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Wenn der geneigte Leser einmal nach Bielefeld in Westfalen gereist, sich dort etwa die Burg angeschaut und dann der Merkwürdigkeit halber ein Vorhemdlein in Bielefelder Linnen, und für des Gevatters Sonn- und Festtagsnase ein feines echtes Taschentuch zum Mitbringen gekauft, dann aber seitwärts von der Eisenbahn sich ins Land geschlagen per pedes apostolorum, so ist er dort bald in das richtige, alte Sachsenland gekommen. Freilich muß er zu Fuß gehen, wenn er es kennen lernen will. Das heutige Geschlecht läuft mit Siebenmeilenstiefeln durch die Welt, sieht vor lauter Sehen gar nichts mehr und weiß das beste nur vom Hörensagen und kennt von den Städten meistens nur die Eisenbahnstationen und wie gut oder wie schlecht die Restauration da und dort ist, aber weiter nichts oder wenig. Wer noch was sehen will, muß sich Zeit nehmen und abseits von der Landstraße halten, fern von den »reißenden Tieren«, zu deutsch commis-voyageurs, die »alles« gesehen haben. Reist er aber von Bielefeld nordwärts, dann kommt er über Schildesche nach Engern, dem Stammort der tapferen Engern, davon noch in dem Titel der Könige von Preußen sich findet: »Herzog der Sachsen, Engern und Westfalen«. Dort in Engern zeigt der Küster gegen ein Trinkgeld den steinernen Sarg des Sachsenherzogs Wittekind und erzählt auch noch eine Geschichte auf Verlangen dazu von dem grimmigen Herzog, der bei seinem heidnischen Sachsengötzen »Hermen« oder »Irmin« bleiben wollte und mit Kaiser Karl dem Großen in böse Fehde geriet, der mit der »eisernen Bibel«, d. h. mit dem Schwert, die Leute bekehren wollte, was noch sein Lebtage kein Gutes gebracht hat. Drum singen dort die Sachsenkinder noch:
Hermen! s'la (schlag) Dermen,
S'la Pipen, s'la Trummen!
De Kaiser will kummen
Mit Hammer und Stangen,
Will Hermen uphangen!
In jener Gegend auf dem flachen Lande mitten unter wogenden goldenen Kornfeldern taucht ein grünes, mit alten Bäumen bewachsenes Fleckchen Erde auf, wie eine Insel anzuschauen, oder wie eine der Halligen der Nordsee. Das Haus, das mitten in den Bäumen steht, gleicht einer Burg, denn draußen vor dem Tore zieht sich ringsherum der breite Graben, mit Schilf und Laich und dem Froschvolk reichlich behaftet; nur ist's keine Zugbrücke wie beim Ritter, der sich extra noch einmal von der Welt abschließt, sondern eine steinerne Brücke, die hinabführt in den großen Hofraum und zum Hause.
Da war's Ende der 40er Jahre dieses Jahrhunderts, als man fröhlich Kindtaufe hielt. War's doch der erste Sohn, der dem Hofbauern geboren ward zu den drei Töchtern, die er bereits besaß.
Schon längst hätte er gern einen Mannes-Erben gehabt, aber es kam ein Mägdlein nach dem andern. Bei dem dritten ward er traurig, und während er sonst seine Grete auf den Händen trug, war er diesmal so kurz und einsilbig, daß ihn der alte Vater, der im Altenteil im Großvaterstuhl saß, gehörig vermahnen und ihm begreiflich machen mußte, daß Mägdlein sozusagen auch Menschen seien, und er deshalb seinem Weibe nicht gram sein dürfe. Und 's ist gut, wenn noch ein alter Vater mit seinem Sohne redet wie ein Freund, und es geht in manchem Hause viel Segen fort, wenn so ein Altes wegstirbt.
Als das vierte Kind geboren wurde, war der Bauer just auf dem Felde. Der Knecht kam, um es ihm zu sagen, aber der Bauer wollte nicht heim, aus Furcht, daß es wieder ein Mägdlein wäre. Da erschien der zweite Bote, er sollte doch kommen; er machte sich langsam dran, den Wagen zu wenden. Da kam der dritte, der rief ihm entgegen: »Herr, Ihr habt einen Sohn!« – Da ließ er seine Gäule laufen, als ob sein Haus in Flammen stände. Er küßte seine Grete auf den bleichen Mund, die mit Freudentränen im Auge ihn erwartete und das Kind sauber gewickelt ihm in den Arm legte.
Drum sollte an der Kindtaufe sich alles mit ihm freuen. Der Pfarrherr und seine ganze Familie wurden geladen und in der etwas altertümlichen, aber um so solideren Kutsche abgeholt; die Verwandten und Freunde kamen auch zur Auffahrt bei Hofe, und der Kindtaufvater oder Kramherr, wie sie ihn im Bergischen nennen, stand mit dem Stuhle da und half den geputzten Leuten absteigen.
Die Taufe war vorüber, die Paten machten zwar keine Bemerkungen wie die Stadtleute, die in Ermangelung eines Besseren sich nicht genug verwundern können, wie still das Knäblein gehalten habe (als ob das Männlein oder Fräulein eine Operation auf Leben und Tod ausgestanden hätte), aber sie küßten das Kind und zogen ihren großen Beutel heraus und gaben der Hebamme und dem Küster ihr pflichtschuldiges Opfer.
In der großen, weiten Tenne, zu deren Rechten und Linken die Ställe waren, saßen Knechte und Mägde an langen Tischen. Auf dem Herde brannte ein mächtiges Feuer, über dem die Kessel an langen Ketten hingen. Der Rauch suchte sich den Ausgang selbst durch Haus und Tenne. Auf dem Herde aber thronte der Frauen Schwester wie eine Königin, rückwärts in das Staatszimmer und vorwärts auf die Tenne schauend. Feierlich, im langsamsten Tempo, kam ein Gang nach dem andern, den Gästen Zeit lassend, daß das Essen gehörig sich »setzen« könne – bis zum späten Abend, wo alles fröhlich auseinander ging.
Draußen aber im Hofe standen die armen Kinder aus der Umgegend; es war, als hätten sie den Speckkuchen gerochen aus des Bauern Küche, und uneingeladen waren sie alle erschienen, im stillen denkend, daß die uneingeladenen Gäste die liebsten sind. Und ob solch ein armes Kinderhäuflein, das an einem Festtage mitgespeist wird, nicht dem Taufkinde weit mehr Segen bringt, als so mancher Trinkgevatter? Die junge Bäuerin sorgte absonderlich dafür, daß das Kindervolk draußen zu essen bekam. So war sie's von ihren Eltern her gewohnt, die viel Gutes getan und auch auf dem Acker nicht Nachlese hielten, sondern den Armen, die übers Stoppelfeld gingen, noch etwas gönnten, damit sie's in den Schürzen heimtrügen.
Die Gäste waren wieder abgezogen, das Haus still geworden, und der Bauer hatte seine Freude an dem derben, kräftigen Jungen, den er auf dem Arm hielt. »Hätt's nur der Vater noch erlebt,« sagte er mehr denn einmal.
»Häng Dein Herz nicht zu sehr an den Jungen,« mahnte die junge Bäuerin, »er möchte Dir sonst genommen werden.«
»Du hältst 's halt mit den Mädchen, Mutter, laß Du mir meinen –«
»Nun, er gehört auch mein,« sagte scherzend die Bäuerin; »mußt ihn doch mal hergeben, wenn er Soldat wird, dann wirst Du noch froh um die Mädchen sein.«
»Bis dahin hat's gute Weile, Mutter, und wenn's sein muß, nun, dann muß es eben sein.«
Der kleine Bursche gedieh, nur war's der Mutter oft, als hätte ihr Sohn gerade kein absonderliches Erbteil von Verstand und Witz mitbekommen, während die Mägdlein lebhaft und schnell mit dem Kopfe waren.
Die Augen der Mütter sehen meist schärfer als die der Väter, und das macht die Liebe. Denn die Liebe macht in der Welt nicht bloß blind, sondern auch sehend, und wer den andern wahrhaft liebt, merkt auch manches, was andere Leute nicht sehen. Der Bauer wollte es nicht Wort haben und dachte: »Solltest Du keinen gescheiten Sohn haben? Du bist doch nicht auf den Kopf gefallen und Deine Grete auch nicht, woher soll er denn seine Dummheit haben?«
Aber es war doch so, wie die Mutter sagte. Und der Schulmeister oder »Herr Lehrer«, wie er heutzutage heißt, der dort auf den Höfen die Wanderschule hielt, fand es auch und gab ihr recht und meinte, in dem Hirnkasten des Jungen müsse etwas zerbrochen sein, so wie an einer Uhr ein Rädlein, denn so etwa stellte er sich das Gehirn vor, mit dem »Rechenrädlein«, »Geographierädlein« u. s. w.
In das Kind war schwer etwas hineinzubringen, und die Schläge, die er von dem Vater reichlich bekam, machten's auch nicht besser, denn der Mensch ist kein Feuerstein, aus dem man die Funken nur so herausschlägt. Treuherzig und bieder war er deswegen doch und gutherzig gegen seine Geschwister, und auf dem Felde wußte er Bescheid.
Der Bauer dachte: »Hat er auch wenig Grütze, bekommt er doch einmal den schönen Hof, wenn ich alt werde oder mich schlafen lege.«
So rückte die Zeit herbei, auf die die Mutter gedeutet, da er unter die Soldaten mußte. Groß und breitschulterig, von starkem Knochenbau und frischen roten Wangen, so trat er mit dem Vater, der ihn zur Losung brachte, vor die gestrengen Herren. Nach kurzem Befühlen sagten der Doktor und der General aus einem Munde: »Kürassier.« – Rechts um – marsch! und kein Wörtlein sonst dazu.
Als Vater und Sohn miteinander heimfuhren, saß der Junge still in sich versunken da. Der Vater sagte auch nichts, aber jeder hatte so seine Gedanken. War's doch sein einziger Sohn, auf dem seine Hoffnung ruhte, und dem Jungen ging's unter dem Brusttuch auf und nieder, wenn er daran dachte, von der Mutter weg zu gehen, die ihn trotz seiner Dummheit immer so treu unter ihren Schutz genommen, aber es half ja nichts, und wenige Monate darauf fuhr der Hofbauer mit seinem Sohne nach dem Garnisonorte. Der Abschied war schwer, so kurz er auch war. Hinter ihm lag die Heimat mit allem dem, was sie Liebes und Treues hatte. Am folgenden Tage ward er eingekleidet. Er beschaute sich und kannte sich selbst nicht mehr.
In dem großen Parke hinter einem altertümlichen Schlosse tummeln sich auf flinken Pferden zwei junge Burschen von 13 und 15 Jahren. Seitwärts in der Laube sitzt ihr Hofmeister, der Kandidat, bereits in würdigem Alter stehend, auf dem Haupte den leichten Ansatz von Mondschein, und schaut den sich tummelnden Knaben zu.
»Das ist besser als Julius Cäsar lesen, wenn man ihn aufführt, Herr Kandidat. Hier der Hans ist Ariovist, und ich bin Julius Cäsar,« rief lachend der Jüngere, ein Bursche mit langem, vorn quer über die Stirne abgeschnittenem Haar, schwarzer Sammetjacke und zierlich seiner Halskrause.
Die zwei ritten gegeneinander, mit langen breiten hölzernen Schwertern schlagend und parierend. »Kurt,« rief der Kandidat, »Du bist ein unverbesserlicher Mensch, ein Kerl wie ein Centaur, ein Mensch mit einem Pferdeleib. Dich bringt das Reiten noch ins Unglück, lerne Du lieber was Gescheites.«
»Bitte recht sehr, Herr Kandidat, Reiten ist auch gescheut; da müßte ich nicht meines Vaters Sohn sein, wenn ich hinter den Büchern sitzen wollte. Da wird man nur dumm davon.«
Der Hofmeister hielt's geraten, sich in keine weitere Diskussion einzulassen, die Unterhaltung abzubrechen und die Knaben zur Stunde zu rufen.
»Un bon livre est un bon ami (ein gutes Buch ist ein guter Freund), steht in dem alten verräucherten Schinken von Buch, Hans! aber für die Freundschaft danke ich. Ich kann das Schweinsleder nicht riechen, sag ich Dir,« rief Kurt im Absteigen. Sie führten ihre beiden Rosse an den Zügeln in den Hof, wuschen sich und erschienen in der Stunde.
Es war ein altes freiherrliches Haus, in das die beiden traten. Der Freiherr, ein Mann in dem Anfang der Fünfziger stehend, eine hohe breite Gestalt mit schmuckem Tillybart, war ein Bild altritterlichen Wesens. Als blutjunger Knabe von fünfzehn Jahren war er mit in die Freiheitskriege gezogen und zum Yorkschen Korps gestoßen. Das Herz ging ihm auf, wenn er von dem alten, finsteren York redete, den er von Herzen liebte. Eine tiefe Schmarre lief breit über die Stirne herüber; die hatten ihm französische Kürassiere, mit denen er, allein gegen sechs stehend, gekämpft hatte, beigebracht. Heimkehrend, war er dann in ein Kürassier-Regiment getreten und hatte später als Aeltester das väterliche Gut übernommen. Spät hatte er sich erst entschlossen, zu heiraten. Die alte eiserne Zeit, da es gut war, allein zu stehen, lag ihm noch in den Gliedern. Einmal nur hatte er Gräfin Anna gesehen auf einem benachbarten Gut, da fing's ihm an, in der Herzgegend so sonderbar zu werden, und er dachte: »Sollte das wirklich die Liebe sein?« – Ja, sie war's in leibhaftiger Gestatt. Er warb um ihre Hand, und sie gab sie ihm. War jemand für den Freiherrn geschaffen, so war's diese Frau. Von ihr konnte man sagen und singen:
Die Königin süß und milde,
Als blickte der Vollmond drein.
So war's recht geteilt in der Ehe. Ueber ihn kam noch manches Mal der alte Kürassierrittmeistersgeist, der meinte, daß es überhaupt nur zwei Dinge in der Welt gäbe und zwei Worte im Wörterbuche ständen: »Befehlen und Gehorchen« und damit Punktum. Aber von dem Buchstaben B bis zum Buchstaben G liegen eben noch manche andere. Da wußte denn die Frau wieder alles ins gleiche zu bringen, und wenn er einmal brauste wie der Wettersturm, so war sie wie Frühlingssonnenschein.
Der jüngste ihrer Knaben, Kurt, war das Abbild des Vaters, nur was die Heftigkeit anging, in verschlechterter Ausgabe. Wollte etwas auf den ersten Streich nicht fallen, dann war schon alle Geduld weg, und die Röte stieg ihm bis an die Schläfe in den Kopf. Lebhaft und feurig, dazu reich begabt, mit schneller Fassungskraft, überflügelte er den älteren Bruder, der stillerer Natur, aber auch langsameren Geistes war. Kurt hatte etwas Hochfahrendes und kommandierte schon als Junge die Bedienten und Mägde, und selbst mit dem Vater rannte der Knabe hart wider hart zusammen. Nur die Mutter hatte eine stille Gewalt über ihn, und der milde Ernst, der aus ihren blauen Augen sprach, brachte ihn augenblicklich zur Besinnung.
Mit dem Kandidaten gab's manchen Strauß, denn der Kandidat hatte leider auch versäumt, auf Universitäten ein Kollegium über »Geduld« zu hören; war auch nicht darin examiniert worden vom hochwürdigen Konfistorio.
Bei dem Knaben stand es von Jugend an fest, Kürassier zu werden; und nur so viel wollte er lernen, sein Fähnrichs-Examen zu machen; alles andere sollte nachher kommen. Er machte auch mit siebzehn Jahren seinen Fähnrich mit Auszeichnung. Der Oberst des Kürassier-Regiments, darin einst sein Vater gestanden, nahm ihn gerne an, und so erschien er denn eines Tages in schmucker Uniform vor dem Vater, dem beim Anschauen seines Kindes die Erinnerung an seine Vergangenheit so mächtig auftauchte, daß die hellen Tränen die Wangen herabliefen.
»Junge! halt Dich brav,« sagte er, ihn umarmend.
Die Mutter nahm ihn aber noch einmal besonders unten im stillen Park unter den rauschenden Bäumen vor und sagte ihm etwas fürs Leben.
»Kind! Kind,« sagte sie, »es lernt niemand befehlen, er gehorche denn zuerst. In dieser Welt braucht einer den andern; verachte niemanden, er sei, wer er wolle, nur das Schlechte und Gemeine hasse von ganzer Seele. Habe Geduld mit Dir und mit den andern, versprich es mir!« Die Mutter küßte ihn auf die Augen und befahl ihn dem treuesten Lehrmeister, unserm Herrgott im Himmel, der schon manchen nicht vergebens in seiner Kur und Schule gehabt hat. Lange noch winkten sie ihm vom alten Schlosse aus nach, als der Vater seinen Sohn im Wagen begleitete zur Station und zur ersten Garnison.
Im Jahre 1868 im Herbste geschah's, daß die Rekruten mit ihren Zwerchsäcken in die Garnison einrückten und unter ihnen auch unser Bauernsohn aus Westfalen mit seinem Vater. Als die junge Mannschaft in die Schwadronen verteilt wurde, bekam der jüngste Leutnant den westfälischen Rekruten, und der Rekrut den Leutnant, und es war, als ob über den beiden eine Stimme spräche: »Sehet nun zu, wie ihr miteinander fertig werdet in Liebe und Geduld!« Der jüngste Leutnant war aber just unser märkischer Junker Kurt, der schnell alles begriffen und bald zum Leutnant avanciert war.
Es waren die ersten Rekruten, die der Leutnant einzuexerzieren hatte. Es ist wahrlich kein leichtes Stück Arbeit, aus einem drallen, vierschrötigen Bauernjungen, von denen mancher seine erste Bekanntschaft mit der Seife erst in der Kaserne macht, einen schmucken und gewandten »Gaulreiter« (wie die Schwaben sagen) herzustellen. Da muß ein Mensch im ersten Jahr des Dienstes so viel lernen, wie das Kindlein im ersten Jahr seines Lebens, und zwar akkurat alles noch einmal wie damals: Marschieren, Sprechen, Sehen, Hören, kurz als hätte er keine zwanzig Jahre auf der Welt schon gelebt. Ja, es hat schon mancher gemeint, der Feldwebel oder Wachtmeister verlange von dem Manne, daß er alles schon riechen müsse, was er zu tun habe.
Es dauerte nicht lange, da kamen die zwei, Leutnant und Rekrut, in nähere Berührung. Der Rekrut tat alles, was ihm geheißen wurde, aber wie weiland Till Eulenspiegel, der das Kind ersäufte, das er baden sollte. Wer hinten an dem Kasernenhof vorüberging, konnte fast täglich einen Mann allein marschieren sehen und später allein reiten, aber NB. nicht zum Vergnügen, sondern hundertmal dasselbe Exerzitium machen, und doch war's am folgenden Tage wieder verkehrt.
Der gute Westfälinger war des Leutnants tägliches Magenpflaster. » Kerl, Du kannst auch nichts recht machen,« das war der Refrain aller Reden. Wenn's so recht zum »aus der Haut fahren« war, und der Leutnant am liebsten das Feuersteins-Experiment probiert hätte, da war's doch, als hörte er eine weiche Stimme hinter sich: »Kind, Kind! habe Geduld mit anderen Leuten,« und wenn er dann in das ernsthafte, treuherzige Gesicht des Rekruten sah, das unter dem Gewicht des Helms und der Dummheit so wunderlich herausschaute, die Augenbrauen hoch geschwungen, und die Lippen fest zusammengebissen, dann kam ihm doch wieder ein Lachen an. In seinen Briefen an die Mutter schrieb er aber: »Du glaubst nicht, liebste Mama, auf welche Geduldsprobe mich ein Kerl aus meiner Schwadron stellt. Ich weiß nicht, welche Geduld hier am Platze ist: ›Engelsgeduld oder Eselsgeduld‹, wie der Freiherr von Moser einmal einteilt. Wenn ich nicht manchmal an Dich dächte, – ich weiß nicht, was ich täte.«
Dahingegen berichtete der Westfälinger an seine Mutter: »Es geht alles gut, nur der Leutnant ist arg ungeduldig. Ich kann ihm nichts recht machen, denn er ist zornig, aber doch bald wieder gut, und ich lerne viel bei ihm. Ihr könntet ihm einmal einen Schinken schicken, daß er mich nicht so arg plagt.«
So strichen die Monate hin, und seine besondere Herzstärkung sollte der Leutnant empfangen, als es im Winter in den Unterricht ging. Da machte er die Erfahrung des westfälischen Schulmeisters vom zerbrochenen Rädlein auch durch. Er hatte es so ziemlich aufgegeben, seinen Schüler auf eine höhere Stufe der Wissenschaft zu bringen, als plötzlich sich die Wolken zusammenzogen, diesmal nicht auf der Stirne des Leutnants, sondern am Völkerhimmel, und wie ein Wetter aus heiterer Luft die Kriegserklärung im Jahre 1870 kam.
Der Leutnant war zum Besuch bei seinen Eltern, als die Kriegserklärung eintraf. Hochklopfenden Herzens hörte der junge Mann die Botschaft. Am Abend vor dem Abschied nahm der alte Freiherr seinen Sohn, zeigte ihm die Bilder der Ahnen, sein eisernes Kreuz aus dem Jahre 1813 und noch ein Stück des Lorbeerkranzes, den er einst bei der Heimkehr empfangen. »Nimm meinen Säbel mit, mein Sohn,« sagte er und gab ihm das Gehänge, »und denke an Deinen Vater, an König und Vaterland.« Was die Mutter ihm sagte, das lag alles im Blick und in der segnenden Hand auf seinem Haupte. »Hab' Geduld mit Dir und mit dem Rekruten,« sagte sie ihm noch ins Ohr. Er eilte zum Regimente.
Auch zum Westfälinger kamen die Seinen, Abschied zu nehmen. Sie hatten noch viel mitgeschleppt, so daß er reichlich unter die Kameraden teilen konnte. Aber als der Trompeter das Signal zum Sammeln blies, da mußte geschieden sein. Sie küßten sich und weinten zusammen, und beim Scheiden sagte die Mutter leise: »Hermann, bet' nur, daß Du's recht machst vor Gott und Menschen und auch vor dem Leutnant!«
Die Heimat lag schon weit zurück; über den Rhein war's gegangen, die ersten Siege waren erfochten, als die heißen Tage des 14., 16. und 18. August auch das tapfere Regiment ins Feuer brachten.
Es war in der Schlacht bei Vionville. Es galt, die breite Lücke, die zwischen den Divisionen Buddenbrock und Stülpnagel eingerissen war, zu füllen und dem Stoß des Feindes zu begegnen. Und sie sausten heran, die Reiter, in geschlossenen Reihen wie Wetterwolken, ihre geschwungenen Säbel wie die zackigen Blitze zwischendrein, und hinein ging's in die französischen Regimenter. Das erste Carré wurde niedergeritten, das zweite auch. Aber immer neue Scharen feindlicher Bataillone tauchten auf, und die Batterien, mit denen sie gedeckt waren, spieen Tod und Verderben unter die Reiter. Sie mußten zurück. Da brachen noch zu allem Ueberfluß aus einem Hinterhalte französische Kürassiere und Dragoner. Es galt, sich durchzuschlagen. Der Leutnant geriet abseits, und flugs waren etliche gewaltige Reiter an ihm. Er focht im Einzelkampfe gegen sie, bald an ihnen vorbeijagend, bald um sich hauend. Aber sein Arm wurde müde, sein Auge umdunkelte sich, er befahl Gott seine Seele, nahm Abschied im Geist von der Mutter und dem väterlichen Schloß mit seinen grünen Bäumen, – da im Augenblick der höchsten Not, die Feinde schon dicht hinter ihm, saust ein preußischer Reiter heran, daß der Fußboden dröhnt. Hinter einer Mauer hatte er bei dem Rückzug sich verdeckt gehalten und wollte die Rückkehr der Franzosen abwarten, da hört er Schwerter klirren. Er sieht den Leutnant umringt, in Todesnot, gibt dem Pferde die Sporen, setzt über den Graben und ist den Reitern am Wamse. Den einen haut er herunter zur Rechten, den andern zur Linken über das Gesicht, daß ihm das Sehen verging, die andern machten Kehrt. Der Leutnant fühlt frei Luft hinter sich, – wer mag der rettende Engel sein? Er bringt sein schäumendes Roß zum Stehen, und hinter ihm hält – der dumme Rekrut, sein Schmerzenskind, das freudestrahlend ihm entgegenruft: » Herr Leutnant, habe ich's nun recht gemacht?« Der Leutnant will eben anheben zum Lobe, das zum ersten Mal von seinen Lippen kommen soll, aber noch ehe er ein Wörtlein gesagt, da pfeift es aus dem Gebüsch, und den treuen Westfalen trifft die Kugel durch den Helm mitten in die Stirn, daß er lautlos vom Pferde sinkt. –
Das war das Werk eines Augenblickes. Weinend wirft sich der Leutnant über den Gefallenen und ruft ihm in die Ohren: » Ja, ja, treue Seele, das hast Du recht gemacht!« Der hörte es freilich nicht mehr, aber das Lob ist hinaufgegangen und hineingefallen in die Wagschale des ewigen Richters, der die Treue auf Erden ansieht.
Wenige Tage darauf, als die gewaltigen Siege errungen waren, wurde der Leutnant mit seiner Schwadron zur Patrouille abgeschickt. Sie reiten an einem Gehölz vorbei, es kracht hinter den Bäumen, – Franktireurs sind's, die im Walde sich versteckt. Der Leutnant sprengt mit geschwungenem Säbel heran an das Gehölz, aber noch ehe er zum Streich ausholen kann, sinkt er tödlich getroffen vom Pferde. Wohl säubern die Kameraden das Gehölz, und keiner der Feinde entrinnt. Als den einzigen Toten von ihrer Seite bringen sie ihren Leutnant zurück. –
So ruhen sie denn beide im kühlen Schoß in Frankreichs Erde, sind im Frieden miteinander geschieden, sind einander noch froh geworden in dieser Welt.
Drüben in Westfalen weint das eine Mutterherz und in der Mark das andere; sie haben beide vom Scheiden ihrer Kinder gehört, ihre letzten Worte vernommen und wissen: Sie sind nun droben beieinander: Leutnant und Rekrut; und haben's beide recht gemacht, Rekrut und Leutnant!