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Ein Sommernachtstraum.

. Schon einmal ist mir's begegnet, daß ich eingeschlossen wurde. Ich meine nicht jene stillen Einschließungen und Gefängnisse aus der Jugendzeit, in irgend einem abgelegenen Winkel des Hauses zur Selbstbetrachtung und Selbstbesinnung – sondern jene Nacht, die ich im Pfandhause zubrachte, wo eine Menge Pfandstücke ihre Lebensgeschichte erzählten, wie sie aus den Palästen der Reichen und den Hütten der Armen ihren Weg heraufgefunden unter den Hammer des Auktionators.

Wiederum ist mir's begegnet nach dem Abend eines Tea-meeting im Architektenhause zu Berlin. Tea-meeting – eine englische Sitte, die auch bei uns Eingang gefunden. Sie ist aus dem Bedürfnisse entstanden, die Geberinnen und Geber für irgend ein Werk der Barmherzigkeit, deren Namen nur kalt nebeneinander in der Beitragsliste stehen, persönlich einander nahe zu bringen, und durch frisches lebendiges Wort auch Fernerstehende zu interessieren; und so laden etwa dreißig bis vierzig Damen ihren Bekannten- und Freundeskreis zum Tee des Abends in einem öffentlichen Lokale ein. Jede Dame übernimmt einen Tisch als Wirtin, sammelt zwanzig bis dreißig Personen, bringt ihre eigenen Geräte und Bedienung mit, so daß man den völligen Eindruck eines häuslichen Teeabends hat, – nur zugleich mit vielen anderen. Die verschiedenen Tische besuchen sich, gemeinsame Lieder ertönen, Ansprachen über den Zweck des Werkes, über Wohltätigkeit im allgemeinen werden gehalten, und dazwischen geht freie ungezwungene Unterhaltung. Das ist das Bild eines solchen Teeabends, zu dem auch ich geladen war.

Die Versammlung war zu Ende, die Teekessel und Teetassen verschwanden samt den Kassierern, die am Ausgange der Türen eine reiche Ernte gehalten, als ich, zurückbleibend, ermüdet auf einem der Sessel einschlief. In meinen Schlaf woben sich die Eindrücke des Abends, ich hörte so manche Rede wiederklingen, und auch manches Wort tauchte auf, was an diesem Abend unausgesprochen geblieben. Plötzlich begann sich der Saal wieder zu beleben. Ich hörte um mich ein Geräusch von Stimmen, ein Klappern der Tassen, Summen und Singen der Teekessel. Es war ein Helldunkel im Saale, denn der Mond fiel voll herein und beleuchtete magisch die Gestalten von Männern, Frauen und Mädchen, die zum Rednerpult drängten und sich zum Wort meldeten. Sie wollten alle die Rede halten, die ihnen während des Tea-meeting, wie die Bläschen in den Teekesseln, im Grunde ihres Herzens aufgestiegen war. Alle machten den Eindruck, als ob noch vieles nicht gesagt worden, oder bester hätte gesagt werden können, und viele Themata nicht berührt, die gewiß das Herz gerührt hätten.

»Solch eine schöne Gelegenheit, einen Riesenbasar von Gedankenablegern, fremden und eigenen, über das Geben, ein Monstrekonzert von Empfindungen über Wohltätigkeit, von den zartesten Flötentönen bis zu dem gewaltigsten Posaunenstoße zu etablieren, sollte man nicht vorübergehen lasten,« meinte in meiner Nähe ein junger Mann mit etwas unternehmendem Äußern.

Alle Redner hatten Notizbücher und Klassiker unter den Armen, mit denen sie ihre Rede belegen wollten. Der Präsident hatte alle Mühe, diese Geister in Zucht und Ordnung zu halten. Endlich stellte er die Ruhe durch eine mächtige, geisterhaft klingende Glocke her und begann selbst die Einleitungsrede.

»Hochgeehrte Versammlung!

Wer unter ihnen kennt nicht jenes Lied:

Die Zeit des Mitleids und der Güte
Das ist die stille, kühle Nacht,
Wenn über der versengten Blüte
Mit seinem Tau der Himmel wacht –

Und war dein Herz am heißen Tage
Auch mit den Brüdern wild und rauh,
So kühlt es dir zu milder Klage
Die Nacht mit ihrem Tränentau –

Ja, die Nacht ist nicht stumm, sie ist nur still; sie ist schweigsam und doch beredt. Der Tag gehört der Zukunft, die Nacht der Vergangenheit. Die Freuden des Tages sinken wie die bunten Falter am Abend leblos in den Kelch der Nacht; die Schmerzen aber des Tages sind wie die Rauchsäulen: des Nachts steigen sie brennend und glühend als Feuerflammen zum Himmel empor. Was wir den Tag über verscheucht, in der Nacht kommt es unangemeldet wieder und tritt ins innerste Kabinett.

Wir reden von Wohltätigkeit, von Jammer und Unglück. Welche Zeit ist besser dazu als die Nacht? Ist nicht die Nacht der milde Schleier, den der Himmel über die deckt, die sein Sonnenstrahl am Tage versengt hat? Wohl wagt sich in der Nacht auch die Bosheit heraus, die wie Seeungeheuer des Nachts an die Oberfläche des Meeres tauchen; aber auch die stillen Blumen, die den Glanz und das Geräusch des Tages scheuen, öffnen dem Mondlichte den Kelch. So tut die Lotosblume am Ganges und die Viktoria regia, die Königin der Nacht. Manch guter Gedanke, den die Nacht still empfangen, wird am Tage ans Licht geboren, und es fragt sich, ob unsere besten Gedanken nicht Nachtgedanken sind. Würde die Nachtigall so heißen, wenn sie nicht gerade in der Nacht ihr seelenvolles Lied sänge? Rede darum unter uns, wem die Rede gegeben, und singe, wem das Herz besaitet ist!«

Der Redner schloß. »Das sind wohl Nachtgedanken von Young, die er hier vorgetragen hat,« sagte still für sich ein junges Mädchen mit durchsichtigen Zügen, denen man die schlaflosen Nächte nur zu deutlich anmerkte. »Ich hörte sonst wohl sagen: die Nacht sei niemandes Freund. Aber hier ist man wohl anderer Ansicht. Ich bin begierig, ob ich einen guten Nachtgedanken aus dieser Gesellschaft nach Hause bringe. Ich hörte einmal, daß man im Dunkel manches sieht, was uns der Glanz des Tages verbirgt; daß die Bergleute in der dunklen Tiefe ihres Schachtes die Sterne am lichten Tage flimmern sehen, die uns der Schein des Tages verbirgt. Vielleicht geht auch mir ein Stern in diesem Dunkel auf!«

Eine Gestalt im Witwenschleier trat zur Rednerbühne. Ihr gab der Präsident das erste Wort. Ihre Stimme klang wunderbar melodisch. Es lag hinter ihr eine ganze Welt, sie drang durch, wie eine einzige seelenvolle Violine aus einem ganzen mitspielenden Orchester herausklingt. »Wir sind hier,« so begann sie, »in einem Saale, der auch andere Versammlungen sieht – rauschende Konzerte, glänzende Aufführungen bis zu den Fastnachtszügen. Unser Thema und unsere Gesellschaft würde, wenn plötzlich diese alle um uns feierten, wie eine schrille Dissonanz hineinklingen in diese Lieder, die die sorglosen Kinder der Zeit, sei's am Markt des Lebens müßig stehend oder am Boden sitzend und spielend, singen. Aber so geht ja auch der Zug des Jammers und Elends nicht abseits von der Landstraße der Welt, sondern wie in Rom die Brüderschaften zu Bestattung der Toten, in ihren schwarzen Kutten, die gelben Wachslichter in der Hand die Todespsalmen singend, gerade die belebtesten Straßen aufsuchen, so auch das blasse Elend.

Durch die Straßen der Städte
Vom Jammer gefolgt
Schreitet das Unglück –

Die Menschen wissen viel vom Unglücke zu sagen, aber sie sind nicht immer glücklich in ihren Reden. Oft sind es die, die am wenigsten Unglück erfahren haben, die am meisten davon sprechen und sich dessen am wenigsten erbarmen. »Diesen Kuß der ganzen Welt« – ja den Kuß wohl, aber kein Geld. Es gibt einen wunderbaren Zusammenhang zwischen Herz und Geldbeutel. Je weiter und toleranter oft die Herzen, desto enger oft die Geldbeutel; als engherzig verschriene Leute haben zuweilen einen recht weiten Geldbeutel. – Und doch rückt ihnen das Unglück, wie sie es nennen, so alle Tage vor Augen. Denn das Glück geht durch die Welt wie ein einsamer Pilger, der an wenige Türen klopft, das Unglück aber wie eine Karawane. Ein einzelner gewinnt das große Los, aber die Pest rafft hunderttausende weg. Und doch vergißt man es dem Nächsten in Jahren nicht, wenn er ein Glück gemacht, aber ein Fremder und ein Unglück sind uns nur in den ersten drei Tagen interessant. Studieren Sie aber nur das Unglück. Die Züge der wahren Menschheit sind nicht aus dem Glück, sondern aus dem Unglück zu erkennen. Denn das Glück ist ein Porträtmaler, der schmeichelt, das Unglück aber ein Steckbrief, der den Menschen verfolgt, und solche Briefe zeichnen entsetzlich wahr. Aber Sie werden dies Antlitz schön finden, wie man ein häßliches Antlitz, wenn man nur den Menschen, der es trägt, versteht, schließlich lieb gewinnt. Denn die Freude sieht auf dem menschlichen Antlitz aus wie ein weltliches Lied, der Schmerz aber wie ein Gebet. In den Tränen der Freude spiegelt sich mehr die Erde ab, in den Schmerzenstränen aber der Himmel.

Schauen Sie dem Unglück nur ins Auge, weichen Sie ihm nicht aus, wie die Leute um die Ecke biegen, wenn sie einen Leichenzug daher kommen sehen. Sie werden es finden in jeder Gestalt, in jedem Format, in Folio und Sedez, in rohem Einband und in Goldschnitt, in Kattun und Seide. Sie werden aber Ihr eigenes Glück selbst begründen und befestigen, wenn Sie des fremden Unglücks sich erbarmen. Sie werden mehr empfangen, als Sie gegeben haben. Ich kann Ihnen nur die Erfahrung meines Lebens sagen: Bei den Armen bin ich reich, bei den Kranken gesund, bei dm Sterbenden lebendig geworden.«

Sie schloß und eilte schnell von der Tribüne, ihre schönen Züge tiefer in ihren Witwenschleier verhüllend.

»Ob sie wohl selbst glücklich oder unglücklich ist?« sagten zwei Zuhörer am nächsten Tische leise zu einander.

»Es scheint fast das letztere« sagte der eine. »Sie kennen jenes berühmte:

Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt Euch nicht, ihr himmlischen Mächte –«

»Aber gerade dies Wort, mein Verehrtester,« entgegnete der andere, »scheint gegen Sie zu sprechen. Denn Goethe war eigentlich ein Glückskind par exellence und hat nicht sein Brot mit Tränen gegessen. Und doch redet er so ergreifend vom Unglück. Ich glaube vielmehr, daß nur die Glücklichen imstande sind, den Unglücklichen zu begreifen, wenn anders ihnen das Herz etwas geweitet ist. Man sieht doch nur von lichter Höhe den Nebel, der dumpfdrückend das Tal durchzieht. Wer selbst schwindsüchtig in dumpfer Stubenluft sitzt, merkt nicht, wie elend die Luft in seinem Gemache ist, nur der von frischer, freier Luft kommt, empfindet es. Nur der Sehende kann den Jammer des Blinden begreifen, dem die schöne Gotteswelt verschlossen ist, und nur der in seinem Glauben befestigte und beseligte Mensch den Zweifler und Spötter in Mitleid fassen.«

»Keine Separatgespräche, meine Herren,« tönte die Stimme des Präsidenten, »wir sind nicht hier, um uns zum besten zu haben, sondern um uns etwas zum besten zu geben. Es ist das der Sinn jedes rechten geistvollen Zusammenseins, daß jeder sich und das Seine gibt. So leicht hält einer den andern des Besten nicht wert, gibt nicht – aber nehmen will jeder. Das macht unsere Gesellschaften so entsetzlich öde. Nur wer wahrhaft gibt, empfängt auch.«

Die beiden Herren drückten und duckten sich hinter ihren großen Teekessel und hatten nicht Lust, ihre Separatgedanken laut werden zu lassen. Derweilen hatten sich andere zum Wort gedrängt. Es war ein frischer, kräftiger Mann mit blitzenden blauen Augen, der mit helltönender Stimme begann: »Ich kann mich für die Art der heutigen Armenpflege und des landläufigen Wohltuns nicht begeistern. Ich habe die traurigsten Erfahrungen gemacht, das glauben Sie mir. Meistens sind die Leute an ihrem eigenen Elende schuld. So lange Sie das ihnen nicht zum Bewußtsein bringen und die Quelle ihres Unglücks aufdecken, ist alles Geben nur ein Pflaster, das die Wunde momentan schließt, aber nicht heilt, und Ihre Gaben sind mehr eine Pflege der Armut, als eine Armenpflege – darum ernten Sie auch so wenig Dank. Ich wundere mich überhaupt nicht über den Undank der Menschen, sondern über ihren Dank. Von allen Geschöpfen ist der Mensch das undankbarste. Sehen Sie einmal auf den Dank der Elemente. Die Luft gibt als Tauperlen wieder, was sie als Qualm erhielt; das Feuer erstattet das geläuterte Gold, das es mit Schlacken vermischt, empfangen; die Erde bezahlt mit Blüten, was sie als Moder und Verwesung erhalten, und das Wasser trägt den Peiniger, der es mit Ruderschlägen verwundet, auf seinem Rücken ans Ziel. Das nenne ich doch Dankbarkeit. Die Menschen reißen die Gaben an sich als ein Recht, während draußen die Natur alles als Gnade mit Dank empfängt: der Blumenkelch den Sonnenstrahl, die Erde den Regen, die Wüste den Tau.

Aber freilich – wie geben die Menschen auch? Da hat z. B. einer an seine Türe geschrieben – auf solides Eisen noch dazu – »Mitglied des Vereins gegen Verarmung und Hausbettel.« Mein Freund, Gerhard von Amyntor, hat den guten Einfall gehabt, zu dieser Visitenkarte zu schreiben: »Wenn ich den reichen Mann im Evangelio zu malen hätte, der sich alle Tage in Purpur und köstliche Leinwand kleidete und aß, was der liebe Gott Gutes wachsen ließ, so würde ich an die Türe, vor der der arme Lazarus mit seinen Wunden lag, die Worte annageln: »Mitglied des Vereins gegen Verarmung und Hausbettelei.« Damit schafft man sich am bequemsten die Leute vom Halse. Das heißt soviel als: »Bei mir gibt's nichts als alle Jahre ein paar Taler.« Da können die Leute sterben und verderben, bis alles untersucht ist, und wenn's nun bezahlte Armenpfleger sind, die das tun, und können Sie sich das Weitere ausmalen.

Aber nun denken Sie einmal weiter darüber nach, welche Daumschrauben den Leuten heutzutage angelegt werden, um sie zum Geben zu bringen! Tortur und hochnotpeinliches Halsgericht sind in verbesserter Auflage wieder erschienen. Es gibt nicht nur Engel, nein auch Furien der Barmherzigkeit. Schauen Sie sich z. B. einen Basar an. Basar! Schöner orientalischer Gedanke! du führst mich an die Ufer des blauen Hellespont in die Wunder von Tausend und Eine Nacht – aber nichts von alledem! Taghell ist die Nacht gelichtet, nichts von Orient. Welch' ein Rennen und Laufen, bis ein Komitee von sichtbaren und unsichtbaren Mitgliedern bei einander war. Mit einem »Ach, schon wieder« wird die holdige Anstifterin empfangen, und ein Seufzer grüßt den anderen. Erst werden Menschen zusammen kollektiert, dann Sachen. »Namen, um alles Namen,« so heißt es in der ersten vertraulichen Sitzung. Und nun gilts, niemandem auf die Füße zu treten, denn die Ehre hat mehr Hühneraugen als die Liebe, weil die Liebe überhaupt blind ist und keine Augen hat. Und nun – haben Sie sich schon dann und wann die Gaben angesehen? Ich traf – ach so manche alte Bekannte und dachte: »Alte Liebe rostet nicht!« Wie schön und erhebend, wenn wir das, was wir einst mit liebender Hand geschenkt, so zwischen Fabrikaten stehen sehen! Bei manchen Gaben wird man an Goethes Wort (was Sie sich auch in Gips und Stearin übersetzen können) erinnert:

Und Marmorbilder stehn und sehn mich an,
Was hat man dir, du armes Kind, getan!

Ach, sie standen schon manchmal sich die Füße ab und fragten wie die Wandblumen bei einem Balle: Nimmt mich denn keiner? Und dann die Verkäuferinnen! Mit der raffiniertesten Grausamkeit ausgesucht und postiert wie Räuber im finsteren Walde, als wollten sie mit Tell sagen: »Durch diese hohle Gasse muß er kommen!«

Bleibt man stehen, oder spricht nur das unschuldigste Wort, so ist man schon verloren. Denn nun kostet dich jedes weitere Wort aus dem Munde der holden Verkäuferin enormes. Wo nur die flüchtigste Bekanntschaft, da grüßt man uns als »bewährten Freund.« Läßt du dich ermattet nieder, so führt man dich zum »Büffet.« Aber hier liegen erst recht die Fußangeln. Wer will eine Tasse Schokolade oder eine Idee von Brotscheibe mit einer noch viel größeren Idee von Butter und fast gar keiner Idee von Fleisch mit fünfzig Pfennigen bezahlen, wenn dich die Gräfin Nimmersatt eigenhändig bedient?«

»Sind Sie fertig?« unterbrach der Präsident den Redner.

»Ach, noch lange nicht,« entgegnete dieser. »Hier ist Redefreiheit und die Nacht ist lang.«

»Bitte, fassen Sie sich kurz, es warten noch so viele. Das ganze Gespräch an sich zu reißen, ist auch keine Liebe. Reden und reden lassen muß doch immer das Motto bleiben.«

Ohne sich weiter stören zu lassen, fuhr der Blauäugige fort: »Oder zum Exempel – die Musik. Ach, herrliche Musik, eine Himmelsgabe sondergleichen, wenn man sie nur nicht, in Fingerübungen übersetzt, über seinem Haupte täglich hört. Aber ja Musik! Sie ist ein Engel in der Hütte der Armen. Seit unser Volk bei seiner Arbeit nicht mehr singt, wie ehedem, seitdem es keine Meistersinger mehr gibt in den Zunftstuben, ist ein versöhnendes Element aus unserm Volke geschwunden. Aber auch, die Musik wird zur Daumschraube. Shakespeare hat einst gesagt: » Divina musica! Was ist doch das für ein Ding, daß man einem mit Pferdshaaren und Schafsdärmen die Seele aus dem Leibe ziehen kann!« Schön, sehr schön wie alles, was der große Brite sagt – aber unsere Zeit hat es weiter gebracht. Mit diesen Pferdshaaren und Schafsdärmen zieht sie uns das Geld aus der Tasche. Denken Sie an die Wohltätigkeitskonzerte namentlich der Dilettanten. Hinter jedem hohen G eines Dilettantentenors bekomme ich gleich einen Schreck, denn er schraubt meinen Geldbeutel in eben dieselbe Höhe hinauf. Was wurde der Mann erst gequält, bis er sich dazu hergab! Das Konzert aller Händel und Bach, Mozart und Beethoven bis auf die eigenen Kompositionen, die man nur hier zu hören bekommt, alle Violinen, Harfen und Flöten, – was sind sie anders als ein einziger großer Schrei: »Mensch, gib dein Geld her!« Und das nennen die Leute Wohltätigkeit! Ich will gar nicht von denen reden, die im Schweiße ihres Angesichts beim Tanzen arbeiten, damit die Armen zu essen haben. Wunderbar! da werfen sie hunderte hinaus für Toilette und Essen und geben dann beruhigt die paar Mark Entree – zum Besten der Armen! Und drunten vor den erleuchteten Fenstern steht frierend und hungernd die Armut, und ihr wird gesagt: »Schaut, da oben wird zu eurem Besten getanzt und gespeist!« Denken Sie sich den galvanoplastischen Eindruck, den das auf den Magen der Leute da unten macht! – Und selbst auch Ihr unschuldiges Teameeting heute Abend! glauben Sie nicht, daß ich nicht gemerkt hätte, was jeder summende Kessel und jedes Körbchen, von zarter Hand präsentiert, mir sagte (auch ohne die letzte Anrede an das »hochverehrliche adlige und publikumartige« Portemonnaie) – nichts anderes als: »Gib dein Geld her!« Ich gebe gewiß gerne, aber ich will freiwillig geben, ich will mich geben in meiner Gabe!«

»Sind Sie endlich fertig?« fragte der Präsident.

»So ziemlich,« sagte gleichgiltig der Blauäugige. »Aber ich erlaube mir noch später einmal das Wort zu ergreifen.«

Der ganze Saal war wie ein Ameisenhaufen geworden, in den jemand unvorsichtig oder absichtlich getreten. Ein Durcheinander von Stimmen ließ sich hören.

»Ein entsetzlicher Mensch,« so hörte ich neben mir reden. »Man sollte nicht denken, daß ein Mensch mit blauen Augen so etwas zusammenschmieden könnte.«

»Gräßlich, aber wahr,« meinte ein anderer.

»Das ist ein Pessimist,« meinte ein dritter.

Endlich stellte die Klingel die Ordnung wieder her.

Ein älterer Herr betrat die Rednerbühne. Es lag ein Zug milden Wohlwollens in seinem Gesichte, und seine Stimme hatte etwas weiches, beruhigendes.

»Sie haben, so begann er, »soeben eine Reihe von Gedanken gehört, auf die man eigentlich ein ganzes Buch schreiben müßte, um ihnen völlig gerecht zu werden. Unser vorredender Freund hat uns vieles gesagt, aber noch mehr nicht gesagt. Vielleicht, daß das in der zweiten, besseren Hälfte seiner Rede nachkommt. Die Menschen sind ja immer stärker in ihrem Wissen, wie man's nicht machen soll, als wie man es machen soll, und das Wort Geibels hat recht:

Das ist die klarste Kritik der Welt,
Wenn man neben das, was einem nicht gefällt,
Was Besseres, Eigenes stellt!

Er hat manch wunden Fleck unseres Gebens berührt und es ließe sich noch manche Illustration dazu geben. Denn wer einmal die Not angefaßt hat, hat eben seine liebe Not mit der Not bekommen. Die Not wird erst in ihrer Tiefe erkannt, wenn die Hilfe kommt. Erst die Sonde des helfenden Arztes zeigt die Tiefe und Gefährlichkeit der Wunde. Lernen wir darum von unserem Freunde, denn ein Gegner ist er nicht, wie ich aus seinen letzten Worten schließen möchte.

Es ist wahr, sehr viele, vielleicht die meisten, sind an ihrem Elend schuld. Aber war jener Unglückliche, der von Jerusalem gen Jericho zog, nicht auch in etwa an seinem Unglück schuld? Warum zog er die unglückliche Straße ohne Begleitung? Warum allein, ohne Waffe, ohne schützendes Priesterkleid? So dachten wohl die beiden leidigen Tröster, die vorübergegangen. Ist das etwa ein Grund, nicht zu helfen?

Willst du aus der Flut mich retten,
Frag nicht, wo hinein ich fiel –
Wo ich jetzt zu Grunde sinke,
Das sei deines Auges Ziel!

Reicher, frage nicht den Armen
Wie er arm geworden ist;
Willst du fragen, frag dich selber,
Wie du reich geworden bist.

Oder ist jeder an seinem Glücke schuld? Wärst du im Keller oder auf dem Boden geboren, unter Sünde, Jammer und Elend groß geworden, würdest du derselbe sein, der du heute bist? Armut und Elend sind zudem nicht unauflöslich mit Schuld und Sünde verknüpft. Mich betrübt, ja empört es wohl auch, wenn ich Geschichten lese, die man Kindern in die Hand gibt, anfangend: »Eine arme, aber redliche Familie.« Was soll dies »Aber«? Hat der Reichtum nicht sein viel größeres »Aber«, und wäre nicht oft mit viel mehr Recht zu sagen: »Eine reiche, aber doch redliche Familie?« Was ist überhaupt Armut und Reichtum? Doch nur ein Kleid, das wir anhaben, nicht wir selbst. Der reiche Mann war nicht sein Purpur, er trug ihn bloß; und der arme Lazarus war nicht seine Lumpen, er hatte sie nur. Der Tod entkleidete beide ihres »Einbands« und stellte sie vor Gott, wie sie waren. Die Armut selbst ist das schlimmste noch nicht, denn es ist immerhin besser auf Erden um ein Stück Brot, als in der Ewigkeit um einen Tropfen Wassers betteln. Der Reichtum hat seine große Gefahr. Wer steinreich ist, wird oft genug steinhart. – Das kann also unsere Aufgabe, zu helfen, nicht in Frage stellen. Gewiß – wir werden, wo die Sache klar liegt, es nicht fehlen lassen am Hinweis auf Schuld und Sünde, auf Leichtsinn und Verschwendung und Gottlosigkeit. Aber um das zu können, müssen wir den Berechtigungsschein haben, und der ist eben unsere Hilfe. In der Herberge, in die der barmherzige Samariter den Menschen gebracht, könnte er dem armen Verwundeten manch gute heilsame Lektion aufs künftige geben.

Unser Geben ist doch der goldene Schlüssel, der uns die Herzen auftun soll für die Hilfe nach innen.

Denk vom Armen nicht zu klein,
Funken ruhn im Kieselstein
Und durchblitzen oft die Nacht.

Reicher, sei vielmehr der Stahl,
Lock aus jenem Stein den Strahl,
Der das Dunkel weichen macht.

Wie weit nun das Wirken nach innen geht, wieviel Dank dabei herauskommt, das steht auf einer anderen Seite. Es gibt Einen, der die traurigsten Erfahrungen mit Seinen Wohltaten macht und sich nicht abschrecken läßt, sie täglich zu wiederholen. Das ist Gott selbst. Daß Gott die Sonne geschaffen, ist herrlich; aber ungleich herrlicher ist es, daß Er sie aufgehen läßt über Gute und Böse. Wollte Er sie bloß über die Gerechten aufgehen lassen, müßte man in der Welt den ganzen Tag Gas brennen. – Wir geben freilich ganz anders, als Gott gibt. Wir geben, um die Menschen los zu sein, damit sie uns nicht wieder vor unsere Türe kommen; Gott gibt, damit Er uns an sein Herz binde und wir wiederkommen. Durch das Geben dessen, was Gott hat, will Er uns locken, das zu nehmen, was Er ist; Seine milde Hand will uns zu Seinem noch viel milderen Herzen führen. Die leiblichen Gaben Gottes sind wie die Trauben, die Josua und Chaleb aus dem gelobten Lande brachten. Sie sollten das Volk nur reizen, das Land einzunehmen, das solche süße Früchte hat. So schickt uns Gott aus dem Vaterhause der ewigen Heimat irdische und himmlische Güter entgegen, sie sind aber nur der Vorschmack dessen, was Er in Fülle für uns aufbewahrt hat.

Unser Freund hat sodann sich gegen die Geber gewandt, unter anderem auch gegen die Mitglieder des Vereins gegen Verarmung und Hausbettel. Ich denke nicht so hart darüber wie er. Das eine schließt ja das andere nicht aus. Wer den Bettler aus seinem Hause weist, kann vielleicht umsomehr ihn in seiner Wohnung aufsuchen. Ohnehin ist das Betteln an den Türen ein weitschichtig Kapitel. Es gehört oft mehr Barmherzigkeit dazu, einen Bettler abzuweisen, als ihm eine Anweisung auf unseren Geldbeutel zu geben.

Er hat uns sodann in drastischer Weise die Schattenseiten unseres Gebens aufgedeckt, des gezwungenen Gebens, der anständigen Räuberforderung: » la bourse ou la vie«. Ich verstehe, daß das Wort: »Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb« auch mich dabei bedrückt und mein Ideal durchaus nicht diese Basare, Schauvorstellungen und Wohltätigkeitsbälle sind, weil dabei so viel Eitelkeit, sich hervortun wollen, überhaupt der Egoismus im Kleide der Liebe sich zeigt. Wie wenig wird eigentlich aus »der Notdurft« heraus gegeben? Wir geben doch zumeist vom Überfluß. Wir tun uns dabei nicht weh, wie jene Witwe mit ihren zwei Pfennigen. Und doch haben diese zwei Pfennige, auf denen die Augen des Herrn ruhten, einen Zins getragen, der sich erst in der Ewigkeit wird berechnen lassen. – Das bleibt richtig: die Armen geben immer am meisten.

Unser Freund hat gegen den Zwang geredet. Aber muß nicht der Mensch zum meisten gezwungen werden? Mich däucht, kein Kindlein in Preußen würde aus »Liebe zur Wissenschaft« in die Schule gehen. Der Schulzwang schlägt doch die Funken aus dem Gestein. Lassen Sie dies Geben immerhin eine Vorstufe sein, um Geben zu lernen. Ob nicht der eine oder der andere nachgerade von der Schale zum Kerne durchdringt? Das ist doch schon ein Segen jeder Arbeit, daß der Mensch selbst auf stille, geheimnisvolle Weise hineingezogen wird in eine Freude, die er nicht geahnt. Das Wort: »Gebet, so wird Euch gegeben« behält doch in seiner Verheißung die allgemeinste Wahrheit. Wer will sagen, wie manchem das kleine Fädchen, das er hinein in das große Gewebe geliefert, zum starken Seile geworden ist, an welchem er gerettet wurde? Lassen Sie die Leute immerhin ihre Marmorbilder bringen, ihre Arien singen, ihre Teekessel beischleppen – es ist doch immer besser, als wenn sie nichts tun. Zu wissen, wer nun seinen Lohn von diesen dahin hat, das steht vor einem andern Auge.«

Der Sturm hatte sich während der ruhigen Rede gelegt, selbst die Stimmung gegen den Blauäugigen war milder geworden. Eine ehrwürdige Matrone in schneeweißem Haar trat heran.

»Gestatten Sie mir, besonders Sie, Schwestern meines Geschlechts, zu Ihnen zu reden. Ich glaube, wir Frauen sind recht eigentlich zum Geben geboren. Ich kenne kein schöneres Bild solchen Gebens, als das Kind an der Mutter Brust. Eine Mutter gibt das Ihre, sich selbst ungekannt, unbedankt vom Kinde, frei, königlich und groß. Sie gibt ohne Wort, ihre Gabe bedarf keines Kommentars. Indem sie ihr Kind nährt, verzehrt sie sich. Sie gibt auf stille Hoffnung hin; aber ob auch die Hoffnung fehlschlüge, sie hat für jedes Kind wieder die neue Liebe, die neue Hoffnung. Es mag darum ein Mensch zweimal an dem Verstande seines Vaters zweifeln, bis er einmal am Herzen seiner Mutter irre wird. Ich kenne außerdem ein anderes Bild wahrhaften weiblichen Gebens. Sehen Sie sich die Jüngerin an, die das Nardenglas über den geliebten Meister gießt. Ein Werk so schweigend und doch so beredt, so arm und doch so reich, so frei und königlich und doch so gebunden in Liebe! »Sie hat getan was sie konnte«, dies Lob ist vollwichtig. Die ästhetischen Kunstrichter mögen sich mit dem »Unrat« befassen und die haute finance über diese schlechte Kapitalanlage sich ärgern: der Herr richtet anders. Wer nichts aus seinen Werken macht, aus dessen Werken macht Er über Ahnen und Verstehen etwas und gibt dem dunklen Drang des Herzens selbst die tiefste Deutung, wie hier: »Laßt sie in Frieden, solches hat sie behalten zu meinem Begräbnis.«

Es ist wahr, wir haben unter uns rasche Naturen, die am Küchenherde sich für den Herrn erhitzen und stille Naturen, wie Maria. Aber vergessen Sie nicht, daß es heißt: »Und Jesus hatte Martha lieb und Maria.«

Es ist wahr: wir haben »Furien der Barmherzigkeit« unter uns. Aber sie stehen außerhalb des Heiligtums und ihr Regiment ist von kurzer Dauer. Aber wir haben noch viel mehr Engel der Barmherzigkeit und ihre Signatur ist Ausdauer und darin übertreffen wir vielleicht die Männer. Der zarte schwanke Efeu widersteht dem Sturm weit mehr als die stolzen Mauern, die er umklammert. Meine Schwestern! Wir sind auf das Kleine, Unscheinbare gewiesen. Es gibt Helden, die Wunden geschlagen haben, die die Bücher der Geschichte preisen; es gibt aber auch Heldinnen, die Wunden getragen, ja noch mehr, die Wunden geheilt haben, deren Werke im Buche des Lebens stehen; ihnen nicht voran eilend, um ihnen oben einen guten Platz zu sichern, wohl aber ihnen nachfolgend, wie der Schatten dem Menschen ungesehen folgt. Tränen erpressen ist das Vorrecht der Unmenschen, Tränen verhehlen das Vorrecht der Größe; Tränen vergießen das Vorrecht des Unglücks; aber Tränen trocknen das Vorrecht der Liebe. Man preist an uns Frauen so oft das Auge; aber das Auge ist der einzige Brillant, den man mehr nach seinem Feuer, als nach seinem Wasser taxiert. Und doch wird die Herrlichkeit des Auges mehr als in dem Strahl der Freude, im Wassergehalt der Tränen des Mitleids erkannt.« Damit schloß die Matrone. Als sie heruntertrat, reichten ihr viele Frauen die Hand und drückten sie innig.

»Wir haben soeben ein Frauenlob aus Frauenmund gehört«, sagte ein älterer Herr, »und ich kann die Männer nur auffordern, sich ihm anzuschließen und vor allem sich solche Edelsteine zu erobern. Eine geizige Frau gehört zum schlimmsten, was es gibt. In den Sprüchen Salomos findet sich ein Kapitel, das ich manchmal meiner Frau vorzulesen pflege. Darin steht unter anderem auch zu ihrem Lobe: »Sie breitet ihre Hände aus zu dem Armen und reicht ihre Hand dem Dürftigen.« Frauen sind zudem bei der Armenpflege scharfsichtiger als wir Männer, besonders bei ihrem eigenen Geschlechte. Die meisten Armen wünschen immer den Herrn des Hauses zu sprechen und absolut nicht die »Frau Gemahlin«. Ob wir nicht am Ende darin das »schwächere« Geschlecht sind? Ich wünschte sehr, man würde unseren Mädchen, statt ihnen das Hirn vollzupfropfen mit allerhand oft sehr unverstandenem Zeug, das Herz etwas mehr weiten und das Auge zum Sinn und Blick für die Not öffnen. Ach, glauben Sie mir, die meisten Frauen wollen glücklich werden, aber die wenigsten haben eine Ahnung davon, daß der einzige Weg dazu ist, glücklich zu machen! Frauen sollen mit ihrem Lichte nicht glänzende Raketen sein, die in der Nacht blenden, sondern Leuchttürme, die das rettende Ufer zeigen. Der Mangel an Liebe läßt sich bei einer Frau durch keine Begabung, durch keine noch so geistreiche Unterhaltung, flottes Klavierspielen oder fertiges Zeichnen ersetzen. Alles das entschädigt nicht für den Mangel an Herz. Ich meine darum nicht, daß eine Frau nicht nach Bildung streben solle; aber Bildung ist doch nur Fassung des Edelsteins und nicht der Edelstein selbst. Nur im Dienste der Liebe sind die Gaben etwas wert. Es ist ihnen jenes herrliche Wort bekannt, das dem Mädchen und der Frau gilt: »du bist wie eine Blume«; aber heutigen Tages könnte man bei so vielem aufgespeicherten toten Wissen mit Recht von manchem Mädchen sagen: »du bist wie ein Herbarium!« Lehren Sie Ihre Mädchen, daß es gegen die Vereinsamung und Verbitterung im Alter kein besseres Mittel gibt, als sich einen Schatz der Liebe zu sammeln, der uns nachfolgt, eine Aussaat, deren Frucht uns in den Schoß fällt. Von der ausdauernden Tapferkeit der Frauen gestatten Sie mir aus alter Zeit ein Beispiel zu erzählen. In einem Dorfe der Provinz Sachsen wurde jüngst das neuerbaute Schiff einer Kirche eingeweiht. Der Turm selbst war uralt und hatte seine besondere Geschichte. Im Mittelalter erbaut, war er in Kriegszeiten unvollendet geblieben. Nachdem Friede geworden, dachte niemand daran, den Turm auszubauen. Vergebens mahnten Bischof und Pfarrherr, umsonst baten die Frauen. Da hörten an einem Sommertage des Morgens nach Sonnenaufgang die Männer im Ort ein wundersames Geräusch von Hämmern und Kellen. Als sie heraus eilten, sahen sie im Sonnenstrahl hoch oben auf dem Turm ihre Frauen fröhlich mauern, Steine hinaufziehen und das Werk vollenden. Sie schämten sich, eilten hinauf und bauten den Turm fertig. Wie mancher von Männern unvollendet gelassene Bau ist durch Frauenhand vollendet worden!«

»Das ist ein artiger Herr,« sagte eine Dame neben mir. »Ich möchte seine Frau wohl kennen, und ob er selbst Töchter hat?« Ich gab ihr keine Antwort als die etwas ungezogene: »Um Vergebung, meine Gnädigste, sind Sie auch schon einmal mit der Frühsonne aufgestanden, um das zu vollenden, was Ihr Herr Gemahl hat liegen lassen?« worauf sie mir den Rücken wandte.

Die Mitternacht war schon hoch gestiegen, der Mond blickte voll herein auf die Versammlung. Ein junger Mann, dem die Energie aus den Augen leuchtete, eilte zur Tribüne.

»Lassen Sie mich für unser Thema an einen Freund anknüpfen, der uns eben freundlich grüßt. Ich meine den Mond. Welch' eine Fülle von Tränen sind ihm zugeweint, und welche Menge von Liedern ihm zugesungen worden! Gestatten Sie mir, ihn, der uns beleuchtet, einmal selbst zu beleuchten. Er ist ein echtes Sinnbild menschlicher Barmherzigkeit und Wohltätigkeit. Hat er doch sein Licht, das er sanft ausgießt, nicht von sich selbst, sondern von der Sonne erhalten. Er gibt, was er empfangen; bald als Viertel-, Halb- oder Vollmond. – So dünkt mich all unser Geben ein Leuchten in das Dunkel der Not und Armut zu sein: wir geben, was wir zuvor empfangen haben. Alles Geben des Menschen ist doch nur Wiedergeben, ein Echo aus Menschenbrust auf den Liebeston und Ruf Gottes. Selbstverständlich und anspruchslos ist dann alle Gabe, wie der Mondstrahl! Wer gibt, hat; nicht umgekehrt; denn das tiefsinnige Wort hat Recht: Wir geben nicht, weil wir haben; sondern wir haben, weil wir geben. Ich sagte drum einem reichen Mann, der mir für eine große Not nichts geben wollte: »Ich habe nicht gewußt, daß Sie wirklich so arm sind.« Unser Geben steht drum in innigster Wechselwirkung mit dem Empfangen. Nur der Mensch, der sich alle Tage vor die Zehntausend stellt, die Gott ihm gibt und vergibt, wird die hundert Groschen, die er dem Nächsten gibt und vergibt, als eine Bagatelle ansehen. Haben Sie schon solch sinnige Menschen kennen gelernt, die mit reichen Händen spenden, damit der Empfänger die Freude und Seligkeit üben könne, reichlich zu geben? Das haben diese Menschen dem lieben Gott abgesehen. Der tut so.

Hier werden wir auch etwas lernen, was uns sonst beim Geben schwer wird: ich meine die Unermüdlichkeit. Ist Gott nicht unermüdlich im Geben? Scheint seine Sonne nicht alle Tage? Lasset uns Gutes tun und nicht müde werden. Mich gemahnen viele Leute an jenen Mann, der zu einem Prediger kam und um ein kräftiges Gebetbuch bat. Dieser gab ihm den alten »Starke«. Nach etlichen Tagen bringt ihn der Mann wieder und sagt: »Den könne er leider nicht gebrauchen.« Warum nicht? »Ja, da steht auf jeder Seite oben: Gebet am Montag, Gebet am Dienstag usw. Einmal wolle er wohl geben in der Woche, nur nicht alle Tage.« Der Mann hatte den Accent falsch gelegt und statt Ge bet, kam Gebet bei ihm heraus.

Die alte lateinische Regel hat immer noch ihr Recht: » Bis dat, qui cito dat.« »Doppelt gibt, wer schnell gibt.« Es geht uns beim Geben, wie den Kindern mit den Schneeballen. Je länger sie sie in den Händen behalten, desto schneller schmelzen sie. Heute bist du bereit, für eine gute Sache fünfzig Mark zu geben, morgen hast du dich mit deinem Geldbeutel besprochen und du gibst nur dreißig, übermorgen hast du auf zwanzig akkordiert und am Schluß der Woche gibst du vielleicht gar nichts.

Geben ist zudem die größte Klugheit, nicht bloß hohe Seligkeit. Geben ist Aussaat. In Gottes Augen ist Geld kein totes Metall, sondern lebendiges Samenkorn. Ist der Bauer geizig mit Samenausstreuen, wer hat schließlich den Schaden davon, wer anders als er?

Mein Votum in dieser Sache geht darum dahin: Laßt vor allem die Menschen nehmen, die Güte Gottes erkennen und dann fordert von ihnen und ihr werdet willige, anspruchslose Geber finden. Ich will deswegen dem nicht widersprechen, was einer meiner Vorredner vom gelinden Zwang und dem Geben aus Laune in guter Stunde gesagt hat. Aber mein Ideal ist es nicht. Die größten und besten Dinge werden schließlich durchgetragen, wenn nicht durchgeschleppt von einer kleinen Anzahl Menschen, denen die Güte Gottes das Herz erleuchtet hat. Da sind, wenn ich so sagen darf, die – Vollmonde. Die geben ganz, voll, ohne Prätention, immer; sie geben sich in der Gabe, und das ist der Silberklang darin; ihre Linke weiß nicht, was die Rechte tut. Verborgenheit und Stille ist die Signatur alles Echten. Ihre edelsten Werke schafft die Natur geheim, ihre Heilquellen sprießen aus ihrem tiefsten Busen, ihre funkelnden Steine schafft sie in der Nacht der Erde, und ihre herrlichsten Perlen birgt sie in verwitternder Muschel in der Tiefe des Meeres.

»Wer an mich glaubt, von dessen Leibe werden Ströme (nicht Tropfen) lebendigen Wassers fließen,« sagt der Herr. Würde ein August Hermann Francke wohl mit fünf Taler ein Waisenhaus zu bauen angefangen haben, wenn er an seiner Seite ein » Komitee« von zwölf Herren und zwölf Damen gehabt? Nimmermehr. Sein Gott und er habens fertig gebracht. Er die Null und sein Gott die große Zahl davor. Was nützen auch alle Nullen, wenn keine Zahl davor steht? Personen sind mehr wert, als alle Paragraphen.

Der Mond bescheint auch in dieser Nacht manch einsamen kämpfenden Menschen und schaut teilnehmend in seine Hütte. Möchte auch von unserer Versammlung aus ein sanfter Strahl in manche Stätte des Elends fallen. – Eins noch zur Aufmunterung und zum Trost: Wer hier auf Erden ein Mondlicht gewesen, für den ist die große Verheißung aufbewahrt: »Dann werden die Gerechten leuchten wie die Sonnen in meines Vaters Reich!«

Nach dieser Rede, deren Eindruck unverkennbar war, hatte eigentlich niemand mehr den Mut zu reden. Der Präsident ergriff darum das Wort: »Sollten wir nicht, noch ehe der Morgen graut und wir ans Tagewerk gehen, ein Resümee geben dessen, was wir gehört? Und wäre nicht einer unter der Versammlung, der noch einige praktische, handfeste Winke uns geben könnte?

Es wurde still im Saal. Da schob man einen hinauf, der ganz den Eindruck machte, als hätte er im Leben schon manche Bettelfahrt angetreten. Es war ein Mann in guten Jahren, auf dessen Gesicht eine stille Heiterkeit bei aller Entschlossenheit lag.

»Sie haben,« so begann er, »eines von den schrecklichen Kindern, die das aussprechen, was man nicht sagen soll, gebeten. Wohlan denn, ich verrate zwar nicht gerne Geheimnisse und Handwerksvorteile, aber es gehört mit zum Geben, daß man auch guten Rat gibt. Zuerst denn: Völlig einverstanden mit dem Vorredner, der den Mondschein pries. Ich halte es auch mit dem Mond, möchte es aber auch mit der Sonne nicht verderben. Wenn unsre Barmherzigkeit dem Mond gleicht, wird sie eben auch immer etwas Mondscheinhaftes an sich tragen bei aller Helle. Wir wandeln eben noch nicht im Sonnenglanz. Unser Wissen ist Stückwerk, unser Geben auch. Oder kann man nicht sogar seine ganze Habe den Armen geben, ohne daß es uns nütze wäre? Also Liebe üben, ohne Liebe zu haben? Das ist doch etwas sehr Bedenkliches und ein großes testimonium paupertatis, ein entsetzliches Armutszeugnis, das auch dem scheinbar größten Reichtum des Gebens ausgestellt wird. Seien wir drum vorsichtig und nachsichtig beim Urteil über das Geben.

Ich ziehe unter den Gebern konzentrische Kreise. Da gibts Leute, die im innersten Zentrum stehen. Sie geben aus der Liebe Christi heraus, es sind Pilgrime, die geben als gäben sie nicht. Sie sind weder Sklaven noch Eigentümer, sie sind Haushalter ihrer Habe und Güter. Die Schrift ist ihre magna charta für ihr Geben. – »Es kostet viel, ein Christ zu sein,« sagte mir einmal lächelnd einer von dieser wahren evangelischen »Zentrumsfraktion« ja, auch viel – Geld. Es gibt gewisse Sprüche in der Bibel, die für den Geldbeutel äußerst fatal sind. Unter anderen einer wie der: »Gib dem, der dich bittet und entziehe dich nicht dem, der von dir borgen will.« Dieser Spruch hat mich in diesem Jahre schon 27 000 Mark gekostet. Aber was hilft's, ich kann ihn doch nicht aus der Bibel herauskratzen.« Es ist ein gutes Zeichen an diesen Leuten, daß sie fröhlich sind bei ihrem Geben. In dieser Beziehung halte ich es allerdings mit der Sonne, denn der Mond hat immerhin etwas Melancholisches. Es liegt doch Humor im Geben, wenn der alte Flattich seinen neuen Schlafrock dem Bettler schenkt und als ihn seine Frau darüber zur Rede setzt, warum er nicht den alten gegeben, mit aller Gemütsruhe antwortete: »Ach, einen alten hatte der Mann selber.« Oder wenn er draußen seinen rechten Schuh im tiefen Moraste im Winter stecken lassen muß und dann den linken auch auszieht und dazu wirft, damit, wenn im Frühjahr das Eis aufgeht, ein Bettler doch alle zwei bei einander finde. Denn der linke könne ihm nichts nützen, noch der rechte dem Finder. So zog er barfuß nach seinem Dorfe. Bei solchen Leuten ist leicht kollektieren. Ich kam einmal zu einem derselben mit dem Kollektenbuch unter dem Arme. »Aha,« sagte der: »Lieder ohne Worte!« Ich faßte ihn gleich und sagte: »Bitte, setzen Sie sie auf Noten.« Er lachte und fuhr fort: »In welchem Takt?« Ich entgegnete: »Im Vierteltausendtakt.« »Mehr nicht?« »Nein.« »Hier haben Sie sie, Glück auf den Weg.« Ich ging mit meinen 250 Talern in Banknoten ab, und die Sache war in wenig Minuten erledigt. – Solche Liebe macht auch erfinderisch. Ich habe von einem Mädchen im Rheinlande gehört, auf dessen Stirne schon der Todesengel schon seinen Kuß gedrückt, das einst zu seinem am Bette sitzenden Vater sagt: »Ach, lieber Vater, sag mir doch, was koste ich dich denn int Jahre?« Der Vater entgegnete: »Liebes Kind, mach dir keine Sorge, du kostest mich nicht viel.« »Ach bitte, sag mir's doch, lieber Vater, ich möchte es doch so gern wissen!« »Warum denn?« »Ach sag mir's und dann will ich dir sagen warum.« »Nun,« sagte der Vater, »ich will sagen, du kostest mich im Jahr 120 Taler. Ist das genug?« »120 Taler,« sagte das Mädchen und seine fieberglänzenden Augen leuchteten hell auf, »120 Taler, ja das ist genug. Sieh, lieber Vater, du weißt, daß ich nicht mehr lange bei dir bleibe. Sieh, wenn ich tot bin, dann sparst du alle Jahr 120 Taler. Dafür kannst du gerade zwei von den Waisenkindern in Mähren ins Waisenhaus tun, das kostet gerade so viel, und du brauchst gar nicht mehr auszugeben als für mich?« – Ja, wie mancher leere Platz im Hause, unter dem Christbaum und im Herzen könnte ausgefüllt werden durch andere! Da weiß man, wo man seine Ersparnisse unterbringt. – Solche Leute glauben auch an einen Segen Gottes, sie geben sich nicht arm, sondern reich. Sie haben Vertrauen in die Firma da oben, die noch nie sich insolvent erklärt hat und mit hundert Prozent zurückzahlt. »Wer dem Dürftigen gibt, leiht dem Herrn« – und wer hätte an Gott einen Borger gehabt, der ihm nicht zurückgezahlt? Eine arme Bäuerin im Schwabenlande hatte unter ihren Äpfelbäumen auch welche an der Straße stehen. Da schlugen Buben und Wanderer daran herunter. Man riet ihr darum, sie sollte sie abhauen lassen. »Bei Leibe nicht,« sagte sie, »was mir die Buben unten abschlagen, hängt mir der liebe Gott doppelt oben hinauf, und was die Bäume an der Landstraße Einbuß' haben, das bringen die in der Mitte desto mehr« –

Solche Leute haben auch Ordnung im Geben, und halten sich wohl auch an das Gesetz des alten Bundes, als »evangelischen Rat«: den Zehnten von allem zu geben. Wer den Zehnten gibt, gibt wenigstens nicht – zu viel. Es wird keinem schwer, etwas herzugeben, was man von vornherein nicht als sein ansieht. –

Die geben dann auch so, daß sie selbst konzentrische Ringe im Geben ziehen. Zunächst ihren Hausgenossen, ihrer Familie. Es fehlen viele Leute darin, daß sie gerade an armen Verwandten nichts tun oder sehr wenig, während sie nach außen mit vollen Händen geben. Dann kommt die Gemeinde, bis hinaus auch die fernsten Heiden einen Sonnenstrahl empfangen. Wer wahrhaft daheim gibt, der gibt auch nach außen. Aber oftmals steckt nichts anderes hinter der Redensart: »das Hemde ist mir näher als der Rock« – als jener Judassinn, der die Armen vorschützt und das Geld in die Tasche steckt. – Mit Leuten aber, die im innersten Zentrum stehen, ist wie gesagt, nicht schwer beim Geben zu verhandeln. Will's ihnen einmal zu viel werden, so gibt's stille Kollektanten, die unangemeldet bei Nacht kommen und bitten. Das sind Bibelworte, die einen nicht schlafen lassen, bleiche Gestalten von Bittenden, die man abgewiesen, die vors Bette kommen und einen durchdringend anschauen.

Der zweite Kreis sind Leute, die mehr aus angeborener Gutmütigkeit geben, sie haben ihre Launen und Stimmungen, Antipathien und Sympathien. Da findet oft ein gutes Wort eine gute Statt. Mir rief einmal einer von diesen zu: »Ja, wo soll's denn alles herkommen?« Er hatte glücklicherweise seinen Geldschrank gerade offen stehen, ich deutete darauf hin und sagte unverfroren: »Da heraus«. Da lachte der Mann und gab mir reichlich. Diese Leute muß man auch reden lassen, denn es ist wunderbar, was der Geldbeutel den Menschen beredt macht, sobald man ihn angreift. Die Leute werden zu Rednern und über was alles sprechen sie nicht! Über ihr gutes Herz, über die schlechten Zeiten und Menschen, über ihre schmerzlichen Erfahrungen und ihre Verluste und was nicht alles. Da hab' ich nur das eine mir gesagt: Zeit ist Geld, Zeit rauben heißt Geld rauben, und setze dem Redefluß ein jähes Ende, indem ich frage: »Wollen Sie mir was geben?« Fragen die Leute »Wieso?« so sage ich: »ja, wenn Sie nichts geben, dann dürfen Sie auch nichts sagen; wenn Sie fünf Groschen geben, dürfen Sie für fünf Groschen reden, nicht viel freilich, doch etwas, denn meine Zeit ist kostbar; aber für zwanzig Mark dürfen Sie schon ziemlich viel reden, ich weiß zwar alles schon, möchte aber für meine Geduld bezahlt sein. Aber reden und nichts geben, das geht nicht, das ist doppelter Verlust, denn reden kann ich selbst.« Solchen Leuten muß man auch die Liebe tun und etwas erzählen von der Not und von der Hilfe. Die wenigsten ahnen ja ihre Tiefe, und ich habe manche Träne im Auge solcher Leute gesehen, denen man einen Blick hinab ins Elend geöffnet hat. Manchmal muß man auch die künstliche Gelegenheit abwarten, und ich frage wohl auch die Leute, wenn ich kollektiere: »Sind Sie heute guter Laune? Wo nicht, so komme ich morgen.« Bei Taufen und Hochzeiten, in der Freude sind sie oft williger, zu geben, da bedarf es oft nur eines Wortes, und die Teller füllen sich. Ich habe schon manchmal gewünscht, ein Improvisator zu sein, der fließend in Versen sprechen könnte zur Gitarre und den Leuten das Geld heraussingen. Habe auch immer gefunden, daß die Leute viel fröhlicher geworden sind, wenn sie gegeben haben. Die Liebe macht erfinderisch. So habe ich einmal ein Rätsel aufgegeben und mich erboten, wenn's einer rate, für die Sache, für die ich bat, zehn Mark zu geben, wenn's die anderen nicht rieten, solle jeder eine Mark Buße bezahlen. Ich habe 24 Mark geerntet, und die Leute gaben alle gern. Ein ander Mal habe ich einer Dame ein schönes persisches Kleinod versprochen, wenn sie mir zehn Mark gäbe. Sie gab sie mir, und ich sagte ihr den persischen Spruch: »Als du geboren wardst, weintest du und es freuten sich die, die dich in den Armen hielten – schaffe, daß, wenn du stirbst, du dich freust und die anderen, die dich in den Armen halten, weinen.« »Zehn Mark ist der Spruch wohl wert,« sagte sie. – Auch mit etwas Humor muß man an die Leute gehen. Mir sagte einmal jemand: »Ich weiß nicht, zu mir kommt aber auch jeder, seit ich einem Verein gegeben habe, kommen sie alle.« Ich fragte ihn: »Haben Sie je die Spatzen schon wohin fliegen sehen, wo sie nichts kriegen? nein. Aber, wo man einem das Fenster öffnet und ihm ausstreut, da sind flugs zwei und drei und dreißig da, als wollten sie einander ins Ohr klappern: Du, da gibt's was.« Greif die Not an und sie wird von allen Seiten kommen. Es ist kein schlechtes Zeichen für einen Fürsten, wenn in seinem Audienzzimmer viele Petenten sind.

Es kommt nun ein dritter Kreis, das sind schwierigere Leute. Sie geben Ehren oder Schanden halber, aber sie wehren sich. Ich bin nun nicht dafür, daß man nicht wenigstens ihnen die Gelegenheit gibt, Gutes zu tun und denke immer mit dem seligen Fliedner: »es geschieht den Leuten eine Wohltat, die sie jetzt nicht wünschen, für die sie aber später danken.« Da darf man denn mitunter auch etwas deutlicher werden. Ich denke mir, daß unser Herrgott mancherlei Kostgänger habe, und die in der Arche Noah nicht lauter fromme Tauben, die einen Ölzweig bringen, sondern auch schwarze Raben, Gimpel und Nachteulen gewesen, wie auch in Petri Netz nicht lauter Forellen, sondern auch Stockfische gewesen sind. Da gibt mancher eben nur, damit andere noch mehr geben müssen, und viele Gaben kommen mir vor, wie wenn einer dem anderen einen Rockhenkel schenkt und sagt: »Laß' dir einen Rock daran machen.« Andere ziehen die Leute förmlich aus, aber die Haut, die sie ihnen abgezogen haben, hängen sie im Tempel Gottes auf. Aber, wie gesagt, man muß beim Kollektieren denken: »du tust ihnen eine Wohltat. Sie haben Gelegenheit, ein reelles Geschäft zu machen mit der besten Firma; das muß man doch ihnen anbieten. Ja, noch mehr, ich handle da nach der veralteten Theorie der Blutentziehung. Da nahm man im Frühjahr den vollblütigen Leuten das Blut und die Aderlaßmännchen standen im Kalender. Ich denke mir, die geringste Blutentziehung ist der sogenannte Baunscheidtismus oder Lebenswecker, der nur mit etlichen Spitzen die Haut ritzt. Das sind die paar Groschen, die man gibt. Die zweite Art ist der Schröpfkopf, der schon weher tut und die Haut gehörig affiziert, da geht es an Mark und Taler. Der dritte ist der Blutegel, der festsitzt und schon das bessere Blut nimmt, die dauernden Kollekten und Hilferufe, und der letzte ist der Aderlaß, die großen Gaben, da geht's ans Herz, wie bei einem Kirchbau. Aber den Leuten wird danach wohl und sie sind vor dem Schlagfluß behütet. So bin ich denn ein Wohltäter mit meinem Kollektieren. Ich habe mir dafür die Devise eines alten, freiherrlichen Geschlechts zugelegt, die heißt: »Gottesfürchtig und dreist«; denn wenn man kollektiert, gehört das letzte auch dazu. Ich denke mir, es geht manchmal in eine Löwen- oder Bärenhöhle, da ist's schon gut, wenn man vom Helden David lernt, von welchem im Sirach steht: »David ging mit Löwen um, als scherzte er mit Böcklein, und mit Bären als mit Lämmern.« Gut auch, sich vorher einer guten Fürsprache zu versichern, notabene nicht von Menschen, sondern von dem, von welchem es heißt: »Aber der Herr sprach in der Nacht mit Laban: Rede nicht anders denn freundlich mit Jakob.« Gott kann selbst uns ein Loch im Menschenherzen vorbohren, in welches wir leicht den Nagel hineinschlagen können. Ich habe manchmal da bekommen, wo ich nichts erwartete. Da darf man auch manchmal den Leuten mit dem Glöcklein des Todes und der Ewigkeit vorläuten und ihnen sagen, daß sie doch nichts mitnehmen können. Eine Gemeinde schenkte einst zum fünfzigjährigen Jubiläum ihrem teuern und verehrten Pfarrer einen – Grabstein, darauf stand geschrieben: »Hier ruht unser treuer, langjähriger Seelsorger, Herr – –, geboren –, gestorben –.« Der Kirchenrat schleppte den Stein herein und war sich seiner christlöblichen Absicht wohl bewußt; der würdige Pfarrherr im Augenblick vielleicht weniger. Doch, als sie ihm erklärt, der Stein besage: Ihr lieber Pfarrherr möge nicht von ihnen ziehen, sondern bei ihnen bleiben bis ans sanktselige Ende – da verstand er der Gabe dunkeln Sinn. Nun wohl, wie wär's, wenn man jedem Menschen gleich vor seine Haustüre den Grabstein setzte und darauf schriebe: »Hier ruht der treuste Gatte, der sorgsamste Vater, der Wohltäter der Armen und Beschützer der Waisen – Herr so und so –« und dieser Mensch alle Tage daran vorüber ginge und den Stein anschaute und sich prüfte, ob's wahr wäre! Ach, viele Menschen machen den Leuten mehr Freude mit ihrem Tode, als mit ihrem Leben! Siehe, wes wird sein, was du gesammelt hast? Antwort »lachender Erben.« Darum sagte ich in einer Versammlung von Kaufleuten, ich würde am liebsten, ehe ich bei ihnen kollektierte, immer zuvor eine Stunde ins Totenreich gehen und dort die alten Firmenhäupter fragen: »Wieviel soll deine Firma so und so auf Erden zeichnen, daß sie nicht kommen an deinen Ort?« Ich würde manchmal gewiß hören: »Ach, sage ihnen Tausende.« Darauf sagte mir ein Herr, »hören Sie, mir hat's gegruselt bei Ihrer Rede.« Ich antwortete ihm: »Das wollte ich gerade, das soll Ihnen wohl tun.«

Und wenn Sie nichts bekommen, so geben Sie selbst solch armen Leuten etwas. Hinterlassen Sie ihnen ein Wort des Ernstes, der Liebe, einen Stachel, den sie nicht los werden können. Ein Gleichnis vom Geben hat uns der Herr hinterlassen, ein rechtes Kreuz für die Ausleger, das ist das Gleichnis vom ungerechten Haushalter. Es ist gut, daß das Gleichnis so viel Deutungen zuläßt, da kann's jeder auf seine Art deuten. Schließlich kommt doch das praktische Wort unverschleiert heraus: » Machet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon.« Wie's einer macht, da sehe er zu, aber doch nur solche Freunde, die ihn aufnehmen in die ewigen Hütten!

Der Mann hatte geendet, der Morgen graute, die Gestalten wurden immer blässer und ein feierlicher Gesang von leisen Stimmen durchströmte den Saal. Mir war's als hörte ich noch die letzten Töne eines Liedes:

Über Nacht, über Nacht
Kommt still das Leid,
Und bist du erwacht,
O traurige Zeit!
Du grüßest den dämmernden Morgen
Mit Weinen und Sorgen.

Über Nacht, über Nacht
Kommt still das Glück,
Und bist du erwacht,
O selig Geschick!
Der düstere Traum ist zerronnen
Und Freude gewonnen!

Über Nacht, über Nacht
Kommt Freud und Leid,
Und eh du's gedacht
Verlassen dich beid'
Und gehen dem Herren zu sagen,
Wie du sie getragen.

Über Nacht, über Nacht,
Da kommt der Tod;
Ach, hast du's bedacht
Im Morgenrot?
Du wirft nicht erbeben
War Liebe dein Leben!

Da wachte ich auf, alles war leer im Saal. Ich trat heraus, eilte heim und schrieb diesen Sommernachtstraum.

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