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Drittes Kapitel.
Der Abschied von Sellhausen.

Es gibt für uns Menschen im Leben bisweilen so verzweiflungsvolle Momente, daß man wünschen möchte, die Erde möge sich spalten, auf daß wir uns hineinstürzen, oder der Himmel möge über uns zusammenbrechen oder sonst ein ungeheures, nie dagewesenes Ereignis geschehen, auf daß wir unter der Welt Trümmern mit unserm Atem zugleich unsere Qual aushauchen, nur um aus derselben hinauszukommen und in ein neues Dasein zu treten, selbst wenn damit der Tod in seiner gewöhnlichsten Bedeutung, das heißt die Vernichtung unserer persönlichen Existenz verbunden sein sollte. In solchen verzweiflungsvollen Momenten ist jeder Ton der Freude um uns her ein Hohn auf unser, in einzelnen Tropfen langsam verblutendes Herz, die ganze Welt scheint uns ein gehaltloses Chaos zu sein, das keinen Strohhalm wert ist, und wer uns dann mit lachendem Gesicht entgegentritt, dünkt uns ein Narr zu sein, der sich von seinen albernen Eingebungen gängeln und hänseln läßt, oder ein Dummkopf, der an den nichtigsten Dingen ein unbegreifliches Gefallen findet.

Ein solcher verzweiflungsvoller Moment schien jetzt für Bodo gekommen, aber sein Gefühl war nicht so weit abgestumpft, und sein Hirn nicht so ausgebrannt, daß er seinen Zustand nicht noch hätte empfinden und ruhig darüber nachdenken können; und so wollte er nicht, daß der Himmel einstürze und die Erde vergehe, sondern er dachte und fühlte, was um ihn her und in ihm vorging, und da er das noch vermochte, ward er Meister dieser ihn nur auf einen kurzen Augenblick angrinsenden Verzweiflung.

Langsam, im gemächlichsten Schritt ließ er sein Pferd den ebenen Weg dahingehen; den Kopf unbewußt tief auf die Brust gesenkt, achtete er nicht auf die ihn umgebende Außenwelt, und länger als eine volle Stunde brachte er mit Zergliederung aller ihn umspinnenden Verhältnisse hin.

Als er aus diesem langen, stillen Nachdenken erwachte und wieder Auge und Ohr für die Natur, die Welt und die Menschen darin erhielt, waren es nur zwei Dinge, die ihn mit tiefer, unaussprechlicher Wehmut erfüllten. Es war dies nicht der Verlust eines schönen irdischen Besitzes, nicht die Einbuße vieler durch Gewohnheit liebgewonnenen Dinge und Gegenstände, nein, es war erstens das Gefühl, daß er von nun an ein vater- und heimatloser Pilger auf Erden, und zweitens, daß ihm das Liebste und Teuerste auf der Welt, was er kaum errungen zu haben so glücklich gewesen, von seiner Brust, seinem Herzen weg in weitere Ferne denn je gerückt sei.

Aber wie er sich männlich über jene ersten Verluste hinweggesetzt, so wurde er auch dieses Schmerzes allmählich Herr, und sein starker Geist, seine gesunde Seele rang sich kräftig von den Banden los, in die ihn ein unbegreifliches Geschick eingeschnürt hatte.

»Ruhig, Bodo, immer ruhig!« sagte er sich wohl zehnmal hintereinander, und endlich war diese Ruhe sein, und er konnte das Auge wieder zu dem blauen Himmel erheben und tief im Herzen empfinden, daß dieser Anblick ein schöner, ein gesegneter, selbst für einen verarmten und verwaisten Pilger auf Erden sei.

Als er erst so weit gekommen, gelang es seinem elastischen Geiste bald, sich das zunächst zu Vollbringende zurecht zu legen und seine Vorbereitungen für fernere Zeiten zu treffen, und kaum hatte er die Hälfte seines weiten Weges zurückgelegt, so drängte ihn schon ein unaufhaltsamer Trieb, vorwärts zu eilen und die in seiner Phantasie bereits vor ihm liegende Zukunft zur lebensvollen Gegenwart umzugestalten. So gab er denn seinem Pferde plötzlich die Sporen, redete es mit freundlichem Zurufe an, wie schon so oft, und trabte flüchtig der Heimat zu, die nun bald nicht mehr seine Heimat sein sollte oder vielmehr in seinem Geiste schon aufgehört hatte, es zu sein. Er war gegen drei Uhr aus der Stadt abgeritten, und die Sonne senkte sich bereits stark dem Westen zu, als er von der Chaussee zur Rechten abbog und bald darauf das schöne Herrenhaus von Sellhausen, vom purpurnen Abendstrahl vergoldet, vielleicht zum letzten Mal vor sich liegen sah.

O, wie lieblich war dieser Anblick für ihn, aber auch zugleich mit welchem unsäglichen Weh vermischt!

»Doch weg mit der Lieblichkeit, weg mit dem Weh,« sagte er sich, »es hilft und nützt das ja alles nichts – zu handeln gilt es allein, und dazu ist nun endlich der Zeitpunkt gekommen – Gott sei Dank!«

Allein noch ein harter Schlag stand ihm bevor, ehe er diese Handlung beginnen konnte, und auf diesen hatte er sich nicht vorbereiten können – er traf ihn daher schwer und mitten in sein noch leise nachblutendes Herz hinein.

Hören wir, was für ein herber Schlag dies war.

Fräulein Treuhold hatte einen namenlos elenden und traurigen Tag verlebt. Von dem Augenblick an, wo ihr lieber junger Herr den Hof verlassen, war keine Minute sorgenlos und ruhig an ihr vorübergerauscht. Abgesehen von den nachher zu erwähnenden Störungen, die sie unerwartet am Morgen betroffen und die gleichsam erst das Vorspiel zu den nachfolgenden bitteren Empfindungen lieferten, hatte sie von Mittag an nur Kampf und Drang mit sich allein zu bestehen gehabt. Ihr Mittagsmahl hatte nur wenige Minuten in Anspruch genommen, Herr Hinz war an seine Arbeit gegangen, und sie hatte sich, nachdem sie ihre Anordnungen für das Abendessen des Herrn und der Leute getroffen, in ihr stilles Zimmer zurückgezogen und ganz allein ihren traurigen Gedanken und Befürchtungen gelebt. Dabei hatte sie anfangs bitter und schmerzlich geweint, aber endlich waren auch die Tränen versiegt, und ein stummer, öder Schmerz war in ihr Inneres eingekehrt, wo er nun langsam und erbarmungslos immer tiefer fraß. Je weiter die Stunden jedoch vorrückten und je näher die ersehnte Rückkehr ihres Herrn kam, um so ängstlicher, beklommener wurde ihr zu Mute. Denken konnte sie eigentlich gar nichts mehr, arbeiten auch nicht, und so ruhten die sonst fleißigen Hände untätig im Schoße, und nur bange Seufzer entschlüpften in gedrängter Folge ihren Lippen; doch eins konnte sie noch außerdem tun, und das tat sie ohne Unterlaß. Sie rechnete im Kopfe. Immer wieder und wieder zählte sie die Stunden, die Bodo zum Ritt nach der Stadt und zurück gebrauchte; dann überschlug sie die wahrscheinliche Dauer der gerichtlichen Verhandlung, und daß er sich darauf nicht mehr lange in der Stadt aufhalten würde, das glaubte sie bestimmt annehmen zu können. Aber der Meier – wenn ihn der nur nicht aufhielt! Das konnte ihr allerdings einen Strich durch die Rechnung machen. Endlich aber war sie so weit gekommen, daß sie sich sagte:

»Wenn er nicht bei dem Meier einkehrt, was beinahe möglich ist, dann kann er, dann muß er spätestens gegen sieben Uhr abends hier sein.« Und diese Rechnung war so richtig, daß sie fast auf die Minute stimmte, wie sie endlich erfahren sollte.

Sie saß also am Fenster, den Kopf nach dem Eingangstor des Hofes vorgeneigt, und lauschte mit gespanntester Erwartung. Auf dem Hofe war alles still. Die Leute waren im Innern der Gebäude tätig, einige wenige noch auf dem Felde, und Herr Hinz war nirgends zu sehen.

»Jetzt ist die Zeit da,« sagte sie zu sich, nach einer vor ihr auf der Fensterbank liegenden Uhr blickend, »wo ich ihn spätestens erwartet habe. Aber die Hunde bleiben still, nichts regt sich, nichts zeigt, daß meine Hoffnung bald in Erfüllung geht. O Gott! O Gott! Was für unaussprechliche Qualen birgt eine so heiße, sehnliche Erwartung!«

Da mit einem Male war es ihr, als ob sie auf dem fernen Feldwege, so weit ihr Auge aus dem Tore hinausreichen konnte, einen Schatten auftauchen sähe. Sie sprang in die Höhe und riß einen Fensterflügel auf. Der Schatten kam näher, wurde deutlicher, größer, massenhafter – ja, es war ein Mensch, und noch dazu ein Reiter. Ha! Er war es, der so sehnsüchtig Erharrte! Da ritt er schon herein, da schlugen die Hunde an, und jedes einzelne Gebell hallte in ihrem Herzen in dumpfen Schlägen wieder.

»Aber er reitet sehr langsam und bedächtig,« sagte sie sich, »sehr, sehr langsam! Doch das tut er ja immer, um den Braunen sich abkühlen zu lassen – ja, so wird es auch diesmal sein.«

Die Unruhe ließ sie nicht mehr im Zimmer. Sie trat auf die Treppe hinaus, ja sie ging auf die Rampe hinunter, dem lieben Herrn entgegen, der eben sein Pferd abgab und wie gewöhnlich, um dem alten Kutscher den Gang zu sparen, vom Stalle nach dem Hause zu Fuß heraufkam. Da war er – sie sah ihn – hatte ihn wieder. O Gott, ja, aber wie blaß war sein Gesicht, wie schwerfällig sein Gang und wie seltsam irrende, suchende Blicke warf er nach dem Hause empor, nach dem Hofe umher! Da hob er das Auge auf und richtete seinen klaren milden Blick auf sie hin. »Was wird er nur zuerst sagen?« fragte sie sich. »Ob ich nicht gleich aus seiner ersten Rede erraten kann, was er mit heim bringt?«

Da war er ganz nahe an sie herangekommen. »Wo ist Gertrud?« rief er ihr entgegen. Das war sein erstes Wort, und sie hatte doch gewiß ein anderes erwartet.

Der etwas hastig und unruhig ausgesprochenen Frage aber begegnete diesmal keine Antwort, sondern eine unerwartete Gegenfrage. Und die lautete:

»Haben Sie denn den Meier nicht gesprochen?«

Bodo schaute wie aus tiefem Sinnen auf, und sein ahnendes Gemüt sah einen unheimlichen Schatten vor sich heraufsteigen. »Was heißt denn das?« fragte er stehenbleibend und die alte Dame bei der Hand fassend, ohne sie zu drücken oder zu lächeln, wie sie doch bestimmt gedacht. »Ich frage ja, wo Gertrud ist? Allerdings habe ich den Meier gesprochen, aber nur in Geschäften, und die betrafen seine Tochter nicht.«

Die Treuhold atmete tief auf; sie mußte sich erst besinnen, was sie sagen sollte, denn es war alles ganz anders gekommen, als sie es sich vorgestellt. »Lieber Herr,« sagte sie, seinen Arm umfassend und langsam mit ihm die Rampe hinaufgehend, »die Trude ist ja nicht mehr hier. Ich dachte, Sie wüßten das schon.«

Bodo blieb stehen, sah die Sprechende stumm und mit einem unbeschreiblichen Blick der Verwunderung und Überraschung an und faßte mit der freien Hand nach seiner Stirn, die ihn plötzlich zu schmerzen begann. »Auch das noch!« sagte er leise. Ah! nun wußte die Treuhold, daß er nur Schlimmes zu berichten hatte.

»Auch das noch! – Wo ist sie denn?« fragte er weiter.

»Ach Gott, eine Stunde, nachdem Sie fort waren, kam ein Wagen vom Meier, und der Kutscher brachte einen Brief. In diesem Briefe aber stand, daß Gertrud unverweilt nach Allerdissen kommen sollte, dort werde sie den Grund ihrer plötzlichen Abrufung erfahren.«

»Nun? Und?« fragte Bodo, der sich schon wieder gefaßt zu haben schien.

»Und sie fuhr nach Hause, Herr Legationsrat, wie es nicht anders ging, und ließ mich in meinem Schmerze mutterseelenallein.«

»So. Hat sie Ihnen denn nichts an mich bestellt?«

»Wer? Die Gertrud? O ja – ja doch! Tausend Grüße, glaube ich, bestellte sie, und sie hoffe auf baldiges frohes Wiedersehen!«

»Ja, ja,« murmelte Bodo vor sich hin. »Das sagte sie mir auch, als ich von ihr Abschied nahm. Nun, nun, es ist gut.«

»Was ist denn gut? O mein Gott, so sprechen Sie doch mehr! So habe ich Sie ja noch nie gesehen! Was ist denn vorgefallen? Erzählen Sie doch!«

Sie waren oben auf der Treppe vor der Haustür angekommen; da auf dem breiten, zwischen Bänken befindlichen Raum stand der Legationsrat still und sah die treue Seele vor sich zum erstenmal etwas heiter an. »Liebe Treuhold,« sagte er ruhig und herzlich, »Sie sollen alles hören, der Reihe nach, wie es geschehen ist. Nur gönnen Sie mir eine halbe Stunde Zeit. Ich habe zwei notwendige Briefe zu schreiben. Wenn ich fertig bin, werde ich schellen, dann kommen Sie zu mir herauf, um alles zu hören – alles, Treuhold, bis auf das Letzte.«

Er nickte ihr zu und verließ sie. Sie blieb hinter ihm stehen, ohne imstande zu sein, nur einen Fuß von der Stelle zu rühren oder auch nur eine Silbe zu sprechen. Das Unheil, das sie gefürchtet, war eingetroffen, in seinem ganzen Umfange – sie hatte es in seinem Auge gelesen, das sie verstehen gelernt, wie ein offenes Buch. Endlich war sie imstande, nach ihrem Zimmer zu gehen. Da aber sank sie auf ihr Sofa und das Gesicht in beide Hände begrabend, brach sie in ein jammervolles lautes Schluchzen aus, das nur die toten Wände hörten, denn sie blieb beinahe eine Stunde allein – eine nur kurze Zeit an sich, und doch schien es ihr eine Ewigkeit zu dauern, bis Rieke ganz bleich und still hereintrat und sagte:

»Fräulein Treuhold, der Herr Legationsrat haben stark geschellt und als ich hinaufgegangen, hat er mir gesagt, ich möchte Sie zu ihm schicken – und mit einem Blick, ach! daß sich ein Stein hätte erbarmen mögen!«

*

Als Bodo sein freundliches, von frischen Blumen durchduftetes Zimmer betrat, die eine liebe zärtliche Hand noch zum herzlichen Abschied für ihn dahin gebracht, schauerte er wehmütig zusammen. Es schien, als wolle sich ein unbezähmbarer Schmerz noch einmal in ihm Bahn brechen, aber er ließ ihn nicht aufkommen und bezwang sich männiglich. Langsam und sich rings umschauend, legte er Hut und Handschuhe ab, langsam zog er den leichten Oberrock aus, strich sich mit der Hand über die kalte Stirn und setzte sich dann sogleich an den Schreibtisch, um zuerst folgende Zeilen auf einen Bogen Papier zu werfen.

»Teure Gertrud! Soeben komme ich nach Hause. Meine erste Frage spricht Ihren Namen aus, aber mein Auge und mein Herz sucht sie vergebens. Sie sind mir gerade in einem Augenblick entzogen, wo ich die größte Sehnsucht nach Ihnen empfand und Sie notwendig am schmerzlichsten entbehren muß, da ich zum ersten Mal in meinem Leben, wie ich nur Ihnen gestehe, an einem Schmerz leide, wie ihn glücklicherweise nur wenige Menschen auf dieser Erde kennen zu lernen verurteilt sind. Doch es soll vielleicht so sein, ich soll Sie entbehren, um allein zu sein, mich ganz kennen und prüfen zu lernen und dabei den bitteren Kelch bis auf die Neige auszutrinken, von dem wir neulich nur geträumt haben, der mir jetzt aber wirklich an die Lippen gehalten wird.

Doch ich will nicht klagen, darum habe ich die Feder nicht ergriffen. Ich will Ihnen auch nicht von den Vorfällen sprechen, von denen Ihr Vater und ich heute morgen Zeugen gewesen sind, denn er wird Ihnen ohnehin schon berichtet haben, was mir widerfahren – ohne alle meine Schuld. Nein, ich will nur auf unser gestriges Gespräch zurückkommen und Sie noch dringender bitten, Geduld zu haben. Ihr Vertrauen zu mir steht fest, das weiß ich, selbst wenn es noch lange im stillen bewahrt werden muß. Und das fürchte ich und darum schreibe ich jetzt. Gestern noch glaubte oder hoffte ich, ich würde Ihnen heute mehr sagen können, als gestern, ich würde gerades Weges vor Ihren Vater treten und sprechen können: Geben Sie mir Ihre Tochter! Doch das kann ich nun heute nicht. Ich muß erst wieder in die weite Welt wandern und mir einen neuen Wirkungskreis suchen, um darauf eine andere Wohnstätte zu gründen. Und das soll rasch geschehen. Ich werde schnell suchen und hoffentlich bald finden, was ich suche. Aber Sie müssen Geduld haben – ich bitte herzlich darum.

Das war es, was ich Ihnen heute sagen wollte, auf der Stelle sagen mußte, damit Sie nicht von mir etwas hoffen und erwarten, was ich nicht erfüllen kann. Leben Sie wohl. Ich drücke Ihnen im Geiste herzlich die Hand. Morgen schon hoffe ich Sie bei Ihrem Vater zu finden und dann werden klarere Worte diese wenigen Zeilen erläutern. Bis dahin aber eröffnen Sie nicht das Ihnen übergebene Kuvert, damit Sie nicht zu glauben veranlaßt werden, daß ich zu voreilig gewesen bin.

Ihr Bodo von Sellhausen.«

*

Nachdem er diesen Brief beendet, durchlas er ihn noch einmal, schüttelte den Kopf und sagte zu sich:

»Er enthält nicht das, was er enthalten soll, aber wer kann in solchem Gefühlsaufruhr schreiben, wie er will. Sie wird mich doch verstehen, ich weiß es.«

Sodann legte er diese Zeilen versiegelt und adressiert in ein Kuvert, schrieb noch einige Worte an den Meier, ersuchte ihn, einliegendes Schreiben seiner Tochter zu überreichen, und fügte die Bitte hinzu, ihm übermorgen früh Punkt acht Uhr einen Wagen zu senden, um seine Sachen abzuholen, die er bis dahin verpackt haben würde. Dann siegelte er den Brief, adressierte ihn an den Meier und legte ihn beiseite.

Gleich darauf nahm er einen anderen Bogen, sann einige Minuten nach und warf dann mit sicherer Hand folgende Zeilen auf das Papier:

»Herr Baron! Da ich übermorgen früh um zehn Uhr Sellhausen verlasse, so können Sie gleich darauf von Ihrem Eigentum Besitz ergreifen. Die mir persönlich zugehörigen Dinge sind verpackt und signiert. Sollte ich zufällig noch in Sellhausen sein, wenn Sie Ihren Einzug darin halten, so bitte ich um Entschuldigung, ich konnte mich nicht mehr beeilen. Das ist die einzige Bitte, die ich an Sie zu richten habe, und weiter wüßte ich keine Vereinbarung mit Ihnen zu treffen.

Bodo von Sellhausen.«

 

Als er auch diesen Brief versiegelt und adressiert, ging er einige Male mit gesenktem Kopfe durch das Zimmer. Plötzlich blieb er vor dem Klingelzuge stehen und zog stark daran. Gleich darauf kam Rieke, um nach seinen Befehlen zu fragen.

»Diese Briefe,« sagte er, »sollen zwei verschiedene Boten nach Allerdissen und der Grotenburg tragen. Verwechsle sie nicht. Aber schnell! Und nun sende mir Fräulein Treuhold herauf.«

Es war unterdes Abend geworden. Die Sonne war hinter den fernen blauen Grenzgebirgen des kleinen Landes versunken und nur ein matter, rosiger Schimmer bezeichnete die Stelle, wo sie noch kurz vorher am Himmel sichtbar gewesen war. Ueber dem Wesertale, aus dem ein leichter Nebelduft aufstieg, ruhte tiefer Friede, kein Laut drang aus den schweigenden Schatten des Gartens durch die geöffneten Fenster in das stille Zimmer, in welchem Bodo von Sellhausen jetzt ruhig saß und die alte Haushälterin erwartete, die zwanzig Jahre Freud und Leid mit den Bewohnern des Hauses getragen und nun unter dem bitteren Schlage, welcher den letzten Herrn desselben betroffen, in treuer Gemeinschaft mit ihm zugleich ihr Haupt beugen sollte.

Die linde Dämmerung, die schon seit geraumer Zeit im Freien bemerklich geworden, breitete ihre sanften Schatten noch viel merklicher im Zimmer selbst aus; Möbel und Bücher, Gemälde und Statuen, alles, was darin war, groß und klein, zeichnete sich nicht mehr vollkommen erkenntlich ab, nur der Duft der Blumen war unverändert derselbe geblieben und übte vor wie nach seine wohltuende Wirkung aus. Als der einsame Bewohner dieses Zimmers, rings um sich her blickend, diesen Eindruck empfing, war ihm zu Mute, als ob, wenn auch über vieles in seinem Leben sich ein dämmerndes Vergessen, ein verhüllender Schleier senkte, der eigentliche Inhalt seines Wesens, Seele, Geist und Herz doch noch unverändert ihre alte Kraft, ihre innere Zufriedenheit und Genügsamkeit bewahrt hätten, und das war gewiß schon wieder ein großer Fortschritt in seiner jetzigen Stimmung.

Da ging die Tür nach leisem Anklopfen auf und die Treuhold trat fast unhörbar herein.

Bodo stand auf und ging ihr entgegen. Er faßte ihre Hand und führte sie nach dem Sofa, wo er sich, wie in früheren Tagen, vertraulich neben sie setzte, aber ihre brennend heiße Hand in der seinigen behielt, als wolle er seinen stärkeren Geist in ihre niedergebeugte Seele ermutigend überströmen lassen.

»Nun, da sind Sie ja,« sagte er, sie begrüßend, »und jetzt im falben Dämmerlichte ist es die rechte Zeit, sich eine schauerliche Geschichte zu erzählen. Wir können zwar die Mienen unserer Gesichter nicht mehr so ganz genau unterscheiden, aber wir fühlen und sehen uns doch noch, und das ist auch schon genug. Ja, liebe Treuhold, Ihr Name sagt die Wahrheit: Sie sind eine treue, alte Seele, ich kenne und liebe Sie, und darum will ich Ihnen Vertrauen schenken und Ihnen alles genau mitteilen, was mir heute begegnet ist, ohne zu befürchten, daß Sie irgend wo oder irgend wie einen unrechten Gebrauch davon machen werden.«

»Ach Gott, nein!« seufzte die alte Dame, die ihre Augen sich schon wieder mit Tränen füllen fühlte, so daß sie ihr Taschentuch zur Hilfe nehmen mußte.

»Sie weinen doch nicht?« fragte Bodo mit mildem Vorwurf. »O bitte, tun Sie das nicht, das kann ich nicht sehen und ich würde nur die eine Hälfte erzählen und die andere vergessen, wenn ich durch Ihre Tränen von meinem Wege abgelenkt würde.«

»Nein, nein,« erwiderte sie, sich mit Gewalt bemeisternd und ihr Taschentuch beiseite legend, »ich weine nicht, wenn Sie es nicht wünschen. Ich bin stark.«

»Gut denn. Es ist im ganzen nicht viel, was ich Ihnen zu sagen habe, und auf vieles werden Sie längst vorbereitet sein. Ein einziges aber wird auch Ihnen ganz neu sein, wie es mir war. Von dem Benehmen der Barone bei der heutigen Verhandlung lassen Sie mich schweigen – es war ihrer würdig – hier handelt es sich nur um die Enthüllung des Testamentes und um die Folgen, die zunächst für uns beide daraus entspringen werden. So hören Sie denn.«

Da wir der Testamentsvollstreckung selbst beigewohnt haben und die Vorfälle dabei kennen, die der Legationsrat jetzt von Anfang bis zu Ende wahrheitsgetreu vortrug, wie sie sich im Gerichtszimmer zu B... abgewickelt hatten, so brauchen wir seine Worte hier nicht zu wiederholen. Auch daß Fräulein Treuhold eine aufmerksame Zuhörerin war, bedarf keiner besonderen Erwähnung, das versteht sich von selbst, und nur so viel wollen wir sagen, daß, wenn sie schon in die tiefste Bewegung geriet, als sie vernahm, daß Bodo sein väterliches Gut unwiederbringlich verloren habe, sie fast von einem ohnmächtigen Schwindel erfaßt wurde, als sie hörte, daß er nicht der wirkliche Sohn des alten Herrn von Sellhausen sei.

Lange dauerte es, bis sie, nachdem Bodo ausgesprochen, ein Wort der Erwiderung finden konnte; plötzlich aber, wie von einem unwiderstehlichen Gefühle dazu getrieben, sank sie neben ihm auf die Knie, ergriff seine Hände und sprach mit einer aus dem innersten Herzen kommenden Stimme:

»Teuerster, liebster Herr! Sie sagen das so traurig und ich traure gewiß mit Ihnen, aber verzweifeln dürfen Sie nicht. Wie es da oben über den Sternen, die jetzt eben am nächtlichen Himmel hervorbrechen, etwas Unbegreifliches gibt und wie uns das Trost und Mut und Hoffnung zuspricht, von denen wir nicht wissen, von wannen sie kommen, so gibt es auch etwas im Menschenherzen – auch hier in meinem – was mir sagt, obgleich ich es ebensowenig begreifen kann: »Treuhold! Verzage nicht! Damit kann es hier nicht enden und hinter dem sichtbaren Ende muß noch ein unsichtbarer Anfang liegen, der wieder zu etwas Besserem führt.«

Bodo drückte ihre Hände fast zärtlich vor Dankgefühl und innerer, unwillkürlich heraufsprudelnder Freudigkeit. »Stehen Sie auf,« sagte er leise, »und setzen Sie sich wieder zu mir. Jetzt wollen wir vernünftig miteinander reden, da Sie nun alles wissen. Ich verstehe nicht, was Sie mit Ihrem sichtbaren Ende und unsichtbaren Anfang meinen, aber sagen Sie mir aufrichtig, haben Sie irgend eine Ahnung, auch nur die geringste gehabt, daß ich nicht der wirkliche Sohn Ihres alten Herrn war?«

»Nein, Herr Legationsrat, nicht die geringste Ahnung, und niemand, glaube ich, konnte sie haben, denn es ist in den zwanzig Jahren nicht das Kleinste vorgefallen, was irgend darauf hätte deuten können. Aber, mein Gott, warum hat Ihnen der alte Herr das nicht früher gesagt, dann hätte ja, wenn nicht alles, doch manches anders werden können!«

»Das ist die Frage, Treuhold, die ich mir schon wiederholt vorgelegt habe. Mein Vater hätte mir sein Vertrauen früher schenken können, ehe ich mich in den Gedanken hineingelebt, daß ich sein Sohn sei, und ehe ich die Laufbahn aufgab, die mir bisher Unterhalt und eine Stellung im Leben gewährte, eine Stellung, die ich – ohne irgend einen Anspruch – nur verließ, weil ich mich für den Sohn eines wohlhabenden Mannes hielt und Bedürftigeren, als ich war, ein gutes Einkommen lassen wollte. Am allerwenigsten aber mußte er mir mein und sein Geheimnis vor diesen Leuten da enthüllen und ihnen die Gelegenheit bieten, über mich zu lachen und zu triumphieren, was sie jetzt gewiß tun werden. Doch er war ja mein Vater nicht, er liebte jene Leute mehr als mich, und so gebrach es ihm auch an dem Zartgefühl, welches zwischen Vater und Sohn unter allen Umständen die Richtschnur jedes Handelns angeben muß.«

Er schwieg plötzlich, wie von neuen Gedanken abseits geführt. Und das war wirklich der Fall. Auf dem Dufte der Blumen, der das Zimmer erfüllte, war ihm die Erinnerung an Gertrud, wie durch einen geheimen Zauber aus der Ferne gesandt, nahe geschwebt.

»Warum sprechen sie nicht mehr? Fahren Sie fort!« sagte die gute Alte, die den plötzlichen Abbruch seiner Rede wohl bemerkt hatte.

»Doch nein,« fuhr Bodo wie zu sich selbst sprechend fort, »ich irre mich vielleicht. Wer weiß, was sein Tun und Lassen gelenkt hat! Es hat auch wieder sein Gutes, daß er mir nicht früher gesagt, wer ich war, und daß ich erst nach Hause kommen mußte, um mit eigenen Augen zu sehen, wie die Sachen ständen.«

»Das kann ich nun nicht begreifen,« sagte die Treuhold in ihrer Unschuld, da sie keine Ahnung von der geheimen Triebfeder seines Gedankens hatte. »Aber was werden Sie nun fürs erste tun, das ist die Hauptsache.«

»Es bleibt nur eins übrig, gute Treuhold, für mich, der ich heute morgen noch ein schönes Gut, und heute abend nicht nur dieses nicht mehr, sondern nicht einmal einen Vater besitze. Übermorgen früh, Punkt zehn Uhr muß ich Haus und Hof verlassen haben, denn bis dahin werden die jetzigen Eigentümer hier sein – das kann man von ihnen erwarten – und bis dahin werden wir alle Hände voll zu tun haben, um mein kleines Besitztum, wie es hier steht, wieder einzupacken, um es leicht fortschaffen zu können.«

»O, das wird keine zu große Mühe sein,« sagte die Treuhold, die alle ihre Fassung wiedergewonnen hatte, da sie jetzt sah, um was es sich allein noch handelte. »Aber Sie werden Haus und Hof nicht allein verlassen, teuerster Herr; ich, auch viele der Mägde werden mit Ihnen gehen, denn den Grotenburgern will keine von uns dienen. O mein Gott, was wird die Welt dazu sagen, denn es wird alles nur zu bald unter die Leute kommen!«

»Das darf uns nicht kümmern, Liebe. Die Meinung des großen Haufens habe ich hinlänglich verachten gelernt, um ruhig den kleinen Skandal zu ertragen, der sich aus diesen Vorfällen entwickeln wird. Lassen Sie uns unsere Vorkehrungen aber schon heute abend beginnen, damit wir morgen in aller Frühe tätig sein können. So, nun haben wir alles, denke ich, besprochen, auch ist es ganz dunkel um uns her geworden.«

»O,« sagte die Treuhold, indem sie aufstand und rasch einige Kerzen anzündete, die sogleich ihr helles Licht durch das freundliche Gemach streuten, »Licht ist bald gemacht, wie Sie sehen, und wenn das Dunkel Ihres Herzens sich so schnell aufhellt, wie diese Stube, dann können Sie zufrieden sein.« –

Bald darauf trennten sie sich, beide beruhigt, nachdem sie sich ausgesprochen und das Nächstkommende reiflich überlegt hatten. Unten auf der Treppe begegnete der Haushälterin Herr Hinz, der eben nach Hause kam. Bald wußte auch er, um was es sich handelte, und einige Minuten später war er oben bei seinem bisherigen Herrn, um ihm sein tiefstes Bedauern auszudrücken und alle und jede Hilfe anzubieten, die er zu leisten imstande sei.

*

Wie der enterbte Herr und der verwaiste Sohn sich an diesem Abend mit unerschütterlichem Gottvertrauen zur Ruhe begab, so stand er am nächsten Morgen, als die ersten Strahlen der Sonne den Weserspiegel erröten machten, mit frischem Mut und neuer Kraft wieder auf, vollkommen befähigt und fest entschlossen, ein neues Leben zu beginnen und mit eigenen Mitteln sich eine solche Zukunft zu gründen, daß sie kein Testament von Menschenhand wieder umstoßen könnte.

Schon in den frühesten Morgenstunden war im Herrenhause zu Sellhausen alles auf den Beinen und eifrigst beschäftigt, dem nächsten Zweck des bisherigen Herrn zu dienen und seine beschleunigte Abreise mit allen Kräften zu unterstützen

Auf dem Korridor vor des Legationsrats Zimmer standen große und kleine Kisten bereit, um die ihm zugehörigen Besitztümer aufzunehmen, wie sie vor acht Monaten darein gekommen waren. Fräulein Treuhold und Herr Hinz arbeiteten mit ihm um die Wette, um dies Geschäft zu fördern und dann noch Zeit für die Ordnung ihrer eigenen Angelegenheiten zu behalten, da wenigstens erstere fest entschlossen war, dem scheidenden Herrn fast auf dem Fuße zu folgen.

Das Werk ging rascher vor sich, als man erst vermutet hatte, denn auf den Korridoren standen einige der geschickteren Leute vom Hofe schon bereit, die gefüllten Kisten zu vernageln und sogleich in das untere Stockwerk zu schaffen. Es blieb jetzt Bodo nur noch übrig, seine Papiere zu ordnen und seine Bücher und Kleider zu verpacken, und auch darin gingen ihm der Verwalter und die Haushälterin rüstig zur Hand.

Es mochte elf Uhr morgens sein und man wollte eben eine kurze Pause eintreten lassen, um an das wohlverdiente Frühstück zu gehen, als ein Reiter vor der Tür anlangte und gleich darauf der Meier in Bodos Zimmer trat.

Dieser war von dem frühen Besuche um so freudiger überrascht, als er den Freund kaum persönlich an diesem Tage erwartet hatte. Er begrüßte ihn herzlich und deutete dann, mit Auge und Hand auf das schon fast vollbrachte Werk hin.

»Ich sehe es, ja,« sagte der Meier, »und freue mich über Ihre Tätigkeit. Sie ist das beste Arzneimittel für Ihr Leid, schafft Zerstreuung und schützt vor der Langeweile, die allein nur bittere und unverständige Gedanken erzeugt.«

Bald darauf schritt man hinunter in Fräulein Treuholds Zimmer, wo das Frühstück aufgetragen war, und da der Verwalter und die Haushälterin noch mancherlei zu tun hatten, so sahen die beiden Männer sich bald allein überlassen. Bodo war still, wie es nicht anders sein konnte, nur lag eine gewisse Spannung auf seiner Miene und in seinem Auge, als laste ihm eine Frage auf dem Herzen, zu deren Ausspruch er nur eine günstige Gelegenheit zu erwarten schien. Der Meier dagegen war auffallend einsilbig und sprach nur das Notwendigste, sein Blick aber ruhte oft seltsam innig und freudig auf dem jungen Mann, den er zu seiner Befriedigung weit ruhiger fand, als er erwartet hatte.

Als beide ihren Appetit befriedigt, hob der Meier nach kurzem Besinnen, als ob er mit Bedacht die Worte zu wählen habe, sein biederes Gesicht zu dem Freunde empor, legte eine seiner kräftigen Hände auf die feine Rechte desselben und sagte dann:

»Ihren Brief habe ich gestern gleich nach meiner Rückkehr von der Stadt erhalten und es bedarf wohl keiner Versicherung von meiner Seite, daß Ihr Wunsch in betreff des Wagens erfüllt werden wird. Sie können sogar mehr als einen haben, mein ganzes bewegliches Hab und Gut steht Ihnen zu Diensten, vorausgesetzt, daß Sie fürs erste Ihren Weg nicht weiter als bis Allerdissen fortsetzen.«

Er schwieg und sah Bodo aufmerksam an, der sichtbar errötet war, was allerdings die letzten Worte des Meiers bewirkt hatten. Da er aber still vor sich nieder schaute und keine Silbe erwiderte, fuhr der Meier etwas lebhafter fort: »Oder sollten Sie vielleicht schon gegen meine Erwartung ein anderes Ziel ins Auge gefaßt haben, wohin Sie sich von hier aus begeben wollten?«

Bodo erhob jetzt sein ausdrucksvolles Gesicht, über welches sich in fast glänzendem Schein ein mit tiefer Rührung gemischtes Gefühl ergoß, sah den Meier ernst forschend an und erwiderte: »Mein lieber Freund! Ehe ich Ihnen darauf eine bestimmte Antwort erteile, müssen Sie mir erst noch eine andere Frage gestatten, woraus sich vielleicht noch eine viel ernstere Mitteilung entwickeln wird, als Sie denken mögen.«

»O, o,« rief der Meier, treuherzig lächelnd, »schon wieder eine ernste Mitteilung? Haben Sie deren in jüngster Zeit nicht zur Genüge gehabt? Aber fragen Sie, ich bin zur Antwort bereit.«

»Sie sagten, Sie haben gestern meinen Brief erhalten. Gut. Von dem Briefe, der in demselben eingeschlossen war, sprechen Sie jedoch nicht. Warum nicht?«

Jetzt errötete der Meier, das heißt, so sehr sein braunes, von der Luft immer frisch gehaltenes Gesicht erröten konnte. Er schien dabei in einiger Verlegenheit zu sein, denn der brave Mann war in allem seinem Tun und Handeln so ehrlich, daß er nie sein Gefühl verhehlen konnte, am wenigsten aber eine Unwahrheit zu sprechen vermochte. Dennoch lächelte er eigentümlich, ehe er zu reden begann.

»Dieser eingeschlossene Brief,« sagte er, »ist nicht lange in meinen Händen gewesen, und ich weiß davon nur wenig. Ich habe ihn auf der Stelle dahin spediert, wohin er gehörte, das heißt in die Hände meiner Tochter.«

Bodo atmete auf, aber er erwartete unzweifelhaft noch etwas. Indessen es erfolgte weiter nichts.

»Und was hat Fräulein Gertrud zu dem Inhalt desselben gesagt?« wagte er endlich mit sichtbarer Zurückhaltung zu fragen.

»Auch das weiß ich nicht, lieber Freund, ich bin nicht dabei gewesen, als sie ihn gelesen hat.«

»Aber haben Sie sie denn nicht nachher gesprochen?«

»Auch nicht. Doch, damit ich Sie aufkläre, will ich Ihnen sagen, daß Gertrud nicht mehr auf Allerdissen ist. Ich mußte sie gestern morgen plötzlich dahin rufen, um ihr zu Hause mitteilen zu lassen, daß sie sich eiligst auf eine kleine Reise begebe und eine Verwandte besuche, die ihrer im Augenblick notwendig bedarf. Dahin nun habe ich ihr den Brief nachgesandt und jetzt hat sie ihn ohne Zweifel schon.«

Der Meier blickte bei diesen Worten vor sich nieder und Bodo war das nicht ganz unlieb. Sein Herz klopfte etwas stark und er besorgte, sein Auge und sein Gesicht möchten an dieser heftigen inneren Bewegung zum Verräter werden. »So,« sagte er, »das ist etwas anderes, und nun erkläre ich mir die Eile, womit Ihre Tochter dies Haus verlassen hat. Es hat mich dies – einigermaßen gewundert und – o ja – auch betrübt und ich hätte sie gern noch vorher gesprochen, wenn ich gewußt, daß wir uns auf diese Weise trennen sollten.«

»O, sie ist ja nicht aus der Welt und kommt vielleicht bald wieder.«

»Wann, lieber Meier?«

»Spätestens in einigen Wochen, frühestens in drei bis vier Tagen.«

»Letzteres lasse ich gelten, ersteres ist mir eine zu lange Frist. In einigen Wochen denke ich schon weit von hier fort zu sein.«

»So!« sagte der Meier und stand auf. »Nun, das wird sich ja finden. Darüber sprechen wir bei mir noch ein Längeres und Breiteres. – Ah, da haben wir ja die Treuhold wieder!«

Diese kam eben herein, um in aller Eile ihr Frühstück einzunehmen. Der Meier aber griff schon nach seinem Hute und sagte: »Na, ich freue mich, daß ich auch dich so munter sehe, Cousine. Wann wirst du mit dem Einpacken deiner Sachen fertig sein?«

»Bis morgen nachmittag, denke ich, Vetter.«

»Gut. Laß mir morgen durch den Kutscher, der Herrn von Sellhausen holt, sagen, wann ich dir den Wagen schicken soll. Du kommst natürlich zu mir und für Herrn Hinz, wenn er nicht hier bleiben will, ist auch Raum genug auf Allerdissen, bis sich eine andere gute Unterkunft findet. Ihr könnt alle bei mir ebenso tätig sein wie hier, ich kann tüchtige Arme und warme Herzen gebrauchen. Das ist alles, was wir heute abzumachen haben, ich will nicht länger stören. Gott befohlen!«

Bodo sowohl, wie die Treuhold begleiteten ihn vor die Tür, wo sein schöner Rappe noch auf und ab geführt wurde, und gleich darauf stieg er nach herzlichem Lebewohl in den Sattel und ritt dann von dannen, während Bodo und die Seinigen an ihre vorher unterbrochene Arbeit zurückkehrten.

So verging ihnen der Tag in voller Tätigkeit und der Abend kam allen dabei Beteiligten so rasch heran, daß sie nicht wußten, wo ihnen die Zeit geblieben war, vor deren Länge sie sich anfangs so gefürchtet hatten. Des Legationsrats Sachen waren gepackt und sogar die kleinen Möbel, die ihm gehörten und die er so lieb gewonnen, daß er sie nicht im Stiche lassen wollte, standen schon auf dem Hausflur unten bereit, um ihre nächste kurze Reise anzutreten.

Auch die Treuhold hatte bereits den größten Teil ihrer kleinen Besitztümer eingepackt und hoffte mit dem übrigen am nächsten Tage zur rechten Zeit fertig zu werden.

So war die letzte Nacht herangekommen, die Bodo in Sellhausen verbringen sollte. Auch sie verfloß ihm viel ruhiger, als er es für möglich gehalten, wenigstens in der ersten Hälfte; allein bald nach Mitternacht erwachte er schon und da er nicht wieder einschlafen konnte und sich den im Bette immer trüberen Gedanken, als außerhalb desselben nicht überlassen wollte, so stand er auf, lange bevor die Sonne ihren ersten Morgenboten am grauen Horizonte voraussandte.

Langsam und bedächtig – er hatte ja heute Zeit – kleidete er sich beim Scheine zweier Kerzen an, und da er nun hier oben nichts mehr zu tun hatte und in das leere öde Zimmer nicht wieder zurückkehren wollte, so nahm er, kurz entschlossen, einen raschen Abschied davon und ging leise die Treppe hinab, um, ohne jemanden zu stören, den Garten zu erreichen und die Rückkehr des rosigen Lichtes im Freien zu erwarten.

Es war eine milde, taureiche, sternenklare Augustnacht, in die er mit vollem, aber ruhig schlagenden Herzen hinaustrat und deren vollkommenes Schweigen einen tiefen, wohltätigen Eindruck auf sein Gemüt hervorbrachte. Noch war es ziemlich dunkel um ihn her, aber schon machte sich das fahle Morgengrauen in den klaren Lüften bemerklich, welches jedes Menschen innerstes Wesen mit wunderbarem Schauer übergießt, wenn es ihn so plötzlich und ungewohnt umgibt und dabei seinen ewig wachsamen Geist zum geheimnisvollen Grübeln verleitet.

Bodo war an diesem Scheidepunkte seines irdischen Geschicks noch mehr denn je geneigt, dem stillen Walten des unergründlichen Weltgeistes träumend nachzuhängen, und, still mit sich zu Rate gehend, Vergangenheit und Zukunft abwägend, schritt er langsam unter den Bäumen der obersten Terrasse hin und her, deren Schatten in glücklicheren Tagen ihm so oft süße Kühlung zugeweht hatten.

Die Zeit mußte ihm bei dieser Beschäftigung rasch vergehen, ohne daß er ihren Lauf beachtete, denn als er plötzlich zufällig das Auge erhob und nach Osten hinüberschaute, der weit vor ihm geöffnet lag, sah er zu seiner Verwunderung das halbe Tal schon mit einem magischen Lichtschimmer übergossen, der allmählich an Farbe und Intensität gewann, erst blaßgelb, dann goldig rosig ward und endlich mit glühender bis zum Purpurglanz steigender Pracht den Aufgang des schönen Gestirns des Weltalls verkündete.

Bodo hätte seine Arme ausbreiten, irgend etwas an seine Brust schließen und seine Freude aussprechen mögen, aber er war allein, und so stand er mit klopfendem Herzen da und sandte nur seine brennenden Blicke dem aufsteigenden Licht entgegen, das schnell jeden Schauer der Sorge in Frohsinn und Hoffnung verwandelt, selbst wenn es über dem elendesten Geschöpfe in seiner unermeßlichen Schönheit, Unschuld und Göttlichkeit aufgeht.

»Sie geht auch mir auf, diese Sonne,« sagte er sich, »und verspricht mir einen guten Tag! So sei mir gegrüßt und halte Wort; mein Herz ist der Wonne, die du bringst, zugänglich und ich wage von dir noch viel zu hoffen!«

O wie schön erschien ihm nun die vor ihm ausgebreitete Welt, in dem Augenblick doppelt schön, da er von ihr scheiden sollte, wie uns ja immer das am teuersten und kostbarsten erscheint, wovon wir uns auf ewig trennen sollen. Aber er dachte über die Bitterkeit dieser Trennung nicht mehr nach, er wollte nicht noch einmal den Schmerz hervorrufen, den er mit männlicher Fassung begraben zu haben hoffte, und so tat er, was er allein hier zu tun beabsichtigte, er ging von Ort zu Ort umher, um ihn nur noch einmal zu sehen und wenigstens mit Blicken und dankbarem Herzen von ihm Abschied zu nehmen.

Zuerst, nachdem die Sonne ihre leuchtenden Strahlen über Land und Wasser gestreut, die Schatten schwinden gemacht und die Farben des Tages in ihrer saftigsten Fülle hervorgerufen, stieg er an das Ufer der Weser hinab, wo der Nachen angekettet lag, der ihn schon als Knabe getragen und den er auch in den letzten Tagen so häufig benutzt, um drüben die roten Felsen zu erklettern und das schallende Echo aus seinem leichten Schlummer zu wecken. Noch einmal prägte er sich das Bild des Ganzen, der Nähe und Ferne ein, und dann kehrte er der blauen Riesenschlange den Rücken, um wieder hinaufzusteigen und auch anderen geliebten Stätten sein Lebewohl zu sagen.

Nur vor einigen Blumenbeeten, die Gertruds Hand geziert oder ihr Auge oft bewundert, blieb er länger stehen und endlich zog ihn das Spargelbeet an, wo er an jenem denkwürdigen Morgen eine so unvergeßliche und einfache Lehre empfangen, die Wunderdinge in ihm gewirkt und sein Herz einem Gefühle geöffnet, welches bis dahin unbewußt und ungekannt in ihm geschlummert hatte.

Von hier trat er in den alten Lindensaal und hier blieb er längere Zeit nachdenkend auf jener Bank sitzen, die auch von einem traulichen Geheimnis zu erzählen wußte. Die gefiederten Bewohner stimmten schon lustig ihr unschuldiges Morgenlied an und auch sein Herz sang still mit ihnen und sein Auge blickte häufig dabei zu dem grünen Gewölbe empor, durch dessen Fugen die Lichter jenes noch größeren Gewölbes da oben wie goldfunkelnde Augen lächelten.

Aber da fühlte er sich plötzlich wider Willen weich werden und rasch sprang er auf – einen letzten Blick noch warf er durch die grüne Halle und dann stieg er, wie um dem aufquellenden Gefühlsstrome zu entfliehen, der sich in ihm Bahn brechen wollte, nach der großen Laube hinauf, die das ganze Tal zu seinen Füßen beherrschte.

Hier atmete er freier, hier fühlte er sich wieder stark werden und so saß er lange Zeit, um die alte Kraft ganz wieder zu finden; erst als er die Tätigkeit der Menschen im Hofe und Hause erwachen hörte, richtete er seine Schritte dahin, um auch die seinige zu beginnen und dem Wehgefühl einsamer Träumerei völlig den Rücken zu kehren.

Es ging gegen sieben Uhr, als er in Fräulein Treuholds Zimmer trat, um zum letzten Male mit ihr auf Sellhausen den Kaffee zu trinken. Sie erschien mit rotgeweinten und fast verschwollenen Augen und wagte kaum den lieben Herrn anzublicken, um nicht durch den Ausdruck seiner Miene in neue Rührung zu geraten. Als sie aber erst einmal versuchsweise in sein friedfertiges Gesicht geschaut und alle Züge desselben so ruhig gefunden, wie sie in den schönsten Zeiten des traulichen Stillebens im vorigen Winter gewesen, da gewann auch sie wieder einigen Mut und beantwortete freundlich die wenigen Fragen, die er ihr über ganz gleichgültige Dinge vorlegte, nur um ihre Aufmerksamkeit von dem Brennpunkt ihrer Seele abzuleiten. Nur noch einen schweren Moment gab es für sie, außer dem letzten, und das war der, als des Meiers größter Wagen mit vier Pferden bespannt kam, um des Legationsrats Sachen in Empfang zu nehmen.

Als der Kutscher schon in der Ferne mit der Peitsche knallte und gleich darauf in vollem Jagen auf die Rampe fuhr, schauerte sie zusammen und sprang ans Fenster; und als ob es ein Leichenwagen wäre, der den geliebten Toten abholen soll, den man bis jetzt wenigstens in der Nähe gehabt und mit Augen und Herz bewacht, so brach sie in laute Klagen aus, die Bodo ruhig austoben ließ, indem er schnell ins Freie trat.

Nun begann draußen ein reges Leben. Zwanzig kräftige Hände halfen bei der Arbeit, und so war sie bald beendigt, da schon alles bereit stand. Aber den Gesichtern der Menschen dabei zu begegnen, obwohl ihre Hände so flink und mächtig anfaßten, war nichts Erfreuliches, oder doch, wie man es nehmen will, denn sie sprachen mit ihrer Traurigkeit eine Teilnahme und ein Mitgefühl aus, welche dem scheidenden Herrn nur bewiesen, wie lieb er ihnen allen in kurzer Zeit geworden sei.

Als die Arbeit eben vollbracht und die letzten Stricke fest gebunden wurden, kam der Meier unerwartet mit seinen schönen Grauschimmeln angefahren.

Bodo trat ihm verwundert und doch erfreut entgegen. Er erkannte sogleich die gutgemeinte Absicht des lieben Freundes. »Wie,« rief er ihm zu, »Sie kommen selbst?«

»Selbst ist der Mann, ja, und da bin ich. Um Sie sicher zu haben, will ich Sie in Person holen, und so fehlt es Ihnen doch unterwegs nicht an einer kleinen Unterhaltung.«

»Ich danke Ihnen herzlich,« entgegnete Bodo, ihm wiederholt die Hand schüttelnd, »und verstehe Sie. Nun ja, ich bin bereit, mich hält hier nichts mehr, als höchstens die Erinnerung an einen kurzen schönen Traum, und die kann ich wo anders noch besser pflegen als hier. Wohlan denn, ich bin fertig mit Sellhausen und mein Ziel will ich nun anderwärts suchen. Gehen wir bald?«

»Sogleich! – Wann willst du deinen Wagen, Cousine?« wandte er sich zur Treuhold, die mit vor die Tür getreten war.

»Heute mittag um zwölf, wenn ich bitten darf.«

Der Meier nickte bejahend und gab dann seinem Kutscher einen Wink, der rasch auf die Rampe zurückfuhr, um die beiden Herren aufzunehmen.

Jetzt begann der Abschied seine Rechte geltend zu machen, aber das ging nicht so rasch und leicht von statten, wie der Legationsrat es wünschen mochte. Alle Leute vom Hofe und den nächsten Heuerlingswohnungen standen vor der Tür, um noch einmal das freundliche Auge des lieben Herrn zu sehen und womöglich ihm eine Hand zu reichen. Die Weiber weinten und klagten laut und die Männer standen bedrückt zur Seite, mit blassen, aufmerksamen Gesichtern jede Miene des Scheidenden verfolgend.

Da trat er zu ihnen heran und beide Hände hinreichend, sagte er mit dem sanftesten Tone seiner tiefen Stimme: »Ruhig, Kinder, was wollt Ihr? Wenn ich gestorben wäre, würdet Ihr vielleicht mehr Ursache zum Weinen haben und Ihr könntet Eure Traurigkeit kaum lauter an den Tag legen. So aber gehe ich ja nach Allerdissen und wir können uns alle Tage wiedersehen.«

»Wenn das eine Wahrheit ist, Herr von Sellhausen,« sagte der alte Kutscher Justus, »dann segne Sie Gott für diesen Trost!«

Die Treuhold und Rieke hingen nun auch an ihrem Herrn, als sollten sie ihn nie wiedersehen, und selbst Herr Hinz folgte ihm auf Schritt und Tritt.

»Macht es kurz,« sagte Bodo, sich langsam und mit leuchtendem Blicke im Kreise umdrehend, »seht Ihr denn nicht, daß mir Euer Schmerz fast weher tut, als der meine.«

Da traten die Treuhold, Rieke und die Mägde des Hauses mit vor die Augen gehaltenen Tüchern zurück, wandten sich von ihm ab und auch der Verwalter gab seinen Herrn frei. Noch einmal rief der Legationsrat allen Versammelten ein gemeinsames Lebewohl zu, dann stieg er rasch in den Wagen und im Augenblick darauf stoben die Grauschimmel wie der Wind davon.

Alle blieben vor der Tür stehen und starrten dem flüchtig rollenden Wagen nach. Aber er sollte ihnen noch nicht so rasch entzogen werden. Als er am Pferdestall vorüber fuhr, wo frischer Kies aufgeschüttet war und das Geräusch der rollenden Räder dämpfte, warf Bodo einen Blick in die offene Tür und in demselben Moment hörte er seinen alten Braunen wiehern, der zunächst an der Tür stand und gern mitgelaufen wäre.

»Halt!« rief Bodo dem Kutscher zu. »Einen Augenblick nur! Dem Braunen muß ich auch noch Adieu sagen, er erinnert mich verständlich daran.«

Und rasch sprang er in den Stall, liebkoste das treue Tier und sprach mit ihm, und als er dann gleich wieder mit ergriffener Miene auf den Wagen stieg, sagte er zum Meier: »Verzeihen Sie, lieber Freund, daß ich Sie aufhielt, aber das war mein letzter Abschied von Sellhausen und er ist mir – Gott weiß es! – sehr schwer geworden.«

Der Meier lächelte wehmütig und doch freundlich. »Wenn Ihnen der Braune so sehr am Herzen liegt,« sagte er, »so wird er nicht schwer zu erhandeln sein. Auf ihn erstreckt sich ja das Verkaufsverbot des Kodizills nicht. Haha! Und Baron Grotenburg wird ihn für bares Geld gern fortgeben.«

»Ja, kaufen Sie ihn wieder, ich mag ihn unter der Fuchtel eines fremden Knechtes hier nicht auf dem Felde ackern sehen, das wäre ein bitterer Lebensabend. Er hat mich oft zu glücklichen und auch schweren Stunden getragen und das kann ich ihm nicht vergessen, wie ich nichts vergesse, was mir hier geschehen ist.«

Das war das letzte Wort, welches auf dem Sellhauser Gebiete gesprochen wurde. Wenige Minuten später hatte man die Chaussee erreicht und nun flogen die schönen Grauschimmel so schnell heimwärts, als hätten sie sich eine kostbare Beute geholt und suchten sie so rasch wie möglich in Sicherheit zu bringen.


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