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An der Mittagstafel im Kurhause zu...

. So eine Mittagstafel ( table d'hôte) in einem Bade hat wirklich ihre »zwei Seiten«. Nicht bloß links und rechts von oben herunter, wie jeder andere biedere Tisch, nein auch darin, daß es Leute gibt, die sich ihre Freiheit nicht nehmen lassen, essen wollen, was und wenn es ihnen beliebt, und sich auch auswählen wollen, neben wem sie sitzen möchten. So zur Stunde da sein, um das »kurgemäße Menu« hinabzustürzen, bewacht von dem Argusauge des Kurarztes und vielleicht neben einen Menschen gesetzt, der kaum die Anfangsgründe und Fingerübungen »standesgemäßen« Essens studiert hat – das ist ihnen peinlich. Aber ein anderer denkt: »Es ist doch mühselig, sich sein Essen zusammenzustoppeln aus, wer weiß was, für Ueberbleibseln des großen Tisches; allein ist man ja doch zumeist ohne die Frau in einem Badeorte, warum noch die Menschen fliehen, die doch alle gleich hungrig und unterhaltungsbedürftig sind wie du? Ißt es sich doch wirklich besser zu mehreren als allein und die Mahlzeit ist von alters her der Sammelpunkt des Hauses gewesen. Hält Essen Leib und Seele, so hält es auch die Menschen zusammen; ein allein essender Mensch hat immer etwas Bedenkliches an sich!« – Mit dem letzteren hielt ich es, und als der Kellner so ewig lang läutete, erhob ich mich auch aus der Isolierung in die Allgemeinheit des Seins, zum Tisch. Es ist angenehm, wenn man nicht zu spät kommt und »nachreiten« muß, von den andern, die auf den folgenden Gang warten, derweilen gemustert und geprüft. So fand ich denn unter der umsichtigen Leitung des »Herrn Oberkellners« bald meine Nummer. Denn Nummer ist man ja bloß an solchem Orte. Wie oft hört man Kellner: »Nummer 24 kommt nicht« oder »ist ausgegangen«! Wer kann auch die Namen alle behalten! Ich verbeugte mich; für meinen Gruß dankten die einen, die andern nicht, und man konnte also gleich die Menschheit »sortieren«. Ich hatte es glücklich getroffen; mein Nebenmann war aus Amerika und trug den bezeichnenden Kinnbart, der Mund und Wange völlig frei läßt. Schon nach der Suppe waren wir im Gespräch. »Gespräch!« wer will dich schildern in deinem bewegten Strom und Lauf! Die Brücke von einem Gedanken zum andern ist oftmals so dünn wie eine Spinnwebe, und wenn man sich hinterher fragt: ja wie sind wir denn nun gerade auch daraus gekommen? so eilt man rückwärts und rückwärts, und schließlich findet man doch sich nicht mehr durch. So war's auch bei meinem Nachbar zur Rechten, den die Nachbarin zur Linken, die schon länger im Badeorte weilte, schon öfters mußte angezapft haben. Ich fiel in eine »Fortsetzung folgt«, denn wir waren plötzlich im Junggesellenlande, und doch war noch nicht einmal der versprochene »Saftbraten mit Heringssauce« da, den man jedenfalls zu einem solchen Gespräch haben muß. Mein Nachbar, der verheiratet war und sechs Kinder hatte, erzählt mit innigem Behagen, wie vor vielen Jahren »bei ihnen drüben« ein Junggeselle, und zwar ein Geiziger noch dazu – so recht hübsch hereingefallen sei. Also: Es lebte vor vielen Jahren in den Vereinigten Staaten – meinethalben in Pennsylvanien – kein junger, aber immerhin noch begehrenswerter Herr, hoch in den Vierzigern, in einem eleganten Hause. Es fehlte ihm nichts als eine Frau; aber die hatte er aus Habsucht und Sorgen nicht geheiratet, weil er dachte, er müsse dann mit seinem Gelde herausrücken. Da er »unverschämt gesund« war, wie meine verehrte Freundin von sich sagt, so spitzte er sich auf viele Jahre und hätte höchstens eine reiche Frau geheiratet, die ihm dann nach ihrem Ableben im Ehekontrakt ihr ganzes Vermögen zugeschrieben hätte. Aber solche Vögel waren selten, und auch diese seltenen flogen immer wo anders hin. Er hatte dafür eine Haushälterin aus Virginia, tapfer und wohlgemut, jünger als er, die vortrefflich kochte, alles blink und blank in Küche und Zimmer hielt, wie das eine rechtschaffene Virginierin tut. Sie hatte guten Lohn, und es fehlte ihr auch nichts als ein Mann, aber den bekam sie nicht, weil sie zu arm war. Und doch wäre sie so gern Frau und Herrin geworden, und bei ihrem heitern und tapferen Sinn wäre ihr das zu wünschen gewesen. Da kam sie eines Tages zu ihrem Herrn, sehr erregt, und bat ihn um ihren Lohn für drei Monate voraus: »Warum wollen Sie ihn haben?« Sie stockte – endlich sagte sie: »Ja – eben las ich in der Zeitung, daß man einen großen Gewinn machen kann. Es ist eine Geldlotterie in Boston, und denken Sie: das große Los gewinnt 500000 Dollars. Heute Nacht hat mir dreimal nacheinander die Zahl 7846 geträumt, immer wieder und wieder geht sie mir nach. Da will ich's drauf wagen, aber das Los kostet hundert Dollars, und so viel habe ich nicht zusammen. Darum bitte ich um das Fehlende. »So – also – wie war die Nummer,« sagte in langgezogenem Ton der besagte Junggeselle. »7846, mein Herr, und nicht anders, die muß gewinnen.« Er gab das Geld und die Haushälterin verschwand. Mehr, denn er sonst gewöhnt, ging er seitdem abends aus auf etliche Stunden in ein benachbartes Café. Nach einigen Monaten ließ er an einem Tage feierlich die Virginierin rufen. Sie erschien. – »Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen,« sagte er langsam. Sie horchte auf. »Ich bin des Alleinseins müde; Sie kennen seit Jahren meine Gewohnheiten, ich bin an Sie und Sie sind an mich gewöhnt, warum sollten wir nicht unsere Jahre zusammenlegen, da kommt doch immer noch ein hübsches Sümmchen heraus. Wir können uns das Leben hübsch einrichten.« »Aber Master Brown,« sagte die verblüffte Virginierin – »Sie wissen doch, daß ich arm bin, wie eine Kirchenmaus.« – »Das tut nichts zur Sache – Armut schändet nicht, wenn man ein so gutes weiches Herz hat wie Miß Hebsiba.« Das hatte sie ihm wirklich nicht zugetraut, solchen Edelmut, und sie geriet auch in einige edeldenkende, anerkennende Redewendungen. »Ist es Ihnen recht, so gehen wir bald zu dem Notar und machen die Sache fertig,« sagte er. Sie zog sich an, und die beiden gingen zur Verwunderung der Straße Arm in Arm, unbekümmert um die Verlobungsreden, die ungeheißen die Nachbarn hielten. Unterwegs machte er ihr plausibel, daß sie doch einen Ehekontrakt machen wollten, wonach eins dem anderen sein Vermögen bedingungslos vermachen sollte, der überlebende Teil sollte den andern ganz beerben. Die Virginierin wollte Einwendungen machen und bemerkte edelmütig, daß er dabei zu kurz komme, da sie ja nichts habe – aber er ließ das nicht gelten. So unterschrieben sie denn den Kontrakt, die Ehe wurde geschlossen, die Hochzeit gehalten, wozu der Junggeselle sich »hochanständig« aufgerafft hatte (mit heutigem Spruch zu sagen, als ob's überhaupt etwas Anständigeres gäbe als was Anständiges). – Am Tage nachher, so nach dem Mittagessen, sagte der ehrenwerte Master: »Hebsiba, ich habe dir etwas zu sagen.« Und sie horchte wieder hoch auf – denn sie dachte eigentlich, daß er jetzt als braver Ehemann eigentlich nichts mehr zu sagen hätte. »Nun was, Mr. Brown?« (denn sie konnte sich so schnell noch nicht in den gleichberechtigten Ehestand finden). »Du bist ein Glückskind, denke – dein Los hat gewonnen, und zwar den großen Gewinn – 500000 Dollars! Nein, du bist nicht mehr die arme Hebsiba – du bist meine reiche goldene Frau.« Starr und bleich vor Schrecken stand Hebsiba da, keines Wortes fähig. »Nun, was sagst du, mein Goldengel? Freut es dich nicht, reut es dich etwa, daß du mich zum Erben eingesetzt?« – Immer noch blickte die Virginierin stumm vor sich hin. »Nun, so sprich doch? Nicht wahr, die Freude macht dich stumm?« – »Ach, Mr. Brown – ach, arme Hebsiba!« – »Nun was denn?« »Ach, – denken Sie, ich habe ja gar nicht das Los gekauft! Als ich die hundert Dollars hatte, da reute mich das schöne Geld, es so zu wagen, und habe es auf die Sparkasse getragen!« – Nun war das Entsetzen an ihm. Keines Wortes war er fähig. »Ich habe es Ihnen ja gleich gesagt,« weinte Hebsiba, »daß ich arm bin wie eine Kirchenmaus – ich wollte ja nichts vermachen, weil ich nichts habe. Ich will aus dem Hause gehen, arm wie ich bin und Ihnen keine Mühe machen. Ich werde es auch niemand sagen, wie es gekommen. Lassen Sie mich gehen.« – Er ging stumm erregt auf und ab und danach in seine Stube. Sie packte derweilen ihre paar Habseligkeiten, legte das Brautkleid zurecht und alles, was er ihr sonst geschenkt, den Ring und den Schmuck – als sein Eigentum. Etliche Stunden vergingen. Dann trat er heraus, mild und freundlich, ein veränderter Mann. Er sah die Kleider und was sie zurecht gelegt, so eigen an. »Hebsiba – ich habe dir etwas zu sagen,« sprach er mit weicher Stimme. »Ich habe an dir sehr unrecht getan, und du mußt vergeben. Wir sind von Gott und Rechts wegen getraute Eheleute, und dabei bleibt's. Gott hat mich gestraft – ach, nein, ich will sagen: auch belohnt für meine Habsucht – denn ich habe nun gefunden, daß ich ein armer Mann bin, aber daß du ein reiches Herz hast. Nein, wir wollen zusammenhalten, und wenn du stirbst, so vermachst du mir deine Liebe, und wenn ich sterbe, vermache ich dir mein Geld« – und damit küßte er sie und trug ihr Brautkleid selbst in den neuen Schrank und steckte ihr den Ring wieder an die Hand. – Und die zwei sind die glücklichsten Leute gewesen in ganz Pennsylvania und haben viel Gutes getan. Er starb vor ihr, und sie hatte ihn rührend gepflegt: »O Hebsiba,« sagte er, »wenn ich dich nicht gehabt und du nicht das große Los geträumt, wie ginge es mir! Ich – ich habe das große Los gewonnen.« Kinder hatten sie nicht, so blieb ihr das Erbe, das sie durch ihren Fleiß gemehrt. Als sie starb, vermachte sie das ganze Vermögen dem Kirchenspiel, in welchem sie einst getraut worden, zur Ausstattung von braven verlobten Mädchen aus Virginia, »die Gott fürchten, arm sind und Edelmut haben,« wie es in ihrem Testament heißt. – Wäre ich nun nicht an die table d'hôte gegangen, sondern hätte so allein und »einsecht«, wie die Pfälzer sagen, diniert, so hätte es mir erstens nicht geschmeckt, und zweitens hätte ich diese erbauliche Geschichte nicht gehört.


Lehmann & Bernhard, Hofbuchdrucker, Schönberg i. Mecklb.

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