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Als der Legationsrat in dieser Nacht sein Zimmer erreichte, wurde er sogleich auf die angenehmste Weise überrascht. Seine Studierlampe stand auf dem Schreibtisch und brannte hell, als habe sie ihn schon lange erwartet und bestrebe sich, es ihm so behaglich wie möglich in dem heimischen Raume zu machen. Außerdem duftete das ganze Zimmer von frischen Blumen, und als Bodo sich umblickte, sah er an verschiedenen Stellen ebenso schöne Buketts prangen, wie er heute eins mit nach der Grotenburg genommen hatte.
Es ist wunderbar, eine wie tiefgreifende Wirkung solche kleine Beweise zärtlicher Aufmerksamkeit in manchen Lebensmomenten auf uns auszuüben vermögen, und auch Bodo wurde dadurch sogleich wohltätig ergriffen und warm bewegt, so daß eine sanftere Stimmung sich seiner bemächtigte und es ihm schien, als sei die tiefe Kluft, die zwischen dem letzten Male, wo er dies Zimmer betrat, und dem jetzigen Augenblick lag, völlig ausgefüllt, als habe eine mächtige Hand die bittere Vergangenheit rasch aus seiner Erinnerung verwischt und eine Gegenwart heraufgeführt, die mit den Ränken und Listen der Welt nichts mehr zu schaffen habe und von dem Moment an, wo sie sichtbar und fühlbar vor ihn hintrete, ein ganz neues Leben beginnen zu lassen im stande sei.
Er nahm eins von den Blumenbuketts in die Hand, ließ sich auf das Sofa nieder, stützte den Kopf auf und dachte lange und tief über die so plötzliche wohltätige Veränderung in seinem Gemüte nach. Daß dasselbe aber wirklich bis in seine tiefsten Fugen beruhigt war, bewies die sanfte Müdigkeit, die sich allmählich seiner bemächtigte und der er endlich nachgab. Er entkleidete sich und legte sich zu Bett, wo ihn fast augenblicklich ein fester Schlaf überfiel und bis zum hellen Morgen ans Lager fesselte.
Kein Traum, kein halbes Erwachen, das die wüsten Szenen des letzten Abends in seine Erinnerung zurückrief, beunruhigte und peinigte ihn, er schlief ungestört bis zu dem Augenblick, wo er, wie geblendet, die Augen aufschlug und sah, daß ein neues Licht am Himmel heraufgestiegen sei und ein herrlicher Morgen die Schatten der Nacht ganz verdrängt habe.
Auch jetzt noch blieb ihm die Vergangenheit wie von einem Schleier verhüllt, er sah und empfand nur das Licht, die Freiheit des Tages, die Wonne der gekräftigten Natur nach tiefem, festem Schlummer, und diese süße Empfindung ist bei glücklich organisierten Menschen allein schon im stande, eine heitere Stimmung, das Vollgefühl persönlicher Kraft und regsamsten Geistes herbeizuführen und sie mit gläubigem Vertrauen in die Zukunft blicken zu lassen, selbst wenn dieselbe in der Ferne noch von undurchdringlichen Wolken und geheimnisvollen Dünsten verhüllt ist.
Bodo kleidete sich rasch an und bemerkte zu seinem Erstaunen dabei, daß es schon gleich acht Uhr sei, eine Stunde, zu welcher er, wie er sich jetzt plötzlich erinnerte, Fräulein Treuhold zu sich beschieden hatte, um ihr die Erlebnisse des vorigen Tages mitzuteilen.
Da erst, mit dieser Erinnerung, tauchte die letzte Vergangenheit mit ihren Schatten und unheilvollen Verwicklungen in ihm auf. Seine Stirn verdüsterte sich, sein Herz klopfte wieder, und eine trübe Wolke lagerte sich um seinen Geist, der soeben noch klar und heiter in die Ferne geschaut hatte.
Seine augenblickliche Stimmung sollte aber durch einen äußeren Vorgang sogleich noch tiefer getrübt werden. Er hatte nach dem Frühstück geschellt, und Rieke kam allsobald damit herein, als er eben am Fenster stand und einen sehnsüchtigen Blick über das im hellen Sonnenschein prangende Tal warf. Die sonst immer so freundliche Magd sah diesmal ihren Herrn nur mit einem kurzen scheuen Blick an und ließ nur in sehr gedämpfter Weise ihr: »Guten Morgen, Herr Legationsrat!« vernehmen.
Bodo wandte sich nach ihr um und glaubte in ihrem rasch wegzuckenden Gesichte Spuren frisch vergossener Tränen zu erblicken. »Warum weinst du?« fragte er mit ruhiger Teilnahme.
Das Mädchen nahm ihre weiße Schürze in die Höhe und fuhr damit vor die Augen, eine hörbare Antwort aber vermochte sie nicht zu geben.
Bodo war überrascht und sah die Magd scharf an, die ihm ihr Gesicht anhaltend zu entziehen trachtete. »So,« sagte er, »also du schweigst? Nun, dann geh hinunter und bitte in meinem Namen Fräulein Treuhold, in einer Viertelstunde zu mir heraufzukommen.«
Verwundert sah er der leise Schluchzenden nach und setzte sich dann zu seinem Kaffee nieder. Aber um wieviel mehr sollte er verwundert sein, als zu der bezeichneten Zeit Fräulein Treuhold nach leisem Klopfen bei ihm eintrat und er in ihrem gutmütigen, aber jetzt fast verzweifelt traurigen Gesicht ebenfalls Tränenspuren erblickte, die die alte Dame jedoch mit allem Aufgebot ihrer Kraft zu verbergen und nebenbei ein gezwungen freundliches Lächeln zu zeigen suchte.
Sie kam diesmal nicht lebhaft wie sonst auf ihn zu, hielt sich vielmehr in scheuer und ehrerbietiger Entfernung, verbeugte sich ungewöhnlich tief und sagte mit leiser, halb gebrochener Stimme: »Guten Morgen, Herr Legationsrat!«
»Aber was gibt es denn?« fuhr es lebhaft über Bodos Lippen. »Was geht denn vor, Treuhold, daß alles im Hause ächzt und stöhnt – und Sie – verhehlen Sie es nicht, Sie haben geweint.«
Dieser wenigen Worte bedurfte es nur, um den ganzen kaum bezwungenen Jammer in der Treuhold Herzen wieder lebendig zu machen und sie in ein Schluchzen ausbrechen zu lassen, das keine Macht der Erde jetzt mehr zu hemmen im stande war.
Jetzt schaute Bodo mit ernster Sorge auf. »Ich will wissen, was vorgeht, Treuhold,« sagte er fast streng; »lassen Sie mich nun nicht länger mehr in der Schwebe, ich habe lange genug auf eine vernünftige Antwort gewartet.«
Die Treuhold trat einen Schritt näher zu ihm heran, nahm das nasse Taschentuch von den Augen, sah ihn mit einem kummervollen Blick an und sagte seufzend, gleichsam mit innerster Selbstüberwindung: »Herr Legationsrat, ja, ich will sprechen – so viel ich kann – ich komme, um Ihnen – ach Gott! – um Ihnen meinen besten Glückwunsch abzustatten.«
»Ihren Glückwunsch?« rief Bodo, aufs äußerste betroffen. »Wozu denn? Reden Sie rasch, ich verstehe Sie nicht.«
Die Treuhold hob ihr tränengebadetes Gesicht mit schmerzlichem Lächeln zu ihm empor, streckte zitternd die rechte Hand nach ihm aus und rief mit herzzerreißender Stimme: »Zu Ihrer Verlobung – mit Fräulein von Grotenburg!«
»Wie?« rief Bodo fast erschrocken und trat einen Schritt von der nach ihm ausgestreckten Hand zurück. »Was sprechen Sie da? Was soll das heißen?«
»Was es besagt, Herr Legationsrat, denn – wir sind von allem unterrichtet.«
Den jungen Mann durchschüttelte es wie ein Fieberfrost. Er fühlte einen Stich von einer unsichtbaren Waffe mitten in sein Herz hinein, und sein lebenswarmes Gesicht bedeckte sich mit auffallender Blässe. Bald darauf aber hatte er sich gefaßt. Er ging auf die Treuhold zu, faßte fest ihren Arm, zog das alte Fräulein dicht an sich heran und sagte:
»So, Sie sind also von allem unterrichtet? Darf ich Sie bitten, mir zu sagen, wovon Sie unterrichtet sind und wer dies liebevolle Werk vollbracht hat?«
Die alte Dame konnte nicht mehr stehen, ihre Kräfte schienen sie zu verlassen, und sie ließ sich rasch auf das hinter ihr stehende Sofa nieder. Bodo aber saß schon neben ihr, zog ihr die Hand mit dem Tuch von den Augen und sagte mit ruhiger Stimme:
»Treuhold! Reden Sie. Quälen Sie mich nicht länger und sprechen Sie alles aus, was Sie auf dem Herzen haben.«
»Ja, ja, das will ich, teuerster Herr. Schon gestern, ehe Sie nach der Grotenburg ritten, wußten wir, daß Sie zu Ihrer Verlobung mit Fräulein Klotilde gingen.«
»So. Nun weiter. Doch wer hatte Ihnen das gesagt?«
»Herr Hinz, dem es der Pächter auf der Grotenburg vorgestern mitgeteilt.«
Über Bodos sprechende Züge flog ein eisiges Lächeln. Er glaubte nun das Folgende schon erraten zu können. »Weiter,« sagte er kurz, »rasch weiter!«
»Nun ja, das war freilich für uns keine freudige Überraschung, aber es war nichts dagegen zu machen, und wir trugen unser Leid im stillen.«
»Wer denn – wir?« unterbrach sie Bodo mit klopfendem Herzen.
Die Treuhold sah ihn wehmütig zum ersten Mal voll an und sagte: »Nun, die Trude und ich!«
»Gertrud? O – sprechen Sie rasch, rasch, liebe, gute Treuhold.«
Die Treuhold, bei diesen so liebevollen und mit warmem Tone gesprochenen Worten zusammenzuckend, raffte alle ihre Kraft auf und fuhr fort: »Da kamen Sie gestern gegen Mitternacht in einem seltsamen Aufzuge nach Hause und ich sah auf den ersten Blick, daß Ihnen etwas Wichtiges begegnet sei. Die Trude und ich, wir konnten vor Angst und Sorge nicht zu Bett gehen und blieben in unserm Jammer auf. Da, eine Stunde später als Sie, kam Herr Hinz von der Grotenburg zurück –«
Bodo sprang auf. Seine Ahnung war zur Gewißheit geworden, er wußte schon, was kam.
»Weiter!« drängte er mit hochatmender Brust.
»Er kam, ja, und suchte mich noch auf. Da hörten wir denn alles und sahen es – mit eigenen Augen – was wir bisher beide nicht für möglich gehalten –«
»Was sahen Sie? Rasch!«
»Die Verlobungskarte!«
»Ah!« stöhnte Bodo mit keuchendem Atem. »Sie sahen die Verlobungskarte? Wie war der Hinz dazu gekommen?«
»Ein Diener aus dem Pächterhause, der in der Grotenburg bei der Aufwartung geholfen, hatte sie dahin gebracht, sobald die Verlobung, wie er sagte, proklamiert war, und da sattelte Herr Hinz sein Pferd und ritt hierher, um uns noch in später Nacht von der bevorstehenden Änderung unserer Lage in Kenntnis zu setzen.«
»Treuhold!« rief Bodo, beide Hände der Alten ergreifend, »und Sie haben das für wahr gehalten?«
Die Alte starrte ihren lieben Herrn mit einem unsäglich verwunderungsvollen Blick an. Sie fand keine Worte, um ihre stürmisch auf- und abflutende Empfindung auszusprechen.
»Aber das ist ja eine abscheuliche Lüge,« rief er, »ich weiß ja von der Verlobung gar nichts!«
»Sie wissen nichts davon?« drang es aus dem Herzen der Treuhold hervor.
»Nein, Liebe, nein; das ist ein Bubenstreich – alles ist erlogen – ich denke ja gar nicht daran –«
»O mein Gott!« schrie die Treuhold und sank händeringend und doch von Wonne fast betäubt, in das Sofa zurück.
»Nein, nein!« bestätigte Bodo. »Aber fassen Sie sich. Ich sage Ihnen, es ist eine Lüge, und mir können Sie glauben. Doch Sie sagen, Hinz hat die Karte mitgebracht? Wo ist sie?«
»Unten, Gertrud hat sie und sitzt und brütet darüber, wie sie es an Tante Grete schreiben soll, was gestern auf der Grotenburg vorgefallen ist.«
Bodo sprang wieder auf, nachdem er sich eben erst an die Seite des Fräuleins gesetzt. »Still,« rief er, »kein Wort weiter – nachher will ich Ihnen alles haarklein erzählen – jetzt aber muß ich zu Gertrud, es ist die höchste Zeit – wo ist sie?«
»In ihrem Zimmer, bester Herr –«
»Wohlan denn, ich gehe zu ihr, Treuhold. Stören Sie mich nicht bei ihr, ich habe zuerst ernstlich mit ihr zu reden. Wenn ich fertig bin, werde ich Sie rufen und Ihnen beiden dann den ganzen Hergang berichten.«
»Also, Sie sind nicht verlobt?« schluchzte jetzt die Treuhold vor Freuden, und hielt ihn fest.
»Nein, nein, nein, und ich denke gar nicht daran, mich mit einer Grotenburg zu verloben. Aber, mein Gott, das ist ja eine neue Schandtat!«
Mit diesen Worten hatte er sich von den Händen der Treuhold frei gemacht und rasch das Zimmer verlassen. Wie er das alte Fräulein aber, das fast vor Glück und Seligkeit verging, in einer unbeschreiblichen Aufregung zurückließ, so war er selbst nicht viel weniger bewegt, denn schon der bloße Gedanke an die Szene, der er entgegenging, war hinreichend, ihn mit einer Wonne zu füllen, für deren Größe und Umfang die Welt um ihn her kaum Raum genug zu haben schien.
*
Der Legationsrat von Sellhausen hatte das kleine, neben der Wohnstube der Treuhold gelegene Zimmer, in welchem Gertrud wohnte, noch nicht betreten, so lange dieselbe zu den Bewohnern von Sellhausen zählte. Es war ein trauliches Stübchen mit einem Fenster, zierlich möbliert, mit Kupferstichen und vielen Konsolen geschmückt, auf denen Porzellanfiguren standen, die die verschiedenen Völkerschaften Europas in ihren Nationaltrachten darstellten. In der Mitte der Hauptwand sah man ein kleines Sofa und davor einen ovalen Tisch, den Gertrud an diesem Tage wie auch früher als Schreibtisch benutzte. Sie saß wenigstens daran, hatte Papier, Federn und Tinte vor sich, und daneben lag ein Exemplar der zu früh in die Welt getretenen Verlobungskarte, auf die sie unverwandt hinstarrte und deren Inhalt sie wenigstens schon hundertmal gelesen hatte, ohne ihn, wie es schien, nur einmal begreifen zu können.
Auch Gertrud hatte geweint, wiewohl mehr mit dem Herzen als mit den Augen; in letzteren glänzte nur noch ein feuchter Schimmer, der das schöne Blau derselben noch lichter und reiner hervortreten ließ, zugleich aber damit einen Schmerz abspiegelte, den man in einem schönen Frauenauge gesehen haben muß, um von ihm hingerissen, bewältigt, besiegt zu werden. Ihre Wangen waren bleich, viel bleicher als gewöhnlich, denn sie hatte in der vergangenen Nacht kein Auge geschlossen und nur etwa eine Stunde im Bett zugebracht, wozu sie die Treuhold endlich gezwungen. Der größte Sturm ihres Innern war vorüber, denn der erste Angriff war auch der mächtigste gewesen und hatte ihr Wesen so durchkältet, ihre Seele so tief zerrissen und erschöpft, daß kein ferneres Weh sich noch irgendwo hätte anklammern können. Augenblicklich war sie indes viel ruhiger geworden; sie hatte nachgedacht und glaubte gefunden zu haben, daß es ja eigentlich ganz natürlich sei, wenn Herr von Sellhausen Klotilde von Grotenburg heiratete, da beider Väter einig wären, und daß ersterer nur insofern zu beklagen sei, als sein Vater keine bessere Wahl für ihn getroffen. Ob das ihre ganze, richtige und einzige Überzeugung war, wollen wir dahin gestellt sein lassen, ihr Inneres aber hatte dadurch keine Befriedigung, keine Sänftigung erfahren, denn aus ihrem Herzen tröpfelte, wie das Blut aus einer frischen Wunde, das bittere Weh in warmen Zähren unaufhaltsam nieder, und der herbe Seelenschmerz, daß solch ein Leiden, nicht sie selbst betroffen, sondern überhaupt auf der Welt existieren könne, zog ihr Empfindungsvermögen so krampfhaft zusammen, daß sie glaubte, sie empfinde und fühle gar nichts mehr, oder als gäbe es nichts auf der Welt, für das ihr Herz nach altgewohnter Weise warm und voll schlagen könne.
Und nun sollte sie das Unglaubliche, durch und durch Empfundene, Bedachte mit kalten nackten Worten nach der Cluus berichten! Das war eine Aufgabe, vor der selbst ein so starker Geist, ein so sich selbst bezwingendes Herz, wie das ihrige, zurückschrak. Und doch sollte und mußte es geschehen; das war wichtig, nicht für Tante Grete allein, sondern auch für den Legationsrat, den sie dadurch noch immer vor größerem Unheil zu bewahren hoffte, denn auf der Tante Grete Kraft und Klugheit baute sie viel, mehr als auf die vereinigt Kraft und Klugheit aller übrigen Menschen. So sann sie denn hin und her, wie sie ihr Schreiben beginnen und was sie ihr zuerst sagen sollte. Zehnmal hatte sie die Feder schon angesetzt, aber immer noch stand erst die Überschrift da: »Meine liebe gute Tante Grete!«
Da, während sie sich in das Sofa zurücklehnte, mit den feinen weißen Händen über die schmerzende Stirn strich, zuckte sie in jähem Schreck zusammen. Sie hatte ein leises Klopfen an ihrer Tür vernommen, das ganz eigentümlich klang, denn so klopfte in ganz Sellhausen eigentlich nur eine Person und diese eine Person konnte doch jetzt nicht hier klopfen, da Fräulein Treuhold eben bei ihr oben im Zimmer war. Gleich darauf aber klopfte es noch einmal und etwas lauter, und, wie von einer unwillkürlichen inneren Gewalt dazu gedrängt, sagte sie rasch: »Herein!«
Ihr feines Ohr hatte sich nicht getäuscht, es war der Legationsrat, der mit ernster, gespannter Miene und ganz eigentümlich zaghaftem Blick in ihrem Zimmer erschien, sich flüchtig darin umschaute und dann gegen den kleinen Tisch vorschritt, hinter dem Gertrud, wie von höherer Hand gefesselt, sitzen geblieben war, obgleich sie sichtbare Anstrengungen machte, sich zu erheben und dem Herrn des Hauses entgegenzugehen.
»Fräulein Gertrud,« begann er, die Rechte, wie um sie auf ihren Platz zu bannen, gegen sie vorstreckend, »bitte, bleiben Sie sitzen – ich bitte sehr darum – und lassen Sie mir Verzeihung angedeihen, daß ich es wage, Sie in Ihrem kleinen Heiligtum aufzusuchen und Ihre Arbeit zu unterbrechen.« – Und indem er sein Auge hastig über den Tisch laufen ließ, den begonnenen Brief und die offen daliegende Verlobungskarte erblickte, die alles Unheil im Hause angerichtet, fuhr er schnell und mit eigentümlich bewegtem Tone redend fort: »Aber ich mußte Sie sprechen, auf der Stelle, ohne Aufschub, und die Umstände, die mich hierher treiben, rechtfertigen gewiß die Freiheit, die ich mir damit nehme.«
Gertrud hatte noch immer kein Wort zur Entgegnung gefunden, ihr Herz schlug zu mächtig, und das bewies nur zu deutlich das Wogen ihrer Brust, die unter der Fülle ihrer Empfindungen ihre Hüllen sprengen zu wollen schien. Der Legationsrat dagegen, ihre Miene ganz richtig deutend, trat näher zu ihr heran und, wie von der zagenden Gestalt auf dem Sofa unwiderstehlich angezogen, ließ er sich neben ihr nieder, blickte sie besänftigend an und sprach dann mit einem Tone in seiner Stimme weiter, den Gertrud noch nie von ihm vernommen hatte:
»Ich höre soeben von der Treuhold etwas Schreckliches, was ich kaum glauben konnte – leider aber bestätigt es sich hier, denn ich sehe Sie und das unheilvolle Blatt da, welches ein mir noch unerklärlicher Irrtum in dies Haus, in Ihre Hände geführt hat. Bitte, Fräulein Gertrud, sehen Sie mich an, schlagen Sie nicht Ihre Blicke grausam nieder, denn ich verdiene das nicht, und hören Sie mir aufmerksam zu. Doch ich will kurz sein, um Sie schnell aus Ihrem Irrtum zu reißen, der nicht Sie, sondern allein mich in bitterster Weise verwundet. So hören Sie denn. Ich bin gestern abend auf eine abscheuliche, heimtückische Weise hintergangen, betrogen und geäfft worden. Ein Mann, freilich nur in der Trunkenheit und im Wahn, ein für seine Familie ersprießliches Werk zu stiften, der Baron Haas, hat mir einen Streich gespielt, den ich, wäre er nicht ein alter Mann, auf angemessene Weise bestrafen würde. Aber die Menschen auf der Grotenburg und alle mit ihnen Verbündete sind mir zu – wie soll ich sagen – zu gewöhnlich, als daß ich ferner von ihren Handlungen Notiz nehmen sollte. Bitte – sehen Sie mich nicht so klagend mit ihren großen, in Tränen schwimmenden Augen an – Sie verursachen mir damit ein Weh, für das ich keinen Namen weiß, und ich möchte doch Sie und mich selbst so ganz – ganz glücklich, zufrieden und ruhig sehen. Doch so weit sind wir noch nicht. Erst müssen Sie zu mir sprechen, und damit Sie es leichter können, will ich Ihnen eine Frage vorlegen. Durch einen unglücklichen Zufall wahrscheinlich und des Verwalters Beihilfe, der offener gegen mich hätte zu Werke gehen können, haben Sie Kunde von einem Ereignis erhalten, welches gestern abend auf der Grotenburg vorgefallen sein soll. Antworten Sie mir jetzt ehrlich mit Ihrem Herzen und Ihrer Seele. Haben Sie an die Möglichkeit und Wahrheit dieses Ereignisses geglaubt?«
Gertrud wußte nicht, was sie erwidern sollte. Vor ihren Ohren sauste, vor ihren Augen flimmerte es und in ihrem Herzen bäumte sich eine Woge so wunderbaren, unsäglichen Gefühls auf, daß sie nur unter Tränen lächeln und mit der Spitze ihres rechten Zeigefingers auf die offen vor ihr liegende Verlobungskarte deuten konnte.
»Ich verstehe, was Sie meinen,« fuhr Bodo fort, »aber ich kann Ihnen nicht helfen, Sie müssen mir antworten, denn es muß klar werden zwischen uns, jetzt, diesen Augenblick, ein für allemal – und somit frage ich noch einmal: haben Sie an die Möglichkeit und Wahrheit dieses Ereignisses geglaubt?«
Gertrud atmete schwer, und ihre Blicke tief in die Augen ihres Nachbars senkend, sagte sie, auf das Blatt zeigend, mit halb erstickter Stimme: »Wo solche Beweise reden, würden die Engel im Himmel glauben, und wir sind nur Menschen, Herr von Sellhausen!«
»So. Ja, mein Gott! Sie haben leider recht. Aber Gertrud, verzeihen Sie mir, wenn ich mich kalt und schwach ausdrücke, allein ich verstehe es nicht, mit den Lippen auszusprechen, was mein ganzes Herz, meine Seele in stürmische Bewegung versetzt, –: so haben Sie mich also vorgestern nachmittag im Garten nicht verstanden?«
Sie sah ihn von neuem groß und mit von feuchtem Schimmer glänzenden Augen an, wollte etwas sagen, aber vermochte es nicht.
Er faßte ihre Hand, erst eine, dann auch die andere und hielt so unwiderstehlich fest, daß sie sich nicht mehr zurückziehen konnte und sich jetzt ganz nach ihm hinwenden mußte. »So haben Sie mich also vorgestern nicht verstanden?« fragte er noch einmal mit nachdrücklicherem Tone und tief in ihre Seele eindringendem Blick.
»Ich glaubte, Sie freilich halb und halb zu verstehen!« flüsterte sie mit langsam niedersinkendem Auge.
»Aber falsch, falsch haben Sie mich verstanden – ja, ich sehe, ich fühle es jetzt erst. Und das hat wahrscheinlich an mir allein gelegen, der ich in manchen Dingen, in denen andere Menschen schon in frühester Jugend sich als unübertreffliche Meister beweisen, nur noch ein Schüler bin. O, Gertrud, wie ist es möglich, daß Sie mich und meine Wünsche nicht früher verstanden oder richtig gedeutet haben, dann, dann wäre uns das nicht geschehen. Haben Sie denn nie geahnt, hat Ihnen keine innere Stimme es zugeflüstert, daß ich – o lassen Sie mich es sagen, das Schweigen nützt ja jetzt nichts mehr – daß ich Sie – so unbeschreiblich lieb hatte, daß ich Ihnen ergeben war mit ganzem, vollem, überströmendem Herzen, mit einem Herzen, das noch nie so einen Menschen lieb gehabt?«
Gertrud konnte unter dem festen Drucke seiner Hand sich kaum bewegen, auch ihre Lippen blieben wie gebunden, sie sprachen kein Wort, dafür aber ließ ihre hoch und tief atmende Brust um so deutlicher ihre Empfindungen erkennen.
»Sie sprechen nicht zu mir,« fuhr Bodo mit bewegterem Tone fort, »und ich erkläre mir das, nicht zu meinen Gunsten, aber auch nicht zu meinen Ungunsten – erinnern Sie sich aber wohl, daß ich vorgestern von einer Hoffnung, von einer süßen Hoffnung sprach? Ja? Nun wohl, diese Hoffnung bezog sich ja nicht auf eine Bewohnerin der Grotenburg, sondern auf ein anderes Weib, das hundertmal köstlicher und edler in meinen Augen ist, als jene in Prunk und falschem Schein erzogene Baroneß. Ach, Gertrud« – und er ließ eine ihrer Hände los, hielt aber die ihm zunächst liegende fest – »wie dieses wunderbare Gefühl in meine Brust eingezogen ist, wann die große geheimnisvolle Glocke zum ersten Mal den hellen Ton angeschlagen, ich weiß es nicht. Langsam, aber sicher ist es gekommen, hat mich ganz und gar gefangen genommen und so völlig beherrscht, daß ich keine Ahnung hatte, man könnte etwas anderes in mir vermuten, als das eine, was in mir alles war. So, nun bin ich für heute fertig. Weiter will ich, weiter darf ich Ihnen jetzt nichts mehr sagen, so viel aber mußte ich sagen, um fernere Täuschungen und Irrtümer zu vermeiden, von denen die arge Welt und die bösen Herzen der Menschen voll zu sein scheinen. Denn ich bin mit meinen Prüfungen noch nicht bis ans Ende gekommen. Noch steht mir ein wichtiger Tag bevor – der erste August, Sie wissen es – und erst wenn dieser vorüber, kann ich zu Ihnen treten und Ihnen sagen, was für Wünsche und Hoffnungen sich in meinem Herzen regen und bewegen. Haben Sie also Geduld bis morgen oder übermorgen? O, nur das eine sagen Sie mir!«
Gertruds Kopf sank auf ihre Brust, als besänne sie sich. Aber in ihrer Hand schien es zu zucken wie ein magnetisches Fluidum, das in Bodos Hand überging und sogar bis in seine innerste Seele drang. Er schaute plötzlich wie begeistert auf, und es war ihm, als ob ein blitzartiger Sonnenstrahl über Gertruds rosige Züge schlüpfte und sie wie mit einem verklärenden Schimmer übergösse.
»Ja, ja,« fuhr er innig fort, »ich verstehe Sie, wenn Sie auch nicht sprechen – aber sagen Sie mir, haben Sie mich diesmal richtig verstanden? O bitte, nur ein Wort.«
Gertruds Lippen bewegten sich leise, und endlich drangen die kaum nur gehauchten Worte hervor: »Wenn es möglich, wenn es denkbar, wenn es – ja, wenn es nur denkbar wäre –«
»O ja, ja, ja, es ist denkbar, es ist möglich – fahren Sie fort –«
»Dann glaube ich Sie verstanden zu haben.«
»O, wie dankbar bin ich Ihnen für dieses bessere Verständnis! Und haben Sie Vertrauen zu mir?«
Gertruds Auge suchte das seine, und beider Blicke schienen auf einen Augenblick ineinander zu verschmelzen. »Ja!« sagte sie laut und fest.
»So ist es gut,« rief Bodo erleichtert, »weiter will ich heute nichts! Und nun will ich das Siegel unter unser Vertrauen setzen,« fuhr er plötzlich wie elektrisiert fort. »Da – da liegt das unselige Papier – es soll doch noch zu etwas nütze sein!«
Er ergriff schnell das Blatt, eine Feder, tauchte sie in die Tinte und rasch einige Worte auf demselben ausstreichend und andere hinschreibend, ohne daß Gertrud sehen konnte, was er schrieb, faltete er das Blatt, sobald es trocken geworden, zusammen, zündete eine Kerze an, siegelte es zu, und drückte das Wappen seines Siegelringes darauf.
»So,« sagte er freudig, »nun ist es geschehen, und wenn die Welt auch noch keine Kunde davon hat, Gott hat sie, und er ist mir behilflich gewesen, das mir so schwere Geständnis nach meiner Weise abzulegen. Hier, Gertrud, haben Sie dieses Blatt, und Ihnen allein übergebe ich es. Für den Fall, daß Ihr Vertrauen zu mir wieder wanken sollte, öffnen Sie es, aber nur dann, es sei denn, daß Ihr Herz Sie auf irgend eine Weise dazu zwänge. Was Sie dann darin finden werden, das hat ein Mann, vielleicht unbewußt, gewollt, ersehnt, erstrebt von dem Augenblick an, wo er Sie in der Spinnstube Ihres väterlichen Hauses den Kindern mit den blonden Haaren Unterricht im Spinnen geben sah. So, nun sind wir fertig, und wir können wieder wie zwei alte Freunde ruhig miteinander sprechen. Was wir aber in diesem Augenblick verhandelt, bleibe ein Geheimnis zwischen uns – darum bitte ich. Niemand soll es erfahren, bis die Stunde geschlagen, wo ich ein völlig freier und unabhängiger Mann bin. Ihrem Vater hätte ich es heute schon gesagt, wenn er zu Hause geblieben wäre, das war mein Vorsatz, aber er ist auf der Cluus, und so nehme ich diesen Zufall für ein Zeichen, daß auch für ihn noch nicht die rechte Stunde gekommen ist. Sind wir jetzt in allen Dingen einverstanden?«
Gertruds rosiges Antlitz vergoldete ein Lächeln, wie Bodo es noch nie darauf gesehen. Ihre weiße Hand streckte sich gegen seine hingehaltene Rechte aus, sie faßte sie fest und sagte dabei: »Ja! Wir sind einverstanden!«
Bodo schlug beide Hände zusammen, hob sie gefaltet empor und rief: »Gott sei Dank! Jetzt erst ist der Kelch ganz getrunken, und obgleich er mir anfangs bitter geschmeckt, so war doch alle Süße und Lieblichkeit auf seinen Boden gefallen – und etwas Ähnliches haben Sie mir ja vorhergesagt. – Doch jetzt kommen Sie. Ich glaube, die Treuhold ist soeben in ihr Zimmer getreten, und nun will ich Ihnen und ihr alles erzählen, was mir gestern begegnet ist. Jetzt kann ich es mit leichtem Herzen!«
Sie traten beide in der Treuhold Zimmer ein, die schon darin saß und die beiden jungen Leute mit einer fieberhaften Spannung erwartete. Sobald sie sie sah und ihre geröteten Wangen wahrnahm, rief sie laut: »Ah, du weißt es jetzt, Trude, ich sehe es. Na, was sagst du zu dieser Abscheulichkeit?«
Gertrud, Wonne im Auge, im Herzen tragend und fast überfließend vor namenloser Seligkeit, bemühte sich mit allen Kräften, keinem Auge eines anderen Menschen ihr süßes Geheimnis zu verraten, und so sagte sie erst nach einer Weile: »Liebe, gute Tante, was ich dazu sage? Ach, laß mich darüber schweigen. Ich bin jetzt nicht im stande, irgend einen Menschen zu verurteilen.«
»Aber ich!« rief die Treuhold mit erbitterter Miene. In diesem Augenblick trat jedoch Herr Hinz mit zaghaftem Wesen in das Zimmer, und als er seinen Herrn sah, ging er auf ihn zu, und ihm die Hand reichend, sagte er:
»Herr von Sellhausen, ich bitte um Verzeihung. Fräulein Treuhold hat mir schon gesagt, daß ich mit meinem Irrtum, an dem ich selbst keine Schuld trage, ein großes Unheil angerichtet.«
»Beinahe, lieber Hinz,« erwiderte der Legationsrat mit gepreßter Stimme. »Wenn Sie noch einmal ein so bedeutungsvolles Gerücht über mich hören, so teilen Sie es zuerst mir offen und ehrlich mit, dann brauche ich nicht wieder einen hutlosen Ritt durch die kühle Nachtluft zu machen. Doch dergleichen werden Sie nicht mehr zu hören bekommen.«
Während dieser Worte war Gertrud aus dem Zimmer geschlüpft. Sie mußte allein sein, um sich in ihrer Seligkeit zurechtzufinden, und erst nach geraumer Zeit kam sie wieder herein, und nun erzählte der Legationsrat der kleinen Versammlung, was ihm am gestrigen Tage auf der Grotenburg begegnet war.
*
Der für die Bewohner von Sellhausen so unruhig begonnene Tag ging nach den soeben erzählten Begebenheiten fast allen Beteiligten auf eine mehr oder minder angenehme Weise vorüber, nur schien es ihnen, als ob er Flügel habe, denn der Abend war herangekommen, ohne daß man merkte, wie es geschehen war, und die im traulichen Gespräch herbeigeführte Wiederholung der auf der Grotenburg vorgefallenen Ereignisse nahm so sehr alle Gemüter in Anspruch, daß fast keinem viel Zeit zum ruhigen Bedenken seiner eigenen Lage übrig blieb. Und doch blieb dieses Nachdenken bei keinem von ihnen ganz aus.
Für Fräulein Treuhold zunächst war die erste und Hauptsache aus der Welt geschafft. Sellhausen bekam keine ihr mißliebige Gebieterin, ihr lieber Herr vor der Hand keine »hochnasige« Frau, wie sie sich ausdrückte, sie selbst konnte also auf dem Gute bleiben und die Wirtschaft leiten, wie sie es zwanzig Jahre lang getan, was ihr durch die Gewohnheit fast zu einer Lebensbedingung geworden war. Von der Angst vor diesem Aufhören ihrer Existenz, die durch die Besitzergreifung der Zügel seitens der Grotenburgschen Familie unmöglich geworden wäre, war sie also befreit, dagegen lebte nun mit einem Male von neuem eine alte Sorge in ihr auf, und die war kaum von einer minderen Bedeutung, ja vielleicht noch von einer viel größeren als jene.
Und so faßte es die alte Dame auch in ihrem Herzen auf. Der 30. Juli war ihr nur mit einem kurzen Sturm, einem schnell verrauschenden Gewitter vorübergezogen, es hatte geblitzt und gedonnert, sogar auch eingeschlagen, aber der Blitzstrahl hatte nicht gezündet und der gefürchtete Brand sich in eitel Rauch aufgelöst. Der gleich darauf folgende erste August aber zog in ihrem Geiste, mit einem Erdbeben schwanger herauf, denn wenn der alte Herr von Sellhausen, von dem Drängen und der List der Grotenburgs in die Enge getrieben, aus seiner ihr einst ziemlich klar enthüllten Drohung Ernst gemacht und seinen Sohn enterbt hatte, falls er nicht die Tochter seines Schwagers zur Frau nähme, dann war die bisherige Existenz auf dem schönen Gute doch vernichtet, dann waren sie beide hof- und heimatslos – und dieser furchtbare Gedanke, wie auf Flügeln des Sturmes herangeweht, überfiel das Herz des armen geängstigten Fräuleins mit einer unsäglichen Allgewalt und drückte es mit seiner entsetzlichen Wucht fast zu Boden.
Um diesen Gedanken so viel wie möglich los zu werden, sich zu zerstreuen und aus anderer Leute Ruhe und Fassung neue Hoffnung zu schöpfen, blieb sie den ganzen Tag möglichst wenig allein, behielt Gertrud stets bei sich und trachtete eifrig danach, auch ihren Herrn an sich zu fesseln, was ihr auch mittels ihrer Nichte vortrefflich gelang, obgleich sie von der eigentlichen Ursache seiner geselligen Stimmung nicht die geringste Ahnung hatte.
Viel weniger als sie, dachten die jungen Leute an diesem so sonnigen Tage schon an den nächstfolgenden Morgen. Am wenigsten Gertrud, und das war eine sehr natürliche und leicht zu deutende Sache. In dem Herzen dieses braven jungen Mädchens war plötzlich, nach einer gramdurchwühlten Nacht, ein ganz neuer Lebensfrühling aufgegangen, sie war mit allen ihren Gedanken und Empfindungen in eine ganz neue Lebensbahn getreten. Das natürliche Recht, die Pflicht, die Bestimmung des Weibes auf Erden war ihr mit einem Male zum Bewußtsein gelangt, und ein solches erregt in dem wahren Weibesherzen eine so gewaltige Revolution, wie selten eine andere in seinem Leben. In diesem nun so plötzlich erwachten Bewußtsein konzentrierte sich alles bei ihr; ihr Blick, sowohl ihres Auges, wie ihres Herzens und Geistes, ruhte nur auf einem Punkt, ihr Pulsschlag ward nur durch ein einziges Triebrad in Bewegung gesetzt, ihre Hoffnung, alle ihre Wünsche strebten, drängten nur nach einem Ziele, und für dieses allein also dachte, fühlte, lebte sie, um dieses eine herum tummelten sich alle ihre Gedanken, dahin allein arbeiteten ihre Kräfte – und wer wollte ihr das verdenken oder gar verargen? Denn was gibt es für ein junges, warmschlagendes Herz Süßeres, Größeres, Wichtigeres, als für das Wohl des einen zu zittern, zu bangen, zu sorgen, der ihr für ihre ganze fernere Laufbahn alles in allem werden soll? –
Ganz anders und doch auf ähnliche Weise, nur vom Standpunkt des Mannes aus betrachtet, verhielt es sich mit Bodo. Er dachte allerdings auch an das süße Glück des Augenblicks, allein sein Geist drang auch vorsichtig in weitere Ferne, und er durchbrach mit scharfem Auge die Schleier der Gegenwart, indem er in der Zukunft erst das wahre Heil suchte, welches Gertrud schon in der jetzigen Stunde gefunden zu haben glaubte. Keinen Augenblick verhehlte er sich, daß er erst am Eingange des Tempels der Ruhe und des Friedens stehe, daß er noch einen schweren Gang zu wandeln und wahrscheinlich einen neuen Kampf zu bestehen haben werde, ehe er in das heilige Innere desselben gelangen könne, und zu dieser Einsicht oder auch nur Besorgnis, wie man es nehmen will, hatte ihn eigentlich der schwatzhafte Baron Haas gebracht, der ihm, wie noch nie zuvor, mit nackten Worten angedeutet, was ihm der erste August bringen würde, wenn er sich nicht vor aller Welt bis dahin dem Willen seines Vaters gefügt habe.
Trotzdem er aber die Möglichkeit der Erfüllung dieser Drohung nicht aus den Augen verlor, so hatte doch das berauschende Glück der Gegenwart so viel über ihn vermocht, daß er sich vorläufig keiner übermäßigen Besorgnis hingab, und so genoß er noch mit hastigen Zügen dieses Glück selbst, um so fester überzeugt, daß er, wenn der Sturm wirklich über ihn hereinbrechen sollte, den er voraussah, als Mann ihn erwarten, sich aber nicht vor ihm beugen und zusammenknicken werde, wie das schwache Rohr, das ohne Halt und innere Kraft dem ersten Andringen des dahinsausenden Luftstromes erliegt.
So haben wir denn den Gemütszustand dieser drei Personen am Vorabend des wichtigen Tages zergliedert und wollen nun abwarten, was dieser Tag selbst bringen und ob die Ruhe und Fassung unseres Helden sich in dem Sturme bewähren wird, der nun wirklich über ihn, wie längst vorausgesehen, hereinbrechen sollte.