen Hauptquartiers her, um seiner Pflicht gemäß nach dem Rechten zu sehen, und dann eine Strand! Visitation bis zum Granitzer Ort hin zu halten. Auf dem sandigen Wege aber, der von dem Göhrenschen Höwt nachdem Hauptquartier führte, kamen ihm schon die von dem Gespenst versprengten Untergebenen voll grenzenlosen Entsetzens in toller Hast entgegengelaufen, als wären sie in einer großen Schlacht geschlagen und suchten ihr einziges Heil in zügelloser Flucht. Über alle Begriffe verwundert hielt der Offizier seine atemlosen Truppen mitten auf dem Wege an, fragte und vernahm dann mit Erstaunen die rätselhaften Meldungen des entsetzten Korporals und seiner wie Espenlaub zitternden Gefährten. Da er aber ein mutiger und streng dienstlicher Mann war, so befahl er augenblicklich, nach dem Orte des Schreckens aufzubrechen, um sich persönlich von dem angeblichen Spuk und der furchtbaren Macht und Unwiderstehlichkeit des Gespenstes zu überzeugen.

An Ort und Stelle angekommen, fand er allerdings das Feuer verlöscht, und nachdem er es so schnell wie möglich hatte wieder anzünden und durch trockenes Nadelholz in hellen Brand setzen lassen, war es sein erstes, die Mannschaft, die so übereilt ihren Posten verlassen, unter das Gewehr zu rufen. Aber wer beschreibt den Schrecken und die Verwirrung aller Anwesenden, als sie weder die Baake noch die Gewehre vorfanden, wodurch sich der vermeintliche Spuk, vor den Augen des Offiziers wenigstens, in etwas ganz anderes und ernsteres auflöste. Er geriet daher in einen heillosen Zorn, und sein erster Befehl war, den Korporal und die vier Ausreißer mit strengem Arrest zu belegen, was auf der Stelle ausgeführt ward, indem die Patrouille sie in die Mitte nahm und nach dem nächsten Gefängnis abführte. Der zurückbleibende neu aufgezogene Wachtposten aber wurde befehligt, die ersten Stunden seiner Strandwache unter dem Gewehr zuzubringen, die Gegend ringsum genau zu durchsuchen und beim geringsten Befund, der den Überfall erklärte, Meldung abzustatten. Der Offizier selbst kehrte drauf in sein Haus zurück, ohne den beabsichtigten Patrouillengang fortzusetzen, denn die dunkle Nacht, der noch immer die Ferne verhüllende Nebel und der brausende Wind, der jedes Geräusch übertönte, ließ nur wenig Wahrscheinlichkeit übrig, ein Unternehmen glücklich zu Ende zu führen, das so seltsam und mit dem Verlust von fünf vortrefflichen Büchsen begonnen hatte. Mit dem geheimen Verdacht, daß es trotz aller angewandten Vorsicht doch einem kühnen Engländer gelungen sei, heimlich in der Nähe zu landen und den Überfall auf listige Weise auszuführen, ging er zur Ruhe, sich in seinem tapferen Herzen gelobend, am nächsten Tage auf die Engländer Jagd zu machen und den Übeltäter – natürlich erst, nachdem er ihn gefangen – zur beispiellosen Bestrafung dem Kriegsberichte in Bergen zu überliefern.


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