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Der Morgen des ersten Augusttages war endlich angebrochen. Bodo, der noch vor seiner früh angesetzten Reisestunde die Freude genießen wollte, mit Gertrud ungestört zu plaudern, wie man denn auch das Frühstück gemeinschaftlich einzunehmen am Abend vorher verabredet hatte, war mit der Sonne fast zugleich aufgestanden. Sobald er sich angekleidet, trat er ans Fenster und zog die Vorhänge in die Höhe, um zunächst nach dem Wetter auszuschauen, denn er gehörte zu den Menschen, die es lieben, die Vorgänge in der äußeren Natur mit denen des menschlichen Herzens in Verbindung zu setzen, die gern die einen auf die andern wirken lassen und so wenigstens außer sich Trost, Freude und Frieden suchen, wenn sie zufällig im Innern nicht vorhanden sein sollten.
Heute war nun Freude und Friede in seinem Innern vorhanden, und des Trostes bedurfte er noch nicht – das fühlte und gestand er sich gleich nach dem Erwachen; nicht so günstig dagegen enthüllte sich ihm die Aussicht, die er von seinem Fenster aus genoß. Von dem schönen, weiten, grünen Tale mit dem mitten hindurch sich schlängelnden Flusse, den Felsen und den alten Bäumen darauf, war nichts zu sehen; ein dichter, undurchdringlicher Nebel bedeckte die ganze Erde und verschloß sogar die Wolken des Himmels, die das menschliche Auge sich sonst so gern zum Zielpunkt nimmt.
Bodo schien anfangs betroffen, als er dies undurchdringliche Dunstchaos sah, wenigstens schaute er lange Zeit nachdenklich in dasselbe hinein, ohne im stande zu sein, in dem vor ihm liegenden Garten auch nur einen Baum von einem andern Gegenstande zu unterscheiden.
»Nun,« sagte er endlich, »wenn das, was ich an diesem Morgen da vor mir sehe, das Bild meiner Zukunft ist, dann sieht sie nicht einladend und erbaulich aus. Doch still – ich nehme es als kein böses Omen auf. Die Nebel verflüchtigen sich leicht und die Sonne dringt am Ende immer wieder durch. Meine Sonne aber trage ich jetzt in mir, sie gibt mir Wärme und Licht genug und ich wäre undankbar gegen die Vorsehung, wollte ich heute schon murren, nachdem ich erst gestern eine der größten Wonnen auf Erden kennen gelernt habe, die – ein Herz zu besitzen, auf das man bauen, dem man vertrauen kann in allen Nöten des Lebens. So sause denn zu, du bleicher, kalter Dunst; verhülle und verstecke, was mir sonst lieb und wert ist, – das Liebste und Werteste trage ich in mir und kein Mensch mehr, mag er sein, wer er will, kann und soll es mir rauben!«
Er wandte sich vom Fenster fort, und bis zum Augenblick seiner Abreise dachte er nicht mehr daran, den Stand des Wetters zu prüfen und Schlußfolgerungen für seine Zukunft daraus zu ziehen.
Als er in das untere Stockwerk trat, fand er daselbst schon alles munter und in voller Beschäftigung. Herr Hinz erschien einen Augenblick, um ihm glücklichen Erfolg auf seiner Reise zu wünschen und sich dann zu empfehlen, um an seine Arbeit auf dem Felde zu gehen, da man gerade mit dem letzten Reste der Ernte beschäftigt war. Die Treuhold, die wieder eine sehr schlaflose Nacht verbracht, war so zerstreut und befangen, daß sie alles am falschen Ende anfaßte, hin und her trippelte, ohne zu tun, was sie tun wollte, und vor Seufzen und Stöhnen zu gar keinem vernünftigen Worte kommen konnte.
Gertrud dagegen war still, anscheinend ruhig, aber doch voller Spannung dem Kommenden entgegensehend. Ihr Auge hing mit inniger Hingebung an dem Bodos und da sie darin wirkliche Ruhe und Freudigkeit las. wurde sie selbst jeden Augenblick ruhiger, freudiger, und nur kurz vor dem Aufbruch des Herrn kämpfte sie eine rasch heraufquellende Rührung nieder, die erst wieder verschwand, als er fest ihre Hand faßte, sie herzlich drückte und sagte:
»Nun reite ich ab, Gertrud. Ich bin ganz gefaßt und völlig in alles ergeben, was kommen kann. Helfen Sie mir darin dadurch, daß Sie es auch sind. Wenn es irgend geht, bringe ich heute nachmittag Ihren Vater mit her und dann – dann wollen wir einen gemütlichen Abend zusammen verleben.«
»Reisen Sie glücklich.« erwiderte Gertrud mit gepreßter Stimme, »und kehren Sie noch glücklicher wieder heim. Meine besten Wünsche begleiten Sie. Grüßen Sie meinen Vater und halten Sie Wort mit dem gemütlichen Abend, ich freue mich auf dies Wiedersehen.«
Mehr konnte sie nicht sprechen, ihre Lippen fingen an zu beben und ihr Herz klopfte zu stürmisch. Die Treuhold aber weinte, als sie mit ihrer Nichte den abreisenden Herrn vor die Tür begleitete, wo der alte Braune schon bereit stand und seinen Reiter wiehernd erwartete.
Bodo reichte den beiden Frauen noch einmal die Hand, dann schwang er sich in den Sattel und ritt langsam in den Nebel hinein, der noch immer schwer und dicht auf der Erde ruhte, als könne er sich noch nicht entscheiden, ob er sich zu den lichteren Höhen erheben oder zur heimischen Erde zurückkehren solle.
Gertrud und ihre Tante standen so lange vor der Tür, als sie den Reiter mit den Augen verfolgen konnten, dann aber schritten sie langsam und schweigend in das Haus zurück, um an ihre Geschäfte zu gehen, vor allen Dingen aber in Gedanken den Freund zu begleiten, der, das fühlten oder ahnten sie beide, einen seiner schwersten Gänge im Leben angetreten hatte. –
*
Es war acht Uhr, als Bodo den Hof von Sellhausen verließ, und zehn Minuten später hatte er im leichten Trabe die Chaussee erreicht, die nach dem Städtchen B... führt. Als er hier auf der breiten Straße in das weiter geöffnete Tal gelangte, schaute er ringsum, ob der Nebel sich noch nicht verflüchtigen und nach irgend einer Seite hin einen Durchblick gestatten wolle. Allein noch immer lagen die trägen Massen behaglich still in der windlosen Luft, kein lebendiges Wesen zeigte sich ihm und nur vom Meierhofe zu Allerdissen her vernahm er das dumpfe Brüllen des Viehes, das auch mehr den leuchtenden Sonnenschein als den trüben Dunst der Erde liebt.
Erst als er beinahe bis zur Cluus gelangt war, die ihm weit seitwärts blieb, kam etwas Leben und Bewegung in das Nebelchaos. Ein leichter Wind hatte sich erhoben und trieb dicht geballte Massen vor sich her, die feuchter und feuchter zu werden begannen und sich endlich zur Erde zurückbegaben. Da fing plötzlich der Braune leise zu wiehern an und als Bodo sein Auge erhob, gewahrte er in der Ferne, hoch über dem Horizont, einen silberartig leuchtenden Punkt, der rasch wuchs, an Intensität und Farbe gewann und endlich blitzartige Strahlen herniederwarf, die alle Mühe aufzubieten schienen, das feindliche Element zu durchdringen. Aber nur langsam gelang es dem Lichtkörper da oben, sich freie Bahn zu schaffen; endlich aber war er da und nun in goldenen Garben nach allen Seiten schießend, fegte Licht und Wind zugleich den trüben Schleier fort und es ward wieder warm und hell auf der grünen Erde.
Bodo schaute entzückt auf dies Schauspiel in der Natur hin und sein Herz jubelte hoch auf. »Meine Sonne siegt!« sagte er sich. »Frisch durch! Noch eine halbe Stunde und es wird Licht und Glanz auf der Erde liegen, wo eben noch Nacht und Grausen waltete.«
So war es auch. Nur über dem allmählich sichtbar werdenden Strome wallte und wogte der Nebel noch in dichten Flocken, endlich aber rang auch er sich frei und die riesige blaue Schlange ringelte sich leise murmelnd auf ihrer Bahn dahin, um vielleicht später dem großen Meere zu erzählen, was für Drangsale sie auf ihrer weiten Pilgerreise zu überwinden gehabt hatte.
Bei so günstig sich gestaltendem Wetter setzte Bodo rüstig seinen drei Meilen weiten Weg fort, und da es ihm warm zu werden anfing, denn die Sonnenstrahlen machten sich allmählich fühlbar, zog er seinen Regenrock aus und legte ihn quer vor sich über den Sattelknopf. So kam er gegen elf Uhr in dem kleinen freundlichen Landstädtchen an und traf auch hier die Ackerbürger in voller Tätigkeit, die letzte Hand an die bereits in Garben aufgehäuften Feldfrüchte zu legen und ihre schwer beladenen Kornwagen in die heimatlichen Scheunen zu führen.
Nachdem er in einem Gasthofe, in dem er gewöhnlich einzukehren pflegte, sein Pferd untergebracht, begab er sich der Verabredung gemäß zum Sachwalter seines Vaters, dem Justizrat Möller, der ihn schon in seinem Privatzimmer erwartete, und nachdem die beiden Männer sich freundlich begrüßt und ein leichtes Frühstück genossen, gingen sie nach dem Gerichtshause am Markt, um endlich eine Pflicht zu erfüllen, die schon so lange die Erwartung aller Beteiligten im höchsten Grade erregt hatte.
*
Sie waren aber bei weitem nicht die ersten im Gerichtszimmer. Ungeduld, Unruhe aller Art, Habsucht und gegen das Ende hin maßloser Drang, ein wünschenswertes Ziel: Hab' und Gut ohne Mühe zu erreichen, hatte die drei Barone in ihrem heutigen Unternehmen beflügelt, und so war es gekommen, daß sie lange vor der festgesetzten Zeit an einem Orte sich befanden, den sie gewiß nicht so hastig betreten haben würden, wenn es einem fremden Vorteil gegolten hätte.
Indessen waren alle drei nicht so ruhig und wohlgemut angelangt, als es ohne Zweifel geschehen wäre, wenn sie sich auf eine andere Weise vom Legationsrat getrennt hätten, als es wirklich der Fall war, und schon ihre Mienen, wenn man sie genau beobachtete, bewiesen, daß in ihren Herzen und vielleicht auch in ihrem Gewissen keine völlige Windstille herrschte.
Überhaupt hatten die drei Herren seit dem Augenblick, wo wir sie verlassen, keine ruhige Stunde verlebt. Hader, Zwietracht allerlei Art, auch zum Teil häuslicher Zwist und Zank hatte sie leidenschaftlich hin und her bewegt und sie aus einer schlimmen Lage in die andere gehetzt.
Was zunächst das verunglückte Fest am 30. Juli betrifft, so hatte dasselbe um so weniger freudig geendet, als es mit so großer Zuversicht auf einen glücklichen Erfolg begonnen worden war. Alle Gäste, außer den beiden Schwägern, waren gleich nach der erzählten Katastrophe Hals über Kopf abgefahren und so war nur die Familie allein zusammengeblieben. Aber da hatte es zwischen den einzelnen Mitgliedern derselben keine trauliche und herzliche Szene gegeben.
Nachdem der Baron Grotenburg sich von der Ohnmacht, in die ihn Bodos Brief versetzt, erholt hatte, war er in eine leidenschaftliche Wut geraten, wie sie noch niemand an ihm gesehen, und hatte Vorwürfe und Schmähungen über Haas ergossen, der dadurch plötzlich ganz nüchtern geworden und sich nun mit allen Kräften aus der Schlinge zu wickeln suchte, in die er gefallen war. Natürlich hatte er alle Schuld auf den lügenhaften, heimtückischen und mit diplomatischen Kniffen zur Werke gegangenen Legationsrat gehäuft; der allein hatte ihn an der Nase herumgeführt, ihn zum Besten gehabt, nachdem er alle Geheimnisse haarklein aus ihm herauszulocken verstanden.
Bei dieser Darstellung und Umkehrung alles wirklich Geschehenen war der alte Haas so ungewöhnlich lammfromm geworden und hatte sich eine so unschuldige und harmlose Miene zu geben gewußt, daß man ihm mehr denn je glaubte, und da nun auch die Baronin gegen den undankbaren Gast mit schmähenden Worten zu Felde zog, sich gänzlich in ihm getäuscht zu haben erklärte, ihm alles und jedes persönliche Verdienst bestritt, so war und blieb dieser der allgemeine Sündenbock, und das Ende des Ganzen war eine weit innigere Versöhnung der männlichen Verwandten, als vorher kaum möglich erschienen, infolge deren sie trotz des Versuches des ängstlichen Barons Kranenberg, nochmals zu einem freundschaftlichen Vergleich mit dem Legationsrat die Hand zu bieten, schließlich sich zu einem energischen Auftreten gegen denselben entschlossen, ohne im geringsten auf frühere Verhältnisse und Hoffnungen Rücksicht zu nehmen.
»Nein, nein, keine Schonung, keine Rücksicht mehr!« lautete der zehnmal wiederholte Refrain des heißblütigen Haas. »Wir sind schonend und rücksichtsvoll genug verfahren. Jetzt drauf, mein Brüderchen, drauf! Er muß bluten, ich gebe ihm keinen Pardon. Wenn der Mensch kein Erbe sein will, dann vors Gericht mit ihm! Da soll er schon sehen, was es heißt, anständiger Leute Vorschläge mit Füßen zu treten, die nur das Recht und die Pflicht der Selbstverteidigung kennen und von allen seinen diplomatischen Fechterkünsten nichts wissen wollen.«
Mit solchen Tiraden ohne Sinn und Verstand glaubte sich Baron Haas »rein gewaschen« zu haben, und beinahe war es ihm bei den schwachen Männern gelungen, die eben so wenig Herz und Gemüt, Charakter und Rechtschaffenheit, aber bei weitem weniger »Mundwerk« besaßen, als er.
Nachdem nun endlich die beiden Schwäger – die Baronin Kranenberg und ihr Schatten waren mit unter den ersten Flüchtlingen gewesen – in tiefer Nacht die Grotenburg verlassen hatten, war in dem Zimmer der Baronin noch eine andere Szene erfolgt, von der wir freilich nichts mit erlebt haben, nach deren Beendigung Baron Grotenburg aber todmatt und wie an allen Gliedern zerschlagen in seine Schlafstube wankte, als käme er aus einer Schlacht, in der er nicht nur vollständig besiegt worden, sondern auch alles eingebüßt hatte, was er irgend an Besitz noch in und an sich gehabt. Halbtot sank er auf sein Bett, dankte Gott für den ersten stillen Augenblick an diesem Tage und verfiel dann in eine Art verzweiflungsvollen Stumpfsinns, von dem ihn nur ein unruhiger Schlaf befreite, woraus ihn freilich noch oft genug ein schreckliches Traumbild aufscheuchte, indem es ihm zu Mute war, als stecke er bis an den Hals im Schlamm seines Schloßgrabens, der jeden Augenblick in seinen Mund dringen und mit dem Atem ihm Leib und Seele zugleich nehmen wolle.
Am nächsten Morgen gegen elf Uhr aber, als er eben erst sich von seinem Lager erhoben, kam Baron Haas schon wieder angefahren, denn auch er hatte auf dem Kolkhof weder Ruhe noch Rast gefunden und mußte wieder unter Menschen sein, die seinen Zustand begreifen und mit ihm über das Vorliegende sprechen und schimpfen konnten. Er war noch wütender als am Abend zuvor, indem er nun erst recht bei hellem Tage und völliger Nüchternheit die erlittene Niederlage übersah. Da ihm die Apathie seines Schwagers nur wenig Stoff zu neuen Angriffen bot und niemand sonst ihm in den Weg kam, an dem er diese Wut hätte auslassen können, so drohte sie schon, sich gegen die Möbel und Spiegel des Barons zu kehren, als ihm glücklicherweise ein Gegenstand geboten ward, an dem er seinen heißen Groll kühlen konnte. Sein Schwager deutete auf einen zurückgebliebenen fremden Hut, den man an einer Kokarde, wie sie sonst niemand hier trug, für den des Legationsrats erkannte, und kaum hatte Baron Haas davon Kenntnis genommen, so ergriff er den unschuldigen Filz, zerschlug und zerfetzte ihn auf grausame Weise und bedauerte dabei nur, daß es nicht der Kopf seines Herrn selber wäre und daß er kein Blut dabei fließen sehen könne.
»Aber morgen kann es dazu kommen,« schrie er, »wenn er mich auch nur mit einem schiefen Blick ansieht. Ihr sollt es erleben!«
Nachdem er sich aber wieder etwas beruhigt, wozu namentlich die Reste des gestrigen splendiden Mahles und einige gerettete Flaschen Burgunder beigetragen, verabredete, er mit Baron Grotenburg die Zeit der Abfahrt am folgenden Morgen und fuhr ziemlich zufrieden nach dem Kolkhof zurück. Zur bestimmten Stunde des anderen Tages traf er sich dann mit beiden Schwägern im Gasthofe der Stadt, und nachdem man gemeinschaftlich gefrühstückt und ein gutes Mittagsessen bestellt, verfügte man sich nach dem Gericht, zeitig genug, um die ersten an Ort und Stelle zu sein, was immer angenehmer ist, als erst zu kommen, wenn die Gegenpartei schon versammelt ist, die man dann begrüßen muß, während man so von ihr begrüßt wird.
Als die drei würdigen Schwäger nun aber das nackte, armselige Gerichtszimmer betraten, in dem dergleichen Termine abgehalten zu werden pflegten, wie ihnen jetzt einer bevorstand, als sie die geheimnisvollen Schränke voller Dokumente mit Riegeln und Schlössern verbarrikadiert sahen und eine ganz eigentümliche dumpfe Luft sie umwehte, da wurden sie doch etwas betreten, der Ernst des Augenblicks machte sich geltend und wider Vermuten durchrieselte sie ein eigener Schauer, den sie bisher noch nie in ihren habsüchtigen und egoistischen Herzen wahrgenommen hatten. Am allerwenigsten aber gestanden sie sich ein – und das war doch gewiß im Augenblick das vorherrschendste Gefühl bei allen dreien – daß sie sich hier fast mehr vor dem Gesicht des nun bald erscheinenden Legationsrats, als vor dem Ausfall der Verhandlung fürchteten, eine Furcht, die sich jedoch bei jedem von ihnen auf eine seinem Wesen entsprechende Weise ausprägte.
Baron Grotenburg verhielt sich fast am stillsten; die Erwartung des Kommenden war in ihm zu groß und seine Spannung hatte allmählich eine solche Höhe erreicht, daß er fast einen Fieberfrost zu fühlen glaubte. Baron Kranenberg, von jeher der Vorsichtigste und Ängstlichste unter ihnen, legte sich schon zum hundertsten Mal die Frage vor: »Wie wird das alles enden?« und zuletzt sauste es ihm, da er keine befriedigende Antwort erhielt, so vor den Ohren, daß er halb taub geworden zu sein glaubte, wie er denn auch alles falsch verstand, was der schwatzhafte Haas zu reden für gut befand.
Dieser, dessen Humor beim Frühstück schon wieder zu sprudeln begonnen hatte, war jetzt auch ziemlich still, jedoch nur um seine Lebensgeister zu sammeln, wie er sagte, und »ein Mann bei der Spritze« zu sein, wenn es einen kleinen Brand geben sollte,
»Pfui!« rief er endlich, mit einem rotseidenen Tuch seine Nase wischend, die noch viel röter war, »das stinkt hier verflucht nach der Gelehrtenwelt. Wie die Juristen in einem solchen Loch atmen und leben können! Aber darum hecken sie auch so vertrackte Dinge aus, wie man oft von ihnen zu sehen und zu hören bekommt. Doch nur Geduld, Ihr gelehrten Herren, ich werde mein Licht heute nicht unter den Scheffel stellen und euch zeigen, daß ich auch einmal in Tertia gewesen bin!«
»Was sagst du?« fragte Ambrosius kleinlaut. »Ich habe dich nicht recht verstanden, glaube ich. Aber ich finde allerdings, daß es hier garnicht appetitlich riecht, und säße lieber zu Hause im Schlafrock bei meinen Meerschaumköpfen und legte mir eine sanfte Patience.«
»Laßt es gut sein, Kinder,« beschwichtigte Baron Grotenburg, »es ist einmal nicht anders. Schon manches schöne Kapital ist aus dem Aktenstaub dieser Schränke wie ein Phönix aus der Asche aufgestiegen und morgen wird es bei uns allen besser riechen, als es heute hier riecht. Aber weiß der Teufel – mir ist doch sehr beklommen. Wo mag nur der vierte Zeuge bleiben?«
»Ha, der Meier!« rief Haas. »Na ja, der fehlt uns auch noch! Es ist eigentlich dumm, daß wir den Menschen noch unter uns haben müssen, wie? Wir drei wären doch auch schon genug – aber der alte Sellhausen schielte mit seinen zwei Augen immer nach verschiedenen Seiten. Verdammter Schlaukopf! So ein Bauer paßt doch sehr wenig zu uns und am Ende müssen wir aus purer Ga – Gal – Garantie so höflich sein, ihn zum Mittagessen einzuladen?«
»Ich denke nicht daran und bin nicht so galant,« nahm Baron Grotenburg das Wort. »Der kann mit seinen Knechten essen, wir speisen unter uns.«
»Hast recht, Bruder Herz, ja – aber da fährt ein Wagen vor.«
Alle drei sprangen an ein Fenster und blickten auf die Straße hinab. Es war wirklich der Meier, der mit seinen schönen Grauschimmeln wie ein vornehmer Mann vor das Gerichtshaus gefahren kam und gelassen ausstieg, nachdem er dem Kutscher einige Befehle gegeben.
»Der Teufelskerl!« rief Baron Haas. »Was er für eine Miene aufsetzt! Geben wir ihm die Hand?«
»Ein Finger ist auch genug!« rief Baron Grotenburg.
»Aber die Pferde sind wirklich hübsch!« flüsterte Ambrosius, um doch auch etwas zu sagen.
»Laß die Pferde, Brüderchen; morgen kauft uns Grotenburg noch viel bessere, haha! Doch jetzt aufgepaßt, nun werden wir des alten Sellhausen Glocken bald läuten hören, he?«
Man konnte nicht weiter sprechen; der Meier ward von einem Gerichtsboten in das Zimmer gewiesen und trat in seiner bescheidenen stillen Weise ein, verneigte sich vor den drei Herren und bot ihnen freundlich einen guten Morgen, indem er dem Baron Grotenburg, der ihm zunächst stand, bieder die Hand entgegenstreckte.
Dieser legte nur einen, Baron Haas zwei, Baron Kranenberg sogar drei Finger hinein, und damit war die Begrüßung zu Ende, denn bald darauf ließen sich draußen Schritte und Stimmen vernehmen und der Justizrat Möller ward mit dem Legationsrat sichtbar, was einen überwältigenden Eindruck auf die drei Barone zu machen schien, denn sie stellten sich dicht nebeneinander in die Reihe, gleichsam um einer den andern zu unterstützen, wenn es einen harten Kampf geben sollte.
Allein dazu schien für den Augenblick gar keine Aussicht zu sein, wenigstens wenn man nach dem Ausdruck der Mienen beider Männer schließen wollte.
Der Justizrat war ein kleiner Mann von einigen fünfzig Jahren, fein gekleidet und von auffallend stillem, nachdenklichen Wesen. Sein Gesicht war blaß, von grauen Haaren und eben solchem Bart eingefaßt, dabei trug er eine Brille, durch die sein dunkles Auge klug und lebhaft blickte. In seinen Zügen lag nicht das geringste Merkmal, woraus man auf seine Gefühle hätte deuten können; er war ein Mann der Geschäftswelt, des kalten Rechts, und eisern ruhig, wie das Gesetz selber, bewegte er sich Schritt vor Schritt in den ihm zugewiesenen Schranken, ohne weder rechts noch links einen Blick darüber hinaus zu werfen.
Ebenso ruhig, ebenso still und gefaßt, nur den Kopf stolz emportragend und durchbohrende Blicke vor sich her in das Zimmer werfend, trat der Legationsrat ein; und wie ihn die Barone so heranschreiten sahen, schien er ihnen seit dem letzten Tage um einen Kopf gewachsen zu sein und in dem Ausdruck seiner jetzigen Miene eine Ähnlichkeit aufzuweisen die sie alle drei überraschte, indem sie sie an eine ganz andere Persönlichkeit erinnerte. Doch das ging so rasch wie ein Blitzstrahl an ihnen vorüber und ihre Aufmerksamkeit ward so schnell von etwas anderem eingenommen, daß es fast ebenso bald wieder vergessen, wie vor ihrem inneren Auge aufgetaucht war. Bodo verbeugte sich kalt, aber höflich gegen sie, lächelte dem Meier freundlich zu und schüttelte ihm die Hand, was dieser kräftig und warm erwiderte. Dann wandte er sich dem Justizrat zu, der eben ein großes Schlüsselbund aus der Tasche zog, und winkte ihm, rasch an das Werk zu gehen.
In diesem Augenblick erfaßte den Baron Grotenburg, zumal er die zu durchlaufende Bahn so glatt beginnen sah, eine eigentümlich großmütige oder vielmehr versöhnliche Regung. Er trat einen Schritt auf Bodo zu und sagte, die Hand auf das Herz legend: »Herr von Sellhausen, Sie entschuldigen, aber sollte es nicht möglich sein, daß wir noch in diesem Augenblick eine Art Verständigung herbeiführten und vergäßen –«
»Herr Baron,« unterbrach ihn Bodo mit eisigem Tone, während Baron Haas zugleich seinen Schwager am Rockschoß zurückzog und flüsterte: »Keine Schonung! ich bitte!« – »Herr Baron, sparen Sie Ihren Atem. Jedes Wort ist hier und auch ferner zwischen uns unnütz. Was geschehen ist, ist geschehen, und was kommen wird und muß, das erwarte ich mit gutem Gewissen. – Herr Justizrat, darf ich bitten, Ihr Amt zu erfüllen?«
Der Justizrat trat hinter seine erhöhte Schranke, wo ein kleines Pult stand, verbeugte sich ehrerbietig, erst gegen Bodo. dann gegen die vier Zeugen und sagte kurz und bündig: »Ich bin bereit. Nehmen Sie Platz, meine Herren!«
Alle fünf Personen setzten sich, Bodo und der Meier auf die eine, die drei Barone auf die andere Seite, dann legte der Justizrat seine Hände gefaltet auf das Pult, hustete leicht und hob mit klarer eindringlicher Stimme zu reden an:
»Meine Herren! Sie haben sämtlich Ihre Vorladungen erhalten und wissen, um was es sich hier handelt. Indessen muß ich Ihnen, zufolge der mir vom Erblasser zuteil gewordenen, sehr genauen Instruktionen mitteilen, daß es eine Vertrauenssache ist, zu der Sie hier versammelt sind, daß Sie vier Zeugen« – er nannte die Namen – »als die vier besten Freunde des verstorbenen Herrn von Sellhausen daher, wenn etwas im Laufe unserer Verhandlung vorkommen sollte, was für Sie neu ist, sich damit begnügen müssen, es nur zu hören, nicht aber es in alle Welt weiter tragen dürfen. Ehrenmännern braucht man das nur zu Gemüte zu führen, um überzeugt sein zu können, daß sie ihr Verhalten nach diesem Wunsche des Erblassers regeln werden. Das mögen Sie als Einleitung unserer Verhandlung betrachten, meine Herren!«
Die drei Barone spitzten bei diesen, etwas ganz Neues verratenden Worten hoch die Ohren, der Meier nickte zustimmend, Bodo bewegte keinen Muskel und der Justizrat trat an einen Schrank, schloß die drei Schlösser davor auf und langte zwei dreifach versiegelte Briefe heraus, die er vor sich auf das kleine Pult legte. Beide trugen dieselbe Aufschrift: »Letzter Wille des Rittergutsbesitzers Valentin von Sellhausen,« nur war der eine mit Nr. I, der andere größere mit Nr. II bezeichnet.
»Meine Herren!« fuhr nun der Justizrat fort. »Hier halte ich die letzte Willensmeinung des Herrn von Sellhausen senior in Händen. Überzeugen Sie sich gefälligst, daß die Gerichtssiegel in Ordnung und die Schreiben uneröffnet sind.«
Die drei Barone sprangen mit einem Satze von ihren Stühlen auf und besichtigten die ihnen hingehaltenen Pakete von allen Seiten. Bodo warf nur einen flüchtigen Blick darauf und der Meier nickte nochmals zustimmend.
Als die drei Barone wieder Platz genommen, erbrach der Justizrat das Schreiben Nr. I, schlug den Inhalt auseinander und sagte, nachdem er einen Blick hineingeworfen: »Ich lese Ihnen den Inhalt dieses Schreibens nicht buchstäblich vor, um Sie nicht durch die üblichen Formalitäten zu lange aufzuhalten; da ich dasselbe aber selbst verfaßt habe, es also genau kenne, so teile ich Ihnen nur das Notwendige und mir unabänderlich Vorgeschriebene daraus mit. Sie selbst werden nach des Erblassers Willen in acht Tagen eine Abschrift von beiden Schreiben erhalten, und können sie auch nachher gleich hier in meiner Gegenwart durchlesen, falls Sie Verlangen danach trugen. Sind Sie damit einverstanden, meine Herren?«
Die drei Barone blickten sich fragend an, dann sagten Baron Grotenburg und Kranenberg »Ja!«, Baron Haas aber rief laut, um sein Latein zu präsentieren: » Consentius! Consentius!«
»Zur Sache also!« rief der Justizrat nach flüchtigem Lächeln über den ehemaligen Tertianer. »Und da wende ich mich also an Sie, Herr Legationsrat von Sellhausen, und frage, wie ich fragen muß: Sind Sie geneigt, nach dem Wunsche des Verstorbenen zu verfahren und die Baroneß Klotilde, die Tochter des hier anwesenden Herrn Baron Grotenburg zum Weibe zu nehmen oder nicht? Bevor Sie jedoch die Antwort sprechen, erlaube ich mir die Bemerkung, daß ich, wenn diese Antwort bejahend lautet, zufolge meiner Instruktionen autorisiert bin, dies Testament Nr. II. uneröffnet und augenblicklich in Gegenwart der versammelten Zeugen zu vernichten, da Sie in diesem Fall, also als Bräutigam und unzweifelhaft künftiger Ehegemahl besagten Fräuleins, der alleinige und einzige Erbe aller von Ihrem Herrn Vater hinterlassenen Besitztümer, sowohl der baren Gelder und Papiere, wie der liegenden Güter sind. – Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt und Sie haben mich alle verstanden, meine Herren – wie?«
Alle Zeugen murmelten ihr »Ja!«, der Meier nickte, nur Baron Haas legte den rechten Finger bedeutungsvoll an die Nase, sah seine Schwäger an und sprach laut und mit großer Würde: »Aufgepaßt! Hic haeret aquam!«
Dann aber richteten sich aller Augen auf den bisher unbeweglich dasitzenden Legationsrat, teils mit Zagen, teils mit sehr blaß schimmernder Hoffnung, teils mit einer ungewissen Besorgnis. In den Augen des Meiers aber lag ein fast ängstlicher Ausdruck, der jedoch sogleich wieder verschwand, als er Bodo seinen Kopf erheben und den Justizrat mit fast heiterem und unbefangenem Blick anschauen sah.
»Jetzt bitte ich um Ihre gefällige Antwort!« wandte sich letzterer zu Bodo.
»Habe ich Gründe für mein Ja oder Nein anzugeben?« fragte er mit bewunderungswürdiger Gelassenheit.
»O nein, Herr Legationsrat, durchaus nicht. Sie haben nur Ja oder Nein zu antworten, können aber natürlich ihre Antwort ausdehnen, so weit Sie wollen.«
»So hören Sie denn!« klang es wunderbar klar aus der Brust des Redenden hervor und die Augen der drei Barone schienen fast aus ihren Köpfen springen zu wollen, so scharf bohrten sie sich auf ihn hin und selbst Baron Haas' rote Nase nahm eine bleichere Färbung dabei an. »Ich erkläre hiermit feierlich, vor Ihnen und den anwesenden Zeugen, daß ich bis jetzt nicht der verlobte Bräutigam der genannten Dame bin und es auch niemals zu werden gedenke. Ich kann also den letzten Wunsch meines Vaters nicht erfüllen, selbst wenn mir ein bis jetzt noch unbekannter Schaden aus dieser Weigerung erwachsen sollte.«
Baron Grotenburg atmete schwer und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Baron Kranenberg bedeckte sich die Augen mit der Hand, Baron Haas aber schnaubte wie ein wilder Stier, denn in seiner Brust kochte ein furchtbarer Ingrimm gegen den Redenden auf, trotzdem er den Ausspruch desselben nicht anders erwartet hatte und damit auch jetzt ganz einverstanden war.
»Herr Legationsrat,« begann der Justizrat wieder, »ich habe Ihre verneinende Antwort vernommen, wie wir alle; aber zufolge meiner Instruktion bin ich genötigt, meine vorige Frage noch einmal zu wiederholen und daran die Bemerkung zu knüpfen, daß Sie sich weislich bedenken mögen, da Ihr Entschluß vielleicht wichtigere Folgen hat, als Sie erwarten können.«
Über Bodos bleiche Züge flog der Schimmer eines eigentümlichen Lächelns, das die ganze Fassung seiner Seele und die feste Entschlossenheit und Furchtlosigkeit seines Herzens vor den eben angedrohten Folgen verriet.
»Ich verneine noch einmal, nach reiflicher Überlegung und mit vollem Bewußtsein, ohne Besorgnis vor Gott weiß was für Folgen, Ihre Frage!« lautete die ruhige und langsam gesprochene Antwort.
Der Justizrat wandte sich, wie von innerer Unruhe erfaßt, hin und her, sah niemand mehr an und sprach dann wie vor sich selbst die Worte hin: »Nun denn, da Sie den letzten Wunsch Ihres Herrn Vaters von der Hand weisen oder ihn nicht erfüllen wollen oder zu können versichern, so bin ich ermächtigt, nunmehr zur Eröffnung des eigentlichen Testamentes zu schreiten und ich rufe daher die Herren Zeugen auf, als solche ihre Pflicht zu tun.«
Er nahm das Paket Nr. II. in die Hand. Ehe er aber die Finger an die Siegel legte, sah er Bodo noch einmal fragend an.
»Öffnen Sie!« sagte dieser mit einer antreibenden Bewegung der Hand.
Es herrschte in diesem Augenblick ein tiefes Schweigen im Gerichtszimmer; man konnte die unruhigen Atemzüge der anwesenden Personen hören und sah nur ihre Augen mit namenloser Spannung auf die Hände des Justizrats gerichtet, die jetzt, indem sie das Kuvert vorsichtig lösten, ohne die Siegel zu verletzen, ein leises Knistern des Papiers verursachten, was, so unbedeutend es war, eine erstaunliche Aufregung in den Gemütern der drei Barone hervorbrachte.
»Sie wollen es,« sagte der Justizrat, »und – da ist der letzte Wille« – er betonte das Wort – »Ihres Herrn Vaters und nun hören Siel« Und er las mit fast trauriger und leiser, aber immer noch sehr deutlicher Stimme Folgendes:
»Ich, Rittergutsbesitzer Valentin von Sellhausen auf Sellhausen verordne und bestimme wie folgt: Da mein Sohn, der Legationsrat Bodo von Sellhausen vor den vier von mir berufenen Zeugen wiederholt erklärt hat, daß er nicht gesonnen ist, die Tochter meines Freundes und Schwagers, des Barons von Grotenburg, Klotilde mit Namen, zu ehelichen und ich darin mit Recht eine mir unerklärliche Abneigung erkenne, meinen letzten und sehnlichsten Wunsch zu erfüllen, so bestimme ich hiermit, in Anerkennung meiner langen Freundschaft und Verwandtschaft mit besagter Familie von Grotenburg, mit welcher so nahe verbunden gewesen zu sein ich für die größte mir im Leben zuteil gewordene Ehre betrachte –« hier nickten sich die drei Barone bedeutungsvoll zu und schon sprach sich der allmählich wachsende Triumph in ihrer ganzen Haltung aus – »und welcher Familie ich mehr verdanke, als ich hier sagen kann, wie folgt:
Mein ganzes bares Vermögen, in Staatspapieren und Eisenbahnaktien, sowie alle Summen, die mein Sachwalter und Notar, Herr Justizrat Möller seit der letzten Ernte in seiner Verwahrung hat, welches im ganzen nicht so groß ist, als man während meines Lebens angenommen, da es sich durch wiederholte bedeutende Geschenke von Jahr zu Jahr verringert hat« – hier schlugen die drei Barone plötzlich die Augen nieder – »alles in allem, wird kaum die Summe von zwölftausend Talern erreichen, – vermache und vererbe ich – meinem Sohne Bodo. Diese nicht sehr bedeutende Summe wird hinreichend sein, seine etwaigen Ansprüche an mich zu befriedigen, zumal er ein einträgliches Amt hat und Kenntnisse besitzt, die mich, inbetreff seines Auskommens nichts Schlimmes für die Zukunft besorgen lassen.«
Der Justizrat hielt nach Vorlesung dieses Paragraphen einen Augenblick inne. Bodos Gesicht verzog sich, als von seinem einträglichen Amte die Rede war, unmerklich zu einem ironischen Lächeln, des Meiers blaue ehrliche Augen aber hingen mit inniger Teilnahme an ihm. Endlich trafen sich ihre Blicke und letzterer schien neu belebt, als er einen Strahl der Befriedigung und Genügsamkeit in Bodos Auge wahrzunehmen glaubte.
Der drei Barone Gesichter dagegen verlängerten sich merklich bei diesem ersten Satze des Testaments. Für so unbedeutend hatten sie das Vermögen des offenhändigen Schwagers nicht gehalten, und doch verdroß es sie, daß Bodo der einzige Erbe dieses ihnen so notwendigen baren Anteils werden sollte.
»Pfui!« sagte Baron Haas ziemlich laut zu seinen beiden Nachbarn, die ganz zusammengesunken waren und viel kleiner geworden zu sein schienen, als sie noch zehn Minuten vorher gewesen.
»Fernerhin aber,« las der Justizrat weiter, und man sah ihm an, wie schwer und peinlich es ihm ward, das folgende zu sprechen, »verordne und bestimme ich, daß mein Gut Sellhausen mit allem unbeweglichen und beweglichen Zubehör und Inhalt, Acker, Wald, Wiesen und Garten, Scheunen und Vorräten, Vieh und Mobilar, alles in allem, wie es steht und liegt, mit Aktivis und Passivis der Familie Grotenburg zu eigenem Besitz zufalle, dergestalt, daß der jetzt lebende Baron Franz von Grotenburg, so lange er lebt, nach seinem Tode aber seine Tochter Klotilde in den Besitz des Genannten tritt – bis auf Kinder, Kindeskinder und weiter hinab.«
Der Justizrat mußte innehalten mit Lesen. Die Bewegung, die jetzt ausbrach, war zu groß, als daß er sie mit seiner Stimme hätte bemeistern können. Die drei Barone tauschten laute freudige Herzensergießungen aus, das Gratulabo! Baron Haas' aber übertönte alles und zuletzt fiel er seinem Bruder Herz um den Hals und küßte ihn so derb und laut, daß es wie eine ganze Batterie springender Champagnerpfropfen klang.
Bodo saß seltsam ruhig dabei und betrachtete diese Vorgänge, wie es schien, mit eigentümlichen, fast alltäglichen Empfindungen. Er hatte sich schon in den Verlust des Gutes gefunden, noch ehe er hierhergekommen war, und so bot ihm das eben Gehörte nichts Neues und Befremdendes mehr. Daß es so mit ihm stand, sah der Meier auf den ersten Blick und er selbst empfand die größte Befriedigung dabei, da er sich vorgestellt, die Verkündigung dieser Bestimmung würde einen bei weitem tieferen Eindruck auf den jungen Freund machen.
Indessen war der Justizrat mit seinem Testament noch lange nicht zu Ende, er wollte nur den Freudenrausch der drei Schwäger austoben lassen. Da derselbe etwas lange dauerte, klopfte er auf sein Pult und sagte: »Meine Herren, ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit. Das Testament hat noch einige andere wichtige Paragraphen!«
Die drei Barone setzten sich wieder, einander bei den Händen haltend und bemühten sich in ihrer freudigen Aufregung, so aufmerksam wie möglich zu sein. Der Justizrat aber, immer sorgenvoller blickend, fuhr darauf zu lesen fort:
»Man könnte mich allerdings mit diesem Ausspruch meines letzten Willens für ungerecht und unväterlich gegen meinen Sohn Bodo und zu parteiisch eingenommen für die Familie Grotenburg halten. Da dieser Vorwurf mich, den Erblasser, allein träfe, so muß ich denselben von mir abzuwälzen trachten. Glücklicherweise bin ich vollkommen in der Lage dazu. Und somit gebe ich die Motive zu meiner für den ersten Augenblick seltsam erscheinenden Handlungsweise an.
Erstens bestimmt mich meine Verwandtschaft mit der Familie Grotenburg hierzu und die vielfache Dankbarkeit, die ich ihr seit Jahren schulde. Zweitens bestimmt mich dazu das Widerstreben besagten Bodos von Sellhausen, meinen letzten Wunsch zu erfüllen und die besagte Klotilde, meinen Liebling, zu ehelichen. Drittens aber bestimmt mich der bedeutungsvolle Umstand dazu, daß, mit kurzen Worten gesagt, besagter Bodo von Sellhausen – nicht mein eheleiblicher, sondern nur mein an Kindesstatt angenommener Adoptivsohn ist.«
Es trat eine Pause ein. Der Justizrat war entweder so atemlos, daß er nicht weiter reden konnte oder er wollte den Eindruck beobachten, den seine letzten Worte auf die Anwesenden hervorgebracht hätten, die, den Meier allein ausgenommen, alle nicht recht gehört zu haben glaubten. Als sie sich aber überzeugt, daß sie richtig gehört, was sie einer dem andern an seinem ganzen Gehaben ansahen, da brach ein Erstaunen, eine Überraschung und ein Schrecken unter allen aus, der sich nicht beschreiben läßt. Glücklicherweise jedoch war die Gemütsbewegung der drei Barone selbst zu groß und sie blickten nur sich mit starren Augen an, daß sie nicht gewahrten, welche peinvolle Überraschung sich auf Bodos Gesicht malte. Jedoch nur einen Augenblick nahm ihn dieselbe gefangen; alle innere Kraft aufbietend, suchte er sich zu fassen, um die Bewegung seines Herzens nicht blicken zu lassen, denn die Schadenfreude wollte er wenigstens seinen hochmütigen Gegnern nicht gönnen, daß sie nachher unter sich jubeln und sagen könnten: die unerwartete Mitteilung des alten Herrn von Sellhausen habe sogar seinen starken Geist aus den Fugen gebracht. Alles dies ging, wie gesagt, in seinem Innern vor, und was dasselbe auch fühlen, wie es auch erschüttert sein mochte, er machte sich nur dadurch Luft, daß sein umflortes Auge das des Meiers suchte, und dieser sandte ihm mit bedauerndem Kopfnicken einen so verständlich bejahenden Blick zu, daß er die Wahrheit des eben Gehörten keine Sekunde bezweifelte.
»Ich lese weiter!« erschallte da mit einem Male die fast heiser gewordene Stimme des Justizrats, »und bitte nochmals um Ihre geneigte Aufmerksamkeit, meine Herren! Das dies so ist,« fuhr er im Lesen fort, »daß Bodo von Sellhausen nur mein Adoptivsohn, will ich ihm allein in einer Schrift beweisen, die ich schon vor Jahren aufgesetzt und zur Ausfertigung an besagten Bodo, binnen hier und acht Tagen meinem biederen Freunde, dem Meier zu Allerdissen übergeben habe. Aus seinen Händen mag Bodo, dessen Charakter und kindliche Hingebung an mich ich hiermit als musterhaft bezeichnen muß, diese Schrift also empfangen und daraus wie aus den hinzugefügten mündlichen Mitteilungen ersehen, daß ich die Wahrheit gesprochen, ihn also auch nicht an irgend einem ihm rechtlich zugehörigen Besitz geschmälert, vielmehr ihn nach meinen schwachen Kräften reichlich genug bedacht habe. Über seinen Vater selbst aber zu sprechen oder ihm eine Andeutung zu geben, wo und in wem er denselben zu suchen, verbietet mir ein heiliges Versprechen, dem ich bis ins Grab hinein treu bleiben werde. Mögen dafür andere tun, was ich nicht vermag, denn es gibt noch zwei Menschen auf der Welt, die sein und mein Geheimnis kennen. –
In den Besitz des Gutes Sellhausen aber« – und hier erhob der Leser seine Stimme wieder – »soll Baron Grotenburg in achtundvierzig Stunden, von diesem Augenblick an gerechnet, treten und wird er sich mit Bodo von Sellhausen über dessen längeren oder kürzeren Verbleib auf dem Gute, wenn er gegenwärtig da sein sollte, zu vereinbaren haben. Jedoch müssen beide vorher mit sämtlichen Zeugen das ihnen von dem Herrn Justizrat Möller vorgelegte und diese Verhandlung betreffende Protokoll unterschrieben haben.«
Bodo blickte bei diesen Worten still vor sich hin und schien schon seine Entschlüsse für die nächste Zukunft zu fassen. Baron Grotenburg aber sprang wie eine ihrem Halt entschlüpfte Stahlfeder vom Stuhle auf, trat an das Pult des Beamten und rief fast atemlos:
»Ich bin bereit, mein Herr, das Protokoll sogleich zu unterschreiben!«
»Ich auch, ich auch!« riefen die beiden Schwäger im siegreichen Chorus aus.
»Bitte, meine Herren,« sagte da der Justizrat mit einem Male sehr ernst und fast bitter, »so weit sind wir noch nicht. Das, was Sie bisher gehört haben, war erst das eigentliche Testament, – der Erblasser aber hat für gut befunden, seinem letzten Willen noch ein sogenanntes Kodizill beizufügen, und auch dieses ersuche ich die Herren noch gefälligst anhören zu wollen.«
Beinahe hätte der Meier trotz der feierlich ernsten Stimmung und der geistigen Unruhe, in der er sich befand, über die vom Schreck verzerrten Gesichter der drei Barone laut gelacht. Indessen hielt er noch an sich und nickte nur sanft dem Justizrat, Bodo dagegen immer beifälliger zu, je weiter der Lesende in seinem ferneren Vortrage gedieh. Die Barone aber schlichen auf ihre Plätze, wie auf die Finger geklopfte Knaben zurück und starrten mit ihren sechs Augen auf den über ihren Eifer stirnrunzelnden Gerichtsbeamten wie auf eine neue, ihnen bisher unbekannte Welt hin. Bodo dagegen wußte im ersten Augenblick gar nicht, wie er sich das alles zu deuten habe, und sah bald den Lesenden, bald den Meier an, dessen freudige Bewegung ihm, seltsam genug, eine unerklärliche wohltätige Empfindung verursachte.
»Es war zwei Tage vor dem Tode des Erblassers,« begann der Justizrat zu sprechen, »als ich in Sachen seines letzten Willens in später Abendstunde durch einen Eilboten nach Sellhausen beschieden wurde. Das Ihnen vorgelesene Testament befand sich damals noch in den Händen des Erblassers, war aber noch nicht unterschrieben. Als ich zu dem alten Herrn gelangte, war er sehr leidend, aber wie sein Arzt bescheinigt, bei vollen Geisteskräften, und das bewies er dadurch am besten, daß er folgendes Kodizill ohne Anstoß und Beschwerde mir in die Feder diktierte, welches ich Ihnen jetzt vorzulesen die Ehre habe und welches Sie, nebst dem Testament, nachher von kräftiger Hand unterzeichnet finden werden. Sind Sie zu dem Anhören desselben geneigt, meine Herren?«
»Ja, ja!« stammelten die Barone Grotenburg und Kranenberg und machten eine tiefe Verbeugung, als fühlten sie gewaltigen Respekt vor diesem Kodizill, das schon so manchem ersehnten Testament einen kleinen unangenehmen Haken beigesellt hat. Baron Haas aber rief mit weithin schallender Stimme: » Audior! Audior!« was dem ernsten Beamten ein ironisches Lächeln abnötigte.
»In der Nähe des Todes,« las der Justizrat, »in der ich mich jetzt befinde und wo die Dinge des Lebens ganz anders aussehen, als in der Stunde, wo man frisch und gesund in eine noch lange irdische Zukunft schaut, unterschrieb ich zwar meinen obigen letzten Willen, als meinen An- und Absichten vollkommen entsprechend, allein infolge längerer und reiferer Überlegung« – hier entschlüpfte dem Meier ein fast freudiger Seufzer – »fühle ich mich veranlaßt, noch folgende nähere Bestimmungen zu treffen, die ich als Kodizill meinem Testamente beifüge.
Wie ich meinem Adoptivsohn in wohlüberlegter Absicht früher die Bedingung gestellt, Klotilde von Grotenburg zu ehelichen, wenn er mein einziger Erbe und im Besitz von Sellhausen bleiben wolle, so stelle ich jetzt in ebensowohl überlegter Absicht dem Baron von Grotenburg, wenn er gesetzlich in den Besitz obigen Gutes treten will, folgende Bedingungen:
Erstens soll er gehalten sein, als Besitzer von Sellhausen niemals eine neue Hypothek auf das Gut aufzunehmen, vielmehr in der Tilgung der darauf haftenden Schulden, außer den Zinsen, von Jahr zu Jahr mit vier Prozent, wie bisher geschehen, fortzufahren. –
Zweitens soll er gehalten sein, die zu Sellhausen gehörigen Waldungen jenseit der Weser, zu deren Abholzung er mir wiederholt schon in früherer Zeit geraten, zu schonen und nur diejenigen Bäume zu fällen, die ihm der vereidigte Förster als fällbar bezeichnen wird. –
Drittens, und das ist der Hauptpunkt, verordne und bestimme ich, daß Baron von Grotenburg das Gut Sellhausen nicht verkaufen darf, so lange Bodo von Sellhausen am Leben ist. Sollte der Verkauf aber dennoch und gegen meinen Wunsch und Willen geschehen, sei es aus welchem Grund es will, so muß ich darin eine Geringschätzung meiner freundschaftlichen Gefühle und meiner verwandtschaftlichen Liebe seitens besagten Barons erkennen und lege ihm alsdann folgende Buße auf. Unmittelbar nach dem Verkauf von Sellhausen soll erstens die ganze darauf hypothekarisch eingetragene Schuldenmasse bar an meine Gläubiger gezahlt werden, deren Namen, sowie die Höhe ihrer Forderung aus dem Hypothekenbuche zu ersehen sind. Zweitens soll besagter Baron von dem erlangten Kaufpreis besagtem Bodo von Sellhausen 20 000 Taler Neugeld in barem Gelde bezahlen und endlich drittens soll besagter Baron den Rest des erlangten Kaufpreises nicht allein für sich und seine Familie behalten, sondern mit seinen Schwägern, dem Baron Haas von Haasencamp auf dem Kolkhof und dem Baron Kranenberg auf Kranenberg teilen, in der Art, daß jeder der drei Genannten eine gleich große Summe erhält.« –
Der Leser hielt inne und schaute die drei Barone der Reihe nach an, die in Wahrheit drei in Holz verwandelten Götzen glichen, so überrascht und bewältigt waren sie von diesem »höchst sonderbaren Kodizill«.
Erst allmählich begriffen sie, was für ein Gewinnst für sie dennoch in dieser Bestimmung des Testamentes lag.
»Lesen Sie mir diesen Paragraphen gefälligst noch einmal vor!« lispelte Baron Grotenburg, der zuerst eine Art Fassung wiedererlangt hatte.
Als dies in aller Ruhe und Gemächlichkeit geschehen war, blieb Baron Grotenburg in stillem Nachdenken sitzen, Baron Haas aber sprang auf und rief:
»Das ist ja sehr klar, meine Herren, und ich bin ganz damit zufrieden, und mein Schwager Ambrosius gewiß auch. Nicht wahr, Brüderchen? Na ja! Aber zum Teufel! zur Teilung des Restes wird es wohl nie kommen, denn du wirst doch wohl kein Narr sein, Grotenburg, und das eben erst ererbte Gut verkaufen wollen, he?«
»Nein,« erwiderte ganz eingeschüchtert und mit bebenden Lippen der also Gefragte, »ich werde kein Narr sein, da hast du recht, und mein Eigentum für mich selber behalten. Im ganzen aber sehe ich nichts Verfängliches in diesem Kodizill, Herr Justizrat, meinen Sie nicht auch?«
»Darüber zu entscheiden ist meine Sache nicht, Herr Baron,« erwiderte dieser, dem Meier einen beifälligen Blick zuwerfend, »ich habe Ihnen jetzt nur das Kodizill vorzulesen und bin endlich zu dem Schluß der Verhandlung gelangt, den ich nicht mehr hinausziehen will, wenn Sie mich nicht länger aufzuhalten belieben.«
»Lesen Sie! Lesen Sie!« rief Baron Haas, der sein Latein mit einem Male gänzlich vergessen hatte.
»Zu lesen gibt es nichts mehr,« nahm der Justizrat das Wort, nur noch zu sprechen. Was mir Ihnen zu eröffnen aufgetragen, habe ich getan. Schließlich aber muß ich wiederholen, daß sämtliche an dieser Verhandlung Teilnehmende oder auf irgend eine Weise an der Erbschaft Beteiligte heute über acht Tage zur selben Stunde an diesem Orte eine Abschrift des Kodizills erhalten werden und sich zu diesem Zweck abermals hier einzufinden haben, falls sie sich nicht durch irgend einen legitimierten Stellvertreter, der aber nur zur Zahl der hier Anwesenden gehören darf, vertreten lassen wollen. Zu derselben Zeit – ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit, meine Herren – soll den Erben auch das Hypothekenbuch in betreff des Gutes Sellhausen vorgelegt und ihnen überhaupt eine genaue Einsicht in die Verhältnisse desselben nach allen Seiten hin gestattet werden.
Und hiermit, meine Herren, sind die mir übertragenen Pflichten streng nach den Vorschriften des Erblassers meinerseits erfüllt und habe ich demnächst die Ehre, Ihnen einen guten Morgen und einen recht langen Genuß des übernommenen Erbes zu wünschen.«
Er machte den drei Baronen eine steife Verbeugung und breitete dann vor ihren Augen die eben verlesenen Schriftstücke aus, die die Barone mit ihren Augen verschlangen, ohne vor Freude und Aufregung im stande zu sein, nur ein Wort darin zu lesen, geschweige denn zu verstehen.
»Was sollen wir denn jetzt noch darin lesen?« rief Baron Haas plötzlich. »Heut über acht Tage bekommen wir ja eine Abschrift!«
»Gewiß,« sagte der Justizrat, »darauf rechnen Sie bestimmt – und das Hypothekenbuch wird auch hier liegen. Sind Sie jetzt fertig, meine Herren?«
Nachdem ihm ein dreifaches »Ja« zu teil geworden, schloß er die Schriftstücke vorsichtig wieder ein, legte dann das vorher abgefaßte Protokoll zur Unterschrift vor, das von den Baronen, da es sehr kurz war, flüchtig gelesen wurde, grüßte dann diese, gab Bodo und dem Meier einen Wink und verließ mit ihnen das Gerichtszimmer, nachdem sich beide zum Abschiede noch leicht vor den glücklichen Schwägern verbeugt hatten.
Kaum aber sahen sich diese allein, so brachen sie in einen gemeinsamen lauten Jubel aus, der um so heller erklang, je länger er in ihrer, von mannigfachen Gefühlen bewegten Brust eingeschlossen gewesen war.
»Bruder Herz, Bruder Herz!« schrie Baron Haas entzückt, bald den einen, bald den andern Schwager umarmend und küssend, » Gratulabo! Gratulabo! Endlich siegt die Tugend! Ha, das war ein Sieg, wie ihn Alexander und Cäsar nicht erlebt. Das Gut ist seine 200 000 Taler unter Brüdern wert, und es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn du nicht deine 15 bis 20 000 Taler jährlich herausschlagen solltest!«
»Die Zinsen der uns noch unbekannten Schulden und die Abtragung derselben selbst abgerechnet, Haas!« bemerkte der Erbe bedächtig.
»Na ja, Schulden hin, Schulden her! Der alte Teekessel, der Sellhausen, wird nicht viel Schulden gehabt haben, wo wäre denn sein Vermögen geblieben? Aber er war immer ein Duckmäuser und tat, als ob er verhungern müßte, haha, ich kenne das! Nein, lustig, lustig, Kinderchen! Kerl, komm her und sieh nicht so sauertöpfisch aus – du bist ein Glückspilz wie einer und weißt noch gar nicht, was du geerbt hast. Prosit! Sellhausen ist dein, und nun zu Tisch, Brüderchen, heute bezahlt Grotenburg allein die Zeche. Aber Sekt, lauter Sekt wird hier getrunken, so viel haben wir beide Resterben wenigstens verdient, nicht wahr? Haha! Was das für ein Einfall war, als ob der Grotenburg das Gut verkaufen würde! Na ja, nun wollen wir essen, dann aber nach Hause fahren, denn ich sehne mich danach, deiner Amalie um den Hals zu fallen und ihr das schöne Sellhausen – als Abendgabe – zu Füßen zu legen.«
Als die drei Barone in das Gasthaus traten, in welches sie eingekehrt, trafen sie zu ihrer Überraschung Herrn von Bökenbrink in dem sonst leeren Gastzimmer vor, den die Ungeduld, das Neueste zu hören, seinen Freunden nachgetrieben hatte.
»Hoho! Pilatus!« brüllte ihn Baron Haas an. »Da sind Sie ja! Nun, Sie sind immer und überall, wo man Sie gebrauchen, oder nicht gebrauchen kann. Aber still – heute wird nichts übel genommen, Kleiner! Wir sind Sieger – haben die Hammel um mehr als sechs Pfund geschlagen – Sie wissen doch schon?«
»Wie soll er es denn wissen?« murrte Baron Grotenburg, dem sein Schwager heute wie immer viel zu laut war.
Pilatus XXII. riß die Augen auf, so weit er konnte und starrte den überglücklichen Haas und die weit stilleren Schwäger mit offenem Munde an. »Hat er sie angenommen?« fragte er mit bebenden Lippen.
» Wer denn? Wen denn?« fragte Baron Haas, Pilatus bei den Schultern packend.
»Nun – der Mensch auf Sellhausen da – Fräulein Klotildchen, meine ich –«
»Ach was, dem gehört Sellhausen nicht mehr – dem da gratulieren Sie, denn das ist jetzt Baron Grotenburg-Sellhausen.«
»So – aber hat er die Braut –« wollte Pilatus weiter stammeln.
»Nein, nein,« sagte Baron Kranenberg leise und fast ängstlich, »Herr von Sellhausen hat unsere Klotilde ausgeschlagen, so oft sie ihm auch angeboten ist.«
»Wie? Was?« schrie Pilatus in plötzlich losbrechendem Zorne aus. »Er hat sie ausgeschlagen? Er hat es gewagt? Dann schieße ich ihn tot, die Kanaille, auf Ehre! Diese zarte Blume zu knicken, öffentlich vor solchem gemeinen Rechtsverdreher! Bei Gott und meinen Sporen – ich schieße ihn tot, auf Ehre!«
»Still doch, still doch, Mann, nicht so gebrüllt hier!« rief Baron Haas und wirbelte den kleinen Mann im Kreise herum. »Sie schießen ihn tot, wie Ihren Fuchswallach, der heute noch lebt –«
»Ja, den hat Fräulein Klotilde begnadigt, aber ich nicht –«
»Ei was, das ist ganz einerlei. Sie wird auch den Sellhausen begnadigen, trotzdem er sie ausgeschlagen hat – verlassen Sie sich drauf, und sie hätte ihn auch ganz gern genommen, wenn er sie nur gewollt hätte. Nein, nein, lassen Sie ihn leben, wie er kann und mag, er ist jetzt ein armer Schlucker – doch halt, das erinnert mich an meinen Appetit. Zu Tisch, zu Tisch, meine Brüder – und sechs Flaschen Sekt auf einmal, Kellner – wir haben einen verteufelten Durst mitgebracht!«
*
Viel weniger lebhaft und doch vielleicht noch viel mehr bewegt, schritten die andern drei Männer aus dem Gerichtssaal und traten in das eigentliche Arbeitszimmer des Justizrats, wo er sich in der Regel allein aufzuhalten pflegte. Sobald sie sich hier ungestört sahen, wandte sich der Justizrat mit einer ganz andern Miene, als er vorher bei der Verhandlung gezeigt, an Bodo und sagte:
»So. Die lange mit Sorge betrachtete Pflicht wäre also endlich abgetan und nun können wir als Menschen und Freunde zusammen reden. Mein lieber Herr von Sellhausen – denn so sollen Sie ja fortan heißen, hat der Verstorbene gewollt – ich bedaure von ganzem Herzen, dazu verurteilt gewesen zu sein, Ihnen solch herben letzten Willen zu verkünden. Sie sehen, unser Amt hat nicht immer mit leichter Arbeit zu tun, denn auch wir Juristen haben ein Herz und das meinige hat öfter für diejenigen geschlagen, denen ich Unheil zu verkünden hatte, als für die, denen ich wie jenen da, den Mammon zusprechen mußte. Darf ich Ihnen also mein Beileid über Ihren augenblicklichen Verlust ausdrücken und einen persönlichen Wunsch hinzufügen?«
»Sie sind sehr gütig. Sprechen Sie!«
»Nun denn, was Ihr Herr Adoptivvater mit diesem seltsamen Testamente und noch seltsameren Kodizill eigentlich gewollt hat, ist mir in der Tat nicht recht klar – wenn er aber irgend einen geheimen Wunsch gehegt und auf Erfüllung desselben, die oft aus den Wolken fällt, gerechnet hat, dann mögen sich diese Wolken bald auftun. Das ist mein Wunsch!«
Der Meier blickte, bei diesen Worten leise zustimmend den Kopf bewegend, still vor sich hin, Bodo aber entgegnete:
»Ich danke Ihnen dafür und ebenso für Ihre zahlreichen Bemühungen –«
»O still, davon schweigen Sie, das hat Ihr Herr Vater schon reichlich getan, doch vergessen Sie nicht, heute über acht Tage sich Ihre Abschrift holen zu lassen. Was Ihr Geld betrifft, so steht es Ihnen jeden Augenblick zu Gebote, und wenn es Sie erfreuen kann, so füge ich hinzu, daß es doch etwas mehr beträgt, als das Testament besagt, denn ich habe die ganze vorjährige Ernte von Sellhausen und alle ihre Ersparnisse seit dem September vorigen Jahres im Kasten.«
Bodo lächelte schmerzlich bei der Mitteilung dieses Reichtums und verabschiedete sich dann von dem ehrlichen Sachwalter, der ihm wiederholt die Hand schüttelte und die Versicherungen seiner höchsten Achtung beifügte. Dann begaben sich die beiden Männer aus dem dumpfen Gerichtshause fort und gingen langsam nach dem Gasthofe, in welchem Bodo sein Pferd eingestellt hatte, der nicht derselbe war, den die Barone gewählt. Der Meier hatte seinen jungen Freund unter den Arm gefaßt, und während sie langsam ihren Weg verfolgten, sagte er mit seiner ganzen Herzlichkeit, dem eine natürliche Würde beigesellt war:
»Mein lieber junger Freund! Sie sind ein Mann, ein wirklicher Mann, und so brauche ich Ihnen keinen Mut einzusprechen, an dem es manchem in Ihrer Lage in diesem Augenblick gebrechen könnte. Davon abgesehen aber, weiß ich überhaupt nicht, ob ich Ihnen, wie der Advokat vorher, mein Bedauern über diesen Verlust aussprechen oder nicht vielmehr Glück wünschen soll, daß Sie die erste Bedingung des alten Herrn von Sellhausen streng von der Hand gewiesen haben. Sie sehen mich verwundert an – ja, aber ich bleibe dabei und wiederhole sogar meinen Glückwunsch. Doch – Sie werden denselben heute nicht verstehen, dafür künftig vielleicht um so besser. Warten Sie also ruhig die Zeit ab, denn die Geduld ist eine schöne Sache. Jene Herren triumphieren heute über die Maßen; so viel ich aber vermuten darf, wird dieser Triumph nicht lange dauern oder in der Folge ein viel geringerer sein, als er gegenwärtig ist. – Über das Hauptgeheimnis in Ihres Vaters Testament, welches Ihnen, ich sah und sehe es wohl, den härtesten Schlag versetzte, kann und darf ich Ihnen heute noch keinen Aufschluß geben – auch ich muß ja nach der Vorschrift acht Tage warten – dann aber wird hoffentlich keine Rücksicht mehr nötig sein, und Sie sollen aus Ihres Vaters Papieren und meinem Munde erfahren, was zu wissen Ihnen notwendig ist. – Was den heutigen Tag betrifft, den Sie gewiß in keiner Beziehung angenehm verbringen werden, so begleitete ich Sie am liebsten nach Hause oder nähme Sie mit zu mir, um Ihre schwarzen Gedanken ein wenig aufzulichten, aber das geht leider nicht. Ich muß einen überaus wichtigen Besuch machen, und der führt mich abseits von Ihrem und meinem Wege. Besteigen Sie also ruhig Ihr Pferd, reiten Sie, mit sich selbst zu Rate gehend, nach Hause, und nehmen Sie von mir die Überzeugung mit hinweg, daß Sie, wenn auch für den Augenblick um ein Landgut ärmer, doch für ewige Zeiten um einen Freund reicher geworden sind, der, obgleich nur ein Bauer, doch so viel Herz und Charakter besitzt, daß er einen Mann von Herz und Charakter wahrhaft zu schätzen weiß. Was morgen geschieht, weiß ich noch nicht, jedenfalls erhalten Sie irgend eine Nachricht von mir, die uns über kurz oder lang zusammenführt. Jetzt aber leben Sie wohl!«
Bodo hatte dem Meier gegenüber noch viel auf dem Herzen, aber in diesem Augenblick vermochte er ihm nichts mehr zu sagen. Er drückte ihm daher nur warm die Hand und verließ ihn, um ohne eine Minute Aufenthalt sein Pferd satteln zu lassen und nach Hause zu reiten, denn wie er mit sich selbst viel zu denken, zu überlegen, zu überwinden hatte, so wußte er, daß ihn auch in Sellhausen reichliche Arbeit erwartete, da ihm nur kurze Zeit zugemessen war, seine Vorbereitungen zu treffen, um ein Haus zu verlassen, das er im Herzen glücklicherweise noch keine Minute für sein vollkommenes Eigentum gehalten hatte.