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Endlich war der achte August angebrochen. Wie der erste Tag desselben Monats, verhüllte auch er anfangs sein Angesicht in undurchdringlichen Nebel, der aber schneller als damals fiel, und schon um acht Uhr morgens überschaute das spähende Auge des Meiers einen ziemlich umfangreichen Horizont, während sich die oberen Luftschichten bereits mit einem goldigen Schimmer schmückten.
»Es wird ein guter Tag werden,« hatte er schon um sechs Uhr zu Bodo gesagt, als sie zusammen Kaffee tranken. »Es ist zwar jetzt noch nebelig, aber um zehn Uhr wird die Erde in ihrem lichtesten Gewande vor uns ausgebreitet liegen. Geben Sie acht. Ich habe die bestimmte Voraussicht davon, und damit auch Sie den Tag wenigstens mit einem freundlichen Gedanken beginnen, so will ich Ihnen einen Gruß bestellen, den Sie schon lange erwartet haben.«
Bodo schaute erfreut auf, um so heiterer, da er seines Wirtes biederes Gesicht im vollen Sonnenglanze eines freudigen Lächelns schimmern sah. »Haben Sie einen Brief erhalten?« fragte er rasch.
»Ja. Sehen Sie, da ist er. Er war schon gestern abend gekommen, man hatte ihn auf meinen Schreibtisch gelegt und vergessen, es mir mitzuteilen. Da finde ich ihn denn heute morgen ganz unerwartet, aber die Freude ist dieselbe.«
»Was bringt er denn?« fragte Bodo mit lebhaft schlagendem Herzen.
»Zunächst einen freundlichen Gruß an Sie von Gertrud. Warum sie nicht geschrieben hat, wird sie Ihnen morgen erklären, wo sie auf kurze Zeit nach Allerdissen zu kommen gedenkt, um Ihnen – Lebewohl zu sagen, bevor Sie Ihre große Reise antreten.«
Bodo ging tief bewegt im Zimmer auf und nieder. Er konnte nicht gleich eine passende Erwiderung finden. Seine Seele frohlockte in zu stürmischer Freude über dies so sehnlich erwartete Wiedersehen. Der Meier hielt sein Auge fest auf ihn gerichtet und beobachtete ihn unaufhörlich mit gespanntester Aufmerksamkeit, was Bodo in seiner freudigen Erregung gar nicht bemerkte. Plötzlich aber wandte er sich zum Meier und fragte mit fast blitzendem Auge: »Wann kommt sie? Morgen?«
»Ja, dann ist sie hier – ich freue mich auch. Ach ja!«
»Lieber Meier,« sagte da Bodo herzlich und legte seine Rechte auf die Schulter des großen Mannes, »darf ich an diesem gesegneten Tage ein ernstes Wort mit Ihnen reden?«
Der Meier nickte. »Immer zu – wenn nicht schon früher.«
»Nein, früher nicht; morgen, wenn Ihre Tochter hier, ist die rechte Zeit. Dann bin ich auf der Cluus gewesen und habe, wie Sie sagen, ein erleichtertes Herz mit zurückgebracht; morgen will ich es dann ganz erleichtern, und dann fort mit der Vergangenheit – und frisch ins neue Leben hinein!«
»Immer frisch! rief der Meier. »Ich bin mit dabei. Und im nächsten Sommer besuchen wir Sie, wo Sie auch sein mögen.«
»Es soll ein Wort sein!« rief Bodo entzückt und schüttelte dem biedern Manne traulich die Hand. –
Um acht Uhr stand der Wagen bereit, die beiden Männer aufzunehmen. Der Braune war mit einem Zügel an das Stangenpferd geschnallt und schien sich schon im voraus gewaltig zusammenzunehmen, um mit den schnellfüßigen Grauschimmeln gleichen Schritt halten zu können.
Die Treuhold geleitete die beiden Herren bis zum Wagen und drückte Bodo herzlich die Hand zum Abschiede. »Kommen Sie wieder so fröhlich von der Cluus zurück, wie das erste Mal,« sagte sie, »dann können wir ja wohl alle zufrieden sein.«
»Ich hoffe es!« erwiderte Bodo, der wieder still geworden war, als er sein heutiges Ziel allmählich näher rücken sah.
Unter ziemlich munterem Gespräch gelangten die beiden Reisenden bis an den Weg, der nach der Cluus abführte. Es war erst ein Viertel nach neun Uhr, denn man war rasch gefahren. »Werde ich auch nicht zu früh auf der Cluus eintreffen?« fragte Bodo, nachdem er nach der Uhr gesehen.
»Ich glaube nicht. Die Alte ist schon früh auf. Sie wissen es ja, und sie sieht Sie gewiß gern. Sie können ja auch langsam reiten, um später einzutreffen. So, da sind wir. Halt, Fritz!«
Bodo drückte dem Meier die Hand, stieg aus und löste den schwitzenden Braunen von seinem Nachbar ab, denn der anhaltende scharfe Trab war ihm etwas sauer geworden. Wenige Minuten später hatten sich die beiden Männer getrennt, der Meier sah dem Abreitenden mit eigentümlich verklärtem Lächeln nach, dieser aber drehte sich nicht mehr um, sondern setzte seinen nur noch kurzen Weg nach dem Fährhaus im langsamsten Schritt fort.
Der Meier hatte recht gehabt, der Nebel war um diese Zeit schon gänzlich verschwunden und die Sonne mit blendendem Glanze am lichtblauen Himmel heraufgestiegen. Die ganze Natur lag frisch und klar vor den Blicken des jungen Mannes, aber in seinem Innern wollte sich diese Klarheit noch immer nicht ganz einstellen. Wider Willen mußte er zwischen jenem ersten Tage, wo er denselben Weg verfolgte, und dem heutigen Vergleiche anstellen. Wie hatte sich seitdem alles, alles in ihm und um ihn verändert! Damals Besitzer eines schönen Gutes, Heimat und Zukunft gesichert, seine Gegenwart heiter – heute, zwar kein Bettler, aber bei weitem weniger wohlhabend. Doch das war ja nicht die Hauptsache für ihn. Damals war er der Sohn eines angesehenen Mannes gewesen, und heute hatte er keinen Vater mehr. Damals hatte sein Herz noch nicht in Liebe zu einem andern Wesen gesprochen, heute war es ganz erfüllt davon bis auf den letzten Blutstropfen. »Wenn das kein Unterschied ist,« sagte sich der einsame Reiter, »so weiß ich es nicht. Und doch, wann war ich eigentlich besser daran? Damals oder heute? Hm! Äußerlich war ich damals glücklicher, heute bin ich es innerlich – und das ist am Ende doch die Hauptsache. Heute abend schon wird mir der brave Meier das Dunkel erklären, welches wenigstens meine Vergangenheit umschwebte, und vielleicht – vielleicht wird bald ein helleres Licht wieder vor mir aufgehen und Vergangenheit und Gegenwart zu einer freundlicheren Zukunft ausgleichen. Also nicht verzagt! Vorwärts! Und siehe, da liegt die stille, freundliche Cluus, und wieder werde ich der seltsamen Frau begegnen, in ihr kluges, tiefes Auge blicken und – und erheitert von dannen gehen, sagt der Meier. Doch halt – was ist das?«
Er hielt seinen Braunen an und blickte erstaunt auf das Fährhaus hin. An der Stelle des kleinen niedrigen Kuhstalles war ein geräumiges ländliches Gebäude aus der Erde gestiegen, welches augenscheinlich zu Remisen und Stallungen dienen sollte. »Bin ich so lange nicht hier gewesen, daß das möglich war?« fragte er sich. Und er mußte zu seinem Schrecken sich selbst bekennen, daß beinahe vier Wochen vergangen waren, seitdem er die Bewohnerin der Cluus nicht besucht hatte, wofür er freilich nicht allein verantwortlich gemacht werden konnte.
Da trat der Fährmann, der ihn schon hatte kommen sehen, aus dem Hause. »Guten Tag, Herr Legationsrat!« redete ihn der Mann an, der wahrscheinlich von Boas oder Dina seinen Namen und Charakter erfahren hatte. »Nun, Sie sind ja recht lange nicht hier gewesen, wie?«
»Ich merke es jetzt erst,« erwiderte Bodo. »Sie haben sich da ein hübsches Haus unterdessen zugelegt.«
»Ach ich, Herr, wie käme ich dazu! Ich bin ja nur Heuerling und Fährmann hier und stehe im Dienste der Cluus.«
»Wie? Gehört das Fährhaus drüben hin?«
»Jawohl! Und Frau Birkenfeld hat auch diesen Stall bauen lassen. Wie die Ameisen haben zwanzig Leute daran gearbeitet. Na, wer Geld hat, kann schon was zustande bringen.«
»Aber zu welchem Zweck hat sie ihn hierher gebaut?«
»Ja, Gott,« sagte der Mann und kratzte sich hinter den Ohren, »der Himmel weiß, was da drüben vorgeht. Es ist ein Gelaufe und Gefahre jetzt, wie noch nie und fast sollte man denken, die alte Frau wäre gestorben und die Erben kämen, um sich das viele Geld zu holen. So ist es nie gewesen wie jetzt, sage ich. Damit die Herren aber ihre Pferde und Wagen besser unterbringen können, hat die alte Dame dies Haus bauen lassen, denn es ist beschwerlich, die Wagen über die Weser zu setzen und mit ihnen auf dem Umwege über den Berg – da rechts – nach der Höhe zu gelangen, wo freilich auch Stallungen und Remisen genug sind. So. Na, Ihr Brauner wird sich freuen, meinen alten Kuhstall nicht mehr zu finden und jetzt viel besser zu wohnen. Ich komme gleich wieder heraus, Herr Legationsrat, und will ihn nur anbinden, meine Frau ist nicht zu Hause. Dann wollen wir bald drüben sein.«
Bodo hatte einen Blick in das neue Gebäude geworfen, war dann in den Fährkahn getreten und sah aufmerksam nach der Cluus hinüber. Die Rouleaux, die früher fast alle Fenster geschlossen, waren aufgezogen, als wäre das ganze Haus von zahlreichen Gästen bewohnt. An vielen Fenstern standen blühende Topfgewächse und namentlich der große Erker in der Mitte des Giebelvorsprungs war von oben bis unten damit angefüllt. Als der Fährmann gleich darauf kam, fragte ihn Bodo:
»Warum sind denn die Fenster da oben alle von ihren Vorhängen befreit?«
Der Fährmann zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht, Herr, aber ich sag's ja, es muß drüben was los sein. So hat es hier nie ausgesehen. Und daß etwas Gutes im Werke sein muß, verrät mir des alten Boas' Gesicht. Der alte Junge ist ganz kindisch geworden, und wo man ihn gewahr wird, grinst er mit beiden Backen. O bitte – fassen Sie die Kette nicht an – sie ist rostig und Sie verderben sich Ihre schönen Handschuhe. So, jetzt geht es hinüber. Na, die Alte ist jetzt nicht da – obwohl sie schon den ganzen Morgen auf der Lauer stand. Wonach die nur zu gucken hat, das möcht ich wissen. Aber stricken tut sie dabei immerwährend – fleißig ist sie, wie ihre Bienen, das muß man sagen.«
Also plaudernd brachte der Fährmann den Besuch hinüber. Bodo bat ihn noch, für sein Pferd zu sorgen und bot ihm dann einen guten Morgen.
»O, für das Pferd soll schon gesorgt werden. Hafer und Heu ist genug vorhanden – die Alte hat an alles gedacht – guten Morgen, Herr, und gute Verrichtung!«
*
Bodo stieg langsam den grünen Abhang hinauf, in dessen Rasenflecke Boas hie und da kleine Edeltannen gepflanzt, was dem Ganzen ein lebhafteres und angenehmeres Ansehen verlieh, sonst aber war alles ringsum so still, wie das erste Mal, so daß das Haus und seine Umgebung wie ausgestorben erschien. Erst als er beinahe oben angekommen war, glaubte er die weiße Haube an dem einen Fenster des Wohnzimmers der alten Dame auftauchen zu sehen, allein sie verschwand gleich wieder, was dem Nahenden beinahe das Gefühl einhauchte, als zürnte ihm dieselbe, daß er sie so lange vernachlässigt habe. Gleich darauf stand er auf der obersten Treppenstufe, deren gußeiserne Blumenbehälter auch frisch ausgestattet waren, und zog nun behutsam die Schelle, als besorge er, durch einen starken Zug den Frieden des Hauses zu stören.
Leise und fast zitternd schallte der helle Glockenton durch das stille Haus, aber weder Boas noch Dina ließen sich in der ersten Minute blicken. Da öffnete sich im Innern des Hauses eine Tür – es konnte nur die zur rechten Hand gelegene sein, die in das Zimmer der Besitzerin führte – ein schlürfender, etwas hastiger Tritt machte sich bemerkbar – eine schwache Hand schob mühsam den schweren Riegel zurück und zwei Sekunden später stand Bodo vor der Besitzerin der Cluus selber.
Die alte Frau trug wie gewöhnlich ihren schweren grünen Sammetpelz über dem schwarzseidenen Kleide und auf dem ehrwürdigen grauen Kopf eine feine Tüllhaube mit gelben Bändern; aber ihr etwas gerötetes Gesicht war ohne Brille, ein Umstand, der ihre Stimmung gegen Bodo sogleich wieder zum Besseren deuten ließ. Auf diesem Gesicht aber lag eine seltsame Spannung, fast Ungeduld, und mit freudigem und doch ernstem Gesicht überflog sie Bodos Antlitz, in dessen Zügen sie augenblicklich einen weichen, beinahe gepressten Ausdruck fand, den sie früher noch nie darin wahrgenommen, der sie aber wunderbarerweise zu befriedigen schien.
»So? Also endlich!« sagte sie rasch, wiewohl höchst freundlich. »Sie erinnern sich also – daß ich noch lebe. Gut, gut. Aber nur herein, Herr Legationsrat – das soll kein Vorwurf sein – das wäre heute ein unverdienter Empfang – behüte Gott, ich weiß ja, warum Sie vor dem ersten August nicht gekommen sind und nachher – na! So, und nun setzen Sie sich – hierher, wenn ich bitten darf – da kann ich besser Ihr Gesicht sehen – ich sitze lieber im Schatten und die Sonne meint es heute fast zu gut – doch das kann sie ja nicht, nicht wahr?«
Trotz ihrer hastigen Rede bemerkte Bodo doch eine gewisse Befangenheit an der alten Frau, die sie sich vielleicht wegplaudern wollte und die er nicht zu bemerken sich die Miene gab, um sie nicht noch größer zu machen. Als er aber die kleine, ihm dargereichte trockene Hand gedrückt und gleich darauf Platz genommen, sagte er:
»Ja, Frau Birkenfeld, ich komme endlich, und wenn ich zu lange ausgeblieben bin, bitte ich um Verzeihung, doch ich konnte nicht anders. Nach Ihren Worten vorher zu schließen, wissen Sie aber schon, was mir am ersten August und den darauffolgenden Tagen begegnet ist.«
»Ja, ich weiß es, und wie sollte ich nicht? Die ganze Gegend spricht ja davon und es gibt viele redselige Mäuler, die mir die Wunderdinge aus der tollen Welt zutragen. Haha! Doch nun, da ich Sie selbst sehe, werde ich noch viel mehr erfahren, und ich hoffe alles und jedes von Ihnen zu vernehmen, wozu namentlich gehört, was Sie von jetzt an zu beginnen gedenken.«
»Um Ihnen das zu sagen, bin ich heute gekommen, Frau Birkenfeld. Zum letzten Mal, wie es scheint, um Ihre Ruhe zu stören, bevor ich wieder eine Gegend und ein Land verlasse, wohin ich erst vor kurzer Zeit mit so frohen Erwartungen gekommen war.«
»O, o!« rief die alte Frau, mit der Hand rasch über ihr Gesicht fahrend, als wolle sie ihre Miene glätten, »Sie sagen das so traurig. Das müssen Sie nicht. Es kann ja alles wieder besser werden. Sie wollen also wieder fort? Davon lassen Sie uns zuerst reden.«
»Ja, ich muß es sogar, denn ich kann meine Zeit doch nicht arbeitslos verbringen. Sie werden gehört haben, wie seltsam und unerwartet das Testament meines Vaters ausgefallen ist –«
»Ihres Vaters?« fragte die alte Frau schlau lächelnd.
»Oder nein, nicht meines Vaters, Frau Birkenfeld, aber doch dessen, den ich bisher dafür hielt.«
»Hm, ja! Ich habe das alles wohl gehört. Es ist Ihnen wohl sehr unerwartet gekommen?«
»Mehr als das – es hat mich tief erschüttert – und am meisten das Eine – mir noch Unerklärliche –«
»Daß Sie eine mit Sicherheit gehoffte Erbschaft verloren haben?« unterbrach ihn mit schlauem Augenblinzeln die alte Frau, deren Unruhe und Ungeduld mit jeder Sekunde zuzunehmen schien.
»Die Erbschaft? Ach nein, Frau Birkenfeld, das hat mich am wenigsten verwundet. Denn wie ich einmal bin, mache ich mir aus einer mir nicht einmal gebührenden Erbschaft sehr wenig. Auch habe ich ja hinreichende Mittel zum Leben erhalten, und sollte ich mehr gebrauchen, so besitze ich Kräfte, um mehr zu erwerben, und an Lust dazu gebricht es mir noch weniger. Doch das wissen Sie ja, darüber haben wir ja schon öfter gesprochen.«
Die Alte hob bei diesen Worten ihren Kopf in die Höhe und nickte befriedigt. »Ja, ja, das weiß ich,« sagte sie, »aber – was war es denn, was Sie am tiefsten erschüttert hat? Das sagen Sie mir jetzt.«
Bodo lehnte sich in seinen Stuhl zurück, schlug unwillkürlich die Augen nieder und erwiderte sanft: »Das, wofür ich am wenigsten kann: daß ich vater- und heimatlos bin.«
Frau Birkenfeld stand rasch von ihrem Sitze auf und ging ein paar Mal unruhig und dann und wann leise die Hände zusammenschlagend hin und her. Die soeben gehörten Worte nicht allein, auch die Art und Weise, wie sie gesprochen worden, hatten sie betroffen gemacht und dennoch wollte sie, wie stets, auch diesmal ihre innere Bewegung nicht sichtbar werden lassen.
Endlich jedoch schien sie sich beruhigt zu haben und nahm ihren Platz wieder ein. »Vater- und heimatlos,« sagte sie, »ja, das ist ein schwerwiegendes Wort, und daß man es auf Sie anwenden kann, haben Sie gewiß nicht verschuldet. O ja, es wiegt schwer, sehr schwer – mich könnte es fast zu Boden drücken – doch Sie, Sie ertragen es mit männlicher Würde, und das ist recht.«
»Was bleibt mir anderes übrig, Frau Birkenfeld? Wenn Sie aber in mein Herz blicken könnten, würden Sie eine große offene Wunde sehen, die noch immer warmes Blut niedertröpfeln läßt, obgleich schon beinahe acht Tage darüber vergangen sind, daß sie mir beigebracht wurde und der gute Meier alles aufgeboten hat, es zu stillen und meinen Schmerz zu lindern. Menschen aber können das nicht, die Zeit allein vermag es – sie verheilt und vernarbt die größte Herzenswunde, und wenn uns von Zeit zu Zeit auch noch ein leises Pochen und Prickeln daran erinnert – sie ist wenigstens geschlossen und blutet nicht mehr.«
Die alte Frau sah den Redenden groß an und ihre straff gespannten Gesichtsmuskeln verrieten, daß ihr Inneres von ungewöhnlicher Teilnahme bewegt wurde. Sie stand wieder auf, blickte Bodo oft unruhig von der Seite an, als wollte sie etwas sagen, was ihr mit Gewalt nach den Lippen drang, aber sie hielt es noch immer zurück. Offenbar ging dabei ein gewaltiger Kampf in ihrem Innern vor, ihre ganze Seele schien in ihren Augen zu fluten, die nie einen so lebenswarmen, sanften Ausdruck gezeigt hatten. Plötzlich setzte sie sich wieder und mit erzwungener Ruhe sagte sie:
»Wohin wollen Sie von hier gehen?«
Bodo seufzte fast unhörbar, aber das scharfe Ohr der Alten hatte es doch gehört. »Das weiß ich noch nicht bestimmt,« erwiderte er, »ich habe mehrere Briefe deshalb geschrieben und der Antwort, welche mir am einladendsten klingt, werde ich folgen. Wahrscheinlich aber gehe ich zuerst nach M... Dort habe ich die meisten Verbindungen und Freunde, die mir am besten raten werden.«
»Das tut mir leid!« erwiderte sie, bedenklich den Kopf schüttelnd. »Wenn Sie nur nicht Ihre besten Freunde in der Ferne suchen, während sie ganz in Ihrer Nähe sind! Wollen und müssen Sie aber durchaus scheiden, nun, so lassen Sie wenigstens auch sehr gute Freunde zurück. O, es war sehr hübsch hier, seit Sie in der Nähe wohnten. Ich hatte mich schon daran gewöhnt, Sie kommen zu sehen oder Sie auch zuweilen in Sellhausen zu besuchen. Das ist denn freilich alles vorbei.«
»Leider ja, auch ich gehe ungern. Es war so schön hier. Wenn ich diese herrliche Gegend da vor mir liegen sehe und an meine Trennung von ihr und allen in ihr Wohnenden denke, dann mischt sich oft ein tiefes Bedauern ein, daß Herr von Sellhausen nicht mein wirklicher Vater war.«
»O – Sie können ja einen noch besseren gehabt haben! Sie wissen ja nicht, wer er war!« fiel sie mit fast unüberlegter Hast und sichtbarer Beklommenheit ein.
Bodo hob rasch den Kopf in die Höhe, um das Gesicht zu betrachten, dessen Mund diese Worte gesprochen. Der Ton klang so eigentümlich wehmütig und weich und drang ihm tief ins Herz. »Das kann wohl sein,« sagte er, »ich kenne ihn aber nicht und ich trage nur das unsäglich trübe Bewußtsein in mir, zu denken, zu empfinden, zu wissen, daß ich so lange vaterlos bin, bis ich meinen wirklichen Vater gefunden oder wenigstens von ihm gehört habe.«
Die Alte, von diesen warm aus dem Herzen strömenden Worten tief gerührt, sprang nochmals auf. Sie schien sich vor Unruhe nicht mehr halten zu können. »O mein Gott,« rief sie mit bebenden Lippen, »ich kann es nicht länger ertragen, es geht über meine Kräfte. Warum soll ich mich auch zwingen, wenn ich mir und ihm eine Erleichterung verschaffen kann! Nein, nein, nun nutzt das Schweigen nichts mehr, jetzt ist das Reden an die Reihe gekommen.«
»Wie meinen Sie das? Ich verstehe Sie nicht!« rief Bodo, in höchster Verwunderung nun auch von seinem Stuhle aufspringend.
»O mein Gott, mein lieber junger Freund,« rief sie mit wunderbar rührender, halb gebrochener Stimme, indem sie dicht an ihn herantrat, seinen Arm ergriff und ihren Kopf, als wäre er ihr zu schwer geworden, an ihn lehnen zu wollen schien – »hören Sie mich an und merken Sie wohl auf! Wenn ich nun imstande wäre, Ihnen zu sagen, daß Sie – daß Sie nicht vaterlos sind – doch verstehen Sie mich recht – ich meine, wenn ich Ihnen sagen könnte, wer Ihr Vater war – wie dann?«
Bodo glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. Eine ganz andere Person als die alte strenge, gemessene Frau schien diese Worte gesprochen zu haben. »Ich verstehe Sie vielleicht nicht recht!« stammelte er mit hoch atmender Brust, ihre beiden zitternden Hände ergreifend und ihr fest in die überströmenden Augen sehend.
»Herr Legationsrat,« fuhr sie, sich rasch fassend, fort, »ich glaube doch, wir verstehen uns oder können uns wenigstens leicht verständigen, wenn wir wollen. Ich will es – und so mögen Sie auch wollen. So hören Sie denn. Ich habe mich in Ihnen nicht getäuscht. Ich halte Sie für gut, für besser als viele von den Leuten, die hier um mich leben oder die ich in meinem Leben kennen gelernt. Sie sind nicht hochmütig, nicht habsüchtig, nicht verschwenderisch – im Gegenteil. Sie sind demütig vor Gott, wohlwollend gegen Menschen und dabei tätig und arbeitsam. Das sind Tugenden, die ich bei der jetzigen Generation vielfach vermißt habe. Nun wohlan denn, ich habe Vertrauen zu Ihnen gefaßt, vom ersten Augenblick an, wo ich Sie sah. Ich will Ihnen das beweisen. Und ich beginne damit zu wiederholen, daß Sie weder vater- noch heimatlos sind.«
Bodo sah sie erstaunt und immer erstaunter an und doch spiegelte sich ein unendlich namenloses Glück in dem Blick ab, mit dem er sie anstarrte.
»Ja, ja, staunen Sie mich nur an,« sagte sie, nur noch mit Mühe die Tränen zurückdrängend, deren diese starke Seele nur noch wenige hatte, »aber es ist so, wie ich sage. Ihr Vater ist zwar tot, wirklich tot, aber Sie haben doch einen Vater gehabt, der besser für Sie gesorgt hat, als Sie denken – mit einem Wort: ich habe Ihren Vater sehr gut gekannt.«
Bei diesen Worten war es mit ihrer erzwungenen Fassung zu Ende. Sie sank auf einen Stuhl, schlug beide Hände vors Gesicht und fing bitterlich zu weinen an.
Bodo trat ganz nahe zu ihr heran, legte sanft seinen Arm um ihre Schulter und sagte mit weicher, fast kindlich tönender Stimme: »Beruhigen Sie sich, liebe Frau Birkenfeld. Doch das ist wunderbar – Sie hätten meinen Vater gekannt?«
»Ja,« rief sie wieder aufspringend, »besser sogar, als ich Sie kenne, obgleich ich Sie gut zu kennen glaube, denn Sie sind ja sein Sohn, haben sein Gesicht, sein Herz, seinen Charakter, sein ganzes Wesen geerbt – was wollen Sie mehr? Und nun sage ich: wollen Sie Ihren Vater sehen? Ja? Gut, Sie sollen ihn sehen. Sogleich. Kommen Sie!«
Und rasch an die Tür tretend, die sie so hastig verschlossen, als Bodo sie das erste Mal besuchte, schloß sie sie auf, zog Bodo mit sich fort und trat mit ihm in ein reizendes kleines Kabinett, an dessen Wänden viele schöne Ölgemälde hingen und über dem darin stehenden Sofa ein sehr großes, einen sitzenden Mann in Lebensgröße und in den kräftigsten Jahren männlichen Alters darstellend.
»Da,« sagte sie, halb lächelnd, halb weinend, »betrachten Sie diesen Mann – kennen Sie ihn?«
»Nein, ich kenne ihn nicht und habe ihn wohl nie gesehen!« sagte Bodo tief erschüttert und unverwandt das schöne Antlitz des stattlichen Mannes betrachtend.
»O ja, oft genug haben Sie ihn gesehen, aber nur in Ihrer Kindheit, doch das wissen Sie wohl nicht mehr. Nun gut denn, Bodo von Sellhausen – dieser Mann war Ihr Vater und bemerken Sie nicht selbst, daß er Ihnen ähnlich sieht? Der dumme Boas hat es ja schon auf den ersten Blick bemerkt.«
»Mein Vater! Dieser hier!« stammelte Bodo halb trunken von wunderbaren und ihn tief ergreifenden Gefühlen. – »Aber wie kommen Sie denn zu diesem Bilde?«
»Wie ich dazu komme? Junger Mann, ich werde doch wohl das Bild meines eigenen Mannes in meinem Zimmer haben können?«
» Ihr Mann – mein Vater?«
»Ja, so ist es. Das Geheimnis aber, das bis zu dieser Stunde darauf geruht, soll jetzt gelüftet werden, und ich selbst, mit blutendem Herzen zwar, will es Ihnen enthüllen, denn ich bin vielleicht die geeignetste Person dazu, da Ihr Vater meinem Herzen am nächsten stand – also auch Sie – o es kann ja nicht anders sein – auch Sie mir am nächsten stehen müssen, wenngleich gerade Ihr Dasein mir den größten Schmerz meines Lebens bereitet hat. So. Nun wollen wir uns unter das Bild setzen und, das Auge auf sein Auge gerichtet, das mich so oft liebevoll angeschaut, will ich mit mutiger Hand in mein Leben zurückgreifen und Freud und Leid meiner jungen Jahre vor Ihnen ausschütten. Nur ein Versprechen geben Sie mir noch, ehe ich beginne –«
»Welches?« fragte Bodo mit tränenschimmernden Augen, denn sein weiches Herz quälte das unsägliche Weh, welches sich in dem ganzen Gebaren der alten Frau aussprach, fast mehr als sein eigenes Geschick.
»Das Geheimnis, welches Sie hören werden, zu bewahren – vor jedermann, denn ich will meinen Namen selbst im Grabe nicht mit dem Kot des großen Haufens beworfen sehen, und das Geklätsch der Welt, das schwer auf dem grünen Hügel des Verstorbenen lasten würde, – ist Kot. Er soll aber leicht und unangetastet ruhen. Das Geheimnis selbst kennt außer mir – Boas mag es nur zum Teil erraten haben – nur ein Mensch, der Meier zu Allerdissen – und einer muß es noch erfahren – aus wichtigen Gründen – der Justizrat Backhaus. Mit diesen beiden können Sie darüber reden, sonst mit niemanden – versprechen Sie das?«
»Ja, mit Herz und Seele, mit Mund und Hand. Also der Meier weiß es schon?«
»Ja, der Meier weiß alles, auch was zwischen Ihnen und mir und sonst noch um uns her vorgegangen ist, denn er ist der einzige Mann meiner Bekanntschaft, dem ich von jeher mein vollstes Vertrauen schenkte und der mich kennt, wie mich sonst keiner kennt, seitdem der Mann da oben seine Augen geschlossen hat. Er durfte Ihnen, zufolge eines Herrn von Sellhausen gegebenen Versprechens, freilich erst heute abend Ihre und dieses, seines Freundes Papiere überreichen, ich aber habe niemanden ein Versprechen gegeben und kann reden, wann ich will. Früher habe ich nie geglaubt, daß diese Zeit kommen und ich mich dazu entschließen würde, denn mein Kummer und leider auch mein Groll waren noch zu groß in mir – selbst gegen Sie. Seitdem ich Sie aber kennen gelernt und in Ihnen das Ebenbild des einzigen Mannes, den ich auf Erden geliebt, gefunden, seitdem ist mir der Gedanke und auch die Kraft dazu allmählich näher gerückt, selbst mit Ihnen darüber zu reden, und das soll nun gleich geschehen. Ach, ich wühle damit auch an einer alten bösen Wunde – sie schmerzt bitterlich – aber es hilft nichts und darum – vorwärts! Doch ich will im ganzen nur kurz sein, wir werden später noch Zeit genug haben, uns über Einzelheiten weitläufiger auszusprechen. So hören Sie denn.
Ich war ein armes, unscheinbares Mädchen, weder häßlich noch hübsch, und wenn ich irgend eine Schönheit besaß, so lag sie mir gewiß nicht im Gesicht oder in der äußern Erscheinung überhaupt. Mein Herz aber war unschuldig und rein, mein Kopf gut und ich hatte den besten Willen von der Welt, mich durch eigener Hände Arbeit und Fleiß anständig durch die Welt zu bringen. Allein das sollte mir nicht beschieden sein, ich sollte einem andern mit meinen schwachen Kräften helfen, den steilen Berg des Lebens mit leichterer Mühe zu übersteigen. Ich lernte einen jungen und ebenso armen Mann kennen, wie ich es selber war, und wir liebten und heirateten uns, ohne uns vor dem drohenden Gesicht der Zukunft zu fürchten. Er war von geringer Herkunft, aber brav, rechtschaffen und scheute keine Arbeit, die ihn emporbringen konnte, selbst die allerhärteste und niedrigste nicht. Wir fingen natürlich klein an, sehr klein und arbeiteten mit Händen und Füßen vom Aufgang der Sonne bis in die sinkende Nacht, nur um das liebe Brot zu verdienen, wonach unser hungriger Magen begehrte. Allein dieser arme Mann hatte einen reichen Geist und ein ebenso starkes Herz mit dem unerschütterlichen Willen, nach allem Höheren die Hände auszustrecken, wenn es nur irgend erreichbar schien. Genug, bald legte er die gemeine Handarbeit beiseite und fing einen kleinen Handel an. Fünfundzwanzig Taler, mühsam mit rinnendem Schweiß erworben, waren unser ganzes Vermögen. Mit fünfundzwanzig Talern ist er Millionär geworden – auf ehrliche Weise, – wie? mit welchen Mühen, unter welchen Umständen? das will ich jetzt nicht näher besprechen. Genug, er rang und arbeitete sich empor, langsam aber sichtbar fortschreitend; aus seinem kleinen Handel wurde ein größerer und zuletzt ein sehr großer. Natürlich war ihm das Glück günstig, denn das gehört dazu, aber alles, was er errang, hat er sich selbst errungen, das ist eine Wahrheit, die keiner leugnen kann. Was mich betrifft, so half ich ihm redlich bei dieser Arbeit. Ich führte seine Bücher, ich machte Reisen für ihn; zu Hause war ich halb Kopist, halb Speicheraufseher, und wenn er selbst auf größeren Reisen war, leitete ich das ganze Geschäft, das glücklicherweise für meine Hände und Augen paßte, denn es war ein Leinwandhandel. Dabei aber führte ich noch den Haushalt, wie eine wackere Hausfrau es muß, immer bedacht, meinem Mann das schwere Leben zu erleichtern, zu versüßen, seine Sorgen zu bannen und, wenn das nicht ging, sie mit ihm zu teilen.
Da brach der Krieg aus und wir fürchteten für unser kleines, mit so großer Mühe erworbenes Vermögen; indessen die Furcht war umsonst gewesen – gerade der Krieg machte uns reich. Mein Mann wurde Lieferant – damit ist alles gesagt. Bald nach dem Kriege fing er schon seinen Großhandel an und nun waren die irdischen Sorgen ein für alle Mal verschwunden. Aber ach, die Sorgen um das liebe Brot sind es nicht allein, die uns Menschen quälen, es gibt auch noch andere, die das Herz mürbe machen und die Seele zerfleischen – und zu denen komme ich jetzt, und nun wird bald Ihre Geschichte beginnen.
Mein Mann war schon fünfundvierzig Jahre alt und hatte das Glück, zwei vortreffliche Freunde zu besitzen: Herrn von Sellhausen, der kurz vorher durch die Verwendung der Grotenburgs geadelt worden war und mit ihm im gleichen Alter stand, und den Meier zu Allerdissen, der, zwanzig Jahre jünger, schon mit fünfundzwanzig Jahren seinen großen Hof geerbt hatte und ein ebenso gebildeter und strebsamer wie biederer und liebenswürdiger Mann war. Diese drei Männer, so nahe bei einander wohnend und jeder auf seine Weise würdig beschäftigt, lebten Jahre lang in herzinnigster Eintracht. Sie besuchten sich oft – wir hatten die Cluus damals schon gekauft und zogen jeden Sommer aus der Stadt dahin – und vieles taten und trieben sie in Gemeinschaft. So machten sie auch alle Jahre eine größere oder kleinere Vergnügungsreise zusammen.
Mein Mann, dem so vieles geglückt war, hatte nur noch einen Wunsch auf der Welt, und gerade der ward ihm leider versagt. Unsere Ehe blieb kinderlos. Ich sah es wohl, Birkenfeld grämte und härmte sich darüber, denn er liebte Kinder über alles und wollte gar zu gern seinen reichen Besitz einem Sohne hinterlassen. Aber das war ihm nun nicht bestimmt und ich litt oft im stillen darunter. Dennoch hatten wir immer in größter Seelenharmonie gelebt, wie die Kinder; eins tat, was es dem andern an den Augen absehen konnte, keines legte dem andern irgend einen Stein in den Weg, bis das eine große Unglück kam, das plötzlich wie aus heiterem Himmel über mich hereinbrach.«
Die alte Frau hielt einen Augenblick inne und trocknete sich eine stille Zähre, die langsam aus ihren Augen hervorquoll und wie ein blitzender Kristalltropfen über ihre faltige Wange rann. Bodo faßte ihre Hand fester, drückte sie warm und sagte: »Fahren Sie fort, Frau Birkenfeld, ich verstehe Ihren Schmerz!«
»Gut, ja, ich will fortfahren, obgleich mir noch jetzt das Herz beinahe vor Wehmut bricht. – Ich hatte an meinem Manne nie eine besondere Vorliebe für irgend ein weibliches Wesen bemerkt und er ist mir auch niemals untreu geworden, bis auf das eine – schreckliche Mal. Aber dergleichen kommt öfter in der Welt vor. Bei Männern in gewissen Jahren bricht manchmal plötzlich, wie mit einem Winde herangeweht, eine leidenschaftliche Neigung zu einem Weibe aus, der sie nicht widerstehen können und von der sie, gleichsam wider Willen, auf eine fast dämonische Art beherrscht werden. So mußte es wohl bei meinem Mann auch sein, wenigstens denke ich mir es so.
Die drei Freunde waren in einem Spätsommer nach Helgoland gereist und machten dort die Bekanntschaft eines sehr liebenswürdigen und hochgebildeten englischen Arztes, der in Gesellschaft seiner Tochter die Nordseebäder gebrauchte. Dieses englische Mädchen war wunderbarerweise vom Schicksal bestimmt, Ihre Mutter zu werden. Hören Sie nun, wie das zuging, so weit ich es selber weiß, denn vieles, sehr vieles, sowohl über die Entstehung wie über die Fortsetzung dieses Verhältnisses, wonach genau zu forschen meinem Gefühle widerstrebte, ist mir dunkel geblieben, und später wollte ich mir nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen, nachdem mir beinahe das Herz darüber gebrochen war. Genug, was ich davon weiß, und das ist die Hauptsache, ist Folgendes:
Der englische Arzt ertrank eines Tages beim Baden und hinterließ das junge schöne Mädchen als Waise, denn schön soll sie gewesen sein, wie eine Rose. Sie war aber um so untröstlicher über ihren Verlust, weil sie keine Verwandten, weder in England noch sonst wo in der Welt besaß und, wie sich nun erst herausstellte, fast ganz unbemittelt war, weshalb ihr Vater, der durch einen Prozeß beinahe sein ganzes Vermögen verloren, zuletzt auch meist außerhalb England gelebt hatte. Die drei Männer nun berieten sich miteinander, wie und worin sie etwas für das verlassene Mädchen tun könnten, wozu sie sich in ihrer eigentümlichen Lage verpflichtet fühlen mochten. Endlich schlug Herr von Sellhausen vor, sie mit nach Deutschland zu nehmen und ihr in irgend einer achtbaren Familie auf allgemeine Kosten ein anständiges Unterkommen zu verschaffen. Als man der schönen Engländerin diesen Vorschlag mitteilte, nahm sie ihn dankbar an und das mochte ihr wohl niemand verdenken, obwohl ich selbst es anfangs sehr seltsam fand. Mein Mann nun hatte in Hamburg eine befreundete Familie und zu dieser brachte man das junge Mädchen. Die drei Freunde kamen zurück und sprachen nur wenig über den Vorfall, obgleich Birkenfeld mir eines Abends das Allgemeinste davon erzählte. Mir fiel auch nicht auf, daß er in einigen Wochen wieder nach Hamburg reiste und bald darauf nochmals, er reiste ja so oft und viel, denn seine Geschäfte waren zahllos. Aber da brach mit einem Male das ganze Unglück herein und betäubte mich fast, so schnell kam es und so groß war es. Mein Mann – ja, ja, – du siehst mich jetzt mit deinen großen schwarzen Augen an,« sagte sie, zu dem Bilde die Hand erhebend, »und vielleicht hörst du im Himmel, was ich jetzt erzähle – mein Mann, sag ich, kam eines Tages viel früher, als ich ihn erwartete, von einer Reise zurück und sah ganz verstört und mitgenommen aus. Bist du krank? fragte ich. – Ja, sagte er, krank, und noch schlimmer als das – ich bin in Verzweiflung. – Mein Gott fragte ich, hast du große Verluste gehabt? – Nein, antwortete er kurz, aber mir steht vielleicht der größte bevor, den ich erleiden kann – der deiner Achtung!
Als ich ihn darauf angstvoll ansah, setzte er sich zu mir, faßte meine Hände und sagte: Grete – o Gott, ich höre ihn noch mit verzagter Stimme sprechen und sehe sein Auge in einem wahren Schmerzenssee schwimmen – Grete, ich habe dir etwas Schweres zu beichten. Glücklicherweise bist du eine vernünftige Frau und wirst mir vielleicht Verzeihung angedeihen lassen, um mein Unglück nicht vollständig zu machen. Ich habe ein Unrecht, ein sehr großes Unrecht gegen ein armes Mädchen, und ein noch größeres gegen dich begangen. Und nun erzählte er mir die Schandtat – daß er Ellen Wilson lieb gewonnen und sie ihn – daß sie sich in einer unglücklichen Stunde vergessen und endlich, daß das junge Weib Aussicht habe, Mutter zu werden.
»Ach, mein lieber guter Bodo« – es war das erste Mal, daß sie ihn so anredete – »ähnliches mag öfter im Leben vorgekommen sein und viele Frauen mögen sich leichter darüber getröstet haben, ich aber war wie gebrochen, geknickt, mein ganzes Herz war wie aus den Fugen geraten. – Ich sah ihn groß an und fand kein Wort, mich verständlich zu machen, nicht einmal eine Träne kam in mein Auge, es war alles in mir mit einem Male wie ausgetrocknet, alle Lebensquellen, dem Versiegen nahe, sickerten nur noch träge und unlustig hin. Da fuhr er zu reden fort: Aber ich will wieder gut machen, was ich verbrochen, sagte er, an dir und an ihr – jetzt rate du mir, was ich tun soll, um das arme verwaiste Mädchen nicht verkommen zu lassen, denn du hast ein großes Herz und einen klugen, scharfsinnigen Geist. – Da war ich so töricht, in einen maßlosen Zorn zu geraten und dadurch mein »großes« Herz und meinen »klugen« Geist Lügen zu strafen. – Laß dich von mir scheiden, und heirate die Bestie – Sie verzeihen, daß ich dies sagte, aber ich sagte es in einer unbeschreiblichen Aufregung und blind vor Zorn und Wut. – Nein, erwiderte er, das geht nicht und wird nie geschehen. Uns beide verknüpft eine an Freud' und Leid reiche Vergangenheit, ein halbes Menschenleben, gegen dich habe ich Pflichten, mehr als gegen irgend einen anderen Menschen auf Erden – erdenke also etwas Besseres und Vernünftigeres.
Als wir gerade so im Streit miteinander lagen, kam Herr von Sellhausen in höchst gemütlicher Stimmung zum Besuch hierher. Wir hatten ihn nicht kommen sehen, und er überraschte uns also. Natürlich merkte er, daß wir uneins waren, und er fragte in seiner gewöhnlichen Offenheit, was es gäbe. Habt Ihr Euch ernstlich gezankt? fragte er.
Nein, erwiderte der immer ehrliche Birkenfeld, gezankt haben wir uns nicht, aber wir sind unglücklich und haben Grund genug dazu. Und da erzählte er auch dem Freunde, was er mir soeben gebeichtet, während ich halb vernichtet das Zimmer verließ.
Meines Mannes Freund, Ihr vermeintlicher Vater, war in manchen Dingen ein seltsamer Kauz, der für jederlei Irrsal immer einen Ausweg wußte, und schon seine nahe Verbindung mit den unwürdigen Grotenburgs und deren Sippschaft wird Ihnen das klar gemacht haben. Nachdem er lange mit meinem Mann hin und her gesprochen, ging er in den Garten, um für sich allein zu überlegen, und als er wieder herein kam, fragte er ihn mit heiterem Gesicht: Birkenfeld, ist das Mädchen, die Ellen Wilson, die ich nicht so genau kenne wie du, vernünftig – ich meine, läßt sie mit sich sprechen?
Ja, erwiderte mein Mann, vernünftig ist sie, nur erdrückt sie die Schmach, ein uneheliches Kind zur Welt zu bringen – da, lies einmal ihren letzten Brief.
Kinder, sprach der alte Sellhausen da zu uns beiden, Euch muß geholfen werden, und ich weiß nur einen Weg, der zum Ziele führt. Den will ich betreten, wenn das Mädchen die richtige Einsicht in ihre und Eure Lage gewinnen kann. Glücklich kann ich sie nicht wieder machen, aber die Schmach kann und will ich von ihrem Herzen nehmen, so wahr ich dein und Gretens Freund bin.
Was denken Sie nun, was er tat, um das Mädchen wenigstens in den Augen der Welt wieder ehrlich zu machen? Ach, Sie sagen es sich selbst, ich sehe es. Ja, er reiste nach Hamburg oder dahin, wo die Ellen war, und blieb über ein Jahr fort. Und als er wiederkam, war er verheiratet und brachte eine junge schöne Frau und einen reizenden Knaben mit – dem man den Namen Bodo gegeben hatte.«
Es entstand eine lange Pause nach dieser Erzählung. Bodo blickte still sinnend vor sich nieder, und die alte Frau hing gespannt an seinen Zügen, denen man es ansah, wie in dem Herzen des edlen Mannes eine Gefühlswelle die andere trieb. Aber da faßte sie seine Hand von neuem, drückte sie herzlich und fuhr also zu reden fort:
»Ach,« sagte sie, »jetzt bin ich darüber, daß ich diesen Bodo hier bei mir habe, ganz glücklich, damals aber war ich über seine Existenz sehr unglücklich. Und namentlich war ich über Herrn von Sellhausen maßlos aufgebracht, ja erbost, daß er, mir gleichsam zum Trotze, das Unglücksweib mit seinem Kinde hier in meine Nähe gebracht hatte, wo doch ein Zusammentreffen mit meinem Manne irgendwo oder wann kaum ausbleiben konnte. Dieses Zusammentreffen nun unmöglich zu machen, rüstete ich mich auf jede Weise. Ich nahm Birkenfeld das Versprechen ab, Sellhausen nicht mehr betreten zu wollen, und das hat er wenigstens so lange gehalten, als es durchaus nötig war. Hierher kam Herr von Sellhausen gar nicht mehr, oder nur während meiner Abwesenheit, denn ich empfing ihn das erste Mal, als er sich uns als Gatte und Vater vorstellte, mit einer Miene, daß er für ewig daran genug hatte. Wie er nun selbst mit jener Frau lebte, ob ein ehegattliches Verhältnis zwischen ihnen stattgefunden oder nicht, weiß ich nicht, doch ich glaube es kaum; so viel aber habe ich gehört, daß Ihre Mutter sich in jeder Beziehung würdig betrug und sich bis an ihr frühes Ende in ihr glückliches Unglück zu schicken wußte.
Auch über Sie, das kleine unschuldige Kind, fuhr ich einen rücksichtslosen Haß zu hegen fort, und das war ein Unrecht, welches ich jetzt wohl erkenne, damals aber für das Gerechteste hielt – und deshalb muß ich es nach Kräften wieder gut zu machen suchen. Das soll nun geschehen. Gegen die Frau zumeist nährte ich einen furchtbaren Groll, ich war auf sie eifersüchtig durch und durch. Allein von dieser Eifersucht und von der beständigen Angst, daß mein Mann irgendwo einmal mit ihr zusammentreffen könne, befreite mich Gott. Er nahm das arme Weib zu sich, nachdem es kaum ein halbes Jahr auf Sellhausen, wenigstens äußerlich unangefochten, gelebt hatte. So wuchsen Sie denn allmählich bei Ihrem Pflegevater auf; ob er eine große Liebe zu Ihnen gehegt, weiß ich nicht, doch ich glaube es kaum. Daß mein Mann nun bisweilen heimlich nach Sellhausen ging, um Sie zu sehen, blieb mir kein Geheimnis mehr, ich legte auch seinem Tun darin kein Hindernis in den Weg, da mir dasselbe persönlich ja nichts mehr schaden konnte. In Gemeinschaft mit meinem Manne nun ward Ihre Zukunft oft von Ihrem Pflegevater beredet, und dieser erfüllte wenigstens inbetreff einer sorgfältigen Erziehung seine Pflichten gegen Sie, indem er Sie in die Obhut jenes braven Pfarrers zu Breitingen gab und später nach Schulpforta und auf die Universität schickte, da Sie eine so große Neigung zu ernsteren Studien verraten hatten. Daß seine Liebe zu Ihnen aber nicht so weit ging, Ihnen sein ganzes Hab' und Gut zu vermachen und dasselbe seinem Schwager Grotenburg zu entziehen, zumal er bestimmt darauf gerechnet, daß auch mein viel reicherer Mann das Seinige für Sie tun würde, das werden Sie ihm jetzt nicht mehr übel deuten, besonders da er zart genug gegen uns beide war, die Namen Ihrer Eltern vor den geschwätzigen drei Schwägern in seinem Testamente zu verschweigen, nicht wahr?«
»Ach nein,« sagte Bodo, »ich habe es ihm nie übel gedeutet, und jetzt, da ich das Verhältnis kenne, habe ich noch viel weniger Anlaß dazu.«
»Nun gut, ich will Ihnen aber jetzt das Ende der traurigen Geschichte erzählen. Die Jahre vergingen; Sie waren erwachsen, längst vom Hause fort, die Wunde in meinem Herzen war vernarbt, aber meine früher so freundschaftliche Verbindung mit Herrn von Sellhausen war und blieb abgebrochen und ich habe ihn niemals wiedergesehen. Mein Mann starb von den beiden Freunden zuerst – Herr von Sellhausen war damals zufällig auf Reisen – und er benahm sich noch in der letzten Stunde seines Lebens so rücksichtsvoll und edel gegen mich, wie in der ganzen Zeit seiner Vereinigung mit mir, jenen einen traurigen Fall ausgenommen. Ich sah wohl, daß er auf dem Sterbebett etwas auf seinem Herzen hatte, aber er sprach es nur mit Blicken, nicht mit Worten aus. Dennoch verstand ich ihn. Er vermachte mir in seinem Testament sein ganzes Hab' und Gut, alles in allem, und überließ mir sogar die künftige Verwendung und Vererbung desselben, unter der einzigen Bedingung jedoch, daß ich es nie in unwürdige Hände gelangen ließe und darüber wachen sollte, daß das Gut Sellhausen, das ihm aus begreiflichen Gründen so sehr am Herzen lag, womöglich Ihnen erhalten bliebe, da der alte Sellhausen nur zu oft seine Absicht verraten, es in Zukunft seinem Schwager zu überlassen. Wie dieser mit seiner ganzen Familie zu diesem Zwecke auf den so leicht lenkbaren Mann eingewirkt, will ich hier nicht näher erörtern, beide aber hatten endlich den Plan ausgeheckt, zwischen Ihnen und Klotilden eine nähere Verbindung zu bewerkstelligen, um auf diese Weise wenigstens das Vermächtnis des Barons in den Augen der Welt zu rechtfertigen. Diesen Plan kannte mein Mann und hatte vergebens mit allen Kräften dagegen angekämpft, denn er kannte auch die Grotenburger Herrschaften und sah im voraus das Gut und Ihr Vermögen in den Händen derselben zugrunde gehen. Der alte Sellhausen aber war eigensinnig, eitel auf seinen neu erworbenen Adel und wie versessen auf eine nähere Verbindung mit den edlen Grotenburgs. Als Birkenfeld nun starb, bat er mich wegen jenes Fehltritts noch einmal um Verzeihung und ich verzieh ihm vollständig. Dann aber sprach er zaghaft Ihren Namen aus und sah mich dabei mit einem flehenden Blicke an. Ich verstand ihn. Sei ohne Sorge, sagte ich, ich werde über ihn wachen, sein Schicksal soll in meiner Hand liegen. Ach, das sagte ich und dennoch keimte ein furchtbarer Haß gegen Sie in mir fort – ich war entschlossen, meines Mannes letzten Wunsch zu erfüllen, aber sehen wollte ich Sie nicht, denn bei Ihrem Anblick mußte der Gram und der Schmerz der ganzen Vergangenheit wieder frisch in mir losbrechen, das wußte ich – ich kannte meine Schwäche. Doch Gott hat das alles anders gefügt – ich sah Sie, und mein Herz ward tief getroffen, ging in wunderbarer Liebe für Sie auf, und ich erkannte, daß ich endlich einen Sohn, den ich mir so lange gewünscht, in Ihnen gefunden haben würde, wenn ich Sie an mich zu fesseln verstände. Doch über die Art und Weise, wie Sie sich in meinem Herzen allmählich festsetzten, will ich jetzt nicht reden, ich muß Ihnen vielmehr noch wichtigere Erklärungen über manches geben, was Ihnen bisher dunkel geblieben ist.
Zu diesem Zwecke komme ich zunächst auf die Grotenburgs zurück, denen ihre Erbschleicherei um das Gut Sellhausen in Ihren Augen gelungen erscheinen muß, allein das ist in der Tat nicht der Fall. Keiner, wie ich, weiß, was für miserable, schlechte, erbärmliche Kreaturen sie alle zusammen sind. Von meinem gutmütigen Manne sowohl, wie von mir haben sie in früheren Jahren größere Summen erhalten, als rechtschaffene Leute an solche Menschen zu vergeben jemals verantworten können; jede Unterstützung aber war wie ein Tropfen auf einen heißen Stein, sie vergeudeten alles in kürzester Zeit, und wenn ich ihnen mein ganzes Vermögen geben wollte, sie würden es in wenigen Jahren verjubelt haben, und kein Mensch hätte irgend einen Vorteil und Genuß davon. Darum nun, weil ich dies weiß, gönne ich ihnen auch die Erbschaft des alten Sellhausen nicht, dem sie schon bei Lebzeiten über 20 000 Taler gekostet haben, und sie sollen sie auch nicht behalten, so lange ich dafür wirken kann.«
Bodo hob sein Auge verwundert in die Höhe und erstaunte über die Sicherheit, die bei diesen Worten aus jedem Gesichtszuge der alten Frau sprach. »Wie können Sie denn dafür wirken?« fragte er lebhaft.
»O, sehr gut. Hören Sie nur zu, und geben Sie acht, denn nun treten Ihre Verhältnisse wieder in den Vordergrund. Auf dem Gute des alten Sellhausen standen 50 000 Taler Schulden, noch von seinem Vater her, und um ihm die Last derselben etwas zu erleichtern, nahm mein Mann aus Freundschaft dieselben auf sich, aus freien Stücken ihm versprechend, sie nie zu kündigen, so lange er oder Sie lebten, falls Sie, der Nachfolger, im Besitz waren. Diese 50 000 Taler sollten nun die erste Gabe Ihres wirklichen Vaters sein, wenn Sie das Gut übernähmen, so wünschte es mein seliger Mann, und das wußte und genehmigte ich. Jetzt aber hat sich die Sache geändert; Sellhausen ist tot, Sie haben das Gut nicht erhalten, und es befindet sich in unwürdigen Händen – die 50 000 Taler können also gekündigt werden.«
Bodo erstaunte immer mehr und machte ein Gesicht, als wollte er etwas sagen.
»Still,« fuhr die Alte fort, »ich bin noch nicht fertig, hören Sie nur. Diese 50 000 Taler sollten aber nicht die einzigen Schulden auf Sellhausen bleiben. Das Gut war allmählich in manchen Stücken zurückgegangen, das Wohnhaus war alt, und die Baulichkeiten des Hofes stellten sich nicht anständig genug dar – so glaubte wenigstens und sagte der alte Sellhausen. Indessen war es nicht so schlimm, und nur der Neuerungsteufel und die Sucht, die Mode mitzumachen, war durch die Stachelreden des Grotenburgers in sein Herz eingezogen und nahm es endlich ganz zur Beute. Er sprach schon lange vom Bauen und schrieb darüber an meinen Mann. Der aber widerriet ihm seine hochfliegenden Pläne und wollte kein Geld mehr bewilligen, um die Neubauten damit auszuführen. Da wandte sich der alte Sellhausen, von dem Grotenburger, der ihn für einen Krösus hielt, fast toll und blind gemacht, an den guten Meier zu Allerdissen, und der nahm eine zweite Hypothek auf das schöne Gut und gab die notwendigen 30 000 Taler her. Sechs Jahre dauerte das Bauen, und Sellhausen erstand neu und schön, wie es jetzt dasteht. So haften denn aber jetzt 80 000 Taler auf dem Gute – und ich, mein lieber junger Freund, ich bin so glücklich, sie ganz allein in meinen Händen zu haben, denn der Meier hat sich durch meine Bitten endlich bewegen lassen, seine Hypothek – zu guten Zwecken – mir zu zedieren. Diese ganze Summe aber ist kündbar zu jeder Zeit – meine früheren Verpflichtungen, sie nicht zu kündigen, sind erloschen – und ich habe sie gekündigt und so mit dem Herrn Baron Grotenburg den lange beschlossenen Kampf endlich begonnen.«
Bodo konnte nicht länger sitzen bleiben, er sprang von seinem Platze auf. Sein Gesicht glühte von einer tief inneren Bewegung, und sein Auge leuchtete hell und fast strahlend auf. »Wie,« rief er, »das hätten Sie getan? Aber zu welchem Zwecke?«
Frau Birkenfeld lachte fast fröhlich auf. »Zu einem sehr guten, wie ich schon sagte und jetzt wiederhole. Hören Sie nur weiter. Die Folgen meiner Handlungsweise beginnen sich schon zu zeigen. Baron Grotenburg kann diese Summe nicht aufbringen, er hat keinen Kredit in und außer dem Lande, jeder Mensch kennt und verabscheut ihn, niemand gönnt ihm ein Erbe, das er sich durch Kniffe und Ränke erschlichen hat, und so wird geschehen, was geschehen muß, in neunzig Tagen kommt Sellhausen unter den Hammer, und wer es kauft – um jeden Preis – das bin ich, um es dem zu geben, dem es gebührt, der als Sohn zweier Väter den gerechtesten Anspruch darauf hat und den man mit Hohnlachen daraus vertrieb, weil er es verschmähte, dem toten Mammon zu Liebe sich mit einem Weibe aus einer Familie zu verbinden, die ihn nur zu bald an den Rand des Verderbens gebracht haben würde.«
Bodo stand gleichsam erstarrt vor der also redenden und mit triumphierenden Blicken ihn betrachtenden Frau. Er fand keine Worte, um sein Erstaunen auszudrücken, sein Herz schlug hoch auf, seine Brust atmete heftig, und zum ersten Mal übersah er die ganze geistige Kraft und Willensstärke, die in dem kleinen Kopf dieses gebrechlichen Wesens eingeschlossen war.
»Ja, ja,« fuhr sie fort, »so ist es. Am ersten November ziehen Sie hoffentlich wieder in Sellhausen ein, vorausgesetzt – daß Sie wollen.«
»Ob ich will!« rief Bodo lebhaft. »Wenn ich es, dank Ihrer Liebe, mit gutem Gewissen darf – warum nicht?«
»Ah, ah!« sagte da die alte Frau plötzlich mit einem ganz andern und fast besorgten, wenigstens bedenklichen Gesichtsausdruck. »Still, still – wir wollen doch lieber nicht zu rasch gehen – ich bin noch nicht fertig mit meiner Rede, und nun kommt noch etwas, was Ihnen vielleicht – nicht ganz angenehm ist.«
Bodo schwieg wieder und sah erwartungsvoll auf die seltsame Frau hin, deren ganzes, so blitzschnell verwandeltes Gebaren ihm in diesem Augenblick fast unbegreiflich erschien.
»Ich habe gesagt, wenn Sie wollen,« fuhr sie fort, »aber dieser Wille muß erst noch auf die Probe gestellt werden. Sie sollen Sellhausen als Ihr volles Eigentum ganz schuldenfrei haben, als das Vermächtnis Ihres wirklichen Vaters, dem ich von Herzen gern beistimme. Ich will ferner, da ich keine Kinder habe, Sie als meinen Sohn adoptieren und Ihnen als solchem die vollen Rechte eines wirklichen Kindes einräumen, indessen alles dies nur für den Fall, daß Sie – Ihr Schicksal hängt einmal, wunderbar genug, von seltsamen Bedingungen ab – daß Sie, sage ich, auch mir eine Bedingung erfüllen, die ich Ihnen stellen will, stellen muß – wenn Sie mein Sohn sein wollen.«
Bodos Herz zog sich krampfhaft zusammen. Der Gesichtsausdruck der Frau Birkenfeld bekümmerte ihn. Er glaubte darin etwas Geheimnisvolles zu erkennen, was ihn stutzig machen mußte, es war ihm, als ob ihm plötzlich, nachdem er kaum von einer alten Fessel befreit, eine neue übergeworfen werden sollte, und über seine Lippen schlüpften die Worte: »Wenn ich sie erfüllen kann, Frau Birkenfeld!«
»Das wollen wir gleich erfahren – und jetzt kommt die Probe, die dartun soll, ob das Exempel richtig ist, das ich Ihnen zu Liebe aufgestellt. Sie erinnern sich, ich habe Sie einst nach dem Zustande Ihres Herzens gefragt, und da haben Sie mir gesagt, daß dasselbe frei sei. Gut denn – eben darauf baue ich meinen Plan.«
Bodo setzte sich, wie gebrochen, langsam auf das Sofa zurück. Er sah stumm vor sich nieder. Eine zweite Klotilde tauchte vor seinen umflorten Blicken auf und erfüllte ihn schon von weitem mit einer Traurigkeit ohne Gleichen. »Sprechen Sie weiter!« sagte er kleinlaut, da die alte Frau, ihn scharf betrachtend, schwieg.
»Ja, das will ich. Nun sehen Sie. Ich habe eine Nichte, die ehrbarer, vernünftiger, demütiger und auch viel schöner als jene Klotilde ist und deren Glück mir über allem am Herzen liegt. Ich suche schon lange einen guten Mann für sie. Diesen Mann glaube ich nun in Ihnen gefunden zu haben. Heiraten Sie also diese meine Nichte, dann sollen Sie mein Sohn und Erbe sein, wie ich Ihnen soeben gesagt. Gefällt Ihnen dieser Vorschlag?«
In Bodos Seele ging ein schwerer, aber überaus rascher Kampf vor. Fast nur eine Minute dauerte er, dann war er auch schon entschieden. Sein ganzes Wesen war tief erschüttert, aber er rang sich frei von den über ihn hereinbrechenden Empfindungen und, plötzlich sein Auge hell und frei auf Frau Birkenfeld richtend und mit stolzer Würde sein Haupt erhebend, sagte er mit sicherer Stimme:
»Frau Birkenfeld, ich erkenne Ihren guten Willen, Ihre Liebe und Ihr Vertrauen zu mir vollkommen an. Aber in einem Punkte irren Sie sich in mir. Mein Herz ist nicht mehr frei wie in jenem Moment, als Sie mich danach fragten. Seitdem ist ein Gefühl in mir aufgegangen, welches mich ganz beherrscht, indem es mich vollkommen glücklich macht.«
»Wie,« rief die alte Frau mit verwunderter Miene, »Sie schlagen auch hier eine Ihnen so vorteilhaft dargebotene Braut aus?«
»Ja – hier wie dort – es geht nicht anders.«
»Also Sie lieben wirklich eine andere, als Sie nach meinem Plane lieben sollen? Wer ist diese Person, die mir diesen Strich durch meine Rechnung macht?«
»Es ist eine Würdige, Frau Birkenfeld – hoffentlich auch in Ihren Augen. Erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen damals von Gertrud, des Meiers Tochter, sagte? Sie ist es, die ich liebe, mit aller Macht meiner Seele, rein und wahr, der ich mein Wort verpfändet habe, und keine andere, hätte sie auch Millionen im Besitz, wird, kann und darf jemals mein Weib werden.«
Die alte Frau sank auf das Sofa und schlug beide Hände vors Gesicht. Plötzlich nahm sie sie wieder fort und schaute mit funkelndem Auge auf. »Wie,« rief sie, »Sie, ein Herr von Sellhausen, der in der großen Welt mit den vornehmsten Damen verkehrt hat – Sie lieben eines Bauern Tochter?«
»Ja,« sagte Bodo, sich stolz und kühn emporrichtend, »ich liebe sie. O, wollte Gott, daß alle vornehmen Töchter des Landes eine solche Abkunft hätten, wie Gertrud sie hat. Ich aber habe nie zu den Leuten gehört, die nur auf den Rang und Stand blicken, den andere Menschen im Leben einnehmen, nein, ich habe immer und überall nur den Menschen selbst im Auge gehabt. Und glauben Sie mir, Frau Birkenfeld, der wahre und glänzendste Adel ist nicht nur und allein bei dem sogenannten Adel zu finden – o nein, bei weitem nicht – vielmehr gibt es auch andere Leute, die ihn, nicht von den Menschen, wohl aber von Gott empfangen haben, der ihre Seele, ihr Gemüt, ihre Gesinnung mit seinem göttlichen Stempel gekennzeichnet hat. Zu diesen aber gehört Gertrud, ebensogut wie ihr Vater, den Sie ja selbst, als einen Mann von Ehre und voll Edelmut schätzen und lieben gelernt haben.«
Die alte Frau war still und nachdenklich in das Sofa zurückgesunken, als gehe sie ernstlich über irgend etwas mit sich zu Rate. »O, o,« sagte sie endlich: »Sie haben im ganzen so vernünftige Ansichten, umsomehr tut es mir leid, daß wir in diesem Punkte voneinander abweichen. Aber wissen Sie was? Sie scheinen mir eigentlich doch etwas töricht zu handeln. Sie kennen ja die junge Dame noch gar nicht, die ich Ihnen empfehle. Wollen Sie sich dieselbe nicht erst einmal ansehen und mir dann Ihre Meinung sagen?«
»Das hilft zu nichts, Frau Birkenfeld, ich bin fest – meine Absichten habe ich ausgesprochen und dabei bleibe ich stehen.«
»So,« sagte die alte Frau aufstehend und sich dicht vor den jungen Mann hinstellend, der ihr gegenüber getreten war, »das wollen wir doch einmal erst erproben. Ich bin auch fest und bleibe bei meiner Ansicht stehen. Kommen Sie, Sie sollen meine Nichte kennen lernen – ich will es, und was ich will, das habe ich noch immer durchgesetzt.«
Bodo starrte sie erstaunt an und begriff sie fast gar nicht. Sie hatte sich hoch aufgerichtet und ihr Auge hatte einen herrischen Ausdruck angenommen. Ehe er es sich versah, ergriff sie seine Hand und zog ihn nun in das Vorderzimmer hinein, in dem sie zuerst gesessen. Aber auch hier blieb sie nicht. Sie öffnete die Tür, schritt über den Korridor, stieg eine bequeme Treppe hinauf und gelangte so in das Oberhaus, wo sie vor einer Tür stehen blieb, die mitten im obern Korridor gelegen war.
»Frau Birkenfeld,« sagte Bodo, der sich unterdes besonnen, ernst, fast streng, »was tun Sie, was beginnen Sie – ich begreife Sie nicht. Ich bin kein Kind mehr, das man am Gängelbande leitet.«
»Das sehe ich, mein Herr, mit beiden Augen, o ja, und doch müssen Sie mir diesmal gehorchen. Vorwärts! Folgen Sie mir. In diesem Zimmer sitzt meine Nichte, die ich Ihnen zur Braut bestimmt habe, und Sie sollen ihr wenigstens vor Augen treten.«
Und ohne sich an das Widerstreben des jungen Mannes zu kehren, drückte sie die Tür auf, streckte den Kopf hinein, nickte damit und sagte: »Nun, Kleine, die Stunde ist gekommen. Ich habe ihn bei mir, soll ich ihn dir hineinschicken?«
Bodo blieb bei diesen Worten wie versteinert stehen. Es war ihm seltsam beklommen zu Mute und auch nicht klar, was um ihn her vorging. Da ergriff ihn die kleine Hand der alten Frau und mit unwiderstehlicher Gewalt zog sie ihn in das reizende Erkerzimmer, das schönste des ganzen Hauses, warf einen raschen triumphierenden Blick auf ihn und schritt dann wieder zum Zimmer hinaus, nachdem sie ihn vor eine junge Dame gestellt, die in dem Erker stand und leise in die Mitte des Zimmers trat, als sie sich nicht mehr allein sah.